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Musikstunde mit Antonie v. Schönfeld SWR2 Dienstag, 19. November 2013, 9.05-10.00 "If wind and water could write music..." - Benjamin Britten zum 100. Geburtstag(1-5)

II. Lehrjahre in London Benjamin Britten im Rückblick auf sein Studium am Royal College of Music: „Als Student war ich eher eine Niete.

Das Problem war, dass ich schon von früh an bei Frank Bridge studiert

hatte. Bridges Ansatz war der eines hochprofessionellen internationalen

Musikers. Die Haltung der meisten Studenten am Royal College of Music

dagegen war eher amateurhaft und volkstümelnd.

Mich ließ das eine ausgesprochen intolerante Haltung einnehmen.“

________________________________________________________ Musik 1 Benjamin Britten 2´55 CD5 <7> Poco presto e molto capriccioso aus: Three Character Pieces Stephen Hough, Klavier EMI 0 15154 2, LC 6646 ________________________________________________________

Das war das dritte der Drei Charakterstücke von Benjamin Britten,

gespielt von Stephen Hough.

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Im September 1930, im selben Jahr, in dem Britten diese Stücke geschrieben hatte,

wurde er Student am Royal College of Music in London:

Er war 16, hatte ein Stipendium in der Tasche und war voller Spannung auf das neue

Leben: „Danke, dass Ihr mich habt herkommen lassen,“ schrieb er nach Hause, nach

Lowestoft, und die ungeliebte Schulzeit endlich beenden lassen’ ließe sich

hinzufügen.

Das damalige Royal College lässt sich kaum vergleichen mit der heutigen

internationalen Hochschule, sicherlich handelte es sich um eine grundsolide

Lehranstalt, doch die Professoren - Komponisten wie Ralph Vaughan Williams und

John Ireland - waren kaum für avantgardistische Intentionen bekannt, man

beschränkte sich hier vorwiegend auf Englisches.

Da war Britten von seinen Unterrichtstunden mit Frank Bridge tatsächlich anderes

gewohnt: Bridge als strenger Lehrmeister hatte einerseits stundenlang mit seinem

jungen Schüler daran gearbeitet, genau das, was der ausdrücken wollte, auf Papier

zu bringen, ihm die nötige Technik zu vermitteln (und auch die Kunst des

Weglassens und Streichens); darüber hinaus aber hatte Bridge auch seinen Horizont

erweitert, indem er mit ihm immer wieder zeitgenössische Werke vom Kontinent

studierte, Partituren las, Stücke hörte und am Instrument durch Klavierauszüge ging:

________________________________________________________ Musik 2 Gustav Mahler 1´34 <11> Selbstgefühl aus: Des Knaben Wunderhorn Dietrich Henschel, Bariton Boris Berezovsky, Klavier 2013 EPRC 013, LC ________________________________________________________ In London, einem der europäischen Musikzentren in den 30er Jahren, konnte

Benjamin Britten jetzt (außerhalb des Royal College of Music) viele der Werke von

zeitgenössischen Komponisten in Konzerten hören, die er durch Bridge

kennengelernt hatte: Stravinsky faszinierte ihn, Schönberg fand er genial - „Ich

bin ganz vernarrt in Schönberg und vor allem in die Idee, ihn zu erforschen“ schreibt

er in sein Tagebuch -und Gustav Mahler hat ihn begeistert:

Dietrich Henschel - begleitet von Boris Berezovsky - sang gerade

Verlor’ne Müh’ aus: Des Knaben Wunderhorn.

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In der Queens Hall hörte Britten noch im Herbst 1930 die vierte Sinfonie von Mahler,

im viertem Satz verwendet der Komponist ebenfalls einen Liedtext aus der

Wunderhorn-Sammlung.

-Von den hier erzeugten Klangfarben, überhaupt von Mahlers Art zu instrumentieren

war der junge Britten hingerissen,

er beschreibt sie als

„...ganz klar und transparent.

