15 hamiltonsche mechanik

24
15 Hamiltonsche Mechanik Wie bereits an anderer Stelle kurz erw¨ ahnt, stellt das Wirkungsprinzip so etwas wie das Bindeglied zwi- schen der klassischen Physik und der Quantenphysik her. Wenn man f¨ ur ein bestimmtes mechanisches System ein Wirkungsprinzip angeben kann, dann l¨ asst sich dasselbe System auch im Rahmen der Quan- tenmechanik konsistent beschreiben. Wie dieser ¨ Ubergang von der klassischen zur Quantenmechanik aussieht, ist nat¨ urlich nicht Inhalt dieser Vorlesung. Man kann den ¨ Ubergang jedoch bereits im Rahmen der klassischen Physik vorbereiten und ihn damit sowohl technisch als auch konzeptuell erleichtern. Wir formulieren dazu das Wirkungsprinzip aus dem letzten Kapitel ein wenig um, und gelangen so zur Hamiltonschen Formulierung der Bewegungsglei- chungen f¨ ur ein mechanisches System. Unabh¨ angig von ihrer Bedeutung f¨ ur die Quantenmechanik haben die Bewegungsgleichungen in dieser Form auch in der klassischen Mechanik einige sehr n¨ utzliche Eigenschaften. So k ¨ onnen wir zum Beispiel die Zeitentwicklung eines Systems in einer geometrisch sehr anschaulichen Art und Weise darstellen. Dar¨ uber hinaus k ¨ onnen wir einige S¨ atze ¨ uber Erhaltungsgr¨ oßen beweisen, die das Auffinden von L¨ osungen erleichtern. Die Wirkung erster Ordnung Ein Extremalproblem, das von mehreren Variablen abh¨ angt, kann man schrittweise l ¨ osen. Ist zum Beispiel das Minimum einer Funktion (x, y) 7h(x, y) gesucht, so k¨ onnen wir zuerst x als Konstante betrachten und das Minimum der Funktion y 7h(x, y) suchen. Nehmen wir an, diese Funktion h¨ atte ein Minimum bei y = y min (x), wobei der Wert von y min im allgemeinen von x abh¨ angen wird. Im zweiten Schritt betrachten wir dann die Funktion x 7h(x, y min (x)). Wenn diese Funktion bei x = x 0 ein Minimum hat, so liegt das gesuchte Minimum der Funktion (x, y) 7h(x, y) bei x = x 0 und y = y min (x 0 ). Wir k¨ onnen auch umgekehrt vorgehen, also zuerst y als Konstante betrachten und die Funktion x 7h(x, y) minimieren. Nehmen wir wieder an, das Minimum dieser Funktion befinde sich bei x = x min (y). Dann m¨ ussen wir nur noch die Funktion y 7h(x min (y),y) minimieren, um das gestellte Extremalproblem zu l¨ osen. Wenn das Minimum dieser Funktion bei y = y 0 liegt, so finden wir das Minimum der Funktion h(x, y) diesmal bei x = x min (y 0 ) und y = y 0 . Da das Ergebnis in beiden F¨ allen dasselbe sein muss, gilt nat¨ urlich x 0 = x min (y 0 ) bzw. y 0 = y min (x 0 ). Ein typisches Beispiel f¨ ur ein Extremalproblem dieser Art ist, die k¨ urzeste Verbindung zwischen zwei Teilmengen eines metrischen Raumes zu finden. Ist x ein Punkt in der ersten Teilmenge, y ein Punkt in der zweiten Teilmenge, so ist der Abstand dieser Punkte eine Funktion d(x, y) der beiden Punkte. Man findet den minimalen Abstand der beiden Teilmengen, indem man zuerst f¨ ur jeden Punkt x in der einen Teilmenge den n¨ achsten Punkt y in der zweiten Teilmenge sucht, und anschließend denjenigen Punkt x ausw¨ ahlt, f¨ ur den dieser minimale Abstand wiederum minimal wird. Eigentlich ist es aber nicht diese L¨ osungsstrategie f¨ ur spezielle Extremalprobleme, die uns an die- ser Stelle interessiert, sondern ein ganz anderer Aspekt, der sich aus diesen ¨ Uberlegungen ergibt. Be- trachten wir noch einmal die jeweils im zweiten Schritt auftretenden, zu minimierenden Funktionen x 7h(x, y min (x)) bzw. y 7h(x min (y),y). Beides sind Funktion, die von jeweils einer reellen Varia- blen abh¨ angen. Es sind jedoch im allgemeinen v¨ ollig andere Funktionen, denen man unter Umst¨ anden gar nicht mehr ansieht, dass sie sich auf die dargestellte Art und Weise aus einer Funktion h(x, y) ableiten lassen. Trotzdem sind die beiden durch diese Funktionen definierten Extremalprobleme in einem gewissen Sinne ¨ aquivalent. Beide l¨ osen dasselbe, urspr¨ unglich gestellte Extremalproblem, das von zwei Variablen abhing. Nehmen wir nun an, der Ausgangspunkt sei gar nicht dieses Problem, sondern das Extremalproblem f ¨ ur die Funktion x 7h(x, y min (x)). Dann k¨ onnen wir dieses Extremalproblem auf ein ¨ aquivalentes Problem 139

Upload: dinhhanh

Post on 05-Jan-2017

240 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: 15 Hamiltonsche Mechanik

15 Hamiltonsche Mechanik

Wie bereits an anderer Stelle kurz erwahnt, stellt das Wirkungsprinzip so etwas wie das Bindeglied zwi-schen der klassischen Physik und der Quantenphysik her. Wenn man fur ein bestimmtes mechanischesSystem ein Wirkungsprinzip angeben kann, dann lasst sich dasselbe System auch im Rahmen der Quan-tenmechanik konsistent beschreiben.

Wie dieser Ubergang von der klassischen zur Quantenmechanik aussieht, ist naturlich nicht Inhalt dieserVorlesung. Man kann den Ubergang jedoch bereits im Rahmen der klassischen Physik vorbereiten und ihndamit sowohl technisch als auch konzeptuell erleichtern. Wir formulieren dazu das Wirkungsprinzip ausdem letzten Kapitel ein wenig um, und gelangen so zur Hamiltonschen Formulierung der Bewegungsglei-chungen fur ein mechanisches System.

Unabhangig von ihrer Bedeutung fur die Quantenmechanik haben die Bewegungsgleichungen in dieserForm auch in der klassischen Mechanik einige sehr nutzliche Eigenschaften. So konnen wir zum Beispieldie Zeitentwicklung eines Systems in einer geometrisch sehr anschaulichen Art und Weise darstellen.Daruber hinaus konnen wir einige Satze uber Erhaltungsgroßen beweisen, die das Auffinden von Losungenerleichtern.

Die Wirkung erster Ordnung

Ein Extremalproblem, das von mehreren Variablen abhangt, kann man schrittweise losen. Ist zum Beispieldas Minimum einer Funktion (x, y) 7→ h(x, y) gesucht, so konnen wir zuerst x als Konstante betrachtenund das Minimum der Funktion y 7→ h(x, y) suchen. Nehmen wir an, diese Funktion hatte ein Minimumbei y = ymin(x), wobei der Wert von ymin im allgemeinen von x abhangen wird. Im zweiten Schrittbetrachten wir dann die Funktion x 7→ h(x, ymin(x)). Wenn diese Funktion bei x = x0 ein Minimum hat,so liegt das gesuchte Minimum der Funktion (x, y) 7→ h(x, y) bei x = x0 und y = ymin(x0).

Wir konnen auch umgekehrt vorgehen, also zuerst y als Konstante betrachten und die Funktion x 7→h(x, y) minimieren. Nehmen wir wieder an, das Minimum dieser Funktion befinde sich bei x = xmin(y).Dann mussen wir nur noch die Funktion y 7→ h(xmin(y), y) minimieren, um das gestellte Extremalproblemzu losen. Wenn das Minimum dieser Funktion bei y = y0 liegt, so finden wir das Minimum der Funktionh(x, y) diesmal bei x = xmin(y0) und y = y0. Da das Ergebnis in beiden Fallen dasselbe sein muss, giltnaturlich x0 = xmin(y0) bzw. y0 = ymin(x0).

Ein typisches Beispiel fur ein Extremalproblem dieser Art ist, die kurzeste Verbindung zwischen zweiTeilmengen eines metrischen Raumes zu finden. Ist x ein Punkt in der ersten Teilmenge, y ein Punkt inder zweiten Teilmenge, so ist der Abstand dieser Punkte eine Funktion d(x, y) der beiden Punkte. Manfindet den minimalen Abstand der beiden Teilmengen, indem man zuerst fur jeden Punkt x in der einenTeilmenge den nachsten Punkt y in der zweiten Teilmenge sucht, und anschließend denjenigen Punkt x

auswahlt, fur den dieser minimale Abstand wiederum minimal wird.Eigentlich ist es aber nicht diese Losungsstrategie fur spezielle Extremalprobleme, die uns an die-

ser Stelle interessiert, sondern ein ganz anderer Aspekt, der sich aus diesen Uberlegungen ergibt. Be-trachten wir noch einmal die jeweils im zweiten Schritt auftretenden, zu minimierenden Funktionenx 7→ h(x, ymin(x)) bzw. y 7→ h(xmin(y), y). Beides sind Funktion, die von jeweils einer reellen Varia-blen abhangen. Es sind jedoch im allgemeinen vollig andere Funktionen, denen man unter Umstandengar nicht mehr ansieht, dass sie sich auf die dargestellte Art und Weise aus einer Funktion h(x, y) ableitenlassen. Trotzdem sind die beiden durch diese Funktionen definierten Extremalprobleme in einem gewissenSinne aquivalent. Beide losen dasselbe, ursprunglich gestellte Extremalproblem, das von zwei Variablenabhing.

Nehmen wir nun an, der Ausgangspunkt sei gar nicht dieses Problem, sondern das Extremalproblem furdie Funktion x 7→ h(x, ymin(x)). Dann konnen wir dieses Extremalproblem auf ein aquivalentes Problem

139

Page 2: 15 Hamiltonsche Mechanik

abbilden, namlich auf das fur die Funktion y 7→ h(xmin(y), y), indem wir gewissermaßen einen “Umweg”uber das Extremalproblem fur (x, y) 7→ h(x, y) machen. Unter Umstanden kann dieser Umweg nutzlichsein, etwa wenn das aquivalente Extremalproblem eine sehr viel einfachere Losung besitzt.

Auf dieser Idee beruht im wesentlichen die Hamiltonsche Formulierung der Bewegungsgleichungeneines mechanisches Systems, die wir im folgenden herleiten wollen. Man geht von dem bekannten Wir-kungsprinzip aus, und ersetzt dieses durch ein anderes, aquivalentes Wirkungsprinzip, aus dem manschließlich eine neue, etwas einfachere Darstellung der Bewegungsgleichungen erhalt.

Es sei also ein mechanisches System gegeben mit einem Konfigurationsraum Q und einer Lagrange-Funktion L(q, v, t), mit q ∈ Q und v ∈ T � Q. Die Wirkung einer Bahn q(t) mit den Randbedingungenq(t1) = q1 und q(t2) = q2 ist dann

S[q] =

t2∫

t1

L(q(t), q(t), t

)dt, (15.1)

und das Wirkungsprinzip verlangt, dass dieses Funktional fur die physikalische Bahn stationar wird.Da wir im folgenden zwischen der Geschwindigkeit als Argument der Lagrange-Funktion und der Ge-

schwindigkeit als Ableitung einer Bahn nach der Zeit unterscheiden mussen, verwenden wir fur das Ar-gument der Lagrange-Funktion ein anderes Symbol. Wir schreiben also L(q, v, t), um deutlich zu ma-chen, dass die Lagrange-Funktion von einem Punkt q ∈ Q im Konfigurationsraum und von einem Vektorv ∈ T � Q im Tangentenraum abhangt. Zwischen diesen Argumenten besteht zunachst kein Zusammen-hang.

Erst, wenn wir die Lagrange-Funktion entlang einer Bahn q(t) auswerten, so wie dies in (15.1) ge-schieht, ist es sinnvoll, fur q den Punkt q(t) und fur v die Zeitableitung q(t) einzusetzen. Diesen Umstandhaben wir bisher durch eine etwas verkurzte Notation verschleiert. Es sollte aber klar sein, dass es erstdann einen Sinn hat, von einer Geschwindigkeit als Zeitableitung des Ortes zu sprechen, wenn dieser eineFunktion der Zeit ist.

