150 jahre verein für kirche und kunst literatur und

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dialog 2007 150 Jahre Verein für Kirche und Kunst Literatur und Malerei Theologie und Poesie

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dialog2007

150 Jahre Verein für Kirche und Kunst

Literatur und Malerei – Theologie und Poesie

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Editorial

Nicht gerade viele Pressure-Groups undBürgerinitiativen können sich auf Daueretablieren; sie entfachen in der Regel füreine kurze Weile Engagement, bis sie wieder von der Bildfläche verschwinden.Anders eine kirchliche Bürgerinitiative, diesich vor 150 Jahren in Stuttgart zusam-mengetan hatte. Theologen aus der würt-tembergischen Kirchenleitung, StuttgarterKünstler und Mäzene hoben im Jahr 1857einen Verein aus der Taufe, der bis auf denTag in Kirche und Gesellschaft das gleicheZiel verfolgt: den „Verein für christlicheKunst“, seit 1993 „Verein für Kirche undKunst“.

Anlass damals war eine staatliche Kirch-baupraxis, die den Kirchengemeinden fürden Gottesdienst öde Kameralbauten hin-stellte, die in erster Linie der Ökonomieverpflichtet waren, kaum aber Raum fürSpiritualität boten. Deshalb sollte vor demKirchbau der Rat von Künstlern und Archi-tekten zugezogen und der künstlerischenAusstattung besonderes Augenmerk ge-schenkt werden. Das war die Leitidee.

Es lohnt, eine ältere Bibel mit frühen Stichen aufzuschlagen, und eine Luther-Bibel mit Bildern von Julius Schnorr vonCarolsfeld daneben zu legen, der künstle-risch und innovativ eine Inszenierungs-weise biblischer Geschichten ins Lebengerufen hat, die das religiöse Empfindenvieler Generationen geprägt hat. Ähnlicheästhetische, theologische und emotionaleZiele verfolgte der Gründungsvorsitzendedes württembergischen Vereins für Christ-liche Kunst Hofprediger Karl Grüneisen im

Inhalt

4 150 Jahre Verein Kirche und Kunst

Reinhard L. Auer, Johannes Koch

6 Kirche im gotischen Raum

Prof. Dr. Christoph Markschies

14 1 Nervensommer. Andreas Grunert

und Friederike Mayröcker

Sibylle Maus

18 Darüber hinaus –Dichtung und Religion

Dr. Petra Bahr

21 Dokumentation: Synodalantrag

22 Ein Atelierbesuch mit dem Verein

Christina Mayer

23 Veranstaltungen

Impressum

Herausgeber: Der Vorstand des Vereinsfür Kirche und Kunst in der EvangelischenLandeskirche in Württemberg e.V.Vorsitzender: Jo Krummacher, MdB,Platz der Republik 1, 11011 Berlin.Finanzen: Johann Albrecht Schüle,Verwaltungsamtsrat Gänsheide 2 +4,70184 Stuttgart.Postanschrift: Verein für Kirche und Kunst,z. Hd. Herrn J. A. Schüle, Postfach 101342,70012 Stuttgart. Fon: 0711/2149-238.Kto. 418 358 Ev. KreditgenossenschaftStuttgart. BLZ 600 606 06

Kunstbeauftragter der Evangelischen Lan-deskirche: Kirchenrat Reinhard LambertAuer M.A., Gerokstr. 21, 70184 Stuttgart,Fon: 0711/21 49-239, Fax: 2149-9239,eMail: [email protected].

Redaktion: Pfarrer Johannes Koch (jk),Kirchstr. 11, 89180 Berghülen,Fon: 07344/63 96, Fax: 919798. eMail:johannes.koch_servatius@t-online. de.Fotos: jk, N. Koliusis, Akademie Bad Boll,H.Rall, B.Penkwitt, Archiv. Konzeption:Bernhard Huber. Layout: Bernd Penkwitt.

Titelseite: Markuskirche Stuttgart mitLichtinstallation von Nikolaus Koliusis

Blick auf den gottesdienstlichen Raum.Der Architekt Christian Leins leistete ihmdabei Schützenhilfe. Bildhauer wie unteranderen Dannecker wirkten inspirierend.So entstanden Kirchenräume, die spezi-fisch evangelisch angelegt waren, also einen Wahrnehmungsraum für das leben-dige Wort schufen.

Am 13. Oktober 2007 lädt nun der Vereinfür Kirche und Kunst gemeinsam mit demwürttembergischen Verein für Kirchen-geschichte zum Jubiläum in die Stuttgar-ter Markuskirche ein. Dabei wird es um dieLinien von den Ursprüngen des kirchlichenKunstvereins bis zu den heutigen Heraus-forderungen gehen: Zum Dialog zwischenKirche und Kunst anzustiften und künstle-rische und architektonische Qualität zufördern, damit Kirchen als Räume für dieFeier der Nähe Gottes auch künftig wahr-nehmbar bleiben und erfahrbar werden.

Dass Landesbischof July in diesem Rahmen zu einem Empfang einlädt, ist ein Hinweis dafür, wie wichtig der Landes-kirche dieser Aspekt kirchlichen Lebensheute ist. Als nunmehr achter Vorsitzenderdieser nachhaltig wirkenden kirchlichenKunstinitiative freut sich darüber

Ihr Jo Krummacher

Der Vorstand auf der Jahrestagung in Weingarten mit Jo Krummacher,Johann Albrecht Schüle und ReinhardLambert Auer (von rechts).G. Angelika Wetzel trat aus gesund-heitlichen Gründen vom zweiten Vorsitz zurück, bleibt aber dem Verein mit ihrem geschätzten Rat und ihren wertvollen Kontakten zur „Kunstszene” als Beirätin erhalten.

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Lichtinstallationen

Jubiläumsveranstaltung Empfang des Landesbischofsfür Kunst und Kultur

Samstag, 13. Oktober 2007

Markuskirche Stuttgart

Filderstraße 22

11.00 Mitgliederversammlung des Vereins für Kirche und Kunst in der evangelischen Landeskirche in Württemberg

13.30Mitgliederversammlung des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte

14.00 BegrüßungEröffnung durch die Vorsitzenden:Prof. Dr. Hermann Ehmer Pfr. Jo Krummacher, MdB

14.30Prof. Dr. Hermann Ehmer Leiter des Landeskirchlichen Archivs, Stuttgart:„Werdende Großstadt – wachsende Kirche.Die kirchliche Entwicklung Stuttgarts zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg"

15.00Prof. Dr. Eva-Maria Seng Universität Paderborn:„Aufgabe, Wirken, Möglichkeiten:150 Jahre Kirche und Kunst in Württemberg"

Pause – Kaffee, Erfrischungen

15.45Dipl.-Ing. Wolfgang Riehle, StuttgartPräsident der Architektenkammer Baden-Württemberg:„Sakrale Architektur – Dienstleistung oder Kunst"?

16.15Jubiläumsvortrag Prof. Dr. Michael Moxter Universität Hamburg:„Vom Reichtum ästhetischer Erfahrung.Die Herausforderung der Kirche durch die Kunst der Gegenwart"

Pause

150 Jahre Verein für Kirche und Kunst150 Jahre Verein für Kirche und Kunst

17.30 Festgottesdienst mit Landesbischof Frank Otfried July

Liturgische Gestaltung Pfr. Roland MartinKirchenrat Reinhard Lambert Auer Pfr. Johannes Koch

18.30 Empfang des Landesbischofs für Kunst und Kultur

Grußworte:

S.K.H. Friedrich Herzog von Württemberg, Schirmherr

Minister Prof. Dr. Peter FrankenbergMinisterium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg

Weihbischof Dr. Johannes Kreidler Diözese Rottenburg-Stuttgart

Prof. Dr. Thomas ErneInstitut der EKD für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, Universität Marburg

Prof. Ben Willikens, Bildender Künstler, Stuttgart

Lichtinstallationen Nikolaus Koliusis, Bildender Künstler, StuttgartChris Nägele, Bildende Künstlerin, Stuttgart

Einführungen:Prof. Werner Sobek (angefragt)Dr. Tobias Wall

Imbiss – Gespräche

Musikalische Gestaltung:Vokalensemble 4-tett (www.4-tett.de)

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150 Jahre Verein für Kirche und Kunst

Interview mit Reinhard Lambert Auer

und Johannes Koch

Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!Der „Verein für Kirche und Kunst in derEvangelischen Landeskirche in Württem-berg“ feiert sein 150-jähriges Bestehen.1857 gegründet von Stuttgarter Theo-logen, Mäzenen, Architekten und Künst-lern, nimmt er bis heute Einfluss auf Kirchenbau und Kunstverständnis inWürttemberg. Den Vereinsgründern ging es um eine angemessene Gestal-tung von Gottesdiensträumen und um die Förderung von Kunst im Raum derKirche. Wo ist der Verein heute präsent? Wie nimmt er seine Aufgaben 150 Jahrenach der Vereinsgründung wahr? Die Journalistin Susanne Siebel hatnachgefragt: bei Kirchenrat ReinhardLambert Auer, Kunstbeauftragter der Landeskirche, und bei Pfarrer JohannesKoch, Vorstandsmitglied und ZweiterVorsitzender der landeskirchlichen Stiftung Kirche und Kunst.

Die Vereinsgründung 1857 hatte

einen konkreten Anlass: Protest!

Auer: Ja, die Gründungsmitglieder lehntenden seinerzeit staatlich verordneten Kir-chenbau ab. Damals waren die Kame-ralämter, die Vorläufer unserer heutigen Finanzämter, für den Kirchenbau verant-wortlich. Ihre spärlich ausgestatten Säle,fanden die Gründungsmitglieder zu profan,zu unästhetisch, zu sehr nur von Zweck-mäßigkeit bestimmt. Dem gottesdienstli-chen Geschehen angemessene Kirchenge-bäude – so sah man es damals – solltensich an der Erhabenheit mittelalter-licher Baustile orientieren. Die Ausstattungsollte bis in Kleinigkeiten hinein qualitätvollund stilrein sein. Dafür hat sich der Vereinvon Anfang an eingesetzt. Der herausra-gende Architekt der Gründungszeit, warFriedrich von Leins; er hat die Johannes-kirche am Feuersee entworfen, ein Muster-beispiel dafür. In der zweiten Generationstand Heinrich Dolmetsch. Er plante dieMarkuskirche in Stuttgart. Sie wird gerade100 Jahre alt. Darum feiern wir unser

Juiläum dort. In der dritten Generation folg-te Martin Elsässer, Architekt z. B. der Gais-burger Stadtkirche. Alle haben über denVerein eine wichtige Beraterfunktion fürdie Kirchengemeinden in Württembergwahrgenommen.

Das „Christliche Kunstblatt für Kirche,

Schule und Haus“ erschien ein Jahr nach

der Gründung. In einer der ersten

Ausgaben berichtet es über den Verein.

Wer war damals die treibende Kraft?

Auer: Das „Christliche Kunstblatt“ machtvor allem deutlich: Hier war eine Bewe-gung entstanden, die sich nicht auf Würt-temberg beschränkte, sondern viele evan-gelische Landeskirchen erreichte. Auch inden katholischen Diözesen wurden zu die-ser Zeit Kunstvereine gegründet. Der Rot-tenburger ist sogar einige Jahre älter alsunser Verein. Federführend war der Mit-herausgeber Carl von Grüneisen, Oberhof-prediger und Prälat in Stuttgart, der höch-ste Geistliche im Land. Ohne ihn wäre auchdie Vereinsgründung kaum zustande ge-kommen. Er war 1861 ein wichtiger Im-pulsgeber und hauptsächlicher Verfasserdes sogenannten „Eisenacher Regulativs“,das den Kirchenbau der nächsten Jahr-zehnte maßgeblich bestimmte. Von Würt-temberg gingen also wesentliche Einflüsseaus, die über diese Publikation auch in dieGemeinden hinein wirken und auf die Ge-staltung von Kirchen Einfluss nehmenkonnten.Die Zeitschrift erschien bis in die1920er Jahre hinein. Sie ist bis heute einewichtige Dokumentation für die Aktivitätendes Vereins in den ersten Jahrzehnten.