Bis in die kleinste Schattierung war die Farbgebung ausgearbeitet und das

Ergebnis hatte eine unvergleichliche Wirkung.

Meine Aufmerksamkeit ließ nicht eine einzige Minute lang nach.“

________________________________________________________ Musik 3 Gustav Mahler ca. 4´45 <4> Auschnitt aus: 4. Satz Sehr behaglich aus: Sinfonie Nr. 4 G-dur Christine Schäfer (Sopran)

Concertgebouw Orchester Amsterdam Leitung : Bernard Haitink M0335046 004 (Live)

ACHTUNG: AUSSCHNITT A-4´45 oder 5´00 ________________________________________________________

Gustav Mahler, ein Ausschnitt aus dem letzten Satz der vierten Sinfonie

G-dur mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter Bernard Haitink, Solistin war

Christine Schäfer.

Mahler und Stravinsky und Schönberg sind die Komponisten, deren Musik - so

unterschiedlich sie ist - den Studenten Benjamin Britten faszinierte; -

- am Royal College of Music tauchte er jetzt in eine völlig andere musikalische Welt

ein:

Im Fach Tonsatz wurde ihm zunächst die Aufgabe gestellt, eine vierstimmige

Sakralmusik im Stil von Palestrina zu schreiben; von den vielen Manuskripten

dagegen, die Britten Woche für Woche mit in den Kompositionsunterricht brachte,

analysierte sein Lehrer John Ireland ab und zu das eine oder andere, -und doch war

der Stapel in der kommenden Woche wieder niedrig, - für einen ambitionierten

Studenten war das enttäuschend, vor allem für einen Studenten, der vorher

Unterricht bei Frank Bridge gehabt hatte: Bridge hatte jedes Stück seines Schülers

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analysiert, mit ihm diskutiert, korrigiert, weitergeholfen, gemeinsam hatten sie neue

Ideen gewälzt, verworfen usw. -Gerechtigkeitshalber allerdings sei hinzugefügt, dass

Bridge finanziell unabhängig war und einen Privatschüler hatte, Ireland dagegen als

Kompositionslehrer am Royal College hatte mit bescheidenem Salär eher ein

Dutzend...

Noch gravierender für das schwierige Verhältnis zwischen Student und Professor

aber war, dass beide zweierlei musikalische Stile vertreten haben: Ireland wollte

seinen Schüler im althergebrachten romantischen Duktus unterweisen, nach dem

Vorbild des 19. Jahrhunderts, - die individuellen Ansätze des Modernisten, die sich

bei Britten zeigten, hat er weitgehend ignoriert.

- Mit seinem Klavierlehrer Arthur Benjamin, einem gebürtigen Australier, verstand

sich Britten besser. Der allerdings sagte ihm gleich, dass er - wenn er beabsichtige,

Konzertpianist zu werden - sich auf mindestens vier Stunden Üben am Tag einstellen

solle, Britten kam an guten Tagen gerade mal auf drei.

Sein nüchterner Kommentar:

„Wie ich es jemals schaffen soll, die Pennies heranzuschaffen,

- das weiß Gott.“

Die dritte wichtige Figur am College war Ralph Vaughan Williams, - doch Britten fand

zu ihm keinen Zugang. - Ob dessen Bemerkung über den jungen Kollegen - „very

clever - but beastly music“, „sehr clever - aber schreckliche Musik!“ - wirklich von ihm

stammt oder in den Fundus der Hochschul-Anekdoten gehört, das sei dahingestellt.