Man kann nun dieses “Einsetzen” der Bahn in die Lagrange-Funktion und das anschließende Berech-nen der Wirkung noch auf eine andere Art und Weise beschreiben. Wir betrachten dazu das erweiterteWirkungsfunktional, das sich ergibt, wenn wir die Funktionen q(t) und v(t) als voneinander unabhangigbetrachten. Wir verlangen also nicht, dass v(t) = q(t) ist. Wir bekommen dann ein Funktional, dass vonzwei Funktionen abhangt, namlich

S[q, v] =

t2∫

t1

L(q(t), v(t), t

)dt. (15.2)

Das Wirkungsprinzip besagt nun, dass die physikalisch realisierte Bahn dieses Funktional stationar macht,allerdings nicht um Raum aller Funktionen q(t) und v(t), sondern in einem Teilraum davon, namlich indemjenigen Unterraum, der durch die Beziehung v(t) = q(t) bestimmt wird.

Das ist eine an die Argumente des Funktionals gestellte Nebenbedingung, die wir mit Hilfe vonLagrange-Multiplikatoren berucksichtigen konnen. Die Gleichung v(t) = q(t) muss zu jedem Zeitpunkterfullt sein, und sie setzt sich als Vektorgleichung aus dimQ Komponenten vµ(t) = qµ(t) zusammen. Wirbrauchen deshalb fur jeden Zeitpunkt t und fur jeden Wert des Index µ einen Multiplikator. Wir bezeich-nen diese Multiplikatoren mit pµ(t) und fassen die Komponenten zu einem dualen Vektor p(t) zusammen,der selbst wieder zu einer Funktion der Zeit wird.

Dann lasst sich das Wirkungsprinzip wie folgt formulieren. Wir betrachten alle moglichen Bahnen q(t)von q(t1) = q1 nach q(t2) = q2, sowie alle glatten Funktionen v(t) und p(t) fur t1 ≤ t ≤ t2, an diewir keine weiteren Randbedingungen stellen mussen. Als Funktional davon definieren wir die erweiterte

140

Page 3: 15 Hamiltonsche Mechanik

Wirkung

S[q, v, p] =

t2∫

t1

(L

(q(t), v(t), t

)+ pµ(t)

(qµ(t) − vµ(t)

))dt. (15.3)

Schließlich verlangen wir, dass die physikalische Bahn diejenige ist, fur die dieses Funktional stationarwird, und zwar bei einer gleichzeitigen Variation aller Argumente, also der Funktionen q(t), v(t) undp(t).

Obwohl es sich eigentlich aus der Konstruktion ergibt, wollen wir zeigen, dass aus diesem Wirkungs-prinzip tatsachlich wieder auf die ursprunglichen Bewegungsgleichungen folgen. Wir variieren zuerst dieFunktion p(t). Das ergibt unmittelbar

δS[q, v, p] =

t2∫

t1

δpµ(t)(qµ(t) − vµ(t)

)dt. (15.4)

Die Wirkung ist genau dann bei einer beliebigen Variation δpµ(t) der Lagrange-Multiplikatoren pµ(t) stati-onar, wenn die Geschwindigkeiten vµ(t) die Zeitableitungen der Koordinatenfunktionen qµ(t) sind. Das istnaturlich nicht weiter uberraschend, denn genau das hatten wir als Nebenbedingung gefordert, und dafurdie Funktionen pµ(t) als Lagrange-Multiplikatoren eingefuhrt. Aus dem erweiterten Wirkungsprinzip folgtalso

vµ(t) = qµ(t). (15.5)

Als nachstes betrachten wir eine Variation der Funktion v(t). Fur diese gilt

δS[q, v, p] =

t2∫

t1

δvµ(t)( ∂L

∂vµ

(q(t), v(t), t

)− pµ(t)

)dt. (15.6)

Dieser Ausdruck verschwindet genau dann fur alle δvµ(t), wenn

pµ(t) =∂L∂vµ

(q(t), v(t), t

)(15.7)

ist. Wenn L, wie es ublicherweise fur ein mechanisches System der Fall ist, durch T − V gegeben ist, undwenn nur die kinetische Energie T von der Geschwindigkeit abhangt, so stehen auf der rechten Seite dieserGleichung die verallgemeinerten Impulse, die wir ursprunglich als Ableitungen der kinetischen Energienach den Komponenten der Geschwindigkeit definiert hatten.

Es liegt deshalb nahe, diese Definition noch weiter zu verallgemeinern, und die Großen pµ(t) auch dannals Impulse zu bezeichnen, wenn die Lagrange-Funktion nicht von der speziellen Form L = T −V ist. Wirandern unsere Definition aus Kapitel 11 ab, indem wir den Impuls nicht mehr als Ableitung der kinetischenEnergie nach der Geschwindigkeit definieren, sondern statt dessen von der Lagrange-Funktion ausgehen.

Der Impuls eines mechanischen Systems ist die Ableitung der Lagrange-Funktion nach derGeschwindigkeit.

Das erklart auch, warum es sinnvoll war, die Multiplikatoren pµ(t) zu einem dualen Vektor p(t) zusam-menzufassen. Da L ein Skalar ist und vµ die Komponenten eines Vektors sind, sind pµ = ∂L/∂vµ dieKomponenten eines dualen Vektors. Der in (15.3) unter dem Integral gebildete Ausdruck ist das Produktdes dualen Vektors p(t) mit dem Vektor v(t)− q(t), also wieder ein Skalar. Die erweiterte Wirkung ist so-mit unabhangig davon, in welchem Koordinatensystem wir sie ausrechnen, wenn wir alle dort auftretendenGroßen entsprechend transformieren.

141

Page 4: 15 Hamiltonsche Mechanik

Nun mussen wir noch zeigen, dass die erweiterte Wirkung auch tatsachlich die richtigen Bewegungs-gleichungen liefert. Wir mussen dazu noch eine Variation der Bahn q(t) betrachten. Das ergibt

δS[q, v, p] =

t2∫

t1

(δqµ(t)

∂L∂qµ

(q(t), v(t), t

)+ δqµ(t) pµ(t)

)dt. (15.8)

Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Variationen mussen wir hier eine partielle Integration durchfuhren,um die Zeitableitung von der Variation δqµ(t) zu entfernen. Es tritt also ein Randterm auf,

δS[q, v, p] =[δqµ(t) pµ(t)

]t2

t1+

t2∫

t1

δqµ(t)( ∂L

∂qµ

(q(t), v(t), t

)− pµ(t)

)dt. (15.9)

Der Randterm verschwindet jedoch, da wir an die Bahn q(t) die ublichen Randbedingungen stellen, alsodie Anfangs- und Endkonfiguration festgelegen. Daher verschwindet δqµ(t) bei t = t1 und t = t2. Esbleibt schließlich die Gleichung

pµ(t) =∂L∂qµ

(q(t), v(t), t

). (15.10)

Fassen wir das Ergebnis noch einmal wie folgt zusammen. Die erweiterte Wirkung (15.3) ist genau dannstationar, wenn die Funktionen q(t), v(t) und p(t) den Gleichungen

vµ(t) = qµ(t), pµ(t) =∂L∂vµ

(q(t), v(t), t

), pµ(t) =

∂L∂qµ

(q(t), v(t), t

)(15.11)

genugen. Dass diese Gleichungen zu den ursprunglichen Bewegungsgleichungen aquivalent sind, siehtman nun sehr leicht. Man muss nur die Funktionen v(t) und p(t) eliminieren, indem man die ersten beidenGleichungen in die dritte Gleichung einsetzt. Das fuhrt unmittelbar auf die Euler-Lagrange-Gleichung

d

dt

∂L∂qµ

(q(t), q(t), t

)− ∂L

∂qµ

(q(t), q(t), t

)= 0. (15.12)

Aufgabe 15.1 Man wiederhole die einzelnen Schritte in diesem Kapitel fur den speziellen Fall eines me-chanisches Systems mit einem Freiheitsgrad mit L(q, v) = m v2/2 − V (q).

Aufgabe 15.2 Bei der Herleitung der Bewegungsgleichungen aus der erweiterten Wirkung sind wirschrittweise vorgegangen, indem wir zuerst nur die Funktion p(t) variiert haben, dann nur die Funkti-on v(t), und schließlich nur die Funktion q(t). Das Wirkungsprinzip verlangt jedoch, dass die Wirkungunter einer gleichzeitigen Variation aller Argumente stationar ist. Genau genommen haben wir aber nursehr spezielle Richtungsableitungen des Funktionals (15.3) berechnet und von diesen verlangt, dass sieNull sind. Warum fuhrt dieses Vorgehen trotzdem zum richtigen Resultat?

Die Hamilton-Funktion

Was haben wir mit diesem nochmaligen Umschreiben der Bewegungsgleichungen nun eigentlich ge-wonnen? Sind die neuen Gleichungen (15.11) nicht viel komplizierter als die alten Euler-Lagrange-Gleichungen (15.12)? In einem gewissen Sinne schon, da sie von mehr Funktionen abhangen, aber ineinem anderen Sinne sind sie auch einfacher. Sie bilden namlich ein System von Differenzialgleichungenerster Ordnung. Es kommen nur noch die ersten Ableitungen der gesuchten Funktionen nach der Zeit vor,und die Gleichungen sind sogar nach diesen aufgelost.

142

Page 5: 15 Hamiltonsche Mechanik

Die mittlere der drei Bewegungsgleichungen ist daruber hinaus noch nicht einmal eine echte Differen-zialgleichung. Wir werden dies jetzt benutzen, um eine der beiden Hilfsfunktionen wieder zu eliminieren.Dazu benutzen wir die am Anfang beschriebene Methode. Ein Variationsproblem konnen wir schrittweiselosen. Wir betrachten zuerst nur eine Variation der Funktion v(t), wahrend wir die Funktionen q(t) undp(t) festhalten. Wie wir gesehen haben, fuhrt dies auf die Gleichung

pµ(t) =∂L∂vµ

(q(t), v(t), t

). (15.13)

Sie stellt eine Beziehung zwischen den Großen p(t), v(t) und q(t) her, die zu jedem Zeitpunkt t geltenmuss. Es treten dabei keine Zeitableitungen auf, so dass die Gleichung zu jedem Zeitpunkt unabhangigvon den Gleichungen zu allen anderen Zeitpunkten ist.

Wir nehmen nun an, dass diese Gleichung nach v(t) auflosbar ist. Mit anderen Worten, wir konnenv(t) als Funktion von q(t) und p(t) darstellen. Fur typische mechanische Systeme, wie wir sie bisherkennen gelernt haben, ist dies immer der Fall. Die Geschwindigkeit ist immer eindeutig durch den Impulsbestimmt, wobei der Zusammenhang aber vom Ort abhangen kann, zum Beispiel wenn wir ein krummli-niges Koordinatensystem benutzen oder Zwangsbedingungen vorliegen. Fur Systeme mit zeitabhangigenZwangsbedingungen kann der Zusammenhang auch zeitabhangig sein.

Wenn diese Voraussetzung erfullt ist, konnen wir die Geschwindigkeit v(t) immer so bestimmen, dassdas Funktional S[q, v, p] bezuglich einer Variation von v(t) stationar ist. Es bleibt dann noch ein redu-ziertes Funktional

S[q, p] =

t2∫

t1

(pµ(t) qµ(t) −

[pµ(t) vµ(t) − L

(q(t), v(t), t

)]� = � ( � , � ,t)

)dt, (15.14)

das nur noch von den Funktionen q(t) und p(t) abhangt, und dessen Variation bezuglich dieser Funktionenfur die physikalischen Bahnen verschwinden muss.

In der eckigen Klammer mussen wir fur v(t) die in (15.13) gefundene Losung einsetzen, was durch dieetwas verkurzte Notation v = v(q, p, t) angedeutet werden soll. Wir wollen uns diesen Ausdruck etwasgenauer ansehen. Es handelt sich um eine Funktion, die nur von q(t), p(t) und t abhangt, nicht aber vonden Ableitungen dieser Großen oder ihren Werten zu anderen Zeitpunkten. Das folgt aus der Tatsache,dass die Gleichung (15.13), die v(t) als Funktion von q(t) und p(t) bestimmt, zwar im allgemeinen vonder Zeit t abhangen kann, aber keine Zeitableitungen enthalt und alle drei Großen nur zu einem Zeitpunkteingehen.

