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1 Soziales Kapital: Status, Hierarchie und Macht Statusverhalten und Statusspiele Dominanz und Unterordnung sind notwendige Elemente jeder Kommunikation – und zugleich die größten Tabus. Normaler- weise sprechen wir nicht darüber, wie uns andere einschränken und kontrollieren, unsere Kreativität und unseren Ausdruck hemmen – und wie wir dies mit anderen tun. Meist wird uns das nicht einmal bewusst. Nur bei schweren Konflikten platzt es manchmal heraus: »Sie akzeptieren mich nicht.« »Dauernd stellst du dich über mich.« »Sie halten sich wohl für etwas Besseres.« Die- ses Buch handelt davon, wie wir uns im Alltag über- und unter- ordnen, wie wir uns positionieren, wie wir uns über andere erhe- ben oder ihnen untertan sind, wie wir ignorieren, demütigen, er- niedrigen, erhöhen: andere mit uns und wir mit ihnen. Immer wenn zwei oder mehrere Personen miteinander zu tun haben, werden Macht, Einfluss und soziales Gewicht verteilt: Wer hat in der aktuellen Situation mehr zu sagen, wer kann sich Gehör verschaffen, wer setzt sich durch und wem wird etwas aufgedrückt? Wer ist eher aktiv oder passiv, bestimmend oder hinnehmend? Wer setzt die Akzente und wer fühlt sich einge- engt? All diese Dinge geschehen – unmerklich die ganze Zeit, in beinahe jeder Interaktion, in jedem Satz, in kleinsten Gesten. Das wollen wir in vielen Details beschreiben. Wenn zwei Men- schen miteinander reden, dann geht es auch – ob sie es wollen oder nicht – um ihre Position, um ihren aktuellen Einfluss. Stel- len wir uns vor, wir könnten ihr soziales Gewicht in jedem Mo- ment mit einer Waage messen. Sie ist – wenn wir genau hinse- hen – kaum jemals im Gleichgewicht und dauernd in Bewe- gung: Die eine Person wiegt schwerer, die andere leichter. Über- und Untergewicht dieser Art wollen wir in Anlehnung an Keith Johnstone aktuellen Status nennen. 1 17

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1 Soziales Kapital: Status, Hierarchie

und Macht

Statusverhalten und Statusspiele

Dominanz und Unterordnung sind notwendige Elemente jederKommunikation – und zugleich die größten Tabus. Normaler-weise sprechen wir nicht darüber, wie uns andere einschränkenund kontrollieren, unsere Kreativität und unseren Ausdruckhemmen – und wie wir dies mit anderen tun. Meist wird uns dasnicht einmal bewusst. Nur bei schweren Konflikten platzt esmanchmal heraus: »Sie akzeptieren mich nicht.« »Dauernd stellstdu dich über mich.« »Sie halten sich wohl für etwas Besseres.« Die-ses Buch handelt davon, wie wir uns im Alltag über- und unter-ordnen, wie wir uns positionieren, wie wir uns über andere erhe-ben oder ihnen untertan sind, wie wir ignorieren, demütigen, er-niedrigen, erhöhen: andere mit uns und wir mit ihnen.

Immer wenn zwei oder mehrere Personen miteinander zu tunhaben, werden Macht, Einfluss und soziales Gewicht verteilt:Wer hat in der aktuellen Situation mehr zu sagen, wer kann sichGehör verschaffen, wer setzt sich durch und wem wird etwasaufgedrückt? Wer ist eher aktiv oder passiv, bestimmend oderhinnehmend? Wer setzt die Akzente und wer fühlt sich einge-engt? All diese Dinge geschehen – unmerklich die ganze Zeit, inbeinahe jeder Interaktion, in jedem Satz, in kleinsten Gesten.Das wollen wir in vielen Details beschreiben. Wenn zwei Men-schen miteinander reden, dann geht es auch – ob sie es wollenoder nicht – um ihre Position, um ihren aktuellen Einfluss. Stel-len wir uns vor, wir könnten ihr soziales Gewicht in jedem Mo-ment mit einer Waage messen. Sie ist – wenn wir genau hinse-hen – kaum jemals im Gleichgewicht und dauernd in Bewe-gung: Die eine Person wiegt schwerer, die andere leichter.Über- und Untergewicht dieser Art wollen wir in Anlehnung anKeith Johnstone aktuellen Status nennen.1

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Status, so verstanden, hat immer mit zwei oder mehreren Per-sonen zu tun. Er bezieht sich auf das, was zwischen ihnen ab-läuft, und bewertet ihr aktuelles Verhalten, das heißt ihr Status-verhalten oder das Positionieren. Wenn wir sagen: Die Person Abesitzt in der Situation X hohen Status, dann meinen wir A inRelation zu einer oder mehreren Personen B. B besitzt (oder be-sitzen) in der aktuellen Szene X einen niedrigeren Status als A.A dominiert B – sei es auch nur kurz oder unmerklich. Statusbezieht sich auf das wechselseitige Verhalten von A und B undwie beide dies wahrnehmen und empfinden.

Dominanz und Unterordnung geschieht in vielen Fällen subtil,den Akteuren wird es nicht unbedingt bewusst. Beschreiben wirStatus zuerst aus einem anderen Extrem: aus Erlebnissen, beidenen wir unter anderen Personen nachdrücklich oder anhal-tend zu leiden hatten. Dabei fühlten wir uns vielleicht schüch-tern oder verlegen. Ereignisse dieser Art können wir Unterwer-fungserfahrungen nennen. Lucas Derks hat deren Merkmale sobeschrieben:2

1. Schüchternheit, Stammeln, Erröten, Herzklopfen, stocken-der Atem, Unfähigkeit, den Blickkontakt zu halten.

2. Der eigene Ausdruck, die Kreativität und Handlungsfähig-keit sind eingeschränkt. Man fühlt sich unfrei und blok-kiert.

3. Eine Neigung, der Autoritätsperson zu gehorchen –manchmal auch wider Willen.

4. Noch stärker: Man erfährt die Situation mehr von derWarte der Autoritätsperson als von der eigenen, man fühlt,denkt, sieht teilweise wie sie.

5. Eine Neigung, der Autoritätsperson nur positives Feedbackzu geben: Komplimente, Zustimmung, Lob.

6. Furcht vor Zurückweisung oder Bestrafung durch die Au-toritätsperson.

7. Eine Neigung, das eigene unterwürfige Verhalten auf Ei-genschaften der Autoritätsperson zurückzuführen.

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Das ist die eine, die bekanntere Seite der Medaille. Die Kehrsei-te sind Dominanzerfahrungen, in denen wir für andere eine Au-toritätsperson dargestellt haben, sei es, dass wir bewundert undangehimmelt wurden oder dass uns gar unterwürfig begegnetwurde. Dominanzerfahrungen äußern sich so:1. Ein (meist angenehmes) Gefühl von Macht, Stärke und

Überlegenheit. Man denkt sich groß und besitzt ein gutesSelbstbild.