Was berichtet das Kunstblatt über

die Ziele der Vereinstätigkeit?

Auer: Am Anfang der Statuten steht – ich zitiere: „Der Verein beabsichtigt diewürdige Einrichtung und Ausstattungkirchlicher Räume, vornehmlich der Altäre,Beschaffung heiliger Geräte, Kruzifixe, Bil-der...“, dann aber auch „die Verbreitungguter christlicher Bilder in Schulen und Familien“. Von Dritten wurde dem Vereinattestiert: „Er stellte sich von Anfang an inden Dienst der Gemeinden und hatte dasGlück, von der obersten Kirchenbehörde,den übrigen Behörden und den Gemeindenempfohlen und bei vorkommenden Anläs-sen des kirchlichen Neu- und Umbaus zu

Rate gezogen zu werden.“ Das ist dann ntensiv in Anspruch genommen worden.

In den Anfangsjahren des Vereins

wurden viele Kirchen gebaut. Auch

nach dem zweiten Weltkrieg wieder,

bis in die 70er Jahre hinein. Aber das

ist lange her. Wie nimmt der „Verein

für Kirche und Kunst“ heute Einfluss

auf Kirchenbau und Kunstverständnis?

Koch: In den letzten Jahren ist es gelungen,den Verein als Institution zu stärken, denPosten eines Kunstbeauftragten in der Lan-deskirche zu schaffen und eine Stiftung insLeben zu rufen. Jedes Jahr findet in Ko-operation mit der Evangelischen Akademieder „Boller Bußtag der Künste“ statt, eineInitiative unseres Vorsitzenden, des frühe-ren Direktors der Akademie, Pfarrer JoKrummacher. Gemeinden, die gerade einBau- oder Neuausstattungsprojekt verfol-gen, nehmen gerne den Beratungstag fürArchitekten und Kirchengemeinderäte wahr.Außerdem organisiert der Verein Jahres-tagungen an unterschiedlichen Orten zuunterschiedlichen Themenschwerpunkten– und immer wieder horizonterweiterndeAtelierbesuche. Er bringt das Nachrichten-blatt „dialog“ heraus, Publikationen undJahresgaben.Aus seinen Mitteln – und ausdenen der Kunststiftung – fördert er nichtnur denkmalpflegerische und restauratori-sche Maßnahmen, sondern auch Ausstel-lungen, Ausstattungen und Wettbewerbe.

Und die Resonanz?

Koch: Immer mehr Kirchengemeinden gehen bei ihren Kunstvorhaben heute aufhochrangige junge Künstlerinnen undKünstler zu, die beispielsweise vom Kunst-beauftragten oder von der Kunststiftung alsWettbewerbsteilnehmer ins Gespräch ge-bracht worden waren. Sie berichten vonspannenden Prozessen und freuen sich amEnde über Lösungen, die sich vom kirchlichGewohnten reizvoll unterscheiden.

Bei seiner Gründung hieß der Verein ja

noch „Verein für christliche Kunst“ ...

Auer: In der Anfangszeit ging es darum, derzunehmenden Profanisierung der Lebens-welt mit einer guten „christlichen Kunst“zu begegnen. Die sollte natürlich im Dienstder Kirche und ihrer Verkündigung stehen.

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Und bis zum Ende der Barockzeit ließ sichdie Bildende Kunst auch anstandslos dar-auf ein. Im 19. Jahrhundert aber war sienicht mehr ohne Weiteres für kirchlicheZwecke zu vereinnahmen. So entwickeltesich, und das förderte der Verein, eine eigene kirchliche Kunst, die mit dem, wasaußerhalb geschah, nur wenig zu tun hat-te. Heute ist die Situation eine andere alsvor 150 Jahren. Die neugewählte Bezeich-nung signalisiert bei aller Kontinuität Offen-heit für die Gegenwartskunst und ihre aktuellen Entwicklungen.

Ist die Umbenennung in

„Verein für Kirche und

Kunst“ also mehr als ein

reiner Namenswechsel?

Koch: Ja. Die Künste sindlängst ein eigenständigeskritischen Gegenüber ge-worden, Dialogpartnerin-nen im Streit um die Er-kenntnis von Wahrheit undDeutung von Wirklichkeit.Die Neukonstituierung desVereins fiel in die Zeit, alsman in der Kirche erkann-te: Und das ist gut so.Gott, Mensch, Welt und Wirklichkeit lassensich auf kein Bild festlegen. Die ‘autonome’Gegenwartskunst aber wirkt der Fest-schreibung gängig gewordener Bilder ent-gegen. Sie konfrontiert uns mit neuen, zeit-gemäßen Bildern, lehrt uns unter Fra-gestellungen der Gegenwart neu zu sehen.Eine binnenkirchliche Selbstbestätigungs-kunst führt uns nicht weiter. Spannendwird es, wo durch neue ästhetische Erfah-rungen auf einmal auch neue religiöse Er-fahrungen möglich werden. Darauf wolltein den 90er Jahren unsere LudwigsburgerAusstellung „Blond“ hinweisen. Freilich:Schon vor der Neukonstituierung deutetesich an, dass eine Abgrenzung gegen ‘bill-lige Dekorationskunst’ notwendig würde.Zögerlich war bereits Ende der 50er Jahreungegenständliche Kunst zugelassen wor-den. Vereinzelt hatte man schon damalsjunge Künstler an Bauvorhaben beteiligt.Für die intensiven Kontakte, die heute zurKünstlerschaft geknüpft sind, steht exem-plarisch das „Kolloquium GlasgestaltungFrauenkirche Esslingen“. Siebzehn jungeKünstlerinnen und Künstler erarbeitetenund diskutierten in einem experimentellen

Forum neue Möglichkeiten der Fenster-gestaltung in historischen Räumen. DieDokumentation gab’s dann als Jahresgabe

Mit 1.500 Mitgliedern gehört der Verein

zu den größten Kunstvereinen im Land.

Wie ist er für die Zukunft aufgestellt?

Können Sie einen Ausblick geben?

Koch: Wir führen den Dialog weiter – aufallen Ebenen. Innerkirchlich ist uns geradedie Förderung ‘ästhetischer Kompetenz’

besonders wichtig. Mit Fragen einer ange-messenen Gestaltung hat man’s in der Kirche doch fortgesetzt zu tun. Außerdemsind wir bestrebt, das Vermögen der Stiftung durch Zustiftungen zu erhöhen.Nur so können wir weiterhin herausragen-de Kunst-Projekte initiieren.

Der Landessynode wurde im Sommer

ein Antrag vorgelegt, den Dialog

zwischen Kirche und Kultur als

wesentliche Aufgabe kirchlicher Arbeit

zu begreifen und in angemessener

Weise zu fördern. Was heißt das?

Auer: Dahinter steht eine ganz grund-legende Erkenntnis. Der Glaube brauchtimmer, um sich mitzuteilen und um wei-tergegeben werden zu können, Formen derVermittlung, kulturelle Ausrucksweisen:Worte, Zeichen, Bilder seiner Zeit und Um-gebung. Die Kirche muss sich also bewusst

sein, dass sie selbst – historisch und aktu-ell – Teil der Kultur ist und auch Gestalte-rin von Kultur. Darum braucht sie eine sen-sible Wahrnehmung für das, was heutekulturell geschieht. Übrigens hat das unse-re Synode nicht erfunden. Sie hat sich nurzu eigen gemacht, was in der EKD mit dem „Konsultationsprozess Protestantis-mus und Kultur“ schon zur Jahrtausend-wende ins Bewusstsein gebracht wordenwar. Konkret bedeutet das dann eben auch,dass wir in der Kirche unsere Verantwor-tung für Gestaltung ernst nehmen; dass wir‘ästhetische Kompetenz’ fördern. In denGemeinden und bei Mitarbeiterinnen undMitarbeitern. Ein gutes Anzeichen dafür,dass hier etwas in Bewegung gerät, ist das in unseren Gemeinden wachsende Be-wusstsein für Kirchenräume.Aber auch dieFrage nach Ausdrucksformen, nach Kunst,nach dem, was für die Kirche als ange-messen gelten kann, und nach dem, wasum uns herum geschieht und mit dem wiruns auseinandersetzen müssen. Nur mitsolch einem gestaltenden Engagementwerden wir auch im gesellschaftlichen Dis-kurs und im Gespräch mit anderen Kultur-trägern als Partner wahrgenommen, die etwas zu sagen und beizutragen haben.

Im Herbst wird gefeiert. Was ist geplant?

Koch: Die Jubiläumsveranstaltung, die wiram 13. Oktober gemeinsam mit dem „Verein für württembergische Kirchenge-schichte“ durchführen, beginnt mit einerReihe interessanter Kurzvorträge. Die Re-ferentinnen und Referenten beleuchten dieGeschichte des Vereins, streifen aber auchaktuelle Fragen. Die Tagung geht dannüber in einen Festakt mit einem Gottes-dienst. Und einem ersten Empfang desLandesbischofs für Kunst und Kultur.Wichtig ist uns aber nicht nur die Rück-schau. Auch die Gegenwartskunst sollihren Ort haben: Chris Nägele, Künstlerinaus Stuttgart, wird neues Licht in den In-nenraum der Markuskirche bringen. VomStuttgarter Künstler Nikolaus Koliusis wirdes eine spektakuläre Installation geben:Den Turm der Stuttgarter Markuskirchewird ein überdimensionaler Stab kreuzen,der nachts blau über Stuttgart leuchtet.Eingeladen, mit uns zu feiern, sind alle.Wir freuen uns über rege Beteiligung.

Vielen Dank für das Interview.

Johannes Koch, Vorstandsmitglied von Verein und Stiftung, mit dem Kunstbeauftragten der LandeskircheReinhard Lambert Auer.

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Kirche im gotischen Raum

Vortrag von Prof. Dr. Christoph Markschies,Rektor der Humboldt-Universtität Berlin,am 12. November 2006 in der StuttgarterStiftskirche. Anlass war die erste Zertifi-katsverleihung für Kirchenführerinnenund Kirchenführer der EvangelischenLandeskirche in Württemberg und derDiözese Rottenburg-Stuttgart. Der Vor-tragsstil wurde deshalb beibehalten.

„Die Wahrheit braucht keine Dome”

Es gibt ohne Zweifel Situationen, die mannie vergisst. Und ebenso gibt es Gottes-dienste, die unvergesslich bleiben, Predig-ten, deren Anfänge man wörtlich zitierenkann. Bei der Wiedereinweihung des re-staurierten Berliner Domes am 6. Juni1993 begann der damalige rheinische Präses und Ratsvorsitzende der Evange-lischen Kirche der Union, Peter Beier seine Predigt mit folgenden, mir jedenfalls unvergesslichen Worten: Die Wahrheitbraucht keine Dome. Das liebe Evangeliumkriecht in jeder Hütte unter und hält siewarm. Die Evangelische Kirche brauchtauch keine Dome. Und wenig Repräsen-tanz. Sie hat keinen Teil an Triumphen vongestern. Tunlichst. Bescheidenheit steht ihr an. Und Knappheit.”

Die anfänglichen Worte Beiers standen ineinem deutlichen, bewusst gewählten Kon-trast zu Gold und Marmor des Neorenais-sance-Baues, zu dem goldbestickten Samtseiner Kaiserloge, der versammelten Poli-tikerschar mit dem damaligen Bundes-kanzler Kohl an der Spitze. Beiers anfäng-liche Paukenschläge machen darauf auf-merksam, dass man – jedenfalls nach evan-gelischem Verständnis – Gottesdienst auchin einer Scheune feiern kann, es für dieevangeliumsgemäße Verkündigung desWortes Gottes und die stiftungsgemäßeFeier der Sakramente, die nach den Wortendes Augsburger Bekenntnisses zur wahrenEinheit der Kirche genug ist (CAVII), im Grun-de nur ein Dach und vier Wände braucht.