Man nennt den Ausdruck in der eckigen Klammer die Hamilton-Funktion des mechanischen Systems.Eine sehr elegante Art und Weise, die Hamilton-Funktion darzustellen, ist

Hamilton-Funktion

H(q, p, t) = Ext�

(pµ vµ − L(q, v, t)

), (15.15)

wobei Ext � fur das Extremum im Raum aller Geschwindigkeiten v steht. Wie wir gleich sehen werden,handelt es sich typischerweise um ein Maximum, aber darauf kommt es nicht an. Tatsachlich liefert dasExtremum des Ausdrucks (15.15) bis auf ein Vorzeichen genau die eckige Klammer in (15.14). Das Ex-tremum liegt namlich bei der Geschwindigkeit v, fur die pµ = ∂L/∂vµ ist.

Am besten machen wir uns dies an ein paar Beispielen klar. Zunachst betrachten wir ein Teilchen in einerRaumrichtung, das sich in einem Potenzial bewegt. Seine Lagrange-Funktion ist L(q, v) = m v2/2−V (q).Sie hangt nicht explizit von der Zeit ab, so dass auch die Hamilton-Funktion nicht zeitabhangig ist. Manfindet

H(q, p) = Extv

(p v − m

2v2 + V (q)

)=

p2

2 m+ V (q). (15.16)

143

Page 6: 15 Hamiltonsche Mechanik

Hier haben wir verwendet, dass der Ausdruck in der Klammer sein Extremum bei v = p/m annimmtund dies dann fur v eingesetzt. Wie man leicht sieht, ist die Hamilton-Funktion in diesem Fall gerade dieGesamtenergie des Teilchens, ausgedruckt als Funktion von Ort und Impuls.

Das gilt sogar ganz allgemein. Wenn namlich L = T − V ist, und T eine quadratische Funktion derGeschwindigkeit ist, die wir durch eine symmetrische Massenmatrix darstellen konnen, wahrend V nurvom Ort abhangt, so findet man

L(q, v) =1

2Mµν(q) vµ vν − V (q) ⇒ pµ =

∂L∂vµ = Mµν(q) vν. (15.17)

Fur mechanische Systeme ist die kinetische Energie immer positiv, also ist die Massenmatrix invertierbar.Wie bezeichnen die inverse Matrix mit Mµν(q), und konnen dann die Geschwindigkeit als Funktion desOrtes und des Impulses darstellen,

Mµν(q) Mνρ(q) = δµρ ⇒ vµ = Mµν(q) pν. (15.18)

Nun konnen wir die Hamilton-Funktion berechnen. Es ist

H(q, p) = Ext�

(pµ vµ − 1

2Mµν(q) vµ vµ + V (q)

)=

1

2Mµν(q) pµ pν + V (q). (15.19)

Der erste Summand ist, wie man sich leicht uberzeugt, wieder die kinetische Energie, jetzt allerdings dar-gestellt als Funktion des Ortes q und des Impulses p. Und der zweite Summand ist naturlich die potenzielleEnergie.

Der Ubergang von der Lagrange-Funktion, die eine Funktion von Ort und Geschwindigkeit ist, zurHamilton-Funktion als Funktion von Ort und Impuls, bewirkt in diesem Fall, dass sich das relative Vorzei-chen von kinetischer und potenzieller Energie umkehrt. Allerdings gilt dieser Zusammenhang nur dann,wenn sich die Lagrange-Funktion in der Form L = T − V darstellen lasst, und T quadratisch von derGeschwindigkeit abhangt. Dann ist H = T + V , also die Gesamtenergie.

Wenn die Lagrange-Funktion nicht von dieser speziellen Form ist, ist es trotzdem sinnvoll, die Hamilton-Funktion mit der Energie des Systems zu identifizieren. In diesem Fall ist namlich die Große Energie nochgar nicht definiert. Die einzige Stelle, an der wir diesen Begriff bisher im Rahmen der LagrangeschenMechanik verwendet haben, war die Definition der Lagrange-Funktion als Differenz von kinetischer undpotenzieller Energie. Wir nehmen uns daher die Freiheit, den Begriff Energie auf diese Weise zu verallge-meinern.

Die Hamilton-Funktion reprasentiert die Gesamtenergie eines mechanischen Systems alsFunktion von Ort und Impuls.

Warum das sinnvoll ist, werden wir in den nachsten Abschnitten sehen. Unter bestimmten Voraussetzungenist namlich die Hamilton-Funktion eine Erhaltungsgroße, und zwar unabhangig davon, ob L = T − Vund somit H = T + V ist oder nicht. Dies fuhrt auf eine Verallgemeinerung des Energieerhaltungsatzes,wenn man den Begriff der Energie entsprechend verallgemeinert.

Fassen wir an dieser Stelle noch einmal kurz zusammen, was wir bisher getan haben. Ausgehend vonder Lagrange-Funktion und dem daraus abgeleiteten Wirkungsprinzip (15.1) sind wir zu einer alternativen,aber aquivalenten Formulierung ubergegangen, bei dem die Wirkung durch (15.14) oder

S[q, p] =

t2∫

t1

(pµ(t) qµ(t) −H

(q(t), p(t), t

))dt (15.20)

als Funktional der Funktionen q(t) und p(t) gegeben ist. Die Hamilton-Funktion H(q, p, t) ergibt sichdabei durch (15.15) aus der Lagrange-Funktion L(q, v, t). Jetzt mussen wir nur noch verlangen, dassdiese Wirkung stationar wird, um die physikalischen Bahnen zu finden.

144

Page 7: 15 Hamiltonsche Mechanik

Aufgabe 15.3 Der Ubergang von der Lagrange- zur Hamilton-Funktion wird in der Mathematik alsLegendre-Transformation bezeichnet. Sie ist, ahnlich wie die Fourier-Transformation, eine Abbildungzwischen Funktionen, die von verschiedenen Argumenten abhangen. Man zeige, dass die Umkehrungder Legendre-Transformation wieder eine solche Transformation ist. Man kann also aus der Hamilton-Funktion H(q, p, t) wieder die Lagrange-Funktion L(q, v, t) bestimmen, indem man das Extremum

L(q, v, t) = Ext�

(pµ vµ −H(q, p, t)

)(15.21)

bildet. Die Transformation L(q, v) ↔ H(q, p) ist in diesem Sinne symmetrisch. Man verifiziere diesexplizit am Beispiel eines Teilchens im Potenzial in einer Raumdimension.

Aufgabe 15.4 Wenn der Konfigurationsraum Q des mechanischen Systems eine glatte Mannigfaltigkeitist, so hatten wir am Ende von Kapitel 13 gezeigt, dass die Lagrange-Funktion L eine reelle Funkti-on, also ein skalares Feld auf dem Tangentenbundel T(Q) ist. Auf welchem Raum ist in diesem Fall dieHamilton-Funktion H eine reelle Funktion? Warum ist sie unabhangig von dem in der Definition (15.15)verwendeten Koordinatensystem?

Aufgabe 15.5 Bekanntlich ist die Lagrange-Funktion eines geladenen Teilchens im elektromagnetischenFeld durch den Ausdruck (11.77) gegeben,

L(r, v) =1

2m v · v +

q

cA(r, t) · v − q φ(r, t), (15.22)

wobei A(r, t) das magnetische Vektorpotenzial und φ(r, t) das elektrische Potenzial sind. Wie sieht dieHamilton-Funktion aus? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Impuls p und der Geschwindigkeitv?

Bewegungsgleichungen und Phasenraum

Nun kommen wir zuruck zu den eigentlichen Bewegungsgleichungen des mechanischen Systems. Wiewir gerade gezeigt haben, ergeben sie sich aus dem Wirkungsprinzip (15.20), das heißt das dort definierteFunktional muss fur physikalische Bahnen stationar sein. Als Randbedingungen geben wir wieder dieKonfigurationen q(t1) = q1 am Anfang und q(t2) = q2 am Ende des Zeitintervalls vor. An die Impulsep(t1) und p(t2) mussen wir keine Einschrankungen machen.

Die Bewegungsgleichungen, die sich daraus ergeben, haben eine sehr einfache Form. Variieren wirzuerst wieder die Funktion p(t), so finden wir

δS[q, p] =

t2∫

t1

δpµ(t)(

qµ(t) − ∂H∂pµ

(q(t), p(t), t

))dt. (15.23)

Entsprechend ergibt eine Variation von q(t), nachdem wir die ubliche partielle Integration durchgefuhrthaben,

δS[q, p] = −t2∫

t1

δqµ(t)(

pµ(t) +∂H∂qµ

(q(t), p(t), t

))dt. (15.24)

Damit die Wirkung stationar ist, mussen die folgenden Bewegungsgleichungen erfullt sind.

HamiltonscheBewegungsgleichungen

qµ =∂H∂pµ

, pµ = −∂H∂qµ . (15.25)

145

Page 8: 15 Hamiltonsche Mechanik

Dies ist ein System von Differenzialgleichungen erster Ordnung, die bereits nach den Ableitungen derFunktionen q(t) und p(t) aufgelost sind. Einfacher lassen sich die Bewegungsgleichungen fur ein mecha-nisches System eigentlich nicht mehr darstellen.

Viele typische Eigenschaften von mechanischen Systemen konnen wir aus diesen Hamiltonschen Be-wegungsgleichungen sofort ablesen. So zum Beispiel die Eigenschaft, dass die Zeitentwicklung eines Sy-stems eindeutig festgelegt ist, wenn wir zu irgendeinem Zeitpunkt t0 sowohl den Ort q(t0) = q0 als auchden Impuls p(t0) = p0 kennen. In diesem Sinne ist der Zustandsraum des Systems, also die Menge allerBewegungszustande, die das System annehmen kann und die die Zeitentwicklung eindeutig festlegen, nunder Raum aller Orte q und Impulse p. Man nennt diesen Raum den Phasenraum.

Der Phasenraum P eines mechanischen Systems ist der Menge aller Bewegungszustande,dargestellt durch den Ort q ∈ Q und den Impuls p ∈ T � Q.

Ist der Konfigurationsraum Q des System ein affiner Raum, so ist der Ort q ∈ Q ein Punkt in diesemRaum und der Impuls ein dualer Vektor p ∈ T∗Q. Folglich ist der Phasenraum der Produktraum P =Q × T∗Q. Dies ist wieder ein affiner Raum, wobei dimP = 2 dimQ ist. Der Phasenraum hat also furjeden Freiheitsgrad zwei Dimensionen.

Wenn der Konfigurationsraum Q kein affiner Raum ist, sondern nur eine glatte Mannigfaltigkeit, somussen wir zusatzlich beachten, dass der duale Vektor p ein Vektor am Bezugspunkt q ist, also im Kotan-gentenraum T � ∗Q. Der Phasenraum ist dann die Menge aller Paare (q, p) mit q ∈ Q und p ∈ T � ∗Q. Dasist das Kotangentenbundel P = T∗(Q) des Konfigurationsraum, also der zu dem am Ende von Kapitel 13eingefuhrten Tangentenbundel T(Q) duale Raum.

Auf jeden Fall ist der Phasenraum ein 2 N -dimensionaler Raum, wenn das System N Freiheitsgradebesitzt. Zu jedem Koordinatensystem {qµ} auf Q gehort ein Satz von verallgemeinerten Impulsen {pµ},die die Komponenten eines dualen Vektors bilden. Man bezeichnet die Großen {pµ} in der HamiltonschenMechanik auch als die den Koordinaten {qµ} zugeordneten kanonisch konjugierten Impulse.

Gemeinsam bilden die Ortskoordinaten und die konjugierten Impulse ein kanonisches Koordinatensy-stem ({qµ}, {pµ}) auf dem Phasenraum P . Jeder Bewegungszustand wird auf diese Weise eindeutig durcheine Satz von 2 N reelle Zahlen festgelegt.

Ein kanonisches Koordinatensystem auf dem Phasenraum P eines mechanischen Systemsbesteht aus den Ortskoordinaten {qµ} auf dem Konfigurationsraum Q und den konjugiertenImpulsen {pµ}, die die Komponenten eines dualen Vektors bilden.