2. Die Erfahrung ausgedehnter Ausdrucksfähigkeit, unge-hemmter Kreativität und Freiheit im Handeln.

3. Man erfährt ein überwiegend positives Feedback in Formvon Lächeln, Geschenken, Höflichkeit, Unterwürfigkeitoder gar Servilität.

4. Wenn dies länger dauert: meist keine schlechten Nachrich-ten, niemand wagt es, der Autoritätsperson ein negativesFeedback zu geben.

5. Wenn sich dies verfestigt: Man erfährt die Situation nurnoch von der eigenen Warte, die Gedanken und Gefühleder anderen spielen keine Rolle mehr.

6. Bei lang anhaltenden Beziehungen dieser Art: Man erfährteinen Mangel an Vertrautheit auf gleichberechtigter Basis,dies kann zu Desorientierung und Isolation führen.

7. Noch stärker: Misstrauen gegen andere und die Furcht,Macht zu verlieren.

8. Manchmal auch starke Zweifel, wer wirklich kontrolliert:Zwingen die Anhänger einen in die überlegene Positionoder ist das ein Produkt eigener Leistungen, überlegenerEigenschaften und Aktivitäten?

9. Und: eine große Diskrepanz zwischen dem, was man zusein glaubt (inklusive den eigenen Zweifeln) und dem, wasdie unterwürfigen anderen einem signalisieren.

Dominanz- und Unterwerfungserfahrungen sind Extreme aufeiner weit gespannten Skala. Ihr mittlerer Bereich ist die Erfah-rung von Gleichheit: Über oder unter jemandem zu sein, das

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spiele, so glaubt man, in dieser Situation keine Rolle. NachKeith Johnstone ist dies nur in ganz wenigen Fällen möglich,etwa bei Freundschaft. Freunde und Freundinnen necken ein-ander gerne. Die beiden Autoren (sie sind jahrelang befreundet)begrüßen sich: »Guten Morgen, Herr Professor, haben Sie gut ge-schlafen?« – Redensarten, die Keith Johnstone so kommentiert:Freundschaft bedeute, dass man sich heimlich verständigt hat,mit Status spielerisch umzugehen. Man parodiert gleichsamsein soziales Gewicht. A wertet sich gegenüber B auf oder abund B macht das Gleiche mit A – und beide wissen, dass es nurein Spiel ist, das keiner ernst nimmt, und genau in dieser Hal-tung entsteht Freundschaft.3

In allen anderen Fällen hingegen ist die Waage im Ungleichge-wicht: A und B weichen von einer gleichberechtigten Mittelpo-sition ab. A geht vielleicht auf der Skala einen Schritt in Rich-tung Dominanz, was B automatisch einen Schritt in RichtungUnterwerfung bringt. A und B spielen ein Statusspiel.

Frau X: »Gestern hatte ich ein schlimmes Erlebnis. Ich war mit einemKunden im Restaurant. Als ich auf die Rechnung wartete,habe ich mich auf einmal so komisch gefühlt. Als ob ichohnmächtig würde.«

Frau Y: »Gestern? Da hätte ich auch gerne in einem guten Restau-rant gegessen. In der Kantine war es wieder einmal unge-nießbar!«

Frau Z: »Ich weiß, was du meinst. Mir geht es auch manchmal somerkwürdig. Vor einem Monat war es besonders extrem ...«

Die drei Frauen reden in höflichem Ton, ein scheinbar friedli-ches Gespräch. Aber gleichzeitig versuchen sie die ganze Zeit,ihr soziales Gewicht auf Kosten der anderen zu erhöhen. Frau Xbeginnt mit einem Hochstatus-Zug: Ein interessantes Ereigniswird berichtet. Y blockt ab und wischt das beiseite. Z macht einnoch aufschlussreicheres Statusmanöver: Sie geht auf Y nichtein (wertet sie also ab), sondern antwortet auf X und verleiht ihr

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damit ein größeres Gewicht. Aber im nächsten Satz positioniertsie sich über die beiden: Jetzt schildert sie das viel bemerkens-wertere Erlebnis, dem die Aufmerksamkeit aller zu gelten hat.Satz für Satz, Geste für Geste ändert sich die Waage im subtilenStatusspiel: Jede gibt vor, freundlich zu sein, und alle sägen amStuhl der anderen.

Spiele dieser Art laufen die ganze Zeit, wir achten vielleichtnicht aufmerksam genug darauf. Tatsächlich kann jede Begeg-nung auch als Statusspiel verstanden werden, man muss nurgenau hinsehen. In vielen Fällen ist das Statusmoment wichti-ger als der Inhalt der Worte. Im Alltagsleben, in der Firma oderim Verein stellen Menschen unbewusst immer ein Statusver-hältnis her. Jede und jeder bringt sich so lange in eine bestimm-te Position, ob hoch oder niedrig, bis es »passt«. Wenn dasnicht erreicht werden kann, fühlen wir uns unwohl: Irgendet-was stimmt nicht.

Statusgefühle und Empfindungen für Statuslagen sind unswohlbekannt. Wir sind Statusexperten, ohne das vielleicht zuwissen. Wir besitzen feine Antennen, die auf Dominanz- undUnterordnungssignale ausgerichtet sind. Meist reagieren wirautomatisch auf Statusmanöver: Wenn uns jemand kritisiert,große ausholende Gesten macht, uns auf die Schultern klopft,sich abrupt abwendet, uns scharf mustert, in besonders teurenKlamotten auf den Plan tritt oder langsam und pointiert redet(alles Handlungen, die meist hoch positionieren), dann werdenwir mit Sprache und Körper Antwort erteilen. Wir werden demVersuch, uns direkt oder unmerklich »von oben« behandeln zuwollen, auf unsere Weise entgegnen – und sei es auch nur miteinem Stirnrunzeln, einem Achselzucken, einer etwas schärfe-ren Rede – oder mit bewundernden Blicken. Egal wie: Wir leis-ten so unseren Beitrag im laufenden Statusspiel, und von sei-nem Ablauf hängt es nicht nur ab, wie wir uns fühlen, sondernauch, welche Erfolge und Misserfolge wir erzielen. Um sozialeInteraktionen zu verstehen, muss man Status verstehen.

Statusverhalten und Statusspiele 21

Mit diesem Buch laden wir ein, den Blick auf die allgegenwärti-gen Statusspiele zu lenken: wie wir Worte und Gesten, Raumund Zeit permanent, wenn auch unbewusst, einsetzen, um unsüber andere zu stellen oder ihnen klein beizugeben. Wir spre-chen von Hochstatus- und Niedrigstatusverhalten und meinendamit Verhaltensweisen, die jeder anwenden kann, egal ob er inder sozialen Hierarchie oben oder unten ist. Aber zuerst mussman sich dessen bewusst werden.

Sozialer Status und Hierarchie

Status wird normalerweise als gesellschaftliche Stellung verstan-den, als Stand, auch als der Wert oder die Bedeutung einer Per-son in den Augen der Öffentlichkeit. Status dieser Art wollenwir sozialen Status nennen. Sozialer Status weist Menscheneinen »sozialen Ort« zu und gibt diesem »Ort« zugleich einensozialen Wert. Damit wird Personen ein Platz in einer sozialenHierarchie zugewiesen. Oft ist dies durch traditionelle Rollen-bilder geprägt wie »Frauen sind weniger tüchtig als Männer«.Organisationen zeichnen sich dagegen durch formale Hierar-chien aus, die implizit einen Manager höher bewerten als einenArbeiter und in denen ein Mitglied des Vorstands dem Auf-sichtsrat untertan zu sein hat. Sozialer Status »haftet« an einerPerson, er kommt ihr wie ein festes Merkmal zu: jemand istVorstand, jemand ist Manager. Die Verteilung der Rangplätzein einer Hierarchie entspricht einem Nullsummenspiel: Waseiner gewinnt, verliert jemand anders. Es kann eben nur einePerson den ersten Platz in einer Hierarchie einnehmen.

Frederick Merton hat das im Zusammenhang mit Status in der Wis-senschaft als das Phänomen des »einundvierzigsten Sitzes« gekenn-zeichnet: Wer in die Academie Francaise aufgenommen wurde,hatte den Platz eines »Unsterblichen« erlangt – aber es gab immernur 40 Plätze. Waren diese voll, konnte man nicht mehr »unsterb-lich« werden, auch wenn man sich noch so große Verdienste erwor-

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ben hatte. Beispiele für »Inhaber des einundvierzigsten Sitzes« sindLeute wie Descartes, Pascal oder Moliere.

Für die Verteilung von Macht gilt Ähnliches. Je mehr jemandMacht über den anderen ausüben kann, umso ohnmächtiger istder andere. Auch im Statusspiel, das wir als Waage verstehen,geht es um die relative Dominanz über andere: Ein Hochstatus-Zug macht einen Spieler »größer«, auf Kosten des aktuellen Ge-sprächspartners oder auf Kosten anderer Gruppen in der Um-welt.

Blake Ashforth und Glen Kreiner4 beobachteten das Verhalten vonArbeitern in Berufen, welche üblicherweise als eher abstoßend,»schmutzig« und von niedrigem sozialen Status angesehen werden:Leichenwäscher, Totengräber, Tänzerinnen in Nachtlokalen und Ähn-liches. Diese Leute schaffen es jedoch, sich in ihrer Referenzgruppeeine positive Identität zu geben und damit ihren Status wechselsei-tig zu heben, indem sie sich gegenseitig versichern, wie notwendigund wertvoll ihre Arbeit für die Gesellschaft ist oder wie viel höherihre Moral im Vergleich zu der ihrer Kunden ist. Etwa eine Nacht-clubtänzerin: »Sie kommen samstagsabends her, betrinken sich undwollen an uns herumtatschen. Dann gehen sie am Sonntag in dieKirche und verdammen das, was wir machen. Im Allgemeinen, glau-be ich, sind wir ein ganzes Stück ehrlicher als die!«5 Damit bean-spruchen sie für sich hohen Status, obwohl sie in jeder sozialenHierarchie ganz unten sind.

Statusverhalten ist unabhängig von der sozialen Position. EineHochstatus-Person kann Niedrigstatus spielen und umgekehrt.Statusverhalten ist kurzfristig, auf die jeweilige Situation bezo-gen. Es beschreibt die Verteilung sozialer Gewichte im gemein-samen Handeln aller Beteiligten. Statusverhalten zeigt sich immomentanen Tun. In der kurzen Szene mit den drei Frauen X,Y und Z konnten wir den flüchtigen Wechsel des aktuellen Sta-tus beobachten: Jeder Satz hat die soziale Waage zwischen denAnwesenden verschoben. Viele weitere Beispiele finden sich inden kommenden Kapiteln. Unabhängig davon besitzen X, Yund Z sozialen Status.

Sozialer Status und Hierarchie 23

Nehmen wir an, sie arbeiten in derselben Firma und X ist eineAbteilungsleiterin, Y ihre Mitarbeiterin und Z ein Lehrling, dervor zwei Tagen eingestellt wurde. Mit dieser Information be-kommt die Szene eine neue Bedeutung. Im Normalfall würdeman erwarten, dass die Abteilungsleiterin (Frau X) von ihrerMitarbeiterin (Frau Y) nicht unterbrochen wird und schon garnicht, dass eine junge Anfängerin (Frau Z, ganz unten in derbetrieblichen Hierarchie) ein Gespräch dominieren kann. Deraktuelle Status widerspricht dem dauerhaften sozialen Status. Inder Regel ist aber der soziale Status ein starker Trumpf im Sta-tusspiel: Die Abteilungsleiterin kommt mit einem anderen »Ge-wicht« daher als ein Neuling. Als Vorgesetzte hat sie es leichter,dominant vorzugehen, Autorität auszustrahlen und sich Re-spekt zu verschaffen. Dies gilt immer nur im gegenwärtigenKontext – in der Disco mag das umgekehrt sein.

Aber sozialer Status ist keine Garantie für das aktuelle Statusge-wicht. Wenn es der Abteilungsleiterin nicht gelingt, sich regel-mäßig im Betrieb Gehör zu verschaffen, gilt sie als »schwach«.Ihre Autorität wird brüchig und über kurz oder lang läuft sieGefahr, ihren sozialen Rang und möglicherweise sogar ihrenJob zu verlieren. Sie muss sich im Alltag fortwährend behaup-ten, mit anderen Worten, viele Statusspiele zu ihren Gunstenentscheiden. Ihr Statusverhalten muss ihre Position stützen.Das verlangt nicht immer nach Hochstatus-Verhalten, aber siekann sich auf Dauer nicht nur niedrig positionieren. Auch darfsie Statusverhalten nicht mit bloßem Machtausüben verwech-seln. Sie könnte mit der »Peitsche« agieren, ihre Mitarbeiterin-nen durch Belohnungen und Bestrafungen disziplinieren. Aberfür Macht gilt Emersons berühmter Satz: »Macht zu haben be-deutet, Macht auszuüben. Und Macht auszuüben bedeutet,Macht zu verlieren.«6

Die Macht der Abteilungsleiterin begründet sich aus ihrer Stel-lung in der betrieblichen Hierarchie, man spricht von Positions-macht. Der große Soziologe Max Weber bezeichnet dies als rati-