Fast vierhundertfünfzig Jahre vor PräsesBeier weihte Martin Luther ebenfalls eineHofkirche (wie der Berliner Dom bis 1918eine Hofkirche war) ein, die zum Renais-sanceschloss von Torgau gehörendeSchlosskirche, am 5. Oktober 1544. In seiner Einweihungspredigt hat Luther dieEinsicht, dass es für die Wahrheit desEvangeliums keine Dome braucht und manGottesdienst auch in einer Scheune feiernkönne, unmissverständlich und sogar nochein wenig radikaler formuliert: Die neueSchlosskirche sei keine besondere Kirche,„als wäre sie besser denn andere Häuser,da man das Wort Gottes predigt. Fiele aberdie Not vor, dass man nicht wollte oderkönnte hierin zusammenkommen, so

möchte man wohl draußen beim Brunnenoder anderswo predigen” (WA 49, 592).Gleich zu Beginn seiner Predigt sagt derReformator über „dies neue Haus”, „dassnichts andres darin geschehe, denn dass

unser lieber Herr selbst mit uns rede durchGebet und Lobgesang” (WA 49, 588); Beten und Gott danken soll aber, wie Lutherausführt, ein Christenmensch den liebenlangen Tag, auf der Arbeit, in der Freizeit,zu Hause, in einer Fabrik, am Schreibtisch,im Restaurant, und Sonntags zur Not

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Der Neobarock-Bau des Berliner Domes kurz vor seiner Wiedereinweihung im Juni 1993.

Luther: Gottesdienst kannman auch in einer Scheuneoder am Brunnen feiern.

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in einer Scheune odereben am Brunnen. Domebraucht es da in der Tatnicht, oder wie PräsesBeier es positiv wendete.„Das liebe Evangeliumkriecht in jeder Hütte un-ter und hält sie warm”.

Nun haben wir uns nichtin einer Hütte versam-melt, sondern in der Stutt-garter Stiftskirche undwollen angesichts des An-lasses auch nicht überdas Predigen am Brunnenund über Gottesdienste inScheunen nachdenken –dazu braucht es keine Kirchenführungen undkeine, wie man heutesagt, Kirchenraumpäda-gogik.

Ich habe, als wir vor Zei-ten das Thema diesesVortrags verabredeten,angesichts des Kirchenraumes, in dem wiruns versammeln, vorgeschlagen, über dasThema „Kirche im gotischen Raum” zusprechen, also über die Frage, wie Kirchemit einem bestimmten Baustil – eben demgotischen – umgegangen ist, als es nichtmehr modern war, Kirchen im gotischenStil zu bauen. Mein Vortrag hat drei Ab-schnitte: In einem ersten werde ich einpaar charakteristische Beispiele für denUmgang von Kirche mit gotischem Raumvorführen, in einem zweiten fragen, wie ei-ne Kirche des einundzwanzigsten Jahr-hunderts in sinnvoller Weise mit einem go-tischen Raum umgehen kann und in einemkurzen Schlussabschnitt noch einmal aufdie beiden zitierten Einweihungspredigerzurückkommen.

1. Der Umgang der Kirchen

mit gotischen Räumen –

einige charakteristische Beispiele

Das erste charakteristische Beispiel einesUmgangs mit gotischer Kirche ist, das wirdkaum verwundern, diese Kirche selbst,genauer ihr frühgotischer Chor und vor al-lem das spätgotische Langhaus. Der früh-gotische Chor wurde allein aus liturgischenGründen notwendig, als Graf Eberhard der

war und der Stiftspropst HauptgeistlicherWürttembergs. Vor der Zerstörung diesesspätgotischen Langhauses durch zweiBombenangriffe im Jahr 1944 machte dieKirche, auch bedingt durch eine spätgoti-sche Neueinwölbung des frühgotischenChores, einen sehr einheitlichen Eindruck.Die romanische dreischiffige Basilika warin eine fünfschiffige Staffelhalle umgestal-tet worden, wobei das kräftig höhere Mit-telschiff (14,4 Meter) deutlich von den Seitenschiffen und Kapellen (9,34 Meter)getrennt war und die durch den Südturmbedingte Verschiebung der Achsen vonChor und Mittelschiff durch einen Brücken-lettner am Chorbogen abgemildert wurde.Den so überkommenen gotischen Kirchen-raum mit einer großen, im Jahre 1500 er-richteten Goldenen Kanzel nutzten Stadtund Stift bis zu dessen Aufhebung im Zugeder Reformation ab 1534, danach und seit-her eine evangelische Gemeinde, aller-dings zweimal im sechzehnten und sieb-zehnten Jahrhundert unterbrochen durcheine Phase der Rekatholisierung.

Große Umgestaltungen wurden, sieht maneinmal vom Abbruch des Lettners, der Ersetzung des Chorgestühls durch dieberühmten Grafendenkmäler von SemSchlör, den Einbau von Emporen und dieBeseitigung der Seitenaltäre ab, am Raum-gefüge der Staffelhalle und des Chores

nicht vorgenommen, die evangelische Kirche richtete sich im gotischen Raum derStiftskirche Stuttgarts so wie anderswoein: ständisches Gestühl, Epitaphien undOrgeln, ein wenig radikaler, als beispiels-weise in Nürnberg, wo die gotischen Sei-tenaltäre blieben, aber doch noch ver-gleichsweise konservativ.

Erst als nach den Luftangriffen des Jahres1944 die Kirche nicht nur die Gewölbe desfrühgotischen Chores und des spätgoti-schen Langhauses verloren hatte, sonderndie südliche Außenwand des Langhausesund eine der beiden Arkaden, die das Mit-telschiff begrenzten und die Gewölbe tru-gen, zusammengefallen waren, brach eineheftige Diskussion über den Wiederaufbauaus – und damit sind wir endlich bei unse- 7

Erlauchte vor 1321 das Chorherrenstift vonBeutelbach samt der Grablege seines Hauses nach Stuttgart verlegte und nunPlatz für einen Propst, zwölf Chorherrenund zwölf Vikare im Chorgestühl der neu-en Stiftskirche brauchte, der Hochaltar der neuen Kirche war allein der Geistlich-keit des Stiftes vorbehalten (Wais/Diehl,Die Stuttgarter Stiftskirche, 18f.). Eineberühmte Urkunde des Grafen vom 25. Ja-nuar 1321 bestimmte, dass die Stiftsgeist-lichkeit bei beständiger Residenz am Ortden Gottesdienst halten sollte und „für dasWohlergehen und Glück von Grafen undHerrschaft und das Seelenheil für alle gräf-lichen Vor- beziehungsweise Nachfahren”beten (O. Auge, Stiftsbiographien, 64f.).

Das spätgotische Langhaus führt sich da-gegen auf Graf Ulrich V., den Vielgeliebten,zurück, der im Rahmen seiner umfassen-den Fürsorge für die Stadt Stuttgart dasLanghaus der spätromanischen Stadt-kirche, das der frühgotische Chor längstdeutlich überragte, durch einen Neubau er-setzen ließ, ein sichtbares Zeichen, dassdie Stiftskirche Hauptkirche Württembergsin der Hauptstadt des Landes geworden

Die von Martin Luther eingeweihte Torgauer Schlosskirche.

Wie ging die Kirche mit derGotik um, als dieser Baustilnicht mehr modern war?

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rem Thema: dem Umgang von Kirche mitdem gotischen Raum in der Gegenwart.

Fotos der frühen fünfziger Jahre zeigen die ausgebrannte Kirche: Die Pfeiler derstehengebliebenen Südarkade, die Haupt-und Seitenschiffe des spätgotischen Lang-hauses trennte und die Gewölbe trug, istaus dem Lot gerückt sowie durch die Hitzedes Brandes zerrissen, die Säulen selbstdurch den Feuersturm bröselig gewordenund verunstaltet. Der ebenfalls schwer be-schädigte Westturm ist, da ihn die Mittel-schiffsarkaden nicht mehr stützen, gegendas Langhaus mit großen Baumstämmenabgestützt. Eine erste, freilich noch nichtim Bewusstsein der Endgültigkeit erfolgteVorentscheidung für den Wiederaufbauwar im Jahr 1950 der aus statischen Gründen notwendige Abriss der Südarkadeund die dadurch bedingte vollständige Zer-störung der spätgotischen Raumstruktur.Was in den folgenden Jahren geschah,kann man sich bei einem Vergleich derStuttgarter Stiftskirche mit dem Dom inWürzburg klarmachen.

Auch in Würzburg waren in den fünfzigerJahren beide begrenzende Arkaden zwischen Haupt- und Seitenschiff der barockisierten romanischen Pfeilerbasilikagefallen – 1946, also nach dem Ende derBombardierungen, war zunächst aus statischen Gründen die nördliche Arkadeeingestürzt und aus denselben Gründenmusste 1956 auch die südliche Wand ab-getragen werden. In Würzburg entschlossman sich aber zu einer Wiederherstellungder romanischen Dreischiffigkeit und mauerte – allerdings zunächst ohne denbarocken Stuck – in den folgenden Jahrendie beiden Arkaden wieder auf und legteeine romanisierende Holzdecke über dasMittelschiff. Im südlichen Seitenschiff wurde die barocke Stuckierung vor demAbbruch der Arkade geborgen und wiederangebracht, im nördlichen Schiff lediglichandeutend rekonstruiert und im Mittel-schiff gänzlich auf sie verzichtet.

Ganz anders in Stuttgart: Im Chor rekon-struierte man frühgotische Gewölbe oderdas, was man dafür hielt, obwohl diese bescheidenen Gewölbe des vierzehntenJahrhunderts im fünfzehnten bereits durchspätgotische ersetzt worden waren, diezerstörte südliche Außenwand baute manin zeitgenössischen Formen wieder aufund überwölbte den ganzen Raum mit einer riesigen, dunklen, an italienische Vorbilder der Romanik erinnernden Holz-tonne, die in keiner Weise an die Bau-geschichte oder Baugestalt der unterge-gangenen Stiftskirche anknüpfte. Kritikerwiesen schon unmittelbar nach Abschlussdes Wiederaufbaus darauf hin, dass dieStiftskirche nun einer Turn- oder Stadthallegleiche, man könnte etwas polemisch auchvon einer Predigtscheune sprechen, dennals Gleichgewicht zum im Raum nun deut-lich sichtbaren Untergeschoss des Süd-turms wurde ein freigestellter Pfeiler miteinem neorealistischen Gerichtsengel undeiner Kanzel mit überdimensioniertemSchalldeckel zur Linken des Chorbogensaufgestellt.8

Die Stuttgarter Stiftskirche vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und ihr veränderter Wiederaufbau aus den 50er Jahren.

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Die Frage, ob dem Wiederaufbau des Architekten Hans Seytter nicht doch ein architektonischer Wert zukam und die gefundene Lösung nicht nur repräsentativfür den Stil der fünfziger Jahre genanntwerden muss, sondern auch ein eigen-ständiges theologisches Konzept evange-lischen Kirchenbaus repräsentiert, möchteich jetzt nicht diskutieren – vielleicht wa-ren für den Verzicht auf eine Wiederher-

stellung der ursprünglichen Fünfschiffig-keit ja nicht nur theologische und denk-malpflegerische Gründe, sondern schlichtauch die Finanzen verantwortlich: BeimWiederaufbau des spätgotischen Domes inFürstenwalde bei Berlin hat man ebenfallsdie Dreischiffigkeit des im fünfzehntenJahrhunderts erbauten und 1945 weitge-hend vernichteten Raumes aufgegeben,aber die halbzerstörten Arkaden frei imRaum stehen gelassen und die Pfeiler-

fundamente der zerstörten Arkadenpfeilerim Chor nicht beseitigt und so den freienBlick in das rekonstruierte gotische Dacheröffnet; eine künftige Wiederherstellungvon Arkaden und Gewölben ist ohne Mühemöglich.