Vaughan Williams stand für eine völlig andere Musik: Er bevorzugte in seinen

Orchesterwerken die große Besetzung und schrieb zu der Zeit in einem erweiterten

tonalen Bereich im spätromantischen Gestus, gerne in jenem leicht elegischen

Duktus, der in England als Pastoralstil bezeichnet wird:

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________________________________________________________ Musik 4 Ralph Vaughan Williams 5´20 <1> Ausschnitt aus: Norfolk Rhapsody Nr. 1 e-moll (11´40) London Philharmonic Orchestra Ltg. Bryden Thomson CHAN 8502, LC 7038 ACHTUNG: AUSSCHNITT: 6´25 - Ende (sehr leise) ________________________________________________________ „Der beste Weg, um mich von Elgar zu überzeugen, ist,

mir zuerst Vaughan Williams vorzuspielen“,

so Brittens Verdikt 1935 über seinen englischen Kompositions-Kollegen und

Vorgänger. Und:

„Ich habe mich immer darum bemüht, eine bewusst kontrollierte

professionelle Technik zu entwickeln, - es war das Bemühen, von all dem

wegzukommen, wofür Vaughan Williams zu stehen schien.“

Mit der Musik des älteren Vaughan Williams konnte Britten nie viel anfangen.

Das London Philharmonic, geleitet von Bryden Thomson, spielte gerade einen

Ausschnitt aus Vaughan Williams Norfolk-Rhapsody Nr. 1.

Über das Verhältnis der beiden Komponisten aus zwei Generationen ist viel

geschrieben worden, das meiste davon mit eher negativem Tenor:

Vaughan Williams habe den jüngeren Britten abgelehnt, ihm Steine in den Weg

gelegt u.ä m. - Doch das lässt sich nicht durchgehend sagen: Noch während Brittens

Zeit am Royal College of Music war Vaughan William es, der dem Organisten von

Worcester Cathedral vorschlug, zwei Psalme des Studenten aufzuführen, und er

sorgte dafür, dass Brittens Sinfonietta in der Konzertreihe am Mercury Theatre in

London gespielt wurde.

Das bedeutete: Öffentlichkeit und - wie auch immer es aufgenommen werden würde

- zunächst einmal Anerkennung:

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________________________________________________________ Musik 5 Benjamin Britten 4´08 CD6 <1> Poco presto ed agitato aus: Sinfonietta op 1 (1932) Britten Sinfonia Ltg. Daniel Harding EMI 9 78166 2, LC 6646

M0010973 008 ________________________________________________________ „Mr. Britten kann so provokant sein wie sonst nur die ausländischen

Vertreter des catch-as-catch-can-Kompositionsstils,“

schreibt der London Daily Telegraph im Februar 1933 über die Uraufführung der

Sinfonietta im Ballett-Club des Merkur-Theaters. - Hier spielte gerade das Ensemble

Britten Sinfonia den ersten Satz daraus: Poco presto ed agitato.

Britten war keine zwanzig als er die Sinfonietta schrieb, charakteristisch scheint hier

bereits die Durchsichtigkeit der Besetzung, da ist nichts Opulentes oder verstaubt

Spätromantisches.

Die Sinfonietta ist sein „Opus 1“, ein Werk also, mit dem der junge Komponist

durchaus selbstbewusst an die Öffentlichkeit trat.

Öffentlich aufgeführt zu werden aber heißt auch sich öffentlicher Kritik stellen zu

müssen, - eine Erfahrung, die Britten nicht leicht nahm.

Im Jahr 1952 hat er rückblickend geschrieben:

„Die dämpfende Wirkung dieser ersten Notiznahme

eines jungen Komponisten kann man sich leicht vorstellen.

Ich war wütend und erschrocken, weil ich wusste, dass da kein Wort

der Wahrheit entsprach. Außerdem war ich einigermaßen entmutigt.

Keine Freundlichkeit - keine Unterstützung - keine Auffassungskraft.

Sollte das die kritische Behandlung sein, auf die man sich für sein Leben

gefasst machen musste. Eine düstere Aussicht.“

Was Kritik betraf war Benjamin Britten empfindlich und dünnhäutig.

Das hat in seinem Leben immer wieder dazu geführt, dass er mit Menschen,

Kollegen, die er für einen Misserfolg einer Aufführung oder Veranstaltung für

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verantwortlich hielt, nicht weiter zusammenarbeiten wollte und sie „fallen liess“. (In

Biographien ist immer wieder die Rede von „Brittens corpses“, von seinen Leichen“).

Die Sinfonietta jedoch hat nicht nur negative Kritik geerntet: Die BBC wurde auf den

jungen Komponisten aufmerksam und man erkundigte sich über seine bisherigen

Werke: Eine Aufführung seiner Phantasy für Streichquartett wurde geplant, die kurz

darauf mit einem Preis ausgezeichnet worden ist. -

Fast zeitgleich entstand eine zweite Phantasy für die Besetzung Oboe und

Streichtrio, in der Britten zu Beginn und zum Ende des Stückes (da steigen wir ein)

die Oboe über einem marschartigen Thema in den Streichern eine freie Melodie

entwickeln lässt:

________________________________________________________

Musik 6 Benjamin Britten ca. 2´18 <1> Ausschnitt aus: Phantasy op 2 (13´42) Gernot Schmalfuß, Oboe Mannheimer Streichquartett MDG 301 0925-2, LC 6768 Achtung: AUSSCHNITT - ab 11´20 bis Ende (vorher einblenden) ________________________________________________________

- Die Musik geht ganz leise zu Ende, - das war der Schlussteil der Phantasy für Oboe

und Streichtrio von Benjamin Britten. Gernot Schmalfuß spielte zusammen mit

Mitgliedern des Mannheimer Streichquartetts.

London in den dreißiger Jahren - da konnte einem jungen Menschen kaum langweilig

werden, zumal einem kulturell interessierten, Britten - obwohl eher ein Landmensch -

genoss die Stadt in vollen Zügen:

Sein Tagesablauf wurde bestimmt von Veranstaltungen am Royal College of Music,

Mahlzeiten in seiner Behausung mit seinen Schwestern Beth oder Barbara (oder

beiden zusammen), Tee bei Selfridges oder Dinner mit dem Ehepaar Bridge, von

Konzerten, langen Spaziergängen - er nannte sie seine „think-walks“, seine

„Gedanken-Gänge“- , Grammophonaufnahmen und/oder Rundfunkübertragungen

hören, Tennis spielen - oder Tennis in Wimbledon miterleben - Proben im College,

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Theaterbesuche oder Chorproben der English Madrigal Society, in der Britten im

Bass mitsang.

Hier wird er etliche der altenglischen Madrigale kennengelernt haben - Alte Musik

wird in seinem kompositorischen Schaffen wichtig werden - Madrigale von Orlando

Gibbons, John Dowland, Thomas Morley, John Bennet und Thomas Weelkes:

________________________________________________________ Musik 7 Thomas Weelkes 2´55 <9> Hark! all ye loveley saints Madrigal Ensemble (Emma Kirkby, Jacqueline Fox, Hugh Hetherington, Philip Salmon, Richard Wistreich) CDA 66019, LC 7533 ________________________________________________________

Britten hat sich früh für Alte Musik interessiert, vielleicht neugierig geworden im Chor,

beim Singen in der English Madrigal Society, einem a-cappella-Ensemble.

- Stücke wie Hark! all ye loveley saints von Thomas Weelkes,

geschrieben 1592, gehörten da sicherlich zum Repertoire.

Brittens Tagebücher geben uns einen Einblick in sein Leben als Student:

Was er unternahm, wen er traf, welche Musik er hörte, vor allem, welche ihm gefiel,

welche nicht - und warum. - Während seiner Zeit am Royal College machte er sich

zum ersten Mal gezielt auf die Suche nach alten Stücken, um damit zu arbeiten:

Am 12. November 1932 heißt es in seinem Tagebuch:

„Morgens zu Whiteleyes zum Haareschneiden

& dann weiter in die St Martin’s Lane zu Chattos & Windus,

um einen Band mit Ancient English Carols zu besorgen.

Ich denke, ich werde einige davon demnächst

für ein Chorwerk verwenden.“

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Chormusik hat in England generell einen anderen Stellenwert als hierzulande:

Eigentlich durch die ganze Musikgeschichte hindurch, von den Madrigalen des

Elisabethanischen Zeitalters über Purcells frühbarocke Anthems und Oden, den

geselligen Gesängen der Linleys in der klassischen Epoche bis zur Romantik mit

Partsongs nicht nur von Elgar waren Chormusik und Gesang immer präsent. - Elgar

übrigens hatte seinen Durchbruch als Komponist - das war im Jahr 1900 - mit einem

Vokalwerk, mit dem großen Oratorium Traum des Gerontius.

Ähnlich 30 Jahre später William Walton mit seinem Oratorium Belsazars Fest.

Nach wie vor gibt es in England die großen Chorfestivals, die namhaften Kathedral-

Chöre und vor allem - überall im Land verteilt - kleine Madrigal-Societies und

Singkreise, und nicht nur Britten wird auch im Kreis der Familie mit gesungener

Musik groß geworden sein.

Waltons Oratorium Belsazars Fest wurde 1931 in Leeds uraufgeführt, es war eine

Auftragskomposition der BBC und vermutlich auch zeitnah im Radio zu hören. Britten

setzte die Ankündigung in seinem Tagebuch-Eintrag von November 1932 bald um

und verwendete die Ancient English Carols, die er gekauft hatte, in seinem ersten

größeren Chorwerk: A Boy was born

- Chorvariationen für unbegleitete Männer-, Frauen- und Knabenstimmen.

Der Zyklus erzählt die Geschichte von Jesu Geburt in Vertonungen unterschiedlicher

Autoren (z. Tl. aus dem 16. Jahrhundert), die Britten aneinandergefügt hat, so dass

im weitesten Sinne eine Handlung entsteht.

Das Thema zu Beginn ist homophon gesetzt, die Stimmen bewegen sich also

parallel weiter, - das klingt wie ein ausdrucksstarker reiner Choral, den Britten

attacca übergehen lässt in die erste Variation Lullay Jesu: die wiederum beginnt mit

einer wiegenden Figur, gesungen zunächst von Knabenstimmen, und baut sich dann

im Laufe der Variation auf zur vollen Achtstimmigkeit:

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________________________________________________________ Musik 8 Benjamin Britten 6´47 CD3 <15+16> Thema: A Boy Was Born Variation I. Lullay, Jesu, aus: A Boy Was Born op 3 Lichfield Cathedral Choristers Ltg. Paul Spicer CHAN 10771 (3)X, LC 7038

M0267666 015 und 016 ________________________________________________________

Lullay Jesu, lullay - die Muttergottes wiegt und tröstet das Jesuskind;

hier entspinnt sich ein Dialog zwischen Mutter und Sohn, sie fragt, was ihn belaste,

ihn dräut sein zukünftiges Geschick: Mensch geworden zu sein, um sterben zu

müssen und immer wieder erklingt die Bitte an die Mutter, ihn weiter zu wiegen, zu

trösten - bis Jesus gegen Ende der Variation bereit ist, sein Schicksal anzunehmen.

Die Lichfield Cathedral Choristers unter Paul Spicer sangen Thema und erste

Variation aus A Boy was born von Benjamin Britten.

Das Geschick, das Britten mit diesem Variationszyklus bereits als 19-Jähriger in der

Bearbeitung eines Themas und der differenzierten Behandlung des ‚Instrumentes

Chor’ zeigt, ist enorm.

Die Bezeichnung „Thema und Variationen“ übrigens kann irreführen:

Das eigentliche Thema besteht nur aus vier Noten: D-E-G-E, zu dem zu Beginn die

hohen Stimmen die Worte: „A Boy was born“ singen, dieses Motiv ist es, das in allen

Variationen weiter verwendet wird.

In der dritten Variation Jesu, As Thou Art Our Saviour wird das Grundmotiv geradezu

sanft behandelt: Nach der kraftvollen zweiten Variation, die vom Tun des Herodes

erzählt, stellt Britten hier die Akklamation von Jesus dem Retter in den Vordergrund,

gleichförmig, beharrlich, und aus dem Tutti erhebt sich von Zeit zu Zeit solistisch eine

Knabenstimme:

„Jesus, errette uns durch deine Tugend“:

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________________________________________________________ Musik 9 Benjamin Britten 2´56 CD3 <18> Variation III. Jesu, As Thou Art Our Saviour aus: A Boy Was Born op 3 Lichfield Cathedral Choristers Ltg. Paul Spicer CHAN 10771 (3)X, LC 7038

M0267666 018 ________________________________________________________

Variation Nr. 3 aus dem Zyklus A Boy Was Born von Benjamin Britten

noch einmal mit den Lichfield Cathedral Choristers, geleitet von Paul Spicer.

Tatsächlich war dieses frühe Chorwerk in seiner Form das radikalste, das Britten für

a-cappella Chor geschrieben hat. Gerade diese frühen sind Brittens experimentelle

Jahre, ausgerechnet während seiner Zeit am konservativen Royal College of Music

zeigte er sich am empfänglichsten für Einflüsse aus dem Ausland, - neben Mahler

vor allem für Arnold Schönberg und Alban Berg, bei dem er auch studieren wollte

(ein Plan, den er nicht umgesetzt hat, nicht zuletzt, weil seine Eltern sich dagegen

aussprachen).

Im Februar 1934 wurde A Boy was born von der BBC ausgestrahlt als Teil des

BBC Concert of Contemporary Music, - es wirkt so, als ob der junge Britten am Ende

seiner Lehrzeit angekommen wäre.

Sein Musikstudium hatte er bereits im Sommer zuvor offiziell abgeschlossen, die

Koffer gepackt, sein Zimmer in London aufgegeben und war zurück nach Lowestoft

gegangen; eine Erleichterung, wie es im Rückblick scheint: in einem Interview im

Jahr 1959 sagte Britten:

„Ich begann erst, mich meines Lebens zu freuen,

als ich das College hinter mir ließ und anfing richtig zu arbeiten.“

Um die „richtige Arbeit“ wird es morgen in der SWR2-Musikstunde gehen, über

Brittens Zeit als Filmkomponist (im Bereich des Dokumentarfilm) und vor allem seine

Zeit in den Künstler- und fashionable Gay-Kreisen in London, die sich um Dichter wie

Wyston Hugh Auden drehten.

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Doch jetzt, zurück in Lowestoft, hat er erstmal seine Jugendwerke entdeckt, Stücke

und Notizen, die er zwischen 10 und 13 geschrieben hatte (vielleicht sollte ich sie

eher als „Kindheitswerke“ bezeichnen), und die zuhause vergessen in einem

Schrank lagen. Britten wertete sie aus und tatsächlich ließ sich manches für neue

Kompositionen nutzen, - so entstand die Simple Symphony.

Die Bezeichnungen der Sätze kommen uns heute vielleicht ein bisschen gewollt vor -

beispielsweise Boisterous Bourée und Sentimental Sarabande - doch die Musik ist

frisch und mitreißend.

In seinem Text auf dem Plattencover einer Decca-Einspielung 1955 hat Britten die

Geschichte des Stücks pointiert zusammengefasst:

„Als Benjamin Britten, ein stolzer junger Komponist von zwanzig Jahren (von

dessen Werken eines auch schon im Rundfunk gesendet worden war), einmal in

seinen (alten) Schrank blickte, fand er dort durchaus brauchbares Material; indem er

es nun umschrieb für Streicher, hier und dort etwas änderte, und alles in eine für

den Gebrauch passende Form brachte, so verwandelte er das Material in eine

SIMPLE SYMPHONY.“

________________________________________________________ Musik 10 Benjamin Britten 2´45 <12> Boisterous Bourée aus: Simple Symphony op 4 (1933-34) Camerata Nordica Ltg. Terje Tonnesen BIS 2060, LC 3240 ________________________________________________________