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onale Herrschaft. Sie ist an den Glauben an eine rationale Ord-nung – eben die Hierarchie – geknüpft. Und dieser Glaube ent-hält eben auch Vorstellungen von sozialem Status. Status mitHilfe der Hierarchie ausdrücken kann bis zu einem gewissenGrad jeder Anfänger. Umgekehrt haben wir in untergeordnetenStellungen gelernt, Statusvorgaben »von oben« zu akzeptieren,wollen wir nicht als Querulant oder Revoluzzer gelten. Es hatauch wenig Sinn, eine bestehende Ordnung dauernd in Fragezu stellen – das wäre wenig effizient. Ob bestehende Hierarchi-en tatsächlich »rational« sind, wie Max Weber gemeint hat,wollen wir nicht untersuchen. Sie begründen jedenfalls – unddas ist für uns entscheidend – Status und Macht. Hierarchienweisen Personen Status zu. Gleichzeitig gilt – und das macht dieSache wieder spannend -, dass der mit der Hierarchie verbun-dene Status in jedem Augenblick verändert werden kann.Weder Status noch Macht bieten Polster, auf denen sich die In-haber lange ausruhen können. Die Position muss durch Status-signale andauernd abgesichert werden.

Die Hierarchie alleine stattet ein Amt und seinen Träger nochnicht mit der notwendigen Autorität aus. Der Amtsinhabermuss fähig sein, sich im Alltag statusgemäß zu verhalten. Ist erdazu nicht in der Lage, wird er bald an Respekt verlieren. SeineAutorität kann schwinden wie Schnee in der Sonne. Offen oderheimlich werden seine Befehle belacht oder gar hintertrieben.Stärkere oder schwächere Vorgesetzte unterscheiden sich darin,ob sie fähig sind, kraftvolle Statussignale zu senden. Gute undbeliebte Vorgesetzte beherrschen intuitiv das Statusspiel. Siespielen meisterhaft auf der Klaviatur des »Sich-in-eine-Positi-on-Bringens«. Je nach Lage der Dinge übermitteln sie hoheoder niedrige Statussignale.

Gabriele Rolke, eine Filialleiterin bei dm, wurde von einem früherenChef – bei einer anderen Drogeriemarkt-Kette – vor versammelterMannschaft angebrüllt. Sie kündigte. Ihre neue Firma und derenChef charakterisiert sie folgendermaßen: »Bei uns gibt’s keine Hie-

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rarchien, wir haben keine Angst vor großen Tieren, das hab ich beiden Seminaren gelernt. Der Herr Werner ist nur der Herr Werner.« 7

Was Frau Rolke bei ihren Seminaren wirklich gelernt hat, wol-len wir nicht näher untersuchen. Im Unterschied zu früher solles angeblich keine Hierarchien mehr geben. Aber für GabrieleRolke gibt es noch »große Tiere« und eines von ihnen wurdemit Namen genannt. Hierarchie hat – so denkt sie – an Bedeu-tung verloren, aber ihre Statusabwertung – dass sie da vor allenabgekanzelt wird – ist für sie kein Schall und Rauch. Öffentlichan Status zu verlieren, kann sie nicht hinnehmen. Sie verlässtdie Firma. Ihr neuer Vorgesetzter dagegen, der offensichtlichdoch etwas mehr als nur der »Herr Werner« ist, verpackt seineBotschaften eleganter. Er will seine Position nicht auf Kostenvon Frau Rolke herausstreichen – und genau deswegen akzep-tiert Frau Rolke ihn als Autorität.

Abb. 1.1: Wechselwirkung zwischen Statusspielen und sozialem Status

Die Wechselwirkung zwischen aktuellen Statusspielen und so-zialem Status können wir wie die zwischen Investitionen undKapital verstehen. Statusverhalten ist wie eine (soziale) Investi-tion, sozialer Status wie (soziales) Kapital: die noch vorhandene

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Summe aller in der Vergangenheit getätigten Investitionen. So-ziales Kapital nützt sich ab, etwa durch Veralterung von Wissenoder durch vernachlässigte Kontakte: Es muss dauernd ersetztwerden. Ein Mittel dazu (nicht das einzige) sind Statusspiele.Menschen mit hohem gesellschaftlichem Ansehen müssen imAlltag bei unzähligen Statusspielen bestehen. Jeder richtige Zugist ein Plus, jeder Fehler ein Minus an sozialem Vermögen.Übersteigt der Wert der so getätigten »Investitionen« den nor-malen Verschleiß, kann neues soziales Kapital angehäuft wer-den: Der soziale Status steigt. Im anderen Fall schmilzt das so-ziale Kapital schnell dahin.

Der Matthäus-Effekt

Statusverhalten verändert nicht nur den Kapitalstand, sonderndas soziale Kapital verändert auch den Wert des Verhaltens.Wer bereits viel Kapital hat, dem fällt es leichter, weiteren Kre-dit zu bekommen, um damit zu investieren und zu expandie-ren. Genauso verhält es sich mit hohem sozialen Status. Damitlässt es sich leichter dominant auftreten, andere beeindrucken,eigene Interessen durchsetzen und Statusspiele für sich ent-scheiden. Für jede Form von Kapital gilt der »Matthäus-Ef-fekt«8, benannt nach einer berühmten Stelle im Evangeliumnach Matthäus:

»Wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben;wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was erhat.« (Mt 13,12)

Hoher Status ermöglicht Dinge, welche aus einer niederen Posi-tion verschlossen sind. Wer hohen Status besitzt, bekommtmehr Anerkennung für eine bestimmte Leistung als niedrig Po-sitionierte. Wir können den Matthäus-Effekt in der Firma, inder Wissenschaft und im Privatleben beobachten. Wenn einNobelpreisträger einen durchschnittlichen Artikel veröffent-

Der Matthäus-Effekt 27

licht , findet er nicht nur mehr Beachtung, sondern seine Arbeitwird auch eher als herausragende Leistung gewürdigt als dievergleichbare Arbeit eines unbekannten Forschers. Universitä-ten, die als »Eliteuniversitäten« gelten oder zur »Ivy League« ge-hören, ziehen die intelligentesten und fleißigsten Studierendenan, können daraus die Besten auswählen, sind attraktiv für dierenommiertesten Forscher und Lehrer und können so »bessere«Absolventen und Forschungsergebnisse produzieren.

Warum Statusspiele wichtiger geworden sind: das

Hierarchie-Paradoxon

In vielen Organisationen haben traditionelle Hierarchien anEinfluss verloren. Unternehmen und staatliche Behörden folgenbeispielsweise kaum mehr dem Senioritätsprinzip. Alter undDauer der Zugehörigkeit bestimmen seltener das Gehalt. »Fla-che Hierarchien« sind nicht nur ein Schlagwort, sondern vieler-orts Realität. Hierarchien sind verfestigte soziale Verhältnisse inForm von Institutionen (zum Beispiel Organisationen oder Bü-rokratien), möglichst streng abgesichert, oft in Form von Ver-trägen. Wiewohl Hierarchien viel geschmäht sind und gerne ihrAbbau gefordert wird, haben sie wesentliche Vorteile. Am deut-lichsten werden Vor- und Nachteile in einer starren Hierarchie,wie sie die Bürokratie verkörpert. Sie führt oft ein Eigenlebenund existiert unabhängig von Personen, welche die Positioneinnehmen.9 Die Prinzipien der Bürokratie, wie sie der bereitszitierte Max Weber formuliert hat, sind auch heute noch gültig:Die »oberen« Beamten oder Manager üben kraft ihrer Ausbil-dung und Expertise rationale Herrschaft aus. Ihr Status mussnicht dauernd neu verhandelt werden, noch ist er an persönli-che Eigenschaften gebunden. Individuelle Merkmale und indi-viduelles Verhalten sind weniger von Belang. Personen sind aufjedem Rang der Hierarchie austauschbar. Die Spitze kann sichselbst große Schnitzer und Kommunikationskatastrophen er-

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lauben, Fehler und Unzulänglichkeiten werden ausgebügeltoder vertuscht. Wird morgen eine neue Führungskraft in ihrAmt gehievt, kann sie mit der Gefolgschaft der unteren Rängerechnen. Statusspiele werden kaum benötigt. Der tägliche Um-gang ist ritualisiert, die Ordnung wird durch fixe Umgangsre-geln aufrechterhalten. Hier haben wir den wesentlichen Vorteilder Hierarchie. Weil Status nicht permanent verhandelt werdenmuss, bleiben die dafür nötige Energie und die damit verbunde-nen Kosten frei für andere Aktivitäten. Gleichzeitig ist es auchein gravierender Nachteil. Wer einmal eine bestimmte Positioninnehat, ist schwer davon wegzubringen, auch wenn er sich alsunfähig erweist.

Lösen sich traditionelle Hierarchien auf und verlieren Bürokra-tien (zum Beispiel im Bereich des Staates) an Einfluss, dann ver-flüchtigt sich Macht in der Gesellschaft nicht (ein großes Miss-verständnis), sie wird nur anders verteilt, etwa auf anonyme»Marktprozesse« verlagert.

Macht und sozialer Einfluss werden jetzt weniger durch dasAmt, einen Titel oder eine Position vergeben, sondern müssenindividuell errungen werden. Sozialer Status wird dynamischerund weniger beständig, er muss im Alltag gegen die Konkur-renz mehr verteidigt und beschützt werden. Mit anderen Wor-ten: Er muss mehr und deutlicher durch Statusspiele abgesi-chert werden. Wir nennen diesen Effekt das Hierarchie-Parado-xon: Je weniger feste, institutionalisierte Hierarchien vorhandensind, umso wichtiger wird Statusverhalten, das Hierarchien her-vorbringt. Flachere Hierarchien und intensivere Statusspielegehen Hand in Hand.

Dauerhafte hierarchische Strukturen existieren heute wenigerals vor zwei Jahrzehnten. Viele Menschen arbeiten in Netzwer-ken und in Arbeitsgruppen, die kurzfristig bestehen und sichdauernd ändern. Das Arbeitsleben ist ungemein flexibel gewor-den, mit neuen Belastungen für viele Betroffene. Die Kultur des

Warum Statusspiele wichtiger geworden sind: das Hierarchie-Paradoxon 29

neuen Kapitalismus hat nach Richard Sennett einen »flexiblenMenschen« geformt:10 Ein 40-jähriger US-Amerikaner hatheute im Schnitt bereits 40 Jobs hinter sich. Dieser Trend wirdverstärkt durch die Aufweichung der Kernfamilie, kürzere Be-schäftigungsverhältnisse und zunehmende internationale Ge-schäftskontakte. Heute sind wir in unseren sozialen Kompeten-zen mehr gefordert als frühere Generationen. Prestige, Einflussund soziale Macht haben den Alltag in stärkerem Maße ergrif-fen, als dies im Zeitalter lebenslanger Beschäftigungsverhältnis-se und vorgegebener Karrieremuster (die allerdings immer nurfür eine Minderheit erreichbar waren) der Fall war. Heute be-treiben junge Menschen, die vorankommen wollen, bewusst ein»Curriculum-Design«: Sie suchen sich möglichst viele Anstel-lungen in prestigeträchtigen Firmen und Projekten, die sie inihren Lebenslauf schreiben können. Je mehr solcher Eintragun-gen, desto höher ihr Status und ihr Startvorteil bei der nächstenBewerbung. Das berufliche Leben ist, so scheint es, mehr vonStatusspielen durchzogen. Vereinfacht: Wir beobachten denlangsamen Wandel einer Gesellschaft mit eher starren Hierar-chien zu einem dynamischeren Gewebe, das durch andauerndeStatusspiele hergestellt und aufrechterhalten wird.

Wenn Hierarchien in großen Teilen durch Netzwerke ersetztwerden, dann werden Netzwerke selbst zu sozialem Kapital.Der Vorteil liegt in der Menge und der Qualität der Beziehun-gen: je mehr jemand eben »vernetzt« ist. Aber nicht nur dieQuantität zählt: Einige wenige Beziehungen können wertvollersein als möglichst viele. Dies trifft etwa auf Beziehungen zu, die»strukturale Löcher« füllen: Das sind Beziehungen zwischenGruppen, welche sonst nicht miteinander kommunizieren.11

Aber auch diese Art der Vernetzung kann soziales Kapital allei-ne nicht erklären. Wer hohen Status im Netzwerk erlangt, wirdfür andere wertvoller sein als niedrig Positionierte. Soziales Ka-pital setzt sich also zumindest aus zwei Komponenten zusam-men: Vernetzung und Status.

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Scham

Status hat nicht nur mit äußerlichem Verhalten, sondern mittiefen Gefühlen, ja sogar mit dem Selbstwert zu tun. Macht undStatus sind oft mit heftigen Empfindungen verbunden. Die Ge-fühlsreaktionen auf einen bestimmten Status variieren aberdurchaus. In unterschiedlichen Kontexten lösen Hoch- undNiedrigstatus andere Eindrücke aus. Manche Dominanzerfah-rungen sind uns wohl vertraut, wir können sie mit Freude ge-nießen. Andere wiederum lösen starkes Unbehagen aus. Werbeispielsweise noch niemals eine Sitzung geleitet hat, der wirddiese Aufgabe tunlichst meiden. Drängen andere in die Füh-rungsrolle, wird er mit Niedrigstatus-Verhalten kontern, umnur nicht den Stress zu erleben, da vorne zu sitzen, das Ge-spräch zu leiten und Verantwortung übernehmen zu müssen.Hoher Status kann (muss aber nicht) großen Stolz hervorrufen.Innerlich jubeln wir: »Ich habe es geschafft!« Die Kehrseite vonStolz ist Scham, in abgeschwächter Form auch Verlegenheit.Über Scham zu sprechen ist genauso tabuisiert wie das Redenüber die Machtspiele des Alltags.

Scham ist eine ungemein starke Emotion. Sie tritt dann auf,wenn ein »Band« zu anderen Menschen zerrissen ist, die »un-sichtbare Brücke«, die uns mit anderen verbindet und die wirfür ein stabiles Selbstwertgefühl benötigen.12 Man fühlt sich aus-geschlossen. Die anderen haben uns angeklagt, eine wichtigeRegel verletzt zu haben. Entweder hörten wir das direkt vonihnen oder wir stellen uns diesen Vorwurf innerlich vor. »Schämdich!« haben wir unzählige Male von unseren Eltern gehört.Mangelnde Erfolge in der Schule, Versagen im Job oder in derPartnerschaft, Fehlschläge im Leben, Peinlichkeiten im Alltag:Tausende Gelegenheiten, Scham und Schuld zu empfinden undzu pflegen. Scham ist ein essenzieller Bestandteil der Beziehun-gen zu Eltern, zu Kindern, zu Kollegen, zu Vorgesetzten, selbstzu Unbekannten, die uns auf der Straße über den Weg laufen –bis hin zu ethnischen oder politischen Problemlagen.

Scham 31

Das Gefühl von Scham ist mit Status und Statusspielen eng ver-knüpft.13 »Scham«, meint der Sozialpsychologe Paul Gilbert,»ist eine unfreiwillige Antwort auf das Bewusstsein, Status ver-loren zu haben und abgewertet worden zu sein.«14 Arme schä-men sich, arm zu sein, sie verstecken ihre Zwangslage, so gut esgeht. Manager schämen sich, wenn sie nicht »richtig« gekleidetsind und sich nicht »korrekt« benehmen. Starke Schamgefühlesind mit Selbstvorwürfen verbunden, wir fühlen uns schuldig –auch ein Phänomen, über das kaum jemand spricht. Innerlichsagen wir uns vielleicht: »Ich bin zu dick«, »Ich bin zu dumm«,»Die sind viel attraktiver«, »Ich habe zu wenig Macht«, »Ich binzu wenig potent«, »Den anderen gelingt alles.« In den Zeitun-gen lesen wir die Statistiken, wie viele Menschen von solchenGefühlen geplagt sind – aber das sind die anderen, nicht wir!

Schamgefühle treten in vielen Situationen auf, immer gibt eseinen Bezug zu Image und Ansehen. Viele Menschen werdenverlegen, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird. Warum?Weil ihr aktueller Status enthüllt werden könnte. Nicht nur inasiatischen Schamkulturen halten Hochstatus-Personen viel aufihren Lebensstil. Jeder Fauxpas wird peinlich vermieden, manwill nicht beschämt werden. Zu einem Geschäftsessen mussman ein gutes Restaurant auswählen und keiner würde für alleWürstchen bestellen und ein Bier dazu. Man würde sich nichtnur vor den Gästen, sondern sogar vor den Kellnern blamieren.Wenn aber der Vorstand in einer Sitzungspause die genau glei-chen Würstchen servieren lässt, muss sich niemand genieren.Es ist ja kein Statusverlust zu befürchten. Im Gegenteil: Man er-zählt noch beiläufig, wie gut so etwas schmeckt, wie selten manes bekommt und die ständigen Sushi, Trüffel und Hummerhängen einem ohnehin zum Halse heraus!

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Schamvermeidungsspiele

Benimmkurse und Neuauflagen des alten Knigge haben für dasManagement Konjunktur. Der Grund ist offensichtlich der glei-che wie vor 100 Jahren für die Aristokratie: wer die Regeln dergehobenen Gesellschaftsschicht kennt, beansprucht ihren Sta-tus. Er zeigt, dass er »dazugehört«. Mit guten Sitten alleine er-ringt man aber kaum höheren Status. Ihre Kenntnis beugt viel-mehr Statusverlust vor: Man muss sich nicht schämen.

Der Bereichsleiter Ritter hatte einen Sohn, der mit dem Gesetz inKonflikt kam. Vielen wäre dies peinlich, besonders wenn die Kolle-gen davon erfahren. Nicht jedoch Ritter: Schon beim ersten Kontaktmit der Polizei sprach er freimütig im Betrieb von seinem Sohn, wel-che Probleme er ihm mache, seine Vergehen und die zu erwartendeStrafe. Zu keiner Zeit verteidigte er seinen Sohn, gab aber immer zuerkennen, dass er zu ihm stehe und ihn weiter unterstützen werde.Je schlimmer die Lage seines Sohnes wurde, umso mehr schien erdavon zu berichten. Ja, er verwendete seinen Sohn und seine eige-nen Erziehungserfahrungen sogar als Beispiel, um klarzumachen,welches Führungsverhalten gegenüber Untergebenen nicht unbedingtzu Erfolg führen wird. Keiner der Kollegen und Mitarbeiter kam zuirgendeinem Zeitpunkt auf den Gedanken, hämisch über Ritter oderseinen Sohn zu sprechen.

Völlig anders hingegen ein Vorstandsdirektor eines großenKonzerns:

Der Vorstandsdirektor war in einem früheren Abschnitt seiner Karrie-re in illegale Waffengeschäfte verwickelt gewesen. Dafür wurde erverurteilt und musste sogar für kurze Zeit ins Gefängnis. Später ge-lang es ihm, das Image des Saubermannes aufzubauen. Er machtesteile Karriere und wurde schließlich Vorstandsdirektor. Immer aberstrahlte er aus, dass er an seine Haftvergangenheit nicht erinnertwerden wollte. Jedermann vermied es, in seiner Gegenwart Wörterwie »Gefängnis« oder »Haft« zu verwenden, egal in welchem Zusam-menhang.

Schamvermeidungsspiele 33

Der Vorstandsdirektor wollte Scham vermeiden, und genau daswurde für seine Umwelt zum Statustest. Würde es jemandwagen, ihn an die Haft zu erinnern, käme sein Ansehen in erns-te Gefahr.

Donner und Anders von der Signal Werbeagentur haben einen Ter-min bei einem Klienten, um ihr neues Werbekonzept zu präsentie-ren. Anders verstaut die Folien für die Präsentation in seinemWagen und folgt Donner, der den Weg zum Kunden kennt. Andersbleibt im Stau stecken, Donner kommt rechtzeitig zum Termin. Ohnedie vorbereiteten Unterlagen kann er aber die Präsentation nicht be-ginnen. Als Anders endlich eintrifft, ist der Kunde am Kochen unddie Werbeagentur verliert den Auftrag. Donner ist wütend, Andersfühlt sich traurig und beschämt. Er fühlt sich für den Misserfolg derFirma schuldig.

Welchen sozialen Status besitzen Donner und Anders, wenn sieso reagieren? Wer könnte der Vorgesetzte und wer der Assis-tent sein? In einer Studie meinten fast 90 Prozent derjenigen,die diese Situation vorgelegt bekamen, Donner hätte den höhe-ren Status als Anders. Wütend zu werden, können sich offenbarnur Menschen mit hohem Status erlauben. Umgekehrt bean-sprucht man offenbar mit einem Wutausbruch erhöhten Status.Wer sich dagegen schämt, sich schuldig und traurig fühlt, posi-tioniert sich niedrig. Würde umgekehrt hingegen das Missge-schick in einen Erfolg münden und Anders würde sich stolzfühlen (die Kehrseite von Scham) beziehungsweise würde An-erkennung von Donner bekommen, dann meint ein ähnlichhoher Anteil von Befragten, Anders sei die Person mit dem hö-heren Status.15

Scham und Stolz, hoher und niedriger Status sind in unsererVorstellung untrennbar miteinander verbunden. Positive Ge-fühle bei Erfolg werden dem Hochstatus-Spieler zugestanden,während sich bei Misserfolg der niedrig Positionierte schämenmuss – die emotionale Kehrseite der Leistungsgesellschaft. Um-gekehrt ziehen viele daraus den Schluss: Wer sich hoch positio-

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nieren will, muss jeden noch so kleinen Erfolg lautstark feiern –und zwar nicht nur privat, sondern mit möglichst viel Außenwir-kung. Der Hochstatus-Spieler zeigt seine Freude öffentlich undimmer wieder. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Erfolgihm selbst zuzuschreiben ist. Gerade wenn es unklar ist, wer fürden Erfolg verantwortlich ist, oder wenn es vor allem ein Erfolgdes Teams ist, bekommt derjenige, der am meisten positive Emo-tionen zeigt, auch selbst am meisten von den positiven Gefühlenab. Ein Hochstatus-Spieler agiert dementsprechend bei Misser-folg mit dem Gegenteil. Er ärgert sich, hat vielleicht einen Wut-ausbruch, vermeidet es aber, Schuldgefühle zu zeigen.

Statuszuschreibungen

Die meisten Menschen erzählen lieber über ihre Erfolge und ver-suchen nicht zu viele Worte über ihre Misserfolge zu verlieren.Man schämt sich dafür. Manager vermeiden es, riskante Projektean die große Glocke zu hängen. Wenn es schief geht, muss mansich rechtfertigen. Man fürchtet vermindertes Ansehen und Sta-tus. Ein erfolgreicher austro-kanadischer Unternehmer erzähltseine Lebensgeschichte:

Auf die Frage »Sie hatten ja auch mal für ein politisches Amt kandi-diert, wurden aber nicht gewählt. Wie erklären Sie sich das?« meinter: »Na ja, ich muss dazu etwas ausholen. Als ich antrat, tat ich dasmit sehr klaren Anliegen. Das war Ende der achtziger Jahre. Zu derZeit hatten wir im Land eines der größten Defizite ...« Er holt tatsäch-lich weit aus und erzählt eine lange Geschichte von den politischenVerhältnissen damals. Er selbst kommt als Person in seiner Beschrei-bung kaum vor. Als er geendet hat, forscht der Interviewer weiter: »Inder Zwischenzeit hatten Sie die Leitung der Firma abgegeben und eslief dort ziemlich schlecht. Als Sie wieder zurückkamen, gelang Ihnensofort der Turnaround.« Darauf der Unternehmer: »Wissen Sie, ichhabe auch immer viel Glück gehabt, und dann habe ich das Glückeinfach ausgenutzt ...«, und lächelt dazu viel sagend.

Statuszuschreibungen 35

Es scheint, als würde sich der Selfmademan weit unter seinemWert verkaufen: Übertrieben lang schildert er seine schlechtenJahre, während er seine großen Erfolge mit einem mehrdeuti-gen Verweis auf das Glück abtut. Dennoch: So hebt er seinenStatus. Denn in der langen Schilderung der gescheiterten Kan-didatur wird nur auf die Zeitgeschehnisse eingegangen. Damitwird suggeriert, die Situation oder die anderen – und nicht erals Person – seien für diesen Misserfolg verantwortlich zu ma-chen. Im zweiten Teil dagegen stellt er sich als Person in denMittelpunkt – und dafür genügt ihm ein Satz. Dabei auf dasGlück zu verweisen, macht ihn sympathisch. Trotzdem wirdklar, dass er als (glückliche) Person für den Erfolg verantwort-lich ist.

Das Geheimnis liegt darin, die beiden unterschiedlichen Artender Ursachenzuschreibung (Attribution) nicht direkt zu formu-lieren. Würde er sagen: »Für meine Kandidatur war die Zeitnoch nicht reif« oder »Das Wahlkampfteam war schuld« (dieSituation war die Ursache des Misserfolgs) und im anderen Fall:»Keiner kennt eben das Geschäft so gut wie ich« (ich bin dieUrsache des Erfolgs), würde man ihn als arrogant und eingebil-det entlarven. Der kokettierende Verweis auf das »Glück« meintaber nicht die Situation, sondern ihn: »Ich bin die glücklichePerson, weil ich es auch verstehe, das Glück auszunutzen.«Indem der Protagonist die Zeit des Misserfolges genau schil-dert, können wir uns gut mit ihm identifizieren und lernen ver-stehen, warum die Umstände dafür verantwortlich waren.

Status und Glück

Scham kann sich jedoch auch in einer Hochstatus-Position zei-gen, etwa wenn sich jemand in einer Situation wiederfindet, dieseinen Erwartungen oder denen der Umwelt widerspricht.Wenn Personen, die aus einer diskriminierten Minderheit

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stammen, schnell in Amt und Würden gelangen, dann empfin-den sie den neuen sozialen Status als ambivalent: man ist »zor-nig und froh« oder »stolz und beschämt« zugleich – wie eineStudie dies für Frauen in hohen Positionen behauptet.16 Offen-bar macht hoher Status nicht automatisch glücklich, auch Män-ner nicht. Einiges deutet darauf hin, dass zufriedene Menschensich weniger mit anderen vergleichen. Menschen, die sich selbstals glücklich einschätzen, freuen sich über ihre Erfolge und är-gern sich über Misserfolge – unabhängig davon, ob der Nach-bar besser oder schlechter abgeschnitten hat. Menschen, diesich eher als unglücklich sehen, können sich dagegen kaumüber einen Erfolg freuen, wenn jemand in ihrer Nähe einennoch größeren Erfolg errungen hat.17

In Experimenten hatten Personen jeweils die Wahl zwischen zweiMöglichkeiten: (A) in einer Organisation 50000.- US-Dollar pro Jahrzu verdienen, wo die anderen im Schnitt 25000.- US-Dollar verdie-nen oder (B) in einer Firma 100000.- US-Dollar zu verdienen, inder die anderen im Schnitt 200000.- US-Dollar verdienen. Mehr alsdie Hälfte der befragten Personen wählte die Option (A).18 Sie wür-den offenbar 50000.- US-Dollar im Jahr verschenken, nur um imunmittelbaren Vergleich vorne zu sein. Der Reiz, im Statusspiel inder Firma zu gewinnen, übertrifft den finanziellen Vorteil. Wahrlichein hoher Preis für Status!

Eine Warnung

Nochmals: Über hohen und niedrigen Status, über Scham undFreude, über gutes und schlechtes Selbstbild zu reden, darfnicht als Plädoyer missverstanden werden, im Alltag andauerndhohen Status zu spielen oder das auch nur zu versuchen. DasGegenteil kann der Fall sein und dafür werden wir noch vieleBeispiele bringen. Es ist immer eine Frage der Ziele und mansollte sie bewusst vor Augen haben: Will man sich auf Kostenanderer positionieren oder sie selbstlos fördern? Was ist kurz-

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fristig von Bedeutung, was soll langfristig Bestand haben? Langanhaltende gute Kontakte sind immer eine Balance im Status-spiel. Nicht nur nette Kollegen und Kolleginnen braucheneinen ausgewogenen Mix an Dominanz und Unterordnung, anHoch- und Niedrigstatus-Erleben.

Der amerikanische Familienpsychologe John Gottman hat in einerLangzeitstudie (sie geht über 20 Jahre) anhand der Befragung vonmehr als 700 frisch verheirateten Paaren ein Modell entwickelt, beidem man nach nur drei Minuten Beobachtung mit 84 Prozent Wahr-scheinlichkeit vorhersagen kann, ob die Ehe längerfristig Bestandhaben wird oder nicht. Gottman lässt die Partner ein Streitgesprächüber ein Thema führen, bei dem sie gegenteiliger Meinung sind, undbewertet die Debatte anhand einer detaillierten Liste. Neben ande-ren Faktoren wirkt sich vor allem zu starkes Dominanzgehabe ge-fährdend für die weitere Ehe aus, insbesondere wenn in ihrem Ver-halten subtile Anzeichen von Verachtung und Geringschätzung desPartners oder der Partnerin erkennbar sind.19 Dies bedeute, wieGottman in einem Interview ausführte, den Ehemann oder die Ehe-frau auf »eine niedrigere Ebene« zu stellen, ihn oder sie »hierar-chisch« zu behandeln. Signale dieser Art sind nach Gottman diewichtigsten Indizien, dass die Ehe langfristig in Gefahr ist.20

Statusspiele zu kennen und sie bewusst einzusetzen kann einenFreiraum eröffnen. Dieses Ziel verfolgen wir mit diesem Buch.Autonomie braucht Praxis. So wie das Baby, das gehen lernt,am Beginn oft hinfällt, so scheitert auch der ungeübte Status-spieler immer wieder. Scham zweiter Ordnung, also sich zuschämen über die Scham des Statusverlustes, mag ein uner-wünschter Nebeneffekt solcher Lernbemühungen sein. Aberletztlich kann man sich vielleicht wirksamer gegen unliebsameZeitgenossen abgrenzen und mehr sein eigenes Spiel spielen.Ein Ziel könnte es ja sein, bei Menschen, die man als wertvollerachtet, an Ansehen zu gewinnen. Beliebtheit hat in vielen Fäl-len mit Statusflexibilität zu tun. Sympathisch wirkende Men-schen können oft schnell zwischen hohem und niedrigem Sta-tus wechseln. Hören wir, wie jemand drei Lehrer aus seinerKindheit schildert:

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»Den Lehrer A konnten in der Schule alle gut leiden. Er war aber un-fähig, Disziplin herzustellen. In der Stunde ging es immer drunterund drüber. Viel gelernt haben wir bei ihm nicht. Als einmal der Di-rektor Schwierigkeiten machte, hat er uns händeringend gebeten,ihm zu helfen. Wie dieser dann in der Klasse eintraf, um seinen Un-terricht zu beobachten, saßen wir brav auf unseren Stühlen. Dashielt aber nur fünf Minuten an. Nach einer Viertelstunde herrschtedas alte Chaos.Der Lehrer B hingegen war der Schrecken der Schule. Keiner wagtegegen ihn aufzumucken. Wenn er uns schweigend anschaute, warenwir sofort ruhig. In der Pause haben wir Rachepläne gegen ihn ge-schmiedet. Was wollten wir ihm nicht alles antun. Im Klassenzimmerhaben wir aber dann wie zahme Hunde gesessen. Innerlich fluchendhaben wir alles getan, was er verlangt hat.Am beliebtesten war freilich Lehrer C. Mit jedem Problem konnten wirzu ihm kommen, er war wie ein Kumpel. Nicht ein einziges Mal hat erjemanden bestraft. Bei ihm hat aber immer Disziplin geherrscht. Erhat Witze gemacht und oft herrschte eine fröhliche Stimmung. Wennes sein musste, saßen wir aber mucksmäuschenstill in der Klasse.«

Was ist geschehen? Lehrer A hat die ganze Zeit Niedrigstatus-Signale gegeben, also die Schülerinnen und Schüler immer – of-fensichtlich konnte er gar nicht anders – aufgewertet, die danndas Ruder übernommen haben. Lehrer B hingegen tat genaudas Gegenteil, vielleicht auch ohne zu wissen, was er wirklichtat. Viele Autoritätspersonen leiden an ihrem allzu dominantenVerhalten. Nur C konnte sein Statusverhalten flexibel den Er-fordernissen anpassen. Er wusste, was zu tun war, um denSchülern respektvoll zu begegnen (nicht zu hohen Status zuspielen) und ihnen gleichzeitig Disziplin abzuverlangen (hohenStatus zu spielen und durchzusetzen).

Bei Führungskräften in Organisationen sind solche Unterschie-de zwar kaum so krass und offensichtlich, die Prinzipien sindaber die gleichen. Ob sie oder auch ihre Mitarbeiterinnen undMitarbeiter erreichen, was sie wollen, hängt von ihrer Fähigkeitab, mit Statusverhalten flexibel umzugehen. Was das genauheißt, beschreiben die folgenden Kapitel.

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