Wenn wir zu einem anderen Koordinatensystem {qµ} auf dem Konfigurationsraum ubergehen, so mussenwir auch die Impulskomponenten {pµ} und die Hamilton-Funktion entsprechend transformieren. Verwen-den wir die Notation aus Kapitel 13 und bezeichnen das “alte” Koordinatensystem mit {q(m)

µ} und das“neue” mit {q(n)

ν}, so besteht zwischen den “alten” Impulsen {p(m)µ} und den “neuen” Impulsen {p(n)ν}der Zusammenhang

p(n)ν =∂q(m)

µ

∂q(n)ν p(m)µ ⇔ p(m)µ =

∂q(n)ν

∂q(m)µ p(n)ν . (15.26)

Es treten die ublichen Ubergangsmatrizen bei der Transformation eines dualen Vektors auf. Fur die Zeit-ableitung der Koordinaten entlang einer Bahn gilt naturlich wieder die Kettenregel,

q(n)ν =

∂q(n)ν

∂q(m)µ q(m)

µ ⇔ q(m)µ =

∂q(m)µ

∂q(n)ν q(n)

ν . (15.27)

Daraus folgt, dass die Wirkung (15.20) in jedem Koordinatensystem durch den gleichen Ausdruck darge-stellt wird. Wir konnen sie auch ganz koordinatenfrei in der Form

S[q, p] =

t2∫

t1

(p(t) · q(t) −H

(q(t), p(t), t

))dt (15.28)

146

Page 9: 15 Hamiltonsche Mechanik

darstellen, um deutlich zu machen, dass der Integrand ein Skalar ist. Der Punkt bezeichnet wieder wieublich das Produkt eines dualen Vektors mit einem Vektor.

Aus dieser Uberlegung folgt sofort, dass auch die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen in jedem ka-nonischen Koordinatensystem die Form (15.25) annehmen. Denn sie ergeben sich aus der Forderung, dassdie Wirkung (15.28) fur die physikalische Bahn stationar sein muss. Und wenn diese Wirkung, wie geradegezeigt, von der Wahl des Koordinatensystems unabhangig ist, dann sind es naturlich auch die Bewegungs-gleichungen.

Genau wie die Lagrangeschen oder d’Alembertschen Bewegungsgleichungen beschreiben auch die Ha-miltonschen Bewegungsgleichungen die Dynamik des Systems in einer “geometrischen” Sprache, die vomKoordinatensystem unabhangig ist. Tatsachlich wird sich spater herausstellen, dass wir sogar noch sehrviel allgemeinere Koordinatentransformationen zulassen konnen als die hier betrachteten, unter denen dieHamiltonschen Bewegungsgleichungen ihre Form beibehalten. In diesem Sinne ist die Hamiltonsche For-mulierung der Bewegungsgleichen noch allgemeiner als die Lagrangesche Form.

Außerdem sind die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen in ihrer Struktur sehr viel einfacher als dieLagrangeschen Gleichungen. Es sind, wie wir bereits betont haben, Differenzialgleichungen erster Ord-nung, die zudem schon nach den Ableitungen aufgelost sind, wahrend die Euler-Lagrange-GleichungenDifferenzialgleichungen zweiter Ordnung sind, in denen die Zeitableitungen zudem noch etwas verschach-telt sind.

Es stellt sich daher die Frage, warum wir eigentlich nicht gleich diese Form der Bewegungsgleichungenverwendet haben, um mechanische Systeme im allgemeinen zu beschreiben. Die Antwort ist recht einfach.Es lassen sich nur ganz spezielle Systeme mit einer Hamilton-Funktion beschreiben. In der Herleitunghaben wir zwei Annahmen gemacht, die nicht fur alle mechanischen Systeme erfullt sind.

Zum einen sind wir davon ausgegangen, dass es uberhaupt eine Lagrange-Funktion fur das System gibt.Es durfen also keine Reibungs- oder anderen Krafte auftreten, die sich nicht aus einer Lagrange-Funktionableiten lassen. Auch durfen keine anholonomen Zwangsbedingungen vorliegen, die ja im wesentlichenauch Reibungskrafte sind. Der Konfigurationsraum Q kann der reduzierte Konfigurationsraum eines Sy-stems mit holonomen Zwangsbedingungen sein, aber es durfen keine weiteren Einschrankungen an dieBewegungsfreiheit vorliegen.

Zum anderen geht ganz entscheidend in die Herleitung ein, dass sich die Gleichung (15.13) nach der Ge-schwindigkeit v als Funktion von q und p auflosen lasst. Oder aquivalent dazu, das Extremum in (15.15)muss existieren existiert und es muss eindeutig sein. Nur dann existiert uberhaupt eine Hamilton-Funktion.Systeme, die diese Bedingung erfullen, heißen Hamiltonsche oder kanonische mechanische Systeme. Imwesentlichen kann man sagen, dass alle mechanischen Systeme kanonisch sind, in denen keine Reibungs-krafte und keine anholonomen Zwangsbedingungen auftreten.

Die zweite Forderung bedeutet fur typische mechanische Systeme keine Einschrankung, solange diekinetische Energie in der Geschwindigkeit quadratisch und positiv ist. Auf sie kann man im Prinzip sogarverzichten, was auf eine verallgemeinerte Version der Hamiltonschen Mechanik fuhrt. Darauf werden wirallerdings nicht weiter eingehen. Wir gehen hier stets davon aus, dass der Konfigurationsraum Q der re-duzierte Konfigurationsraum des Systems ist, also alle holonomen Zwangsbedingungen bereits eliminiertwurden, und die Geschwindigkeit eine eindeutige Funktion des Impulses ist.

Aufgabe 15.6 Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen lassen sich auch ohne Umweg uber das Varia-tionsprinzip direkt aus den Lagrangeschen Bewegungsgleichungen herleiten. Man geht von den Gleichun-gen

d

dt

∂L∂qµ − ∂L

∂qµ = 0 (15.29)

fur die Koordinaten qµ(t) aus. Um dieses System von Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in einSystem erster Ordnung zu verwandeln, fuhrt man die kanonischen Impulse als Hilfsfunktionen ein, indem

147

Page 10: 15 Hamiltonsche Mechanik

man

pµ =∂L∂qµ (15.30)

setzt. Die Hamilton-Funktion definiert man durch

H(q, p, t) = pµ qµ − L(q, q, t), (15.31)

wobei man fur qµ auf der rechten Seite die Losung von (15.30) einsetzt, so dass die Geschwindigkeit eineFunktion von Ort und Impuls wird. Man zeige, dass sich so auch die Hamiltonschen Bewegungsgleichun-gen (15.25) ergeben, und dass sie zu den Lagrangeschen Gleichungen aquivalent sind.

Aufgabe 15.7 Fur welche mechanischen Systeme aus den Abbildungen in Kapitel 12 existiert eineHamilton-Funktion, fur welche nicht? Man bestimme die Hamilton-Funktionen fur diejenigen Systeme,die dies zulassen, leite daraus die Bewegungsgleichungen ab und zeige, dass sie zu den LagrangeschenBewegungsgleichungen aquivalent sind.

Einfache Beispiele

Wir beginnen mit dem einfachsten denkbaren mechanischen System, einem freien Teilchen im einerRaumdimension. Es sei q die Ortskoordinate, v die Geschwindigkeit und p der Impuls. Dann ist

L(q, v) =m

2v2 ⇒ H(q, p) = Ext

v

(p v − m

2v2

)=

p2

2 m. (15.32)

Daraus lassen sich unmittelbar die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen ablesen. Sie lauten

q =∂H∂p

=p

m, p = −∂H

∂q= 0. (15.33)

Also ist p(t) = p0 konstant und q(t) = q0 + p0 t/m beschreibt eine gleichformige Bewegung. Wir sehenaußerdem, dass H wieder die Energie des Teilchens ist, die in diesem Fall allein aus der kinetischenEnergie besteht.

Ein anderes, ebenfalls sehr einfaches Beispiel ist der harmonischer Oszillator. Er wird uns spater nocheine Weile verfolgen, denn an ihm lassen sich sehr viele wichtige Eigenschaften der Hamiltonschen Me-chanik einfach und klar darstellen. Die Lagrange-Funktion ist in diesem Fall

L(q, v) =m

2v2 − κ

2q2. (15.34)

Die es sich um eine Funktion der Form L = T − V handelt, und die kinetische Energie in der Geschwin-digkeit quadratisch ist, ergibt sich die Hamilton-Funktion zu H = T + V . Allerdings mussen wir sie alsFunktion von q und p darstellen, wobei p = ∂L/∂v = m v wieder der gewohnliche Impuls ist. Es giltdaher

H(q, p) = Extv

(p v − m

2v2 +

κ

2q2

)=

p2

2 m+

κ q2

2. (15.35)

Fur die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen ergibt sich

q =∂H∂p

=p

m, p = −∂H

∂q= −κ q. (15.36)

Die zweite Gleichung ist nichts anderes als die Newtonsche Bewegungsgleichung, wonach die Zeitablei-tung des Impulses die Kraft ist, und diese wiederum als Ableitung des Potenzials gegeben ist. Und die

148

Page 11: 15 Hamiltonsche Mechanik

erste Gleichung ist eigentlich redundant, da sie nur noch einmal die bereits bekannte Beziehung zwischenImpuls und Geschwindigkeit herstellt.

Wir sehen also, dass wir immer noch “dieselbe Mechanik” betreiben. Nur unsere Begriffe haben sichetwas verandert. Die Losungen der Bewegungsgleichungen sind naturlich immer noch die gleichen. Dieallgemeinen Losungen von (15.36) lassen sich sofort angeben. Es gilt

q(t) = a sin(ω t + ϕ), p(t) = m ω a cos(ω t + ϕ), (15.37)

wobei a und ϕ Integrationskonstanten sind, die durch die Anfangsbedingung festgelegt werden, und ω2 =κ/m die Eigenfrequenz des Oszillators ist.

Um die Dynamik eines ebenen Pendels zu beschreiben, konnen wir ganz ahnlich vorgehen. Wir benut-zen als Ortskoordinate q die Auslenkung des Pendels, also die Stecke, die das Pendel vom Ruhepunkt auszuruckgelegt hat. Da sich ein Pendel auf einem Kreis bewegt, ist dies eine periodische Koordinate. Beieiner Pendellange ` gilt q ≡ q + 2π `. Der Konfigurationsraum ist die Mannigfaltigkeit Q = S1, also eineeindimensionale Sphare.

Wie sieht dann der Phasenraum aus? Da der Konfigurationsraum eindimensional ist, ist sein Kotangen-tenraum an jeder Stelle q ∈ Q ein eindimensionaler Vektorraum Tq

∗Q. Der Impuls wird folglich durcheine reelle Zahl p dargestellt. Der Phasenraum ist die Vereinigung aller dieser Vektorraume, also das Ko-tangentenbundel T∗(S1). Wenn wir an jeden Punkt auf der Kreislinie einen eindimensionalen Vektorraumanheften, so bekommen wir einen Zylinder. Der Phasenraum eines Pendels ist folglich ein Zylinder. DieOrtskoordinate q ist periodisch, und der konjugierte Impuls p dient als zweite, nicht periodisch Koordinate.

Um die Hamilton-Funktion zu bestimmen, gehen wir wieder von der Lagrange-Funktion aus. Die ki-netische Energie ist weiterhin T = m v2/2, wobei v = q die Zeitableitung der Auslenkung ist. Fur diepotenzielle Energie mussen wir V = −m g ` cos(q/`) setzen, wenn der Ruhepunkt bei q = 0 liegen soll.Dann ist L = T − V , und T ist in v quadratisch. Also gilt H = T + V . Um die kinetische Energie alsFunktion des Impulses p darzustellen, benotigen wir nur noch die ubliche Beziehung p = ∂L/∂v = m v.Wir bekommen dann die Hamilton-Funktion

H(q, p) =p2

2 m− m g ` cos(q/`) ≈ p2

2 m+

m g q2

2 `− m g. (15.38)

Bis auf eine Konstante, die sich auf die Bewegungsgleichungen nicht auswirkt, stimmt sie fur kleineAuslenkungen naherungsweise mit der Hamilton-Funktion eines harmonischen Oszillators uberein. Wirmussen nur fur die Federkonstante κ = m g/` setzen, so dass sich fur die Eigenfrequenz der bekannteAusdruck ω2 = κ/m = g/` ergibt. Die Bewegungsgleichungen lauten schließlich

q =∂H∂p

=p

m, p = −∂H

∂q= −m g sin(q/`) ≈ −m g q

`. (15.39)

Aufgabe 15.8 Wie sieht die Hamilton-Funktion fur das Pendel aus, wenn man als Ortskoordinate statt derAuslenkung q den Auslenkwinkel ϑ = q/` verwendet? Was ist dann der konjugierte Impuls, und welcheBewegungsgleichungen ergeben sich?

Koordinatentransformationen

Als nachstes betrachten wir ein System mit zwei Freiheitsgraden, um zu zeigen, was bei einer Koordinaten-transformation geschieht, und wie sich dabei die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen transformieren.Das einfachste System mit zwei Freiheitsgraden ist ein Teilchen in einer Ebene. Es soll sich dort in einemzeitunabhangigen Potenzial bewegen, fur das wir der Einfachheit halber wieder das eines harmonischenOszillators einsetzen. Ist (x, y) ein kartesischen Koordinatensystem in der Ebene, so ist die Lagrange-Funktion

L(x, y, vx, vy) =m

2

((vx)2 + (vy)2

)− κ

2

(x2 + y2). (15.40)

149

Page 12: 15 Hamiltonsche Mechanik

Der Zusammenhang zwischen den Geschwindigkeiten (vx, vy) und den konjugierten Impulsen (px, py) istwieder der ubliche,

px =∂L∂vx = m vx, py =

∂L∂vy = m vy. (15.41)

Da die Lagrange-Funktion wieder von der Form L = T − V ist, und T eine quadratische Funktion derGeschwindigkeiten ist, gilt fur die Hamilton-Funktion H = T + V , wobei wir die kinetische Energie alsFunktion der Impulse schreiben mussen. Das ergibt

H(x, y, px, py) =px

2

2 m+

py2

2 m+

κ x2

2+

κ y2

2. (15.42)

Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen lauten

x =∂H∂px

=px

m, y =

∂H∂py

=py

m, px = −∂H

∂x= −κ x, py = −∂H

∂y= −κ y. (15.43)

Es handelt sich einfach um zwei voneinander unabhangige harmonische Oszillatoren mit der Eigenfre-quenz ω2 = κ/m. Dass die Bewegungen in die beiden Richtungen unabhangig ablaufen, ergibt sich auchdaraus, dass die Lagrange-Funktion als Summe von zwei Funktionen dargestellt werden kann, wobei dieeine nur von x und vx, die andere nur von y und vy abhangt. Offenbar gilt in diesem Fall dasselbe fur dieHamilton-Funktion, die ebenfalls eine Summe von zwei Funktionen ist. Hier hangt der eine Summand nurvon x und px ab,. der andere nur von y und py.

Aufgabe 15.9 Man finde die allgemeine Losung von (15.43). Welche spezielle Losung ergibt sich fur dieAnfangsbedingungen x(0) = a, y(0) = 0, px(0) = 0, py(0) = b?

Nun wollen wir dieselben Bewegungsgleichungen in einem anderen Koordinatensystem darstellen. DerKonfigurationsraum Q des Teilchens ist eine Euklidische Ebene. Wie fuhren dort ein Polarkoordinaten-system (r, ϕ) ein, so dass wie ublich x = r cos ϕ und y = r sin ϕ gilt. Es gibt dann mehrere Stellen inder gerade durchgefuhrten Herleitung, an der wir diese Koordinatentransformation einsetzen konnen. Wirkonnen zum Beispiel ganz von vorne beginnen, und zuerst die Lagrange-Funktion umrechnen. Das ergibt

L(r, ϕ, vr, vϕ) =m

2

((vr)2 + r2 (vϕ)2

)− κ

2r2, (15.44)

wobei (vr, vϕ) die Komponenten der Geschwindigkeit in Polarkoordinaten sind, also die radiale und dieWinkelgeschwindigkeit. Diesen Ausdruck fur die Lagrange-Funktion hatten wir schon mehrmals benutzt,so dass wir ihn hier nicht mehr herleiten mussen. Die konjugierten Impulse sind nun

pr =∂L∂vr = m vr, pϕ =

∂L∂vϕ = m r2 vϕ. (15.45)

Der zur Koordinate r kanonisch konjugierte Impuls pr ist die Komponente des Impulses in radiale Rich-tung, und der zur Koordinate ϕ kanonisch konjugierte Impuls pϕ ist der Drehimpuls, oder genauer dessenz-Komponente, wenn wir uns die Ebene im Raum eingebettet denken. Da weiterhin L = T − V ist, giltfur die Hamiltonfunktion auch hier H = T + V , also

H(r, ϕ, pr, pϕ) =pr

2

2 m+

pϕ2

2 m r2 +κ r2

2. (15.46)

Eine andere Moglichkeit, sich diese Hamilton-Funktion zu verschaffen, geht direkt von der Darstellung(15.42) aus. Der Phasenraum P des Teilchens ist ein vierdimensionaler Raum, auf dem durch (x, y, px, py)

150

Page 13: 15 Hamiltonsche Mechanik

ein kanonisches Koordinatensystem definiert wird. Nun fuhren wir eine Koordinatentransformation durch,indem wir

x = r cos ϕ, y = r sin ϕ (15.47)

setzen. Dann mussen wir auch die Impulse transformieren, und zwar wie die Komponenten eines dualenVektors,

pr =∂x

∂rpx +

∂y

∂rpy = cos ϕ px + sin ϕ py,

pϕ =∂x

∂ϕpx +

∂y

∂ϕpy = −r sin ϕ px + r cos ϕ py. (15.48)

Die neuen Koordinaten (r, ϕ, pr, pϕ) bilden dann ebenfalls ein kanonisches Koordinatensystem auf P .Um die Hamilton-Funktion in diesen Koordinaten darzustellen, mussen wir nur die Beziehungen (15.47)und (15.48) in (15.42) einsetzen. Das Ergebnis ist naturlich wieder (15.46). Wir mussen also nur dieselbeFunktion H in den neuen Koordinaten darstellen.

Die Bewegungsgleichungen konnen wir nun ebenso gut in diesem Koordinatensystem bestimmen. Esgilt

r =∂H∂pr

=pr

m, ϕ =

∂H∂pϕ

=pϕ

m r2 , pr = −∂H∂r

=pϕ

2

m r3 − κ r, pϕ = −∂H∂ϕ

= 0. (15.49)

In der Bewegungsgleichung fur pr tritt nun ein effektives Potenzial auf, das wir auch schon aus anderenHerleitungen von Bewegungsgleichungen in Polarkoordinaten kennen.

Man kann sich leicht davon uberzeugen, dass diese Bewegungsgleichungen zu (15.43) aquivalent sind.Sie sind zwar nun miteinander gekoppelt. Wir sehen daher nicht mehr sofort, dass die es sich um zweiunabhangige Oszillatoren handelt. Aber wir konnen statt dessen aus der letzten Gleichung sofort ablesen,dass der Drehimpuls pϕ eine Erhaltungsgroße ist. Damit lasst sich auch dieses Gleichungssystem leichtauflosen.

Aufgabe 15.10 Man finde die allgemeine Losung von (15.49). Wie stellt sich die Anfangsbedingung ausAufgabe 15.9 in Polarkoordinaten dar, und welche spezielle Losung ergibt sich daraus?

Aufgabe 15.11 Fur ein N -Teilchen-System im dreidimensionalen Euklidischen Raum bezeichnen wir dieOrte der Teilchen wie ublich mit rα, α ∈ {1, . . . , N}, und ihre Koordinaten mit rα,i, i ∈ {x, y, z}. Ent-sprechend sind vα bzw. vα,i die Geschwindigkeiten. Liegt eine paarweise, nur vom Abstand abhangigeWechselwirkung der Teilchen vor, so hat die Lagrange-Funktion die Form

L({rα}, {vα}

)=

1

2

α

mα vα2 − 1

2

α6=β

Vα,β(|rα − rβ|) (15.50)

Die kanonischen Impulse werden mit pα, bzw. ihre Komponenten mit pα,i bezeichnet. Man bestimme dieBeziehungen zwischen den Impulsen und den Geschwindigkeiten, die Hamilton-Funktion H({rα}, {pα}),und die daraus resultierenden Bewegungsgleichungen.

Aufgabe 15.12 Ein Teilchen im dreidimensionalen Raum bewege sich in einem kugelsymmetrischen Po-tenzial V = V (r). Die Lagrange-Funktion in Kugelkoordinaten ist folglich

L(r, ϑ, ϕ, vr, vϑ, vϕ) =m

2

((vr)2 + r2 (vϑ)2 + r2 sin2 ϑ (vϕ)2

)− V (r). (15.51)

Welche Hamilton-Funktion H(r, ϑ, ϕ, pr, pϑ, pϕ) ergibt sich daraus?

151

Page 14: 15 Hamiltonsche Mechanik

Zeitabhangige Systeme

Um zu zeigen, dass die Hamiltonsche Methode auch dann noch funktioniert, wenn die Lagrange-Funktion,und damit auf die Hamilton-Funktion explizit zeitabhangig ist, betrachten wir als drittes Beispiel ein ebe-nes Pendel mit veranderlicher Lange. Es handelt sich um ein System mit holonomen, aber zeitabhangigenZwangsbedingungen. Wir verwenden als reduzierte Koordinate eine Winkelkoordinate ϑ, so dass sich dasPendel in der x-z-Ebene an der Stelle x = ` sin ϑ und z = −` cos ϑ befindet, wobei die Pendellange` = `(t) als Funktion der Zeit vorgegeben ist.

Die Lagrange-Funktion bestimmen wir wie ublich, indem wir die kinetische und potenzielle Energieberechnen. Das ergibt

T =m

2

(x2 + z2

)=

m

2`2 ϑ2 +

m

2˙2,

V = m g z = −m g ` cos ϕ. (15.52)

Bezeichnen wir die Winkelgeschwindigkeit ϑ mit ω, so ist

L(ϑ, ω, t) =m `(t)2

2ω2 +

m ˙(t)2

2+ m g `(t) cos ϑ. (15.53)

Uber die vorgegebene Funktion `(t) und deren Ableitung ˙(t) hangt die Lagrange-Funktion also explizitvon der Zeit ab. Um die Hamilton-Funktion zu finden, bestimmen wir erst den Zusammenhang zwischender Winkelgeschwindigkeit ω und dem zugehorigen Impuls, von dem wir ja bereits wissen, dass es derDrehimpuls ist. Wir bezeichnen ihn daher mit

l =∂L∂ω

= m `(t)2 ω. (15.54)

Der Zusammenhang zwischen ω und l ist ebenfalls explizit von der Zeit abhangig. Das andert aber nichtsan der Definition der Hamilton-Funktion die sich aus (15.15) ergibt. Es gilt

H(ϑ, l, t) = Extω

(l ω − L(ϑ, ω, t)

)=

l2

2 m `(t)2 − m ˙(t)2

2− m g `(t) cos ϑ, (15.55)

wobei wir das Extremum gefunden haben, indem wir fur ω die Losung der Gleichung (15.54) eingesetzthaben.

Auch die Hamilton-Funktion hangt nun uber `(t) und ˙(t) explizit von der Zeit ab. Außerdem konnenwir noch die folgende wichtige Feststellung machen. Sie ist nicht von der Form H = T + V , denn derTerm, der zu ˙(t)2 proportional ist, hat das falsche Vorzeichen. Das liegt daran, dass dieser Term in derLagrange-Funktion (15.53) einen Anteil der kinetischen Energie reprasentiert, aber keine quadratischeFunktion der Geschwindigkeit ω ist.

In diesem Sinne ist H nicht die Große, die wir ublicherweise als Gesamtenergie bezeichnen wurden. Dassteht ein wenig mit der Definition im Widerspruch, die wir weiter oben fur die physikalische Interpretationvon H gegebenen haben. Die Hamilton-Funktion liefert hier einen anderen Ausdruck fur die Gesamtener-gie des Systems als die Summe aus potenzieller und kinetischer Energie. Waren wir also zu voreilig, alswir die Hamilton-Funktion als eine Verallgemeinerung des Begriffes “Energie” definiert haben? Was isthier die “richtige” Definition von Energie?

Wir mussen uns entweder fur die “physikalisch intuitive” Definition E = T + V entscheiden, oder furdie “formale” Definition E = H. Im Grunde ist es aber vollig egal, welche Große wir in diesem FallEnergie nennen. Wir konnen mit ihr namlich gar nichts weiter anfangen. Da es sich um ein System mitzeitabhangigen Zwangsbedingungen handelt, leisten diese Arbeit am System, so dass die Energie, wie

152

Page 15: 15 Hamiltonsche Mechanik

auch immer definiert, keine Erhaltungsgroße ist. Wir konnen sie nicht wie sonst ublich zur Losung derBewegungsgleichungen verwenden.