Um solche Details der Rekonstruktion gehtes mir aber gar nicht; dann müsste manauch über Gustav Leonhardts Gegenent-würfe zu den Planungen des ausführendenArchitekten Hans Seytter sprechen und die Debatte um die jüngsten Umbaumaß-nahmen des Architekten Bernhard Hircheoder gar dessen Arbeit selbst kommentie-ren. Mir geht es aber heute um etwas an-deres, nämlich die theologisch begründete– oder soll ich sagen: bemäntelte – Radi-kalität im Umgang mit einem überkomme-nen kirchlichen Bauwerk.

Eine solche Radikalität wird man dem Wie-deraufbau der Stuttgarter Stiftskirche nichtabsprechen können. Als ich vor nunmehr

rund dreißig Jahren den relativ düsterenBau besuchte, empfand ich den Wieder-aufbau als ein aggressives Terrorattentatauf einen höchst qualitätvollen früh- undspätgotischen Bau.

Das ist natürlich ein schroffes, vielleichtauch zu schroffes ästhetisches Urteil –aber schon damals verwunderten mich die theologischen Argumente, mit denen inden ausliegenden Broschüren und Kir-chenführern dieser umgestaltende Wieder-aufbau begründet wurde. Eine fünfschif-fige Staffelhalle (manchmal sprach manauch von einer dreischiffigen Basilika) seikatholisch, der Struktur des evangelischenPredigtgottesdienstes nicht angemessenund auch baulich unpraktisch: Man könneschließlich nicht von allen Plätzen die Kan-zel sehen. Die neue Halle empfand man alsprotestantischen Predigtraum und in ihrerNüchternheit, wohl auch als Ausdruck derBuße angesichts der schrecklichen Ver-wicklungen, die zur Zerstörung der altenStiftskirche geführt hatten – in einigen Publikationen der letzten Jahre fällt das 9

Altarraum und Chor der in den Jahren1993 – 2003 neugestalteten Stiftskirche.

Beispiel für die Suche nach„zeitgemäßen” Lösungen:die Stuttgarter Stiftskirche

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adligen Patrons und der zentralen Stellungder Kanzel empfand er offenkundig als Zeichen eines predigtzentrierten, allzu pro-testantischen Gottesdienstverständnisses,das beseitigt werden musste.

Mit der Erwähnung der Kanzel ist ein anderes charakteristisches Thema an-geschnitten, an dem man die schroffe Radikalität im Umgang mit gewachsenenKirchenbauten aus der Gotik in einigendeutschen Landstrichen beobachten kann.Ich wähle dazu ein Beispiel aus meinerHeimatstadt. Die Ihnen vielleicht bekanntehochgotische Berliner Marienkirche unterdem Fernsehturm, alte Kirche des Magi-strats der Stadt und Pfarrkirche einer mit-telalterlichen Neustadt, erhielt im Jahre1703 eine neue, hochbarocke Kanzel desArchitekten Andreas Schlüter.

Schlüter schnitt dazu einen gotischen Pfeiler der das Mittelschiff begrenzendenNordarkade auf, trug den unteren Teil abund ersetzte ihn durch vier Sandstein-säulen, die eine Platte tragen, auf der derverbliebene gotische Säulenstumpf ruht.An den Säulen hängt zum einen der Kan-zelkorb, zusätzlich scheinbar von zwei Engeln, die auf Podesten über dem Kir-chenboden stehen, an flatternden Bändern10

gehalten und hängt zum anderen ein voneinem Strahlenkranz bekrönter Schall-deckel. Diese Kanzel brachte Schlüter direkt an der ersten Säule hinter der Orgelempore, also relativ weit entfernt vomgotischen Chor der Kirche an; vermutlichgab es, wie in der Leipziger Thomaskirche,unter dem Kanzelkorb einen kleinen Altar,der mindestens für die Wochengottes-dienste benutzt wurde. Entsprechend wur-de der ganze gotische Bau in der Folge aufdie Kanzel als neuem liturgischen Zentrumumorientiert: 1728 brach man eine Magi-stratsloge gegenüber der Kanzel in dieSüdwand der Kirche ein, und stellte dasganze Gestühl so auf, dass man die Kanzelbesser sehen konnte – bis auf den heuti-gen Tag sind die Bänke auf den ursprüng-lichen Standort der barocken Kanzel aus-gerichtet, so dass man den Kopf ziemlichweit nach rechts wenden muss, um aufden Hauptaltar im Chorhaupt zu blicken.

Von dem ursprünglichen Standort der Kanzel spreche ich, weil in den Jahren1945/1946 die Kanzel abgebrochen, derkastrierte gotische Pfeiler wiederher-gestellt und an seiner Stelle ein andererPfeiler durchtrennt wurde. 1945/1946

wurde die leicht beschädigte Marienkirche,die als einzige Kirche im unmittelbarenBerliner Stadtzentrum noch benutzbar war,für den gottesdienstlichen Gebrauch wie-der hergerichtet. Auf besonderen Wunschdes Generalsuperintendenten Otto Dibe-lius, der sich unmittelbar nach 1945 „evangelischer Bischof von Berlin” nannte,sollte die alte gotische Kirche dabei in einen „evangelischen Dom” umgestaltetund als Bischofskirche hergerichtet wer-den. Der eingangs erwähnte Berliner Dom,präziser die „Oberpfarr- und Domkirche”,die alte Hofkirche der Hohenzollern, warschwer beschädigt und nur in ihren Kellerräumen benutzbar, außerdem war Dibelius einstmals an dieser Kirche mit einer Bewerbung um eine Pfarrstelle ge-scheitert und verspürte offenkundig wenigNeigung, sie zu seiner Bischofskirche zumachen.

Wenn die mündliche Überlieferung stimmt,so erklärte Dibelius den für den Wiederauf-

Der Dom zu Würzburg mit der beim Wiederaufbau eingezogenen romani-sierenden Holzdecke im Mittelschiff.

Wort „Karfreitagskirche”. Einmal abgese-hen davon, ob überhaupt jeder und jede,die den Gottesdienst besucht, die Kanzelsehen möchte und ebenso abgesehen vonder Frage, ob hier unter dem Stichwort„Karfreitagskirche” nicht nachträglichtheologisiert wurde, was damals auchschlicht Stil der Denkmalpfleger undästhetisches Empfinden der fünfziger Jahre war – die Radikalität, mit der hier unter Berufung auf theologische Gedankeneinem historischen Bau Gewalt angetanwurde, erstaunt, vorsichtig gesprochen,erschreckt, etwas deutlicher formuliert.

Eine solche Radikalität, mit der bestimmtetheologische Gedanken einem Bau aufge-zwungen werden, ist aber natürlich keinSpezifikum der Männer und Frauen, die für den Wiederaufbau der StuttgarterStiftskirche in den fünfziger Jahren verant-wortlich waren. Als Student arbeitete ich inden frühen achtziger Jahren am Marburger„Institut für Kirchenbau und KirchlicheKunst der Gegenwart” und betreute einProjekt, das unter dem Arbeitstitel „Liturgieund Denkmalpflege” firmierte. Vermutlichwegen der Brisanz der Ergebnisse ist niepubliziert worden, was der junge Studentbei Fahrten ins hessische Land herausfandund aufschrieb – denn er konnte eineganze Reihe solcher theologisch moti-vierter Terrorattentate auf historisch ge-wachsene Gebäude beobachten.

Da hatte beispielsweise ein Pfarrer einerbei Marburg gelegenen Dorfkirche die ge-samte barocke Ausstattung dieser Kircheentfernen lassen und anstelle des kleinenbarocken Holzaltars einen massiven Stein-

altar aus zwölf Blöcken setzen lassen,dahinter auf den zugemauerten Chor-fenstern ein Fresko mit dem apokalypti-schen Lamm und anderen Motiven aus derOffenbarung Johannis im ästhetischen Stilder frühen sechziger Jahre – und das alles,weil er als Mitglied der evangelischenMichaelsbruderschaft architektonischeZeichen einer Rückbesinnung auf Kult undGottesdienst setzen wollte. Die schlichtehessische barocke Dorfkirche mit ihren be-sonderen Sitzplätzen für die Familie des

Der Bischof versetzte dieKanzel nach Gutdünken

Theologisch motivierteTerror-Attentate auf histo-risch gewachsene Gebäude

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bau Verantwortlichen, dass eine Kanzel imevangelischen Kirchenraum auf die linkeSeite des Kirchenschiffs vor den Hauptal-tar gehöre und nicht an den Eingang, wieSchlüter es für die Marienkirche aus-geführt hatte. Entsprechend wurde derKanzelkorb nun um fünfundvierzig Gradgedreht am ersten freien Pfeiler der Arkade vorne am Hauptaltar angebracht –wer dort predigt, steht also leicht verdrehtim Kanzelkorb und muss seine Unterlagenauf einem Holzpult ablegen, das originalebarocke Pult, von kleinen Engeln getragen,liegt genau einen Pfeiler gegenüber.

Während der Bischof Dibelius die Ansichtvertrat, in einer evangelischen Kirchegehöre die Kanzel vorne links an den Altar,haben viele katholische Pfarrer nach derLiturgiereform des zweiten vatikanischenKonzils ihre Kanzeln gleich beseitigt, oder,falls die Denkmalpflege solche Terror-attentate verhindern konnte, außer Ge-brauch gestellt. Mich bekümmert es im-mer, große gotische und barocke Kanzelnin katholischen Kirchen so ohne Funktionzu sehen, gelegentlich auch schon ohneeine Treppe, um sie je noch betreten zukönnen. Rechtfertigt denn das Argument,dass man nicht von oben herab predigensoll, wirklich die Ersetzung aller Kanzelndurch Lesepulte? Ist denn schon sicher-

gestellt, dass der Prediger auf Augenhöheseiner Gemeinde spricht, bloß deswegen,weil er auf Augenhöhe mit ihr steht? Auchhier scheint mir ein charakteristisches Beispiel vorzuliegen, wie man mit vorgeb-lich guten theologischen Gedanken einenradikalen Eingriff in einen Kirchenraumdurchführen kann, etwas unfreundlichergesprochen: ein Terrorattentat auf einenhistorisch gewachsenen Kirchenraumdurchführen kann und sich so um dasGlaubenszeugnis seiner Mütter und Väterim Glauben bringt.

2. Der Umgang der Kirchen mit

gotischen Räumen – ein Kriterium

für eine sinnvolle Nutzung

überkommener Kirchenräume

Wenn wir unter Berufung auf gute, häufigaber auch sehr zeitbedingte, einseitigeoder gar schlechte theologische Gründeunsere Kirchenräume so radikal umgestal-ten wie die Verantwortlichen in den ge-nannten Beispielen, bringen wir uns umdas Glaubenszeugnis unserer Mütter undVäter im Glauben.Wir hören nur uns selbst,gestalten nur nach unserem eigenen Geschmack und bleiben also immer beiuns selbst. Das kann natürlich niemandwünschen. Was für ein Glaubenszeugnisgibt aber ein gotischer Kirchenraum?

Was predigt er uns Nachgeborenen, wennwir auf ihn zu hören versuchen? Diese Fra-ge müssen wir beantworten, bevor wir einKriterium einer sinnvollen Nutzung über-kommener Räume formulieren können.

Bevor ich aber auf die Frage antworte, wasein gotischer Raum predigt, muss ichzunächst eine knappe Vorbemerkung ein-schieben, die das Verhältnis von Theologieund Kirchenbau betrifft. Natürlich gibt es

keine schnurgerade Beziehung zwischeneiner bestimmten Theologie und einem be-stimmten Baustil, wie beispielsweise derGotik. Es gab nicht einfach irgendwanneinmal eine neue Theologie im Hochmittel-alter, die dann plötzlich zur gotischen Architektur führte, sozusagen eine „Theo-logie der gotischen Kathedrale“, vielmehrbevorzugten die Bauherren bestimmte architektonische Neuerungen des Hoch-mittelalters, weil sie noch aus der Antikestammende Elemente einer Theologie desKirchenbaus besonders gut zur Geltungbringen konnten.

Die architektonischen Neuerungen diesesBaustils, der als Baubewegung an mehre-ren Orten der Île-de-France im 12. Jh.begann, kann man sich selbst in einem soveränderten Bau wie der Stiftskirche nochdeutlich machen: Durch die Einführungneuer Bautechniken und eine stärkere Nor-mierung von Bauabläufen und verwende-ten Materialien – Fachleute sprechen vomStapelbau –, konnte der Bau deutlich höherangelegt werden und die Fensterflächendeutlich größer angelegt werden – dieFachleute sprechen von einer diaphanenWand – und diese Auflösung der Wand istviel wichtiger als der Spitzbogen, an demder Laie die Gotik identifiziert. Durch dieseNeuerungen wurde aber der Lichteinfalldeutlich gesteigert, das Gebäude hellerund prächtiger als die es umgebendenniedrigen Häuschen und auf diese Weiseder Gleichnischarakter eines Kirchen-gebäudes verstärkt.

Mit dem Stichwort „Gleichnischarakter“meine ich: Der Kirchenbau selbst konnte 11

Im St. Marien Dom zu Fürstenwalde / Spree, blieben die zerstörten Säulen und Arkaden beim Wiederaufbau als Fragmente erhalten.

Bringen wir uns nicht um das Glaubenszeugnisder Väter und Mütter im Glauben!

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durch die genannten architektoni-schen Einfälle der gotischen Bau-bewegung für seine Besucher alsein Vorschein, als ein Abbild desHimmelreiches, des himmlischenJerusalem, der Gottesstadt wahr-genommen werden, als ein demAlltag entrückter Raum des Heili-gen, der die Andersartigkeit desgöttlichen Lebens zeichenhaft ver-mittelte und in der Liturgie sinnlicherlebbar machte. Denn vom Him-melreich, vom himmlischen Jeru-salem und der Gottesstadt wussteman, dass Gott in einem unzu-gänglich strahlenden Licht wohnt,wie es im Neuen Testament heißt,dass er von einer Symphonie reiner Farben und reiner Licht-wesen, den Engeln, umgeben istund die Ausmaße dieser Himmels-stadt unvergleichlich groß sind –so ein Konsens unterschiedlich-ster Theologien seit der Antike.

Der lichte, hohe, helle gotischeKirchenraum in seiner spätgotischen Aus-führung, war ein deutlich besseres Abbildund Gleichnis als der niedrige, dunkle,trutzburgartige romanische Kirchenraum –ungeachtet aller Bedeutung von Mode undfreiem Architekteneinfall, die die Ein-führung der sogenannten gotischen Archi-tektur natürlich auch begünstigt haben.Für die Richtigkeit der hier vorgetragenenThese – dass die architektonischen Neue-rungen, die wir erwähnt haben, den Gleich-nischarakter des Kirchengebäudes für

das Reich Gottes verstärkten und für denGeschmack der Zeitgenossen besser zurDarstellung brachten als ein romanischerKirchenbau, – spricht, dass die mit den architektonischen Neuerungen der Île-de-France einigermaßen zeitgenössischescholastische Theologie sehr sorgfältigüber die verschiedenen Typen von Gleich-nis und Abbild nachdachte.

Wir können nun auf der Basis unserer Be-obachtungen zur theologischen Botschaft,die gotische Architektur vermittelt, Kriteri-en einer sinnvollen Nutzung überkomme-

ner (gotischer) Kirchenräume formulieren,die selbstverständlich auch auf Gottes-häuser in anderen Baustilen übertragenwerden dürfen. Ein gotisches Kirchen-gebäude ist nicht sinnvoll genutzt, wirdnicht sinnvoll renoviert oder sinnvoll wie-deraufgebaut, wenn die spezifische Bot-schaft, Gleichnis des Reich Gottes zu sein,aus vorgeblich guten theologischen Grün-den beseitigt oder so überdeckt wird, dasskein kunsthistorischer oder theologischerLaie sie mehr wahrnehmen kann. Bei-spielsweise, wenn aus einem Gleichnis des Himmelreiches eine schlichte Predigt-scheune gemacht wird, weil man gerademit der Vorstellung vom lichten Himmel-reich, von den Lichtleibern der Engel undGott im unzugänglichen Lichte, große theologische Probleme hat.

Denn die gotischen Kirchengebäude be-wahren nur im Modus der Architektur dieMöglichkeit, vom Himmelreich oder vonden Engeln Gottes zu sprechen, auch wennwir mit unserer persönlichen Theologiediese biblischen Topoi gerade nicht selbstformulieren, mit eigener Theologie ein-

holen können. Nur so bewahrt aber evangelische wie katholischeTheologie das Hoffnungspotential,das im Leben wie im Sterben, amKrankenbett wie auf dem Friedhoftröstet.

Wie dieses Kriterium nun konkretin Kirchen zur Geltung gebrachtwerden kann, ob beispielsweisedie jüngste Umgestaltung derStuttgarter Stiftskirche durchBernhard Hirche diesem Kriteriumentspricht, weil sie versuchte, eineOsterkirche aus der Karfreitagskir-che der fünfziger Jahre zu machenund damit eine zeitgenössischtransformierte Form der Grundideegotischer Kirche in den geschän-deten Bau zurückbrachte – solcheschwierigen Fragen kann man nurin sorgfältiger Analyse und Inter-pretation einzelner Bauten beant-worten. Keine Sorge – die nehmeich jetzt natürlich nicht vor, dazusind ja auch eher die berufen, die

heute ein Kirchenführerdiplom erhalten, anihren jeweiligen Orten und natürlich dieevangelischen Christenmenschen Stutt-garts, die Gemeinde dieser Kirche, die ent-scheiden muss, ob die Glassegel im Dachdes Hauptschiffes der Stiftskirche wirklichan die verschwundenen gotischen Gewöl-be erinnern oder – wie jüngst formuliertwurde – als „intellektuelle Fingerübung“erscheinen (so Marcus Nitschke)?

Kriterien wie das hier entfaltete einer sinn-vollen Nutzung überkommener Kirchen-räume – Achtung vor der Predigt der altenRäume zu haben und sie als Chance theologischer Vertiefung unserer eigenenPredigt zu begreifen – bewähren sichnatürlich nur in konkreter Anwendung ankonkreten Orten für eine konkrete Gemein-de, Besuchergruppe oder wen auch immer.

3. Der Umgang der Kirchen

mit gotischen Räumen –

einige Schlussbemerkungen

Allzumal die evangelischen Theologen gefallen sich seit Martin Luther in der Negierung der theologischen Bedeutungdes Kirchenbaus. Ich hatte Eingangs Präses Beier zitiert mit dem Anfang seinerPredigt zum Abschluss des Berliner Dom-12

Beim Wiederaufbau nach dem Krieg versetzt und gedreht: die Barockkanzelder Berliner Marienkirche, die in einengotischen Pfeiler eingelassen ist.

Der gotische Kirchenraumwill Gleichnis sein für das himmlische Jerusalem

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wort noch heute in dieser Kirche gepredigtwird. Und wer sich Kirchengebäuden ein-mal so nähert, wird dann auch darauf auf-merksam, dass Martin Luther schon 1521in seinem „Sermon von den dreierlei gut-en Gründen, das Gewissen zu unterrich-ten“, das dreiteilige mittelalterliche Kir-chenbauschema von Kirchhof, Langhausund Chor mit der Einteilung der Stiftshüttein atrium sanctum und sactum sanctorumverglichen hatte und wegen seiner Gleich-nisfähigkeit als Ordnungsstruktur auch fürprotestantische Kirchen akzeptiert hatte.

Natürlich könnte auch in Scheunen und amBrunnen gepredigt werden – da hat Lutherrecht –, aber solange Geld da ist, noch Geld da ist, sollten wir die unterstützende Wirkung der Architektur und Kunst für un-sere Gottesdienste nicht ohne Not aus-schlagen und vor allem überlieferte Ge-bäude sehr sorgfältig pflegen, zu verstehenund zu erklären versuchen, als eine mis-sionarische Chance annehmen. Es ist janicht auszuschließen, dass der Kirchen-raum besser und verständlicher predigt,als die Geistlichkeit, die es darin ebenfallsmit diversen Worten versucht.

Die theologische Neubewertung des Kir-chenraumes in den vergangenen Jahren

und die dadurch bedingte Entstehung derKirchenraumpädagogik ist, wenn sie nichtin Infantilitäten abgleitet, nicht nur einetheologisch, liturgisch, missionarischsachgemäße Entwicklung, sondern durch-aus auch ein ökumenisches Ereignis,weil es die Kirchen aufeinander zu führenkönnte, jedenfalls dann, wenn wir die Besinnung auf die Kirchenräume nicht nurdazu nutzen, unsere konfessionellen

Sondertheologien zu akzentuieren – nachdem Motto: protestantische Predigtscheu-ne hier – barockes Mysterientheater dort.Sondern beispielsweise an gotischen Kir-chenräumen wie dem Freiburger Münsteroder der Nürnberger St. Lorenzkirche nungemeinsames Erbe und uns verbindendeTheologumena entdecken.

Dazu leisten viele unter uns ihren Beitragund natürlich insbesondere die, die heuteein Kirchenführerzertifikat erhalten. Ent-sprechend herzlich und dankbar gratuliereich Ihnen und wünsche für Ihre Arbeit alles Gute. 13

Der neugotische Umbau der Dreifaltigkeitskirche Leutkirch von 1856 konnte schon 100 Jahre später nichtmehr erhalten werden. Durch Einzug eines Mero-Stahl-tragwerks auf halber Höhe entstand in der ehemaligenPredigtsaalkirche zwischen 1971 und 1973 ein Multifunktionsraum mit mehreren Nutzungsebenen.

wiederaufbaus im Jahr 1993, „Die Wahr-heit braucht keine Dome. Das liebe Evan-gelium kriecht in jeder Hütte unter und hältsie warm. Die Evangelische Kirche brauchtkeine Dome.“ In Wahrheit predigt auch

der Berliner Dom anders. Nicht jedem gefällt diese Predigt des nationalen kaiser-zeitlichen Protestantismus – überlebens-große Statuen der Reformatoren, natürlichnur Männer – und der evangelischen Landesfürsten, ebenfalls nur Männer, leichtangestaubt, mehr grau als weiß.

Aber wer sich etwas auf den Bau einlässt,entdeckt auf Marmor und in Gold wunder-bare Bibelsprüche, Grundtexte evangeli-scher und hoffentlich auch ökumenischerTheologie, über die sich nicht nur währendlangweiliger Predigten zu meditieren lohntund trefflich meditieren lässt, die Selig-preisungen der Bergpredigt in der Kuppel,ein Bekenntnis zur ewigen Unzerstörbar-keit der Gottesworte direkt über der Kaiserloge, die nicht einmal zwanzig Jah-re in Benutzung war, während das Gottes-

Kirchenraumpädagogik –eine missionarischeChance, sofern sie nicht in Infantilitäten abgleitet

Dienen Veränderungen dem Gleichnischarakter des Kirchengebäudes oder verwischen sie ihn?

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1 NervensommerBilder von Andreas Grunert und Texte

von Friederike Mayröcker im Dialog

auf dem Boller Bußtag der Künste 2006

Vor der Lesung mit der eigens aus Wienangereisten Schriftstellerin FriederikeMayröcker führte die Stuttgarter Kultur-journalistin Sibylle Maus in die Ausstel-lung ein. Diese war bisher nur einmal gezeigt worden: im KunsthistorischenMuseum Wien, Palais Harrach, 2002.Begonnen hatte der Bußtag mit einemGottesdienst, in dem der StuttgarterPrälat Ulrich Mack die Predigt hielt.

Bei Paul Valéry heißt es: Das Gedicht hörtseinem Leser zu. – Wir setzen fort: DieDichterin sieht dem Bild zu. Der Künstlerhört die Dichterin sehen. Beide sprechen:Was schreibe ich, wenn ich frage, was ichmache, wenn ich sehe, was ich höre?

Und wie kommt so etwas kostbar Selteneszustande? Das können wir weder von Friederike Mayröckers noch von AndreasGrunerts Werk, dem beiderlei verschlüs-selten, auf Anhieb ablesen. Auf Anhieb! Was ist das denn überhaupt? Ganz vor-sichtig nur, allersorgsamst und hochauf-merksam, auf Zehenspitzen gleichsam derGedanken und der Gefühle, kommen wireinem Zwie-Gespräch und Zwie-Gebild wiediesem näher, einem Tag- und Nachtstromder vorüberschwebenden Fragmente.

Was hat die beiden verbunden, die uns einsolches Geheimnis auftun, dass wir esdennoch nicht enträtseln? Sie, die Dichte-rin, 1924 geboren in Wien, wo sie bis heu-te lebt, in der Zentagasse. Er, der Maler,geboren 1947 in Chemnitz. DAAD-Stipen-dium in Wien. 1970 – 75 Studium derKunstgeschichte in Stuttgart und Wien.

Ah, Wien, werden Sie sagen, natürlich:Wien! Und gleich so ein Robert Musil‘schesMorbiditätssummen im Ohr haben. So inder Art: „Dort, in Kakanien, diesem seitheruntergegangenen, unverstandenen Staat,gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tem-po. ... Man ließ hie und da ein Schiff nachSüdamerika oder Ostasien fahren; abernicht zu oft. ... Man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich

schneiden. ... Es ist passiert, sagte mandort, wenn andere Leute anderswo glaub-ten, es sei wunder was geschehen ... „Aberes begann in Kirchheim unter Teck. Dortwurde im März 1993 eine Ausstellung neu-ester Arbeiten von Andreas Grunert eröff-net. Und nun ging es so: Mit FriederikeMayröckers Neigung wohlvertraut, bildne-rische Welten für ihre eigenen Realitätenanzunehmen, schickte eine befreundeteSchriftstellerin die Einladungskarte nachder Zentagasse. Auf der Karte abgedrucktdas Werk „Männer auf dem Rücken“ von1992.

Schauen wir es eine Weile an: im Originalfast einen Meter hoch und eineinhalb Meter breit; Kohle und Acryl auf Leinwand.Wir sehen zwei schwarze Flächen, diegrößere wie ein leicht verrutschtes Male-witsch-Quadrat. Dem Suprematismus in-sofern konform, als auch dieses mono-chrome Feld nichts darstellen, nichts be-deuten, nur seiner Assoziationsfreiheitgenügen will. „... ich bin glücklich“, hat Kasimir Malewitsch, Schöpfer jener geo-metrisch reinen Malerei 1916 notiert,„dass das Gesicht meines Quadrats wedermit irgendeinem Meister noch irgendeinerZeit verschmelzen kann. Nicht wahr? Ichhabe nicht auf die Väter gehört und seheihnen nicht ähnlich.“ Das könnte man fastso, na, etwas weniger pathetisch, für denMaler Andreas Grunert übernehmen.

Andererseits ist dieser Maler immer auchZeichner. Und zwar einer, der mit seinenEinfarbfeldern gerade nicht das nach Kath-arsis Strebende bezeichnet, sondern jenessehr irdisch Unerhellte, jenes dauernd Unbestimmte, das dafür sorgt – wie diejüngste Erfolgsschrift auf dem Buchmarktheißt –‚ dass Denken so traurig macht.

Friederike Mayröcker hat das kleinereRechteck mit dem Kopf gewählt, dasGehäusegeschöpf, das demütig und dochdeutlich bei sich vor der kompletten Aus-sichtslosigkeit verharrt. Augenblicks hatsich die Dichterin ins Bild hinein begeben:„... Kommunion der tiefen schwarzen Nasemit dem heiszen Getränk, sage ich, ja icherblicke den tiefschwarzen langen Rücken- und wie mein Profil (mit weiszemAugenschlitz) sich dem Einverleiben diesesGetränks hingibt, die Sportmänner aufmeinem Rücken, mein Kubus ...“

„Vielleicht nennen Sie Ihr Bild ALPEN-TASSE“, schreibt sie nach Beuren auf denBerg am Hohenzollerngraben, wo sich imkleinen Maschinensaal einer Textilfabrikaus den fünfziger Jahren das Atelier befin-det, „vielleicht Alpentasse oder HEIMLICHEPFOTE, LANGER RÜCKEN, EICHHÖRN-CHENHAND, VORKLOSTER, STAUBMAN-TEL, KÜSTE VON MARATHON“. – Entnom-men dem 1994 bei Suhrkamp erschienenBand „Lection“. Das also war, wie AlbrechtEsche es genannt hat, das „Urbild“.

Ich komme zurück auf den grundsätzlichenWechsel zwischen dem Unbezeichneten inGrunert-Arbeiten, denn Perspektiven gibtes in dieser strukturativen Bildphilosophieja nie. Kein Zentralblick auch bei der „Lebenszeilenfinderin“, wie der AutorMichael Lentz in der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung zu ihrem achtzigsten Geburts-tag schrieb. Und von ihrer „Echopoetik“sprach, vom „unausgesetzten Benennen,Wortmachen und Wörtlichmachen“. – Aberimmer wieder, das füge ich hinzu, ein suprematistisches „Nicht wahr?“ – dasStrukturzeichen in der MayröckerschenAugenblicksbeobachtungslandschaft!

„... bis der Glücksfall eintritt und die Auto-rin sich von ihrer eigenen Sprache ge-tragen fühlt“: Dies schöne Zitat von Chri-stiane Schott wiederum entnahm ich derStuttgarter Zeitung vom August vergange-nen Jahres, als die Erinnerungen an ErnstJandl erschienen. Bis der Glücksfall eintrittund der Künstler aus seinen eigenen Bil-dern Bilder schaffen kann: Kein Zweifel,Friederike Mayröcker und Andreas Grunert,sie korrespondieren.

Der Maler reist nach Wien, sechs Arbeitenim Gepäck. Die Dichterin macht den Vor-schlag, es mit einem gemeinsamen Bild-Text-Projekt zu versuchen. Im September2002 wird im Wiener Palais Harrach derZyklus „1 Nervensommer“ gezeigt, ent-standen zwischen April 1998 und Mai1999. Hier in Bad Boll ist er nun als kon-zentrierte Folge gehängt; 13 Texte und 19 Bilder, alle 30 x 40 cm – das Formatdurchaus versandpraktisch gewählt.

Ja, sie korrespondieren! Er, der sich an dasKind erinnert, an den Fünfjährigen bei denGroßeltern im Erzgebirge, allein mit einemHolzroller auf schrecklichem Gefälle.14

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Dazu ihr Titel: „der süsze Ort“ oder „derAugenschein uns beschirmet“. Und, weiterim Text: „1 wilder Furor tobt in mir dasz ichbeinahe daran ertaube. Ich empfange Brie-fe, wälze mich in ihrem Gestöber etwa dieSchreiberin sagt:. denke oft an dich denkeoft an dich o du meine 6 rosse! Das greifter auf. Sie antwortet: „... man kann in dieLeiber der Rosse hineinschauen da siehtman mich liegen ganz weisz gefärbelt,beladen mit Thymiansträuszen, betagt.“

Und schnappt sich wieder eine Einla-dungskarte – mit dem Motiv, das auch zuder Eröffnung heute verschickt worden ist.Denn die sich selbst überlagernde HoheGestalt, der Vater, den Mondsicheln gewis-sermaßen ent-schreitend, hat nunmehrihren Kinderblick wachgerufen: „... und flügelte mit den Armen, als seien sie seine Propeller / Erzengel.“

Er wolle gern, sagt Andreas Grunert, dassman den Zyklus lesen könne wie ein Bil-derbuch: „Hier fängt es an und hier hört esauf.“ Und damit dies kompliziert Einfachegelingt, müssen wir unsererseits den Blick

der Frühe wiederfinden. Wir versuchen esgleich mit der Ersten Konjunktion:

Ein Hochformat; rechts unten wieder so eingeometrisches Relikt, recht verzittert dies-mal und als wolle es wie ein Gefäß auslau-fen – wobei ihm ein reziprokes Gewächsentspringt, mir scheint, von der Art derSchachtelhalme. Links im Rohr ist einemenschliche Gestalt verborgen, was dieGrößenverhältnisse entscheidend verän-dert; wir könnten plötzlich in Urzeiten an-gelangt sein. Oder in Wunschgegenden, dadie Menschen im Schutz riesiger Pflanzengedeihen und ihrerseits deren fragiles Seinstabilisieren: Vielleicht steckt in der Ver-schattung unterhalb des oberen Bildrandsschon die nächste Figur. Vielleicht eine Ja-kobsleiter. „Und freundlich durchquertengelegentlich geflügelte Boten das noch un-beschriebene Himmelsgewölb“ (Hölderlin).Das habe ich jetzt natürlich erfunden.Friederike Mayröcker gab der bis dahin

titellosen Ansicht die Rubrik „unscharfesRebhuhn, etwa“. Sie nahm einen VER-KEHRT fliegenden Vogel wahr, „ich meineals sei er eben angeschossen worden mit-ten im Flug und stürze sich jetzt herab, ...ich glaube im Grunde 1 Todes Bild, ver-mutlich bin ich selbst dieser Vogel“.Alberto Sanchéz, schreibt sie weiter, er„flüstert zu mir: ... gerne ahnte ich voraus,in den Tiefen des Schlicks zu ersticken undauf seinem Grund den Reptilien aus denTräumen zu begegnen ...“

Die „Tiefen des Schlicks“ hat der Maler fürdas zweite Werk in Folge übernommen. Dertiefe Grund, wo man „den Reptilien aus denTräumen begegnet“: Erinnern wir uns andie geheimnisvoll anmutigen Riten der Krokodile, die in den neunziger Jahren aufgroßen Tableaus paarweise tanzten? „... esist sehr merkwürdig und alles stimmt übe-rein“, zitiert die Dichterin in dem Band„Lection“ einen Brief aus dem Atelier inBeuren, „es ist sehr merkwürdig und allesstimmt überein, es kommt mir vor, dass ichdie eigenen Bilder bei Ihnen NACHLESENkann ...“ 15

Die Dichterin und der Maler: FriederikeMayröcker und Andreas Grunert in derBoller Ausstellung vor ihren Werken.

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Eine Konjunktion, das ist astrologisch diePositionierung zweier Gestirne im selbenLängengrad. Die beiden Gestirne, die sichhier gegenüberstehen, eint die Konstel-lation ihrer unentwegt rhapsodischen Wirkungsweise.

„Grunert hat im Zuge der Arbeit an 1 Ner-vensommer eine wichtige Beobachtunggemacht“, heißt es im Wiener Katalog.Nämlich: Die Autorin reagiere in ihren Texten nicht so sehr auf das Bildganze,sondern meist auf Details, die anderen ver-borgen blieben. Das gilt für den Künstleraber ebenso! Auch er findet im Textganzendie Passagen, die seine eigene Imaginati-on bewegen und auf dem unendlichenRapport seines Welten-Stücks weiter-führen.

Bei der Stuttgarter Ausstellung „Figurenund Nichtfiguren“ im Frühsommer 2004hat Eva-Marina Froitzheim von AndreasGrunert als einem Künstler gesprochen,„der sich selbst auf der Basis eines wie-derkehrenden Repertoires immer neu er-findet“. Diesem Katalog war ein Stendhal-Zitat vorausgeschickt: „Oft denke ich eineViertelstunde darüber nach, ob ich ein Adjektiv vor oder nach einem Substantivsetzen soll.“

Stundenlang, geht die Überlieferung,könne Grunert über eine bestimmte male-rische Konkretion nachdenken. Plötzlichkomme er dann innerhalb kurzer Zeit zu einer Bild-Lösung, von der er, so wörtlich,„weiß, dass sie nie fertig ist ... Für ihn sindBilder nie fertig, weil sie einem eigenen organischen Wachstum gehorchen“.

Wir sind immer noch im Schlick. Was geschieht, wenn einen Nacht umgibt, oftgenug untertags? Kann man als großergoldener Fisch Luft holen – oder ein in sichverschlungenes herzförmiges Wesen wer-den, eine autark pulsierende Monade imTrüben? Oder kann etwas ganz andereshalt passieren, wirklich: wunder was?

Fragen, die einzig uns selbst überlassenbleiben. Denn so wie das Gedicht seinemLeser zuhört, sieht auch das Bild seinenBetrachter an.Ich persönlich darf sagen, dass eine mei-ner Lieblingsstellen das wie klimperndeAuge in ROLLENDE WOLKEN GEZOGE-

NER FLÜGEL ist. Undmeine Lieblingsfolge dasGEÄUG VON HÖHERENTIEREN – wo es sich inein opakes Raumschiffverwandelt zu habenscheint, das Geäug, eineDaseinsforschungsstati-on von lautloser Präsenz.Was die rote Figur da-neben macht, sagt ihrSchöpfer, wisse er nicht.Und was ist mit der kraulschwimmen-den Gestalt auf dem Kanapee, der Laokoon-ringenden in Bild 5? Undwer startet dort hinter„schweren Socken“?

Ja, so geht es weiter in dem Textbilderbuch;am besten, man schautzuhause lange in denKatalog und kommt nocheinmal mit viel Zeitzurück. Denn es gilt

16

Andreas Grunert,„oh du meine 6 Rosse“, 19. – 21. 2. 99,Acryl auf Leinwand, 29 x 41 cm.

Andreas Grunert, „Paradiesgärtlein”,1999,Kohle und Avryl auf Leinwand, 41 x 29 cm.

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stets, die zweite Hälfte desStendhal-Mottos zu beden-ken: „Wenn ich unklar bin,ist es um meine ganze Weltgeschehen.“

Epilog

In „brütt oder Die seufzen-den Gärten“, Suhrkamp1998, S. 292, berichtet dieDichterin von einer Stelle,„die mir unbekannt war,jetzt hatte ich sie ausge-leuchtet bekommen, und ichglaube, dasz ich bei dieserErfahrung lächeln musste,weil es so schön war, aberauch sogleich wieder ver-schwand, sich auflöste,nicht wahr.

Nicht wahr – wie es zu Endegegangen ist mit 1 Nerven-

sommer, hat sie auch gesagt, und der Maler hat den letzten Satz sofort verstan-den: „... als ich erwachte: 1 Lilienfeld.Das ist INRI/die Badegründe weitläufig verholzt.“ Also hat er weitergearbeitet anRadierungen; dreizehn Texte, dreizehnBlätter. Hier erstmals zu sehen.

1 Nervensommer ist, wie wir wissen, nie zuEnde, darum zum Schluss aus der Vorrede zu Ovids Metamorphosen: „Ihr Götter, – leitet meinen Gesang vom Urbeginn derWelt ununterbrochen fort bis auf meine eigene Zeit.“ Sibylle Maus

Katalog: 1 Nervensommer,Mayröcker/Grunert, Wien 2002,SBN 3-85497-0-047-1 17

Oben: Andreas Grunert, ohne Titel, 1998,Acryl auf Leinwand, 30 x 40 cm.Unten: Andreas Grunert, ohne Titel, 1998,Acryl auf Leinwand, 40 x 30 cm.

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Darüber hinausZum Verhältnis von Dichtung und

Religion. Eine Herausforderung

an die Sprache der Theologie

Festvortrag von Dr. Petra Bahr am Boller Bußtag der Künste 2006

„Die Poeterey ist anfangs nichts anderesgewesen als eine verborgene Theologieund Unterricht in göttlichen Sachen“.Mit dieser schönen Vermutung antwortetMartin Opitz, der deutsche Dichterfürst desBarock, vor fast vierhundert Jahren auf dievon ihm selbst gestellte Frage, wann undwozu die Poesie erfunden worden sei.Die Frage nach dem Ursprung der Dichtungdeckt sich für Opitz mit der Frage nach

dem Ursprung des künstlerischen Ver-mögens des Menschen. Seine Geschichteder Poesie ist deshalb dem Anspruch nachnicht weniger als eine Kulturgeschichte derMenschheit.

Der Ursprung des Menschlichen liegt indem Vermögen, sich die Welt künstlerischauf Abstand zu halten. Gegen die Über-macht der Wirklichkeit gelingt es demsprechenden Menschen, mit seiner Spra-che die Mächte zu bändigen, indem er ihnen Namen und Bedeutungen gibt. DieMächte, die die Welt regieren, können nungedeutet werden. Und in jeder Benennungliegt eine Entdämonisierung. Mit dem er-sten Gedicht ist Gott besprechbar gewor-den. Das ist die Stunde der Theologie in

buchstäblichem Sinne. Heute klingt diesevermeintliche Geschichtserinnerung anden vermuteten Ursprung der Menschheitselbst schon wie ein poetischer Mythos.Das ist vielleicht ein sanfter Hinweis, dassman sich solchen Ursprungsüberlegungenim besten mit der Sprache der Dichtungnähert. Dieser Vorstellung, die das dichte-rische Vermögen an die Anfangsgründe der Menschheit versetzt, verfolgen nochdie großen Kulturphilosophen des späten 18. Jahrhunderts, allen voran der Geistli-che, Philosoph, Übersetzer und Sprach-theoretiker Herder. Mit dieser Vorstellungverbindet sich ein Begriff der noch jungenWelt, in der wir alle noch roh, rau und ungebärdet sind – Kulturlose eben.

Deshalb hat die Rede von dem Ursprungder Dichtung in der Theologie bei MartinOpitz und den anderen Ausspähern von Anfangsgründen noch einen anderen Sinn.Gott wird nicht nur besprechbar, er sprichtauch selbst. Gott hat die Dichter geschickt,so schon eine antike Überlieferung, damitsie seine Offenbarung vor der rohen Gewaltdes Menschlichen schützten. Deshalb ver-birgt er seine Lehre in einer „prisca theo-logia“. Seine Lehre trägt sich als Geheim-nis in die Sprache der Dichter ein. In ihrverschlüsselt sich das Göttliche, es wird zu einem erträglichen und gleichzeitig ent-zogenen Geheimnis, das nur dem zugäng-lich wird, der die Lücke zwischen den Worten aufsucht und der Magie der Spra-che glaubt. Gegen das laute Brüllen undSchwätzen, gegen das aggressive Be-schreien des Offensichtlichen und des Banalen hilft die verfeinerte, errungeneund an der Form verzauberte Sprache derDichter, das Göttliche in der Welt zu halten.

Ein bedeutender Nebenstrang dieser Theo-rie von der Dichtung als prisca theologiaerklärt den bleibenden Einfluss dieser Idee im Abendland: Auch die Dichtung derHeiden, vor allem die Dichtung der großenantiken Autoren, kann so in einem vomChristentum geprägten Kulturraum mittheologischer Güte ausgestattet werden.Die griechischen und lateinischen Klassi-ker haben so auch theologische Güte.Kein Wunder also, dass sie es in die Curri-cula der Klosterschulen und theologischenUniversitäten geschafft haben. Hier in dengroßen Weltgedichten der Antike erschließtsich den Eingeweihten eine eigene, poeti-

sche Welt der Gotteslehre, die der Masseder Unkundigen verschlossen bleibt. Ge-nau genommen läuft die Idee von der geheimnisvollen Theologie der Dichtungparallel zur natürlichen Theologie, die in den Zeichen der Natur die verborgeneZeichensprache Gottes entdeckt.

Die These von der Dichtung als verborge-ner Theologie sollte allerdings nicht zu aller erst rechtfertigen, dass Poesie esihren Lesern manchmal schwer macht,weil sich die Verkettung der Worte dem Alltagssprachgefühl so drastisch entzieht.Sie sollte auch nicht in erster Linie das Hermetisch-Elitäre gegen den sprach-lichen Massengeschmack verteidigen.Schließlich geht es Opitz in seiner Dich-tungslehre vor allem darum nachzuweisen,dass es große Kunst auch in der Volks-sprache geben kann. Verständlichkeit,Klarheit und Durchsichtigkeit sind rhetori-sche Gesetze, die Opitz mit Verve verteidigtund die er nun auch als Maßstab an die Nationalsprache anlegt.

Noch Martin Luther hat geglaubt, dasDeutsche sei die Sprache der Ungebilde-ten. Mit seiner Bibelübersetzung wollte ereiner Bildungsoffensive Vorschub leisten,bei der es um Alphabetisierung geht, sicheraber nicht um die Einweihung in höhere Literatur. Martin Opitz glaubt dagegen andie poetische Kraft des Deutschen, dieMartin Luther, wie wir heute wissen, ge-radezu beiläufig ebenfalls unter Beweisgestellt hat. Opitz hält das Deutsche aus inneren Gründen für „lyrikfähig“. Für ihn ist die Muttersprache durchaus geeignet,um sich dem Erhabenen zu nähern. Für die Nobilität der Literatur braucht es keinLatein. Das ist Anfang des 17. Jahrhun-derts eine Revolution, die für viele schwererträglich ist. Doch Martin Opitz geht es ummehr und anderes: Die Kultur und Religiondes Menschen beginnt mit dem erstenSatz, der je gedichtet und gebetet wurde.

Nun sind wir heute allergisch gewordengegen die wohlfeilen Ursprungstheorien,die uns mit einer gehörigen Prise Melan-cholie daran erinnern wollen, dass alleseinmal miteinander verbunden war, nunaber in unterschiedliche Sphären ausein-ander gerissen ist. Die Ursprungsthesendes 17. und 18. Jahrhunderts künden nochvon einer Einheitssehnsucht, die der 18

Seit 2006 erste Kulturbeauftragte desRates der EKD: Dr. Petra Bahr

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Moderne verdächtig geworden ist. Werdenhier nicht Träume von einem goldenenZeitalter aufgerufen, das immer schon ver-gangen ist? Aus diesem Stoff ist der gras-sierende Kulturpessimismus gewebt, deroft genug in der Verachtung der Gegen-wartskünste endet.

Ja, man könnte nochweiter gehen – undviele Denker in derModerne sind weitergegangen. Selbstwenn es einmal sogewesen wäre, dassReligion und Poesieso eng verschwistertwaren, so ist es dochnur gut, dass sie beide nun getrennteWege gehen, heißtein Grundsatz dermodernen Kultur-theorie. Erst in derUnterschiedenheitvon der Religionkann die Dichtkunstganz sie selbst sein – ohne Fremdbestim-mung durch Inhalte und Formen, die sie sich nicht selbst gewählt hat. Nichtsscheint verdächtiger als religiöse Dich-tung, steht sie doch für künstlerisches Mittelmaß, das oft genug in der Kitschfallestecken bleibt.

Fallstricke lauern in der Tat, wenn man die Opitzsche Idee als Provokation an dieGegenwart hält. Dichtung als verborgeneTheologie – das klingt nach Vereinnah-mung der vertrauten Art. Der Satz birgtnicht nur die Tücke der Vergangenheits-versessenheit. Auch systematische Fallenlauern. Spiegelt sich in dem Satz nicht einmehr oder weniger verkappter Rettungs-versuch einer bedeutungslos gewordenenTheologie in der Welt der Künste, die ja in gewisser Hinsicht boomen wie nie?

Es könnte dieses Hase- und Igel-Spiel beginnen. Das geht so: Die Dichtung willnichts als weltlich sein und ernsthaft spie-len mit dem Kosmos der Bedeutungen, dersprachlichen Formen und der Zeichen. Dakommt der Theologe daher, hebt weise denZeigefinger, guckt sehr zeitgemäß, ziehtsich einen schwarzen Rollkragenpulloveran und flüstert was von Transzendenz und

Erhabenheitsanmutung. Der Dichter kannnun zappeln wie er will: ist der Religions-begriff nur hochfahrend genug, geht er derTheologie immer ins Netz. Kunst trans-zendiert den Alltag und verhilft zu neuerSelbsterfahrung. Ergo ist bei ihr immer

auch Religion imSpiel. Das ist viel-leicht die verschla-genste Form derVereinnahmung,viel schädlicher fürdas Gespräch zwi-schen Kirche undKünsten als dieoffensichtliche In-strumentalisierungder Dichtung imHinblick auf Verkün-digungszwecke.

Indes: Martin Opitzhatte mit dieserDebatte nichts imSinn. Und entge-gen anderslauten-der literaturwis-

senschaftlicher Geschichtserinnerung istdie Frage nach der Säkularität der Dich-tung auch schon im Barock ein heißes Eisen. Für uns heute steckt eine andere Art der Zumutung in der unzeitgemäßenThese. Denn in dem Satz von der Poesie als geheimer Theologie wird auch eineAussage über die Theologie getroffen.Die vornehmste Theologie soll nämlich

die Theologie sein, die sich in Rätsel undGeheimnisse kleidet.

Das ist schon für die Zeitgenossen vonOpitz eine merkwürdige Behauptung.Schließlich setzt der Protestantismus ganzauf Öffentlichkeit. Theologie soll den ver-borgenen Winkel meiden und sich hell undklar ins Licht gegenwärtiger Aufmerksam-keit bringen. Hermeneutik, nicht Hermetikist ihr leitendes Geschäft. Stellt die Opitz-sche These dieses Ideal auf den Kopf? Zumindest befragt und ergänzt Opitz auchdas gängige theologische Geschäft öffent-licher Rede.

Wie kann das Geheimnis der Religion sichin einer Sprache halten, die alles Geheim-nisvolle gegen einen konsensual erzeugtenVerlautbarungsjargon eintauscht? Opitzstellt, altertümlich aber bleibend aktuell,die Medienfrage – nicht nur als Frage an die Inhalte, sondern an die Form derTheologie. Hier macht es durchaus Sinn,sich von ihm anregen zu lassen. Im Umkreis von Opitz, an der Universität zuWittenberg, lernt Paul Gerhardt das theologische Geschäft. Wer die Curriculadieser Zeit durchmustert, ist verblüfft überden hohen Anteil an rhetorischer und poe-tischer Ausbildung. Der Hort des reinendogmatischen Luthertums ist auch ein Ortder Vermittlung eines geschärften Sinnesfür Poesie.

Virtuos können Theologen in diesen Jahrender Verfestigung der lutherischen Lehr-gebäude zwischen unterschiedlichenSprach-, Rede- und Schreibstilen vari-ieren. Paul Gerhardt löst in gewisser Weisefür seine Zeit ein, was Opitz fordert: dassdie Theologie ihren Ort in der Dichtkunstbeansprucht. Dichtung ist bei Paul Gerhardt verborgene Theologie.

Nun könnte man mit Recht einwenden, vonVerborgenheit könne doch bei einem Dich-terpfarrer wirklich nicht die Rede sein. Ger-hardt schreibt Gebrauchstexte mit verkün-digendem Interesse. Von einer autonomenDichtkunst ist er weit entfernt. Doch das istnur die halbe Wahrheit.

Bei Paul Gerhardt lässt sich studieren, wiesich dogmatische Einsichten unter derkünstlerischen Arbeit an der Sprache soverwandeln, dass sie ihren belehrenden 19

Martin Opitz von Boberfeld1597 – 1639

Paul Gerhardt1607 – 1676

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Charakter voll und ganz verlieren. Der Freiheit der Form müssen sich auch diegrundlegenden theologischen Einsichtenbeugen. So gewinnt der lutherische Theo-loge, der für die Reinheit des Bekenntnis-ses in späteren Jahren so einigen Ärger in Kauf nimmt, eine poetische Freiheit,die sich bis in die Version der Gotteslehreniederschlägt. Gott, der gute Weltberater –knapper und dichter lässt sich die lutheri-sche Lehre von der Providentia Dei wohlkaum ausdrücken.

Man mag sich im Paul-Gerhardt-Jahr einmal ernsthaft fragen, wo denn heute jemand ganz und gar zeitgemäß und insolch künstlerischer Vollendung religiösesBeten, Singen und Sprechen zu prägen inder Lage ist.

Wie gesagt: die Sprache der Frommen hat sich verdächtig gemacht. „Herr, DeineLiebe ist wie Gras und Ufer“, singen wir.Das ist nicht zeitgemäß, sondern nur einmüder Abklatsch der großen Schöpfungs-lyrik eines Paul Gerhardt. Die zeitgenössi-sche Lyrik traut sich viel mehr im Umgangmit Gott. Sie ist tollkühn und frech und zärtlich, ohne allerdings theologische Ansprüche zu verkünden.

Theologen und Theologinnen sind gut be-raten, hier in die Schule zu gehen, um den verbrauchten und fadenscheinigen Bildern zu entkommen, die unsere Predig-ten, Andachten und Gebete durchziehen.Nichts gegen die gute alte Sprache der Tradition. Auch das kann man bei Martin Opitz lernen. Erst wer die Alten liebt und schätzt, ist in der Lage, virtuos mit dem Neuen umzugehen. Nur brauchtjede Zeit auch sprachliche Zeitgenossen-schaft in der Vielfalt der sprachlichen Formen und Stile.

Der Umgang mit Poesie schult darin,den Worten Zeit zu lassen. Ein Satz reichtoft für einen ganzen Tag. Hier, in der Poesie, klingt Unerhörtes und Ungehörtesan und wird plötzlich evident. Poesie räumtden Sprachmüll beiseite, den wir auf-getürmt haben und auf dem wir nun balancieren auf der Suche nach neuenWorten. Poesie zwingt die Leser und Lese-rinnen in die Lücken zwischen den Worten.Es lohnt sich, der geheimen Verwandt-schaft zwischen der Poesie und dem Gebet

auf die Spur zu kommen. Eine Lüge, sosagt das Huckleberry Finn, kann man nichtbeten. Eine Lüge kann man auch nichtdichten.

Das zeitgenössische Gedicht des austra-lischen Dichters Les Murray mag dazu verführen, über den Satz von Opitz weiternachzudenken, dass Dichtung verborgeneTheologie sei:

Religionen sind Gedichte. Sie bringen / unseren Tages- und Traumgeist in Einklang, unsere / Gefühle, Instinkte,den Atem und die uns angeborene Gestik

in das einzig vollkommene Denken:Dichtung. / Nichts ist gesagt, bis es inWorten hinausgeträumt ist / und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist.

Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion, / wie die kurzeHochzeitsnacht eines Soldaten sein /nach der man sterben oder leben kann.Doch das ist keine Religion.

Volle Religion ist das Gedicht in liebe-voller Wiederholung; / wie jedes Gedichtmuss sie unerschöpflich und vollkommensein / mit Wendungen, wo man sich fragt:Warum hat der Dichter das wohl getan?

Man kann eine Lüge nicht beten, hatHuckleberry Finn gesagt: / man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbeSpiegel: / beweglich, aufblitzend, nennenwir es Dichtung, /

um eine Mitte verankert nennen wir es eine Religion, / und Gott ist die Dichtung,die in jeder Religion gefangen wird, / gefangen, nicht eingesperrt. Gefangenwie in einem Spiegel,

den er anzog, da er in der Welt ist, wiedie Poesie / im Gedicht ist, ein Gesetzgegen jeden Abschluss. / Es wird immerReligion geben, solange es Dichtung gibt

oder einen Mangel an ihr. Beide sind gegeben, und periodisch / wie der Flugjener Vögel – Haubentaube, Rosella-papagei – / die so fliegen: die Flügel zu,dann schlagend und wieder zu.

Petra Bahr20

Boller Bußtag der Künste 2007

Mittwoch, 21. November 2007Evangelische Akademie Bad Bollin Kooperation mit dem Verein für Kirche und Kunst

NEUE VERTRAUTE IM LAND UMSETZEN –

Fritz Schwegler von Breech

16.00 Anreise, Stehkaffee

16.30 Begrüßung: Albrecht Esche

Gottesdienst im Festsaal der AkademiePredigt:Prälat Hans-Dieter Wille, HeilbronnLiturgie:Pfarrer Johannes Koch, BerghülenMusik:Friedemann Treutlein, Reutlingen

17.30 Vernissage zur Ausstellung des Fritz Schwegler von BreechBegrüßung: Joachim L. Beck,Direktor, Bad Boll

„Wie einem ein Baum auf dem Kopf wächst“ Film von 1974

Lesung: Fritz Schwegler

Erfrischungscocktail

18.45 Vom Innen und Außen in der Kunstwelt des Fritz Schwegler von Breech,Thomas Zoller, Architekt, StuttgartEinführung: Reinhard Lambert Auer

19.30 Buffet im SymposionGespräche und Kontakte

Dauer der Ausstellung:21. Nov. 2007 bis 20. Jan. 2008

Tagungsgebühr: 15 Euro (inkl. Buffet)

Anmeldung: Tagungsnummer 47 07 06Sekretariat Brigitte EngertTelefon +49 7164 79-342Telefax +49 7164 [email protected]

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Synodalantrag Kirche und Kultur

Die evangelische Landessynode hat beiihrer Sommersitzung im Juli einen Antragangenommen, der die Bedeutung desThemas „Kirche und Kultur“ für die Arbeitder Landeskirche herausstellt. Der AntragNr. 02/07 des Theologischen Ausschussesvom 4. Mai 2007 hier im Wortlaut:

Die Landessynode möge beschließen:

Der Oberkirchenrat wird gebeten,– die bestehenden Initiativen und Fach-bereiche zum Thema „Kirche und Kultur“in unserer Landeskirche miteinander zu

verbinden, indem der Kulturrat eine ent-sprechend formulierte, offizielle Beauf-tragung erhält,– die Aufgabe des landeskirchlichenKunstbeauftragten als Berater der Kirchen-gemeinden und -bezirke und als Koordina-tor der Kulturinitiativen unserer Landes-kirche weiterhin ihrer Bedeutung ange-messen zu verankern,– zu prüfen und zu berichten, wie dasThema „Kirche und Kultur“ in den landes-kirchlichen Fortbildungen vertreten ist.

Begründung:

Der Theologische Ausschuss befürwortetdie Initiative der EKD zum Thema „Kircheund Kultur“. In den gegenwärtigen plurali-

stischen Entwicklungen der Gesellschaftsteht die Kirche vor der ständigen Aufgabe,vernehmbar zu sein in dem, was sie denMenschen zu sagen und in ihren Lebens-zusammenhängen zu vertreten hat. DasWeitergeben der guten Nachricht ge-schieht nicht allein in der unmittelbarenBegegnung, in Seelsorge und Predigt, son-dern ereignet sich auch in der Teilhabe undim bewussten Dialog mit den sie umge-benden Kulturen.

Die Kirche bedarf der sensiblen Wahrneh-mung und hat zugleich selbst Position zubeziehen. Das „kulturelle Profil“ umfasstdas überkommene Erbe und die histori-sche Kulturträgerschaft der Kirche sowieein aktives Gestaltungshandeln in der Gegenwart.

Religion ist immer kulturell vