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t Literaten - Kleriker - Gelehrte Zur Geschichte der Gebildeten im vormodernen Europa Herausgegeben von Rudolf W. Keck, Erhard Wiersing und Klaus Wittstadt 00 Cox ý ýd Sonderdruck - im Buchhandel nicht erhältlich - 1996 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

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Literaten - Kleriker - Gelehrte Zur Geschichte der Gebildeten

im vormodernen Europa

Herausgegeben von Rudolf W. Keck, Erhard Wiersing

und Klaus Wittstadt

00

Cox ý ýd

Sonderdruck - im Buchhandel nicht erhältlich -

1996

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort der Herausgeber

Erhard Wiersing Kleriker - Beamte - Gelehrte - Erzieher - Künstler Vorüberlegungen zu einer Geschichte und Typologie des Gebildeten im vormodernen Europa

August Nitschke Der Typus des Gebildeten in den

vormodernen Gesellschaften Europas

Erhard Wiersing Musike und Paideia Die Dichter als Erzieher der Hellenen

Christoph Lüth Die griechischen Sophisten - Lehrer, Redner, Gesandte, Forscher und Gelehrte: Eine der Ursache des sozialen und politischen Wandels im 5. Jhd. v. Chr.?

Johannes Christes Der Gebildete im republikanischen Rom im Spannungsfeld von Wegotium und otium

Johannes Köhler Mönche als Gelehrte und Beamte? Ein Versuch zum Reformwerk von Benedikt von Aniaue (750-821)

Daniela Müller Die gebildete Frau im Mittelalter Von Lioba bis Cluistine de Pizan

Christoph Huber Der Gebildete Dichter im hohen Mittelalter

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Der Typus des Gebildeten in den vormodernen Gesellschaften Europas

August Nitschke

In der Odyssee sah der König der Phäaken, Alkinoos, daß Odysseus, als er dem Sänger zuhörte, zu weinen begann. Da der König nicht wußte, wer dieser Gast

war, fragte er ihn nach seinem Namen und seinem Geschick. Und dabei möchte er wissen: "Welche Länder bist du auf deinen Irren durchwandert und wie fan- dest du dort die Völker und prächtigen Städte? Welche schwärmten noch wild als sittenlose Barbaren? Welche dienten den Göttern und liebten das heilige Gastrecht? "' Wir meinen oft: Man kann als Gebildeten nur den anerkennen, der lesen gelernt hat, oder - noch strenger - nur den, der sich in Auseinandersetzung mit den Schriften der Römer und Griechen mit deren humanem Ideal auseinandersetzte. Dabei könnte sich "wie eine Pflanze... die Seele ganz von innen her nach ihrem inneren Gesetz entfalten". Es werden so "alle im Menschen angelegten Kräfte

zur gleichmäßigen Entfaltung gebracht". Dieser Gebildete unterschied sich seit dem 19. Jahrhundert von den Praktikern in Wirtschaft und Politik. Diese kon-

nten selbstverständlich lesen und schreiben. Doch sie waren mehr auf Ausbil- dung, die für ihren Beruf von Nutzen war, als auf Bildung, die ihre Persönlich- keit formte, bedacht .2 Sie alle - die Ausgebildeten und die Gebildeten - würden einen Menschen, der nicht lesen und schreiben konnte, als ungebildet bezeich-

nen. Unsere Fragen werden nun sein:

- Seit wann unterscheidet man Bildung und Ausbildung?

- Seit wann ist es ein Kennzeichen des Gebildeten, daß er lesen kann?

- Was charakterisiert einen Gebildeten, der nicht lesen kann - oder: der

nicht lesen lernen will? Den Gebildeten, der seine Bildung lesend erwirbt, gab es in den vormodernen Gesellschaften Europas nicht. Um festzustellen, was in diesen Gesellschaften

unter Bildung verstanden wurde, wollen wir den Begriff "gebildet" neu definie-

ren. Wir sagen: Gebildete treten in einer Gesellschaft auf, wenn die Menschen

der Gesellschaft zwei Gruppen in der Bevölkerung unterscheiden: Personen,

t Homer, Odyssee, VIII., 573 fl: 2 Otto Friedrich Bollnow, Die Wandlung in der Auffassung vom Menschen im 19. Jahrhun-

dert, in: ders.. Krise und neuer Anfang. Beiträge zur pädagogischen Anthropologie, Heidel-

berg 1966, S. 93 (die Bildungsidee), die Zitate: S. 94 f.; ders., Abschied von der Antike?,

ebd., S. 142 fl.; Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart

Koselleck (Hg. ), Geschichtliche Grundbegriffe 1, Stuttgart 1972, S. 515 f.

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die, wie es in diesem Homerzitat heißt, noch wild sind und die als Barbaren bezeichnet werden, und Personen, die sich durch eine andere Lebensführung von diesen unterscheiden. Homer charakterisiert diese zweite Gruppe, indem er ihr besondere Sitten zuschreibt, zu denen die Beachtung des heiligen Gastrech- tes gehört oder auch der Respekt vor den Göttern, den die Barbaren nicht kennen. Der Gebildete in diesem Sinne muß weder lesen können, um sich durch Lektüre selbst zu formen, noch muß er besondere Fertigkeiten beherrschen, er muß nicht in seinem Beruf geschickt sein. Was ihn charakterisiert und was ihn gegen die Barbaren absetzt, sind Umgangsformen. Welcher Art sind in diesen vormoder- nen Gesellschaften die Umgangsformen der Gebildeten? Ich möchte diese an zwei Gesellschaften erläutern: an der griechischen Gesellschaft, wie sie uns Homer schildert, und an der germanischen Gesellschaft, wie wir sie im Beo-

wulflied kennenlernen. Diese beiden Texte veranschaulichen dabei nur, was uns aus anderen Zeugnissen auch sonst vertraut ist. Im Anschluß daran möchte ich einen zweiten Typ des Gebildeten charakterisie- ren. Er läßt sich in Griechenland seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, im Abendland seit dem achten nachchristlichen Jahrhundert nachweisen. Von diesem wird erwartet, daß er lesen kann und daß er zu schreiben versteht, und doch unterscheidet er sich noch von dem Gebildeten des 19. Jahrhunderts, an den wir meist denken, wenn wir von Bildung sprechen.

Das alte Griechenland und die Germanen

Ein paar Worte zum Schreiben und Lesen: Für die frühen Griechen entstand das Problem des Schreibens nicht. Was man lernte, lernte man auswendig, etwa die Lieder, in denen die Heldentaten vergangener Zeit gepriesen wurden. Dasselbe gilt für die Germanen, doch diese waren durch das römische Reich in Kontakt mit einer Gesellschaft, in der die Gebildeten lesen konnten. Es ist nun interes- sant zu beobachten, daß die Oberschicht der Germanen sich dagegen wehrt, den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Der Enkel des Ostgotenkönigs Theoderich sollte es lernen. Der Adel der Ostgoten hat in einem regelrechten Protest die Mutter gezwungen, den Unterricht abzubrechen? Ähnliche Situatio- nen wiederholen sich bis ins hohe Mittelalter hinein. Mütter wollen ihren Kindern Schreiben und Lesen beibringen oder Kinder wollen selber lernen, und die Väter suchen es zu verhindern. 4 Wenn wir es scharf formulieren, können wir

3 Prokop: Gotenkrieg I, 2, hg. v. Otto Veh, München 1966, S. 16 ff.; vgl. August Nitschke, Junge Rebellen. Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart: Kinder verändern die Welt, München 1985, S. 15f. 4 Noch im I1. Jahrhundertwollte die Mutter Oderichs diesen das Lesen lernen lassen, was

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sagen: Es galt als eine Schande für den Gebildeten, wenn er sich mit Büchern

abgab. Gebildet ist hingegen derjenige, der die richtigen Umgangsformen beherrscht. Diese werden den Kindern beigebracht. Dazu gehören Grußformen. Ein adliger Langobarde begrüßte die Königin Theudelinde mit Handkuß. 5 Der Gebildete

weiß, wie man vor den König tritt und wie man Gäste ankündigt: Im Beowul- flied wird es hervorgehoben .6 Der Gebildete behandelt Gäste so, wie es sich gehört. Davon handelt die Geschichte der Phäaken. Bei den Germanen ist immer wieder von den Frauen die Rede, die den richtigen Umgangsformen folgen. Bei Beowulf etwa ist des Königs Gattin "kundig": Erst füllt sie ihrem Mann den Becher und ermahnt ihn, heiter und zu seinen Männern huldvoll zu sein. Dann geht sie zu diesen und danach zu dem Gast. Vom Gast

erhofft sie - und sagt es zu ihm -, daß er ein Unheil, das ihr Haus bedroht, beseitigt. Dann kehrt sie zurück an den Platz ihres Mannes, um neben ihm zu sitzen? -Dieselbe Sitte wird uns in Chroniken bezeugt. Eine Braut wird aufge- fordert, dem Gefolge ihres künftigen Mannes Wein zu reichen, denn dies muß sie, so heißt es, wenn sie unsere Herrin sein wird, auch tun. Dieser Bitte ent- spricht Theudelinde, die später Königin der Langobarden werden wird. 8 Zu den Sitten gehört es weiter, daß man gemeinsam Feste feiert, bei den Phäaken genauso9 wie in der germanischen Halle, die - im Beowulflied - von dem Unhold Grendel bedroht ist. 10 Die Griechen kennen bei den Festen sport- liche Wettkämpfe; einige beteiligen sich, die anderen sehen zu. Die Männer können auch tanzen, ein Tanz, der mit dem Ballspiel verbunden ist. 11 Die Feste dienen vor allem dazu, einen Sänger aufzufordern, von den Helden der Vorfah-

ren zu berichten. 12 Sein Lied soll Freude bereiten, so bei den Phäaken. Auch den Germanen sind diese Lieder wichtig. Theoderich gibt die Anweisung, man solle jetzt wieder Krieg in Gallien führen, damit die jungen Männer mit ihren Vätern zusammen zu Felde zögen und dort sähen, wie tapfer diese kämpften. Dann würden sie später in Liedern die Taten der Väter verherrlichen, so wie jetzt in Liedern die Taten der Vorfahren besungen würden. 13 Wir kennen diese Lieder,

der sehr heftig reagierende ritterliche Vater verbot, Acta sanctorum, August, 4. Antwerpen 1739, S. 849; vgl. Nitschke, Rebellen, S. 17 if., 148.

Paulus Diaconus, III, 35 MGH. SS. rerum Langobardotum, S. 113 f.; vgl. August Nitschke, Bewegungen in Mittelalter und Renaissance. Kämpfe, Spiele. Tänze, Zeremoniell und Um-

gangsformen. Düsseldorf 1987, S. 105 f. 6 Beowulf übertr. v. Felix Genzmer. Stuttgart 1953. Vers 359, S. 24. 7 Beowulf, ebd., Vers 612 if., S. 30. 8 Paulus Diaconus, ebd. III, 30. S. 109. vgl. Nitschke, Bewegungen, S. 104 f. 9- Homer, Odyssee, VIII, 57 if., 542 if. 10 Beowulf, Vers 491 if., S. 27. u Homer, Odyssee, VIII, 262 ff., 370 if. 12 Homer, Odyssee, VIII, 487 ff.; Beowulf, Verse 867 if., 1063 ff. 13 Cassiodor, Variae I, 24, MGH. AA. 12. S. 27 ff.; Nitschke, Rebellen, S. 16.

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wenigstens zum Teil. 14 Gerade Theoderich ist als Dietrich von Bern noch über Jahrhunderte in Liedern verherrlicht worden. Die Männer, die zu den "Gebildeten" in diesen vormodernen Gesellschaften zählen, müssen Krieger sein oder zumindest körperlich tüchtig und geschickt. "Kein größerer Ruhm verschönt das Leben der Menschen als der, den ihnen die Stärke der Hände und Schenkel schenkt", so Homer. 15 Unter diesem Aspekt wird bereits der Kaufmann, selbst wenn er zu Schiff unterwegs ist, abgewertet. Als Odysseus sich bei den Phäaken zuerst scheut, an den sportlichen Kämpfen teilzunehmen, wird er von einem Phäaken geschmäht: "Du scheinst mir kein Mann, der auf Kämpfe sich versteht..., sondern so einer, der stets vielrudrige Schiffe befährt, etwa ein Führer des Schiffs, das wegen eines Handels umher- kreuzt, wo du die Ladung besorgst und jegliche Ware verzeichnest und den

erscharrten Gewinn. Ein Kämpfer scheinst du mitnichten". 16 Dies war eine Beleidigung. So wirkte sie auch. Diese Schmährede erzürnte Odysseus, und nach heftiger Gegenrede war er bereit, einen Diskus zu schleu- dern, der schwerer als die anderen war. Diesen schleuderte er selbstverständlich weiter als die Phäaken. Bei dieser Szene lernen wir nun eine besonders wichtige Verpflichtung der gebildeten Oberschicht kennen. Sie müssen es verstehen, zu reden und redend einander zu reizen. Odysseus verteidigt sich nicht nur gegen den Phäaken, der ihn verspottet hat, sondern er bestreitet auch, daß dieser die Gabe der Rede hätte. Gott, so sagt er, gibt einem Menschen nicht alles, nicht schöne Gestalt, Weisheit und Redegabe zugleich. Selbst bei unansehnlicher Körperbildung kann man doch durch Gott die Fähigkeit erhalten, sicher und treffend zu reden mit anmutiger Scheu. Dann wird man wie ein Himmlischer betrachtet. 17 Das Redenkönnen wird in diesen Gesellschaften geübt. Von den germanischen Stämmen sind die Normannen am längsten den älteren Sitten treu geblieben. Von den Normannen wissen wir noch aus dem 11. Jahr- hundert, daß in der Erziehung die jungen Männer das Reden zu lernen hatten. Sie sollten geschickt reden, sollten auch voller List reden, sie sollten durch Reden andere täuschen können. Sie waren berühmt und gefürchtet wegen dieser Fähigkeit. 18 Ein guter Redner muß in diesen alten Gesellschaften der Griechen und Germa- nen auch schlagfertig zu antworten verstehen. Rede und Wechselrede müssen

14 August Nitschke, Beobachtungen zur normannischen Erziehung im 11. Jahrhundert, Archiv für Kulturgeschichte 43,1961, S. 265 if. ders., Fremde Wirklichkeiten I, Goldbach 1993 S. 235 if. 15 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946, S. 22; Homer, Ilias, VIII, 147. 16 Homer, Odyssee, VIII, 159. 17 Homer, Odyssee, VIII, 166 if. 18 Nitschke, Beobachtungen zur normannischen Erziehung, S. 266 if.

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Männer und Frauen beherrschen. Wir hörten schon, daß die Frau jeden Mann, dem sie das Getränk bringt, gleichzeitig mahnt, und zwar zum Handeln. 19 Das ist uns auch aus historischen Berichten vielfältig vertraut. Die Frau sagt beim Essen, was der Mann zu tun hat. Sie kann, um den Mann aufmerken zu lassen,

wie Amalaberga nur den halben Tisch decken und dann sagen: Wer nur die Hälfte geerbt habe - die andere Hälfte bekam der Bruder -, habe auch nur die Hälfte zu essen verdient. Der Mann weiß, was die Frau von ihm will, und sorgt dafür, daß der Bruder getötet wird 20 Die Wechselrede zwischen Männern läuft fast immer darauf hinaus, daß der eine an der Tüchtigkeit - an der kriegerischen Fähigkeit - des anderen zweifelt. Kaum sitzt Beowulf an der Tafel, beginnt einer der Leute seines Gastgebers ihn anzugreifen, er sei nicht so mutig, wie er vorgäbe. 21 Odysseus, wir hörten es schon, ergeht es bei den Phäaken genauso. Die Folge ist in beiden Fällen, daß die so Angegriffenen nun beginnen, sich ihrer Taten zu rühmen. Tage und Nächte, meint Beowulf, sei er im Meer geschwommen und hätte Wale und andere Ungeheuer umgebracht 22 Odysseus erzählt ebenfalls Erstaunliches von seinen körperlichen Kräften, die ihn Sieger in fast allen Wettkämpfen werden ließen 23 Freilich so selbstherrlich, wie es bisher klingt, sind diese Reden nicht gemeint. Der eigene Erfolg bezeugt auch, daß ein Gott eingegriffen hat. Sein Ruhm wird in diesen Reden mit verkündet. Den Griechen sind die eigenen Taten ein Zei- chen dafür, daß ein Gott geholfen hat. Dessen Leistung ist die eigene Leistung 24 Bei den Germanen wird, um im Kampf erfolgreich zu sein, ebenfalls die Unterstützung eines Gottes benötigt. Die Winniler siegen durch die List von zwei Frauen, von Gambara, der Mutter der Könige, und von Freia, der Gattin Wodans. Diese rät den Winnilerfrauen, die Haare ins Gesicht zu kämmen, und als Gott Wodan sie sieht, nennt er sie Langbärte. So gewinnen die Winniler

19 S. o. Anm. 7. Frauen nehmen in dieser Situation auf das politische Gechehen und auf Kriege Einfluß, Gregor von Tours, Frankengeschichte III, 5, Freiherr-vom-Stein- Gedächtnisausgabe, Darmstadt 1974, S. 148; Prokop, Der Gotenkricg, hg. v. O. Veh, München 1966, S. 428; ders., Vandalenkrieg 11 14, München 1971, S. 262; sie verursachen den Religionswechsel ihres Mannes, Gregor von Tours, ebd. II 29 f., S. 114; weitere Belege bei August Nitschke, Frauen und Männer im Mittelalter - Die Geschichte eines vielfältigen Wandels, in: Jochen Martin, Renate Zocpffel. Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann 2, Freiburg, München 1989, S. 684 if. 20 Gregor von Tours, Frankengeschichte 1115. ebd. S. 148; August Nitschke, Brunhilde und Hiltgund. Beobachtungen zum Verhaltenswandel der Frauen im frühen Mittelalter, in: Karl Hauck (Hg. ), Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift fur Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin / New York 1986. S. 537. ders., Wirklichkeit S. 8. 21 Beowulf, Vers 499 ff. u Beowulf. Vers 529 ff. 23 Homer, Odyssee, VIII, 214 If. 24 Snell, Entdeckung, S. 44 ff.

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einen neuen Namen und die Krieger einen Krieg 25 Der Gebildete, so können wir nun zusammenfassen, hat in diesen beiden frühen Gesellschaften Umgangsformen, die zu erwarten waren, und andere, die uns befremden:

- Er kennt die Formen des Begrüßens.

- Er ist im Kampf und Spiel kräftig und gewandt. - Er weiß, was sich gegenüber Gästen schickt. Odysseus erhält ein Schiff

und eine Schiffsmannschaft, die ihn nach Hause bringen soll 26 Beowulf wird großzügig von dem König empfangen. 27

- Er versteht zu reden.

- Er beherrscht die Kunst der Wechselrede, in der er andere durch Schmähungen reizen muß, bis sie bereit sind, ihre körperliche Geschick- lichkeit, ihre Kraft, ihre kriegerische Fähigkeit zu zeigen. Wer zu reden versteht, für den gilt, was Odysseus bei den Phäaken sagt: "Alle schauen mit Entzücken auf ihn, er redet sicher und treffend mit anmutiger Scheu; ihn ehrt die ganze Versammlung; und durchschreitet er die Stadt, wird er wie ein himmlischer Gott betrachtet" 28

Auch die gebildeten Frauen zeichnen sich durch ihre Umgangsformen aus. Dabei haben bei den Germanen die Frauen eine größere Bedeutung als bei den Griechen:

- Sie bieten Mann und Gästen Getränke an. - Sie steigern und lenken die Aktivitäten von Mann und Gästen durch ihre

Reden.

- Sie ermuntern Männer zu kämpfen und stellen Verbindung zu Göttern her, die im Kampf helfen.

- In ihrem Verhalten gleichen sie sich so dem Verhalten der Walküren an. (Bei Homer fallen einige Frauen auf, die als ehrfurchtgebietende Weberinnen das Geschick der Männer bestimmen können. Diese gehören möglicherweise einer noch älteren Gesellschaft an. )29

Griechen und Römer in klassischer Zeit und Europäer im hohen Mittelalter

Die Bildung verändert sich spätestens im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Jugendliche lernen jetzt schreiben und lesen. Zwar fordert Platon viel später

25 Paulus Diaconus, Langobardengeschichte I, 3,7 f.; Der Ursprung des Langobardenstam- mes, ebd. c 1, S. 2 f. 26 Homer, Odyssee, VIII, 34 if., 544 f. 27 Beowulf, Vers 1030 if. 28 Homer, Odyssee VIII, 170 f 29 Zu diesen Weberinnen gehörte Kirke, Homer, Odyssee, X, 222 ff., und Kalypso, Homer, Odyssee, V, 61 if.

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immer noch Gymnastik und eine musische Ausbildung für den jungen Mann30. Aber diese werden nicht mehr als Umgangsformen geschätzt, und Schreiben und Lesen kommen neu hinzu. Was erwartet man sich von der Fähigkeit des Schreibens und Lesens? Platon berichtet von den Sophisten, den Lehrmeistern dieser neuen Bildung. Zu ihr gehören nach wie vor Reden und Dialoge. Wer schreiben und lesen kann, schreibt Wechselreden nieder. Neben die Epen, die auswendig gelernt und gesungen werden, treten nun die Dramen. Auch die Dramen bringen Wechsel- gespräche; diese werden ebenfalls niedergeschrieben. Bei Platons Dialogen handelt es sich meist auch um Streitgespräche. Die Streit- gespräche haben bei Platon jedoch einen anderen Charakter. Man zweifelt nicht mehr an Kraft und Geschicklichkeit des Gesprächspartners. Man wünscht, seine Überzeugungen kennenzulernen und diese zu verändern. In Platons Dialogen treten in Gesprächen mit Sokrates immer nur Menschen auf, die in der Unterhal- tung allmählich einsehen, daß sie bisher eine falsche Meinung hatten. Dies war den Athenern keineswegs sehr sympathisch. Sie haben diese Art zu diskutieren als respektlos empfunden und Sokrates, da er die Jugend verderbe, zum Tode verurteilt3' Aristophanes hat in seinen Komödien diese Diskutanten verhöhnt. So läßt er einen bei den Sophisten ausgebildeten jungen Mann seinen eigenen Vater verprügeln, um diesem Sohn, der mit allen Künsten der bei den Sophiten gelernten Redetechnik vertraut ist, sagen zu lassen, daß er natürlich nur im Interesse des Vaters, zu seinem Wohl, um ihn zu bessern, diesem die Prügel verabreicht hätte. 32 Er spricht mit dem Vater wie ein Vater mit seinem Kind, dem ja auch gesagt wird, mit Hilfe von Prügeln würde es lernen, ein bes- serer Mensch zu werden. - Wechselreden dienen somit dazu, dem anderen die richtigen Verhaltensweisen erkennen zu lassen und seine bisherigen Ansichten zu ändern. Noch weiter gehen die Römer. Sie lieben zwar auch Diskussionen - und wir können uns nach Ciceros Schriften vorstellen, wie diese abliefen -, doch sie bil- den darüber hinaus den jungen Mann als Redner aus. Dabei bekommt er genau beigebracht, wie er eine Rede aufzubauen hat, an welchen Stellen er seine Argumente, an welchen er Gefühle einbringen soll, mit welchen Kopf-, mit welchen Finger- und Handgesten verschiedene Teile der Rede zu begleiten sind 33 Dies alles lernt er immer unter dem Aspekt: Wie kann ich auf andere einwirken? Selbstverständlich will auch der Redner, der in den meisten Fällen Rechtsanwalt oder Politiker war, die Meinung der anderen verändern.

30 Platon. Polheia, 403 c f.. 451 c fl: 31 Platon, Apologie des Sokrates 24 b. 32 Aristophancs, Nephelai 1, Paris 1972, S. 163 if. 33 Marcus Fabius Quintilian, Ausbildung des Redners Vl, Darmstadt 1972,2,1 if., S. 697 f.; ebd., M. 3,88, S. 640 if.

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Auch die Jugendlichen in den Klosterschulen des 9. und 10. Jahrhunderts üben Wechselreden. Lesen und Schreiben lernen die jungen Schüler an den Psal- men. 34 Diese sollten, nach damaliger Überzeugung, von David verfaßt sein. Sie schildern David im Gespräch mit Gott. Wir haben zahlreiche Abbildungen, etwa im Utrechter Psalter und im Stuttgarter Psalter. Dort wird gezeigt, wie der Psalmist vor Gott tritt und in Wechselrede mit Gott seine Meinung vorträgt. 35 Sie lernten somit Dialoge. Wir wissen, daß die Klosterschulen ihre Schüler auch dazu anhielten, Gespräche mit den Gästen zu üben. Sie durften nicht zu neugierig sein, nicht zu viel wissen wollen, aber auch nicht gleichgültig und ohne Interesse diskutieren. Nach jedem Besuch besprachen die Lehrer im Kloster, wie sich der einzelne Jugendliche fragend und antwortend verhalten hatte 36 Wir können den Lateinunterricht des 9. und 10. Jahrhunderts rekonstruieren; er lief auf drei Stufen ab. Erst lernten die Schüler, sich in Prosa zu unterhalten, dann mit rhythmischer Betonung, der deutschen Sprache entsprechend, und schließlich nach Metren, also auf Längen und Kürzen achtend. Doch diese drei Techniken wurden in konkreten Gesprächsituationen eingeübt. So wissen wir, daß das Kloster St. Gallen einmal von dem Abt Salomon, der gleichzeitig Bischof von Konstanz war, besucht wurde. Die Klosterschüler hat- ten an dem Tag seines Besuches, es war das Fest der unschuldig ermordeten Kinder, das Recht einen Gast gefangenzunehmen. Dieser mußte sich dann los- kaufen. So riefen sie, als Salomon in die Klasse kam: "Wir wollen ihn als Bischof betrachten und nicht als Abt! " Auf diese Weise wurde er ein Gast und war gefangenzunehmen. Salomon jedoch setzte sich auf den Stuhl des Lehrers und gewann so die Rechte des Lehrers. Er befahl allen sich bis aufs Hemd aus- zuziehen, da er die Schüler, was das Recht des Lehrers war, prügeln wollte. Die Schüler nun mußten sich ihrerseits freikaufen. Sie taten es, indem sie, je nach den Lateinkenntnissen, ihn in Prosa, in Rhythmen oder Metren ansprachen. Uns sind die Texte erhalten und auch die Wechselrede, die daraus entstand. Am Ende setzten sie sich durch und bekamen ein festliches Mahl vom Bischof geschenkt. 37 Interessant ist für uns, daß der Unterricht wieder in Wechselrede erfolgt und so auch die fremde Sprache im Dialog gelernt wird. In diesen Dialogen gilt es nicht, den Gesprächspartner zu überzeugen. Statt des- sen möchte man eigene Rechte wahren und erweitern. Die Diskutierenden sind

34 Detlef Illmer, Formen der Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter, München 1971, S. 150 ff.; August Nitschke, Die schulgebundene Erziehung der Adligen im Reich der Ottonen, in: dens., Hartmut son Hentig (Hg. ), Was die Wirklichkeit lehrt. Golo Mann zum 70. Geburtstag, Frankfurt 1979, S. 14 if. 35 Wolfgang Braunfels, Die Welt der Karolinger und ihre Kunst, München 1968, S. 168 if. 36 Illmer, S. 81 f. (ein Hinweis aufHildemar, Exposito Regulae, c. 37), S. 168 if. 37 Nitschke, Erziehung, S. 20 f.

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allerdings davon überzeugt, daß man von dem Gesprächspartner nur Vorteile bekommt, solange man sich auf dem Boden des Rechtes befindet. 38 Damit haben wir jetzt in Griechenland und im frühen Mittelalter einen zweiten Typ des Gebildeten kennengelernt. Von diesem wird erwartet, daß er schreiben und lesen kann. Er ist nicht mehr an kriegerischen Verhaltensweisen orientiert. Allerdings dient ihm das Lesen dazu - und hierin gleicht er dem Gebildeten der archaischen Gesellschaften -, Umgangsformen zu üben. Zu den Umgangsformen gehört weiterhin die Wechselrede. Freilich - das Lesen und das Schreiben gewann daneben auch eine andere Funk- tion. Man konnte sich lesend für seinen Beruf ausbilden. Mediziner - in Antike und Mittelalter - nutzten diese Möglichkeit. Man konnnte außerdem andere Menschen schildern, wie die Historiker es taten. Herodot beschrieb fremde Völker mit ungewohnten Verhaltensweisen, Thukydides die Bevölkerung der eigenen Stadt Athen mit ihren vorbildhaften Verhaltensweisen. In Dramen war ebenfalls beides darzustellen. Die Vorbildhaften konnte man, wie Platon sagte, "nachahmen" und sich so an ihnen bilden 39 So gab es neben der Ausbildung ein literarisches Studium, das die Voraussetzung bot, sich selbst zu formen, und somit "Bildung" ähnlich wie im 19. Jahrhundert zu erwerben. Allerdings waren diese Vorbildhaften - auch die vorbildhaften Athener des Thukydides - nicht durch "gleichmäßige Entfaltung" aller "im Menschen angelegten Kräfte", son- dern gerade durch ihre Beziehungen zu anderen charakterisiert. Deren jeweilige Eigenarten wurden in Umgangsformen sichtbar. So war auch für diese Schrei- benden und Lesenden der Gebildete derjenige, der mit anderen umzugehen vermochte. So weisen die vormodernen Gesellschaften in zwei Varianten auf eine Bildung hin, die sich an Umgangsformen orientiert: In einer dieser beiden Varianten waren den meisten die erwarteten Verbindungen zu ihren Mitmenschen so wichtig, daß sie die isolierende Tätigkeit des Schreibens und Lesens nicht schätzten oder sogar, im frühen Mittelalter, nicht lernen wollten. In der zweiten

38 Nitschke, Erziehung, S. 21 f. 39 Platon, Politeia, 395 c ff. Bei Platon ist der Weg etwas komplizierter als bei den Autoren des Mittelalters. Diese lehren gleich Umgangsformen, die das Zusammenleben regeln, etwa Andreas Capcllanus, s. August Nitschke, Bewegungen in Mittelalter und Renaissance. Kämpfe, Spiele, Tänze, Zeremoniell und Umgangsformen, Düsseldorf 1987, S. 101. Zum Wandel dieser Umgangsformen seit dem B. Jahrhundert s. dcrs., Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Stuttgart, Zürich 1989, S. 154 f Platon hingegen fordert Angleichung an selbstbeherrschte Männer, doch wer diese Selbstbeherrschung gewann, bekam im Staat eine die anderen Menschen lenkende Position, so daß, was durch diese Nachahmung erreicht wird, ebenfalls die Umgangsformen der Griechen prägte - zu deren Eigenart und Wandel s. Nitschke, Körper in Bewegung, S. 23 ff., 34 f1., 51 ff. - Zur Bedeutung der Umgangsformen fier die Rekonstruktion fremder Wirklichkeiten s. August Nitschke, Die Zukunft in der Vergangenheit. Systeme in der historischen und biologischen Evolution. München, Zürich 1994 S. 199 f., 211 ff.

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Variante lernte man zwar das Lesen, jedoch oft anhand von Dialogen, und, was noch wichtiger ist: man nutzte, was man gelernt hatte, dazu, sich unterhaltend, neue Umgangsformen einzuüben, um mit deren Hilfe weitere Verbindungen mit anderen Menschen aufzunehmen. Es ist die Frage, ob die "Bildung", die sich die Europäer im 19. und 20. Jahr- hundert zu eigen machten, diesen nicht eines Tages gleichgültig wird - mögli- cherweise schon längst gleichgültig wurde. Sicher sollten wir jedenfalls nicht nur diejenigen gebildet nennen - wozu Wissenschaftler immer noch sehr neigen - , die lesen und schreiben können. Unter diesem Vorurteil haben vor allem Frauen früherer Gesellschaften zu leiden. So werden von den Historikerinnen und Historikern unserer Tage diejenigen Damen, die wirklich im Sinne der damaligen Gesellschaft "gebildet" waren, da sie die Umgangsformen prägten, als des Schreibens Unkundige nicht beachtet, während die Nonnen, die abseits in ihrer Zelle lebten, nur weil sie schreiben konnten, als gebildet gerühmt werden. Vielleicht sollten wir selber darüber hinaus auch den Mut - wenn uns die Bil- dung im Sinne des 19. Jahrhunderts ferner rückte - haben, erneut auf die Gebil- deten der vormodernen Gesellschaft zu achten und in der Erziehung Umgangs- formen zu üben. Hierzu könnten außereuropäische Gesellschaften - etwa die japanische - manche Anregungen geben, und in solche künftigen "Dialoge" wären auch das eigenständige Material - Stoff, Farbe und Gestalt - mit einzubeziehen. Zu Wiederholungen müßte es nicht kommen - aber zu erwarten wäre: ein neuer Beginn.

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