Aus diesem Grund konnen wir gut mit dem Umstand zurecht kommen, dass die Energie eines Systems,die sich aus der Hamilton-Funktion ergibt, nicht immer mit dem ubereinstimmt, was wir uns intuitiv unterEnergie vorstellen. Wichtiger als die Frage, welche Große wir Energie nennen, ist die Frage nach Erhal-tungsgroßen, die uns helfen, die Bewegungsgleichungen zu losen. Damit werden wir uns gleich naherbefassen und sehen, dass es stets die Hamilton-Funktion, also die formale Definition der Energie ist, diezu einer solchen Erhaltungsgroße fuhrt.

Unabhangig von der Frage nach der Bedeutung des Begriffes Energie konnen wir jedoch aus (15.38)die Bewegungsgleichungen ableiten. Da ϑ nun die Ortskoordinate und l der kanonisch konjugierte Impulsist, bekommen wir

ϑ =∂H∂l

=l

m `(t)2 , l = −∂H∂ϑ

= −m g `(t) sin ϑ. (15.56)

Der fragliche Term mit dem falschen Vorzeichen geht in die Bewegungsgleichungen gar nicht ein, daer weder von ϑ noch von l abhangt. Wie immer ergibt sich ein Satz von Differenzialgleichungen ersterOrdnung, aufgelost nach den Ableitungen ϑ(t) und l(t). Das einzig neue ist, dass nun die Koeffizientendieser Gleichungen explizit von t abhangen, uber die vorgegebene Funktion `(t).

Aufgabe 15.13 Man lose die Bewegungsgleichungen (15.56) des Pendels fur g = 0, also im schwerelosenRaum.

Der Hamiltonsche Fluss

Wir wollen uns nun die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen (15.25) etwas genauer ansehen. Wie be-reits erwahnt, wird durch die Vorgabe eines Anfangszustandes q(0) = q0 und p(0) = p0 die Zeitent-wicklung des Systems eindeutig festgelegt. Wir kennen also die Funktionen q(t) und p(t), sobald wir ihreWerte zu einem bestimmten Zeitpunkt, zum Beispiel t = 0, kennen.

Eine Kurve (q(t), p(t)) im Phasenraum, die auf diese Weise bestimmt wird, nennt man eine Trajektorie.Eine Trajektorie im Phasenraum ist das Analogon zu einer Bahn q(t) im Konfigurationsraum. Beide be-schreiben die zeitliche Entwicklung des Systems als parametrisierte Kurve. Wahrend die Bahn jedoch zujedem Zeitpunkt nur den Ort des Systems im Konfigurationsraum festlegt, konnen wir auf der Trajektorieim Phasenraum gleichzeitig den Ort und den Impuls ablesen.

Eine Trajektorie ist eine Bahn (q(t), p(t)) im Phasenraum, die den Hamiltonschen Bewe-gungsgleichungen genugt.

Fur zwei sehr einfache mechanische Systeme sind in Abbildung 15.1 ein paar Trajektorien dargestellt. DieAbbildung (a) zeigt den Phasenraum eines harmonischen Oszillators, aufgespannt durch die kanonischenKoordinaten (q, p). Wir wahlen als Anfangszustand einen Punkt auf der positiven p-Achse. Das Systemsoll sich zum Zeitpunkt t = 0 am Ruhepunkt q0 = 0 befinden und einen Impuls p0 > 0 haben. Diezugehorige Losung entnehmen wir aus (15.37),

q(t) = a0 sin(ω t), p(t) = p0 cos(ω t), mit a0 =p0

m ω. (15.57)

Im Phasenraum ergibt sich eine Ellipse mit den Halbachsen p0 und a0, wobei p0 der Anfangsimpuls unda0 die daraus resultierende Amplitude der Schwingung ist. Der Oszillator schlagt zuerst in die positive q-Richtung aus, so dass die Ellipse im Uhrzeigersinn durchlaufen wird, wenn man die Darstellung so wie inder Abbildung wahlt, also q nach rechts und p nach oben auftragt. Fur einige ausgewahlte Werte von p0 sinddie entsprechenden Trajektorien, jeweils fur ein bestimmtes Zeitintervall 0 ≤ t ≤ τ , in Abbildung 15.1(a)eingezeichnet.

153

Page 16: 15 Hamiltonsche Mechanik

PSfrag replacements

(a) (b)

(c)(d)

pp

qq

Abbildung 15.1: Der Hamiltonsche Fluss eines harmonischen Oszillators (a) und eines Pendels (b). DieTrajektorien des harmonischen Oszillators sind Ellipsen, die alle mit der gleichen Kreisfrequenz ω durch-laufen werden. Beim Pendel gibt es oszillierende und sich uberschlagende Trajektorien. Die gestricheltenLinien sind die Niveaulinien der Hamilton-Funktion.

Die Trajektorien im Phasenraum haben zwei wichtige Eigenschaften. Die erste beruht auf der Tatsache,dass die Hamilton-Funktion in diesem Fall nicht explizit von der Zeit abhangt. Damit hangen auch dieBewegungsgleichungen nicht explizit von der Zeit ab. Folglich ist mit t 7→ (q(t), p(t)) auch jede in derZeit verschobene Kurve t 7→ (q(t − t0), q(t − t0)) eine Trajektorie. Es spielt keine Rolle, zu welchemZeitpunkt wir das System in den gegeben Anfangszustand versetzen. Es wird immer die gleiche Trajektoriedurchlaufen, nur eben zu einer fruheren oder spateren Zeit.

Die zweite Eigenschaft ergibt sich aus der Tatsache, dass die Bewegungsgleichungen die Zeitentwick-lung eindeutig festlegen. Daher geht durch jeden Punkt im Phasenraum genau eine Trajektorie. Die Tra-jektorien bilden eine Schar von Kurven, die den Phasenraum vollstandig ausfullen, sich dabei aber niemalsschneiden. Denn durch den Schnittpunkt wurden dann mehrere Trajektorien verlaufen.

Beim harmonischen Oszillator konnen wir uns das recht einfach klar machen. Egal, welchen Anfangs-zustand wir vorgeben, das System kehrt immer nach einer Periode T = 2π/ω in diesen Zustand zuruck.Die Trajektorien sind geschlossen Kurven, die alle die gleiche Periode T haben. Es sind Ellipsen, dieden Ursprung, also den Ruhepunkt des Oszillators bei q = 0 und p = 0 im Uhrzeigersinn umlaufen. Esgibt nur eine spezielle, “entartete” Trajektorie, die nur aus einem Punkt besteht. Sie beschreibt den in derGleichgewichtslage ruhenden Oszillator.

Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn wir statt eines harmonischen Oszillators ein ebenes Pendelbetrachten. Wie wir bereits gezeigt haben, ist der Phasenraum in diesem Fall ein Zylinder. Die Pendellangesei wieder `. Als kanonische Koordinaten verwenden wir die periodische Ortskoordinate q ≡ q+2π `, alsodie Auslenkung, und den konjugierten Impuls p. Die Hamilton-Funktion nimmt dann die Form (15.38) an.In Abbildung 15.1(b) ist dieser Phasenraum grafisch dargestellt. Wir mussen uns die Abbildung zu einemZylinder aufgerollt denken, so dass die gestrichelte Linie am rechten Rand bei q = π ` mit der am linkenRand bei q = −π ` identifiziert wird.

Als Anfangszustand wahlen wir wieder einen Punkt auf der positiven p-Achse. Naturlich gilt auch hier,dass von jedem Punkt genau eine Trajektorie ausgeht, die wir durch Losen der Bewegungsgleichen (15.39)berechnen konnen. Wohin diese Trajektorie lauft, hangt nun jedoch vom Wert des Anfangsimpulses ab. Furkleine Impulse oszilliert das Pendel um die Ruhelage und verhalt sich dabei naherungsweise wie der har-

154

Page 17: 15 Hamiltonsche Mechanik

monische Oszillator. In der Nahe des Koordinatenursprungs ergibt sich in den Abbildungen 15.1(a) und (b)ein sehr ahnliches Bild. Jede Trajektorie kehrt nach einer gewissen Zeit, die fur kleine Auslenkungen derEigenperiode T = 2π/ω entspricht, in den Ausgangszustand zuruck.

Fur große Impulse uberschlagt sich das Pendel. Es kehrt dann auch nach einer gewissen Zeit zum An-fangszustand zuruck, jedoch wickelt sich die Trajektorie dabei um den Zylinder, statt den Koordinatenur-sprung zu umrunden. Als Grenzfall zwischen diesen beiden Klassen von Trajektorien gibt es die Kriech-bahn, bei der das Pendel nach unendlicher langer Zeit den oberen, instabilen Gleichgewichtspunkt erreicht.Diese spezielle Losung der Bewegungsgleichungen wurde bereits in Aufgabe 5.16 diskutiert. Schließlichgibt es noch zwei spezielle Trajektorien, die jeweils nur aus einem Punkt bestehen, namlich die stabileGleichgewichtslage bei q = 0 und p = 0, sowie die instabile Gleichgewichtslage bei q = ±π ` und p = 0.

Wir werden nun dieses Verhalten von Trajektorien im Phasenraum etwas allgemeiner beschreiben. DerEinfachheit halber nehmen wir dazu an, dass die Hamilton-Funktion, so wie in den beiden gerade dis-kutierten Beispielen, nicht explizit von der Zeit abhangt. Dann konnen wir wie folgt eine Abbildung desPhasenraumes auf sich selbst definieren. Wir geben irgendeinen Anfangszustand (q0, p0) vor. Wir verset-zen das System in diesen Zustand und warten eine Zeitspanne τ . Dann ist das System in einem Zustand(qτ , pτ ). Fur jedes τ wird auf dieser Weise eine Abbildung

χH(τ) : P → P, (q0, p0) 7→ (qτ , pτ). (15.58)

definiert. Man nennt diese Schar von Abbildung den Hamiltonschen Fluss. Er gibt fur jedes τ ∈ R an,wie sich das System innerhalb einer Zeitspanne τ entwickelt. Jedem Anfangszustand wird ein Endzustandzugeordnet.

Der Hamiltonsche Fluss ist fur jedes τ ∈ R eine bijektive Abbildung des Phasenraumes auf sich selbst.Das ergibt sich aus der Tatsache, dass wir die Bewegungsgleichungen naturlich auch benutzen konnen,um die Trajektorie in die Vergangenheit fortzusetzen. Da die Bewegungsgleichungen nicht explizit vonder Zeit abhangen sollen, gilt sogar ganz allgemein die Beziehung

χH(τ1) ◦ χH(τ2) = χH(τ1 + τ2). (15.59)

Wenn sich das System erst uber eine Zeitspanne τ1 entwickelt und dann uber eine Zeitspanne τ2, dann istdas Ergebnis das gleiche als wurde es sich gleich uber eine Zeitspanne τ1 + τ2 entwickeln.

Setzen wir in (15.59) τ2 = 0, so ergibt sich χH(0) = id, was auch anschaulich klar ist. Wenn wirdem System gar keine Zeit geben, sich zu entwickeln, so ist der Endzustand gleich dem Anfangszustand.Setzen wir schließlich τ1 = τ und τ2 = −τ , so finden wir χH(τ)−1 = χH(−τ). Die inverse Abbildungbekommen wir, indem wir das System in die jeweils umgekehrte Zeitrichtung entwickeln lassen.

Eine Schar von bijektiven Abbildungen eines Raumes auch sich selbst, die durch eine reelle Zahl para-metrisiert werden, und die zudem die Eigenschaft (15.59) haben, nennt man im allgemeinen einen Fluss.Dahinter steckt die anschauliche Vorstellung von einer stromenden Flussigkeit. Verfolgt man die einzelnenTeilchen in einer stromenden Flussigkeit uber ein bestimmte Zeitspanne, so wird auch dadurch eine Abbil-dung des Raumes, in dem die Stromung stattfindet, auf sich selbst definiert. Wenn die Stromung stationarist, als zeitunabhangig, so gilt fur diese Abbildungen die Gleichung (15.59).

Wir konnen uns den Hamiltonschen Fluss im Phasenraum, also die Zeitentwicklung eines mechanischenSystems, in diesem Sinne wie die Stromung einer Flussigkeit vorstellen. Die in Abbildung 15.1 gezeigtenTrajektorien ergeben sich, wenn man einzelne Teilchen in dieser Flussigkeit markiert und dann ihren Wegverfolgt.

Die Zeitentwicklung eines mechanischen System wird durch einen Fluss im Phasenraum be-schrieben.

155

Page 18: 15 Hamiltonsche Mechanik

Beim harmonischen Oszillator bildet der Fluss einen einzigen großen Wirbel um den Koordinatenur-sprung. Alles stromt gleichmaßig auf elliptischen Kurven. Wir konnen den Fluss sogar relativ leicht expli-zit angeben. Gibt man als Anfangszustand (q0, p0) vor, so ist die eindeutige Losung der Bewegungsglei-chung

q(t) = q0 cos(ω t) +p0

m ωsin(ω t), p(t) = p0 cos(ω t) − m ω q0 sin(ω t). (15.60)

Die Abbildung (15.58) sieht also explizit wie folgt aus,

χH(τ) : (q, p) 7→(

q cos(ω τ) +p

m ωsin(ω τ) , p cos(ω t) − m ω q sin(ω t)

). (15.61)

Man kann sich leicht davon uberzeugen, dass diese Schar von Abbildungen die Eigenschaft (15.59) hat.Beim Pendel sieht der Fluss ein wenig komplizierter aus und lasst sich nicht mehr in geschlossener Formangeben. Wir konnen aber weiterhin das Bild einer stromenden Flussigkeit verwenden. Auf dem zylin-derformigen Phasenraum, der in Abbildung 15.1(b) dargestellt ist, verlauft die Stromung im oberen Be-reich nach rechts um den Zylinder herum, und im unteren Bereich nach links um den Zylinder herum.Dies entspricht dem Pendel, das sich entweder rechts- oder linksrum uberschlagt. In der Mitte um denKoordinatenursprung bildet sich ein Wirbel, in dem das Pendel um die Ruhelage oszilliert.

Aufgabe 15.14 Wie sieht der Hamiltonsche Fluss fur ein freies Teilchen im dreidimensionalen Raum aus?

Aufgabe 15.15 Kann man den Hamiltonschen Fluss auch dann noch definieren, wenn die Hamilton-Funktion explizit von der Zeit abhangt?

Die Poisson-Klammer

Wir werden von nun an stets die Annahme machen, dass die Hamilton-Funktion nicht explizit von der Zeitabhangt. Wir betrachten also nur solche mechanischen Systeme, die nicht “von außen” uber zeitabhangigeZwangsbedingungen gesteuert werden. Uber solche autonomen Systeme macht die Hamiltonsche For-mulierung der Bewegungsgleichungen einige sehr interessante Aussagen. Zwar lassen sich viele dieserAussagen verallgemeinern, so dass sie auch fur Systeme mit zeitabhangiger Dynamik gelten. Dies fuhrtaber nicht zu sehr viel tieferen Erkenntnissen.

Eine der wichtigsten Eigenschaften der Hamiltonschen Mechanik ist, dass sie eine sehr elegante Antwortauf die Frage gibt, ob ein System Erhaltungsgroßen besitzt und welche Großen das gegebenenfalls sind.Unter einer Erhaltungsgroße verstehen wir dabei eine Funktion des Bewegungszustands, deren Wert sichzeitlich nicht andert. Beispiele fur solche Großen kennen wir bereits aus der Newtonschen Mechanikvon Punktteilchen, etwa den Gesamtimpuls oder den Gesamtdrehimpuls eines N -Teilchen-System. DieseGroßen sind zeitlich konstant, wenn die Wechselwirkungen zwischen Teilchen bestimmte Eigenschaftenhaben. Diesen Zusammenhang wollen wir nun systematisch untersuchen.

In der Hamiltonschen Formulierung ist der Bewegungszustand ein Paar (q, p), also ein Punkt im Phasen-raum P . Folglich wird eine Erhaltungsgroße durch eine Phasenraumfunktion A : P → R dargestellt, diejedem Bewegungszustand (q, p) eine reelle Zahl A(q, p) zuordnet. Als Beispiel fur eine Phasenraumfunk-tion kennen wir bereits die Hamilton-Funktion H. Wenn sie nicht explizit von der Zeit abhangt, handelt essich um eine Abbildung H : P → R. Wir kennen auch schon ihre physikalische Interpretation. Es ist dieGesamtenergie des Systems.

Wir wollen uns nun ganz allgemein fragen, wie sich der Wert einer Phasenraumfunktion mit der Zeitandert, wenn das System sich gemaß seinen Bewegungsgleichungen entwickelt. Dazu mussen wir denWert der Funktion A entlang einer Trajektorie (q(t), p(t)) auswerten. Das ergibt eine Funktion A(t) =

156

Page 19: 15 Hamiltonsche Mechanik

A(q(t), p(t)). Sie beschreibt die zeitliche Entwicklung der Große A aus der Sicht des Systems, das sichentlang der Trajektorie bewegt. Fur die Ableitung dieser Große nach der Zeit gilt

A =dA

dt= qµ ∂A

∂qµ + pµ∂A

∂pµ. (15.62)

Wie ublich steht der Punkt bzw. d/dt fur die totale Zeitableitung, also die Ableitung der Funktiont 7→ H(q(t), p(t)), wahrend mit ∂/∂qµ bzw. ∂/∂pµ die partiellen Ableitungen nach den Phasenraum-koordinaten bezeichnet werden, die in diesem Fall selbst wieder Funktionen der Zeit sind.

Nun setzen wir in (15.62) die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen ein. Das ergibt

dA

dt=

∂H∂pµ

∂A

∂qµ − ∂H∂qµ

∂A

∂pµ. (15.63)

Wenn man sich den Ausdruck auf der rechten Seite genauer anschaut, stellt man fest, dass es sich wiederum eine Phasenraumfunktion handelt. Sie wird in einer speziellen Art und Weise aus den partiellen Ablei-tungen von A und H gebildet. Wahrend auf der linken Seite die Ableitung entlang einer Trajektorie steht,steht also auf der rechten Seite wieder eine Phasenraumfunktion.

Das hat folgenden einfachen Grund. Wenn wir wissen, in welchem Bewegungszustand sich das Systemzu einem Zeitpunkt befindet, dann wissen wir auch, in welche Richtung es sich von dort aus im Phasenraumbewegen wird. Folglich wissen wir auch, wie sich eine gegebene Funktion A(q, p) zeitlich entwickelnwird, ohne die Trajektorie selbst kennen zu mussen.

Wir konnen nun ein sehr einfaches Kriterium dafur angeben, wann eine Phasenraumfunktion eine Erhal-tungsgroße ist, ohne dass wir uns dazu die Bewegungsgleichungen naher anschauen mussen. Eine FunktionA(q, p) ist genau dann eine Erhaltungsgroße, wenn

∂H∂pµ

∂A

∂qµ − ∂H∂qµ

∂A

∂pµ= 0 (15.64)

ist. Da solche Ausdrucke im folgenden ofters auftreten, ist es nutzlich, dafur eine spezielle Schreibweiseeinzufuhren. Es seien A, B : P → R zwei Phasenraumfunktionen. Dann ordnen wir ihnen eine drittePhasenraumfunktion C : P → R zu, die wie folgt definiert ist

Poisson-Klammer

C = {A, B} =∂A

∂pµ

∂B

∂qµ − ∂A

∂qµ

∂B

∂pµ(15.65)

Die Funktion C heißt Poisson-Klammer von A und B. Man bezeichnet sie ublicherweise mit einer ge-schweiften Klammer, in die man die beiden Funktionen A und B als Argumente eintragt.

Die Poisson-Klammer ordnet jedem Paar von Phasenraumfunktionen A und B eine neuePhasenraumfunktion {A, B} zu.

Mit Hilfe dieser Notation konnen wir fur die Zeitentwicklung einer beliebigen Phasenraumfunktion ganzeinfach als

A = {H, A} (15.66)

schreiben. Zu beachten ist hierbei nur, dass die Gleichung erst dann sinnvoll zu interpretieren ist, wennwir sowohl die Phasenraumfunktion A links als auch Phasenraumfunktion {H, A} rechts entlang einerTrajektorie auswerten. Denn erst dann ist der Punkt, also die totale Zeitableitung, ein sinnvolle Operation.

Nehmen wir nun an, die Phasenraumfunktion A sei eine Erhaltungsgroße. Dann gilt auf jeder TrajektorieA = 0. Folglich hat auf die Funktion auf der rechten Seite von (15.66) auf jeder Trajektorie den Wert Null.

157

Page 20: 15 Hamiltonsche Mechanik

Da durch jeden Punkt im Phasenraum genau eine Trajektorie geht, verschwindet also die Funktion {H, A}identisch.

Umgekehrt, wenn die Phasenraumfunktion {H, A} identisch verschwindet, dann folgt aus (15.66), dassauf jeder Trajektorie A = 0 ist, also ist A eine Erhaltungsgroße. Wir haben damit den folgenden Satzbewiesen:

Eine Phasenraumfunktion A ist genau dann eine Erhaltungsgroße, wenn {H, A} = 0 ist.

Die Gleichung {H, A} = 0 ist ein System von partiellen Differenzialgleichungen fur die Koordinaten-darstellung A({qµ}, {pµ}) der Phasenraumfunktion A. Wir haben also die Suche nach Erhaltungsgroßenauf das Losen dieser Differenzialgleichungen zuruckgefuhrt. Allerdings ware es sehr muhsam, dies fur eingegebenes System explizit durchzufuhren, um alle moglichen Erhaltungsgroßen zu finden. Wir werden da-her zunachst ein paar Satze uber die Poisson-Klammer beweisen, die diese Suche nach Erhaltungsgroßenerheblich vereinfachen.

Aufgabe 15.16 Auch die Ortskoordinaten qµ und die konjugierten Impulse pµ sind reellwertige Phasen-raumfunktionen. Man zeige, dass sich fur sie die folgenden Poisson-Klammern ergeben,

{qµ, qν} = 0, {qµ, pν} = −δµν, {pµ, qν} = δµ

ν , {pµ, pν} = 0. (15.67)

Die Poisson-Klammern dieser speziellen Funktionen sind also sehr einfache Phasenraumfunktionen,namlich konstante Funktionen mit dem Werten 0, 1 oder −1.

Aufgabe 15.17 Wir fassen die Phasenraumkoordinaten qµ und pµ zu einem einzigen Satz von Koordinatenxm zusammen, wobei der Index m 2 N Werte annimmt, wenn das System N Freiheitsgrade hat. Man zeige,dass die Bewegungsgleichungen des Systems dann wie folgt geschrieben werden konnen,

xm = {H, xm}. (15.68)

In dieser Form gelten die Bewegungsgleichungen auch dann noch, wenn xm beliebige krummlinige Koordi-naten auf dem Phasenraum sind, also irgendwelche Funktionen von qµ und pµ, die einen Zustand eindeutigfestlegen. Wie kann man das beweisen, ohne eine langere Rechnung durchfuhren zu mussen?

Aufgabe 15.18 Es seien (x, y, z) die Ortskoordinaten eines Teilchens im dreidimensionalen Raum und(px, py, pz) die kanonisch konjugierten Impulse. Auf dem sechsdimensionalen Phasenraum P , der durchdie Koordinaten (x, y, z, px, py, pz) aufgespannt wird, betrachten wird die Funktionen

A = px2 + py

2 + z2, B = py2 + pz

2 + x2, C = pz2 + px

2 + y2. (15.69)

Man berechne die Poisson-Klammern {A, B}, {B, C} und {C, A}.

Aufgabe 15.19 Man beweise die folgende Kettenregel fur Poisson-Klammern. Sind Ak(q, p), mit k ∈{1, . . . , K}, irgendwelche differenzierbaren Phasenraumfunktion, und ist F (a1, . . . , aK) eine Funktionmit K reellen Argumenten, so ist F (q, p) = F (A1(q, p), . . . , Ak(q, p)) wieder eine Phasenraumfunktion.Fur die Poisson-Klammer dieser Funktion mit einer anderen gilt

{F (A1, . . . , Ak), B} =∑

k

∂F

∂Ak

{Ak, B}. (15.70)

Dieser Regel ist vollig analog zur Kettenregel fur partielle Ableitungen und gilt naturlich auch im zweitenArgument der Poisson-Klammer.

158

Page 21: 15 Hamiltonsche Mechanik

Die Poisson-Algebra

Die Poisson-Klammer definiert ein Produkt auf dem Raum aller beliebig oft differenzierbaren Phasen-raumfunktionen. Bezeichen wir diesen Raum wie in der Mathematik ublich mit C∞(P), so wird das Pro-dukt durch die Abbildung

{, } : C∞(P) × C∞(P) → C∞(P), (A, B) 7→ {A, B} (15.71)

definiert. Die Bezeichnung “Produkt” ist deshalb gerechtfertigt, weil die Poisson-Klammer die ublichenEigenschaften eines Produktes hat, namlich linear in beiden Argumenten zu sein. Der Raum C∞(P) ist einVektorraum, das heißt wir konnen Phasenraumfunktionen addieren und mit reellen Zahlen multiplizieren.Es gilt dann fur alle A, B, C ∈ C∞(P) und alle u ∈ R

Linearitat {A + B, C} = {A, C} + {B, C}, {u A, B} = u {A, B}. (15.72)

Dasselbe gilt naturlich fur das zweite Argument, was sich auch unmittelbar aus der folgenden Eigenschaftergibt. Die Poisson-Klammer ist antisymmetrisch, das heißt fur alle A, B ∈ C∞(P) gilt

Antisymmetrie {A, B} = −{B, A}. (15.73)

Diese beiden Eigenschaften der Poisson-Klammer lassen sich sehr leicht aus der Definition (15.65) able-sen. Die folgende Eigenschaft ist nicht sofort offensichtlich, lasst sich aber durch explizites Nachrechnenuberprufen. Fur drei Phasenraumfunktionen A, B, C ∈ C∞(P) gilt die Jacobi-Identitat

Jacobi-Identitat

{A, {B, C}} + {B, {C, A}} + {C, {A, B}} = 0. (15.74)

Diese werden wir im folgenden einige Male benutzen, um Satze uber Erhaltungsgroßen zu beweisen.Ein Produkt mit diesen drei Eigenschaften nennt man Lie-Produkt, und ein Vektorraum, auf dem ein Lie-

Produkt definiert ist, heißt Lie-Algebra. Der Vektorraum C∞(P) wird also durch die Poisson-Klammer zueiner Lie-Algebra.

Nun gibt es auf diesem Raum aber noch ein zweites Produkt, namlich das gewohnliche, punktweisedefinierte Produkt von zwei Funktionen (A, B) 7→ A B. Setzen wir ein solches Produkt von zwei Funktio-nen in die Poisson-Klammer ein, so finden wir nach einer kurzen Rechnung, dass fur je drei FunktionenA, B, C ∈ C∞(P) die Leibniz- oder Produktregel gilt,

Leibniz-Regel

{A B, C} = {A, C}B + A {B, C}. (15.75)

Das ist im wesentlichen die Produktregel fur Ableitungen. Die Poisson-Klammer wirkt auf jedes ihrerArgumente wie ein Ableitungsoperator. Es gelten formal die gleichen Rechenregeln wie fur das Ableitenvon Funktionen.

Auf dem Vektorraum C∞(P) sind folglich zwei Produkte definiert, die gewohnliche, punktweise Mul-tiplikation von zwei Funktionen, und die Poisson-Klammer. Sie sind im Sinne der Leibniz-Regel mitein-ander vertraglich. Man kann das Bilden der Poisson-Klammer mit der gewohnlichen Multiplikation in derReihenfolge vertauschen, wenn man Leibniz-Regel beachtet. Ein Vektorraum, auf dem in dieser Art undWeise zwei Produkte definiert sind, heißt Poisson-Algebra.

Der Funktionenraum C∞(P) aller beliebig oft differenzierbaren Phasenraumfunktionen isteine Poisson-Algebra.

159

Page 22: 15 Hamiltonsche Mechanik

Aufgabe 15.20 Man beweise die Jacobi-Identitat und die Leibniz-Regel durch Einsetzen der Definitionder Poisson-Klammer und direktes Nachrechnen.

Aufgabe 15.21 Wir kennen bereits ein ganz anderes Lie-Produkt, namlich das Kreuzprodukt auf einemdreidimensionalen metrischen Vektorraum. Man uberzeuge sich davon, dass dadurch tatsachlich eine Lie-Algebra definiert wird. Warum handelt es sich nicht um eine Poisson-Algebra?

Aufgabe 15.22 Auf dem zweidimensionalen Phasenraum eines mechanischen Systems mit einen Freiheits-grad seien die folgenden drei Funktionen definiert,

A1 = p2 + q2, A2 = 2 p q, A3 = p2 − q2, (15.76)

wobei (q, p) ein kanonisches Koordinatensystem ist. Man berechne die Poisson Klammern dieser Funktio-nen untereinander und verifiziere die Jacobi-Identitat.

Aufgabe 15.23 Fur ein Teilchen im dreidimensionalen Euklidischen Raum seien ri die Ortskoordinatenund pi die konjugierten Impulse. Die Komponenten des Drehimpulses sind dann

li = εijk rj pk. (15.77)

Man berechne ihre Poisson-Klammern und zeige

{li, lj} = −εijk lk. (15.78)

Wenn das Teilchen in freies Teilchen ist, dann gilt H = pi pi/(2 m). Man zeige, dass der Drehimpuls danneine Erhaltungsgroße ist.

Aufgabe 15.24 Man beweise folgenden Satz. Sind A und B zwei Erhaltungsgroßen eines mechanischenSystems, so ist auch C = {A, B} eine Erhaltungsgroße.

Der Energieerhaltungsatz

Was konnen wir nun mit der Poisson-Klammer und ihren Eigenschaften konkret anfangen? Wie bereitsgezeigt, haben wir mit der Poisson-Klammer ein zumindest prinzipiell sehr einfaches Verfahren zur Hand,mit dem wir testen konnen, ob eine gegebene Phasenraumfunktion A eine Erhaltungsgroße ist oder nicht.Wir mussen nur die Poisson-Klammer {H, A} ausrechnen. Wenn sie identisch verschwindet, dann ist Aeine Erhaltungsgroße, sonst nicht.

Eine ganz spezielle Erhaltungsgroße konnen wir sofort angeben. Es ist die Hamilton-Funktion selbst.Wegen der Antisymmetrie gilt namlich immer {H,H} = 0. Die einzige Voraussetzung, die wir bei derganzen Uberlegung gemacht haben, ist, dass das System autonom ist, seine Hamilton-Funktion also nichtexplizit von der Zeit abhangt.

Ist die Hamilton-Funktion eines mechanischen System nicht explizit zeitabhangig, so ist sieeine Erhaltungsgroße.

Das ist der Energieerhaltungsatz in der Hamiltonschen Mechanik. Er ergibt sich aus einer bestimmtenSymmetrie des betrachteten Systems, namlich der Symmetrie unter einer Zeitverschiebung. Ein System istsymmetrisch unter Zeitverschiebung, wenn es unabhangig davon, wann wir einen bestimmten Anfangszu-stand herstellen, stets die gleiche Trajektorie durchlauft. Genau das wird durch die Zeitunabhangigkeit derHamilton-Funktion zum Ausdruck gebracht.

Wir hatten diese Tatsache bereits anhand der Beispiele in Abbildung 15.1 diskutiert. Wir betrachten nundie dort eingezeichneten Trajektorien noch einmal etwas genauer. Der Energieerhaltungsatz besagt, dass

160

Page 23: 15 Hamiltonsche Mechanik

der Wert der Funktion H auf jeder Trajektorie konstant ist. Also folgen die Trajektorien den Niveaulinienvon H, die in der Abbildung als gestichelte Linien eingezeichnet sind. Fur den harmonischen Oszillatorsind dies Ellipsen, fur das Pendel ergeben sich etwas komplizierte Linien. In beiden Fallen folgen dieTrajektorien dem Verlauf dieser Linien.

Fur ein System mit nur einem Freiheitsgrad, dessen zweidimensionaler Phasenraum durch die kanoni-schen Koordinaten (q, p) aufgespannt wird, hat dies eine interessante Konsequenz. Wir konnen namlichallein aus dem Verlauf der Niveaulinien von H bereits auf die moglichen Bewegungsformen des Systemschließen. Tatsachlich haben wir eine ganz ahnlich Diskussion bereits in Kapitel 7 im Rahmen der Newton-schen Mechanik durchgefuhrt, um die Bewegungen eines Systems mit nur einem Freiheitsgrad qualitativzu beschreiben. Auch dort beruhte das Vorgehen auf dem Energieerhaltungsatz.

Betrachten wir zum Beispiel den Phasenraum des Pendels in Abbildung 15.1(b), so erkennen wir, dass esim wesentlichen zwei Typen von Niveaulinien gibt, namlich solche, die sich um den Zylinder wickeln, undsolche, die der Ursprung umrunden. Folglich gibt es auch zwei Bewegungsformen des Pendels, namlichdas sich uberschlagende und das oszillierende Pendel. Dazwischen liegt die Kriechbahn als Grenzfall. Sieentspricht der speziellen Niveaulinien, die die beiden Bereiche des Phasenraumes voneinander trennt.

An den zwei Gleichgewichtslagen bei q = 0 und p = 0 unten, sowie bei q = ±π` und p = 0 oben,weisen die Niveaulinien jeweils eine Besonderheit auf. Am stabilen Gleichgewichtspunkt unten bilden siekleine Kreise, oder genauer Ellipsen. Wie man sich leicht uberzeugt, besitzt die Hamilton-Funktion desPendels dort ein lokales Minimum. Es ist sogar das absolute Minimum. Insbesondere verschwindet dortauch der Gradient von H. Tatsachlich ist genau das das Kriterium fur das Vorliegen eines Gleichgewichts-punktes im Phasenraum. Verschwindet namlich der Gradient der Funktion H(q, p), so folgt daraus

qµ =∂H∂pµ

= 0, pµ = −∂H∂qµ = 0. (15.79)

Das System verbleibt also fur immer in diesem Zustand, wenn man ihn als Anfangszustand wahlt.Ob ein solcher Gleichgewichtszustand stabil oder instabil ist, konnen wir ebenfalls aus den Niveaulinien

ablesen. Bilden die Niveaulinien in der Nahe des Gleichgewichstpunktes geschlossene Kurven, so ist dasGleichgewicht stabil. Denn dann wurde ein kleine Storung dazu fuhren, dass das System in der Nahe desGleichgewichts oszilliert. Das ist immer dann der Fall, wenn die Hamilton-Funktion am Gleichgewichts-punkt ein lokales Minimum oder Maximum hat. Laufen die Niveaulinien jedoch vom Gleichgewichtspunktweg, so liegt ein Sattelpunkt des Hamilton-Funktion vor. In diesem Fall ist das Gleichgewicht instabil, dasich das System bei einer kleinen Storung auf einer solchen Niveaulinie weit vom Anfangspunkt entfernt.

Fur ein System mit nur einem Freiheitsgrad lassen sich auf diese Weise allein aus der Hamilton-Funktionund deren Niveaulinien bereits sehr viele Schlusse uber die Dynamik des Systems ziehen. Ausgangspunktist dabei der Energieerhaltungssatz und die geometrische Interpretation der Bewegung als Trajektorie imPhasenraum. Fur Systeme mit mehreren Freiheitsgraden ist dies nicht mehr so einfach. Dann gilt zwarimmer noch der Energieerhaltungsatz, aber die Hamilton-Funktion hat keine Niveaulinien mehr, sondernhoherdimensionale Niveauflachen. Zwar bewegt sich das System dann immer noch auf einer solchen Ni-veauflache, aber daraus allein konnen wir noch nicht auf den Verlauf der Trajektorie schließen. Das Zielist es deshalb, weitete Erhaltungsgroßen zu finden.

Aufgabe 15.25 Man zeige, dass der Energieerhaltungssatz in der Lagrangeschen Mechanik wie folgt for-muliert werden kann. Hangt die Lagrange-Funktion nicht explizit von der Zeit ab, so ist die Große

E = qµ ∂L∂qµ − L (15.80)

eine Erhaltungsgroße. Ihr Wert auf einer physikalischen Bahn entspricht dem Wert der Hamilton-Funktionauf der entsprechenden Trajektorie.

161

Page 24: 15 Hamiltonsche Mechanik

Aufgabe 15.26 Es gibt noch eine andere Situation, in der wir aus einer gegebenen Hamiltonfunktion so-fort auf eine Erhaltungsgroße schließen konnen. Das hatten wir sogar schon an der einer oder anderenStelle verwendet. Nehmen wir an, die Funktion H hangt von einer bestimmten Ortskoordinate ϕ nichtab. Das gilt zum Beispiel fur die Hamilton-Funktion (15.46) des zweidimensionalen harmonischen Oszil-lators, dargestellt in Polarkoordinaten. Man zeige, dass dann der kanonisch konjugierte Impuls pϕ eineErhaltungsgroße ist. Man wende diesen Satz auf ein freies Teilchen im dreidimensionalen Raum an. WelcheErhaltungsgroßen findet man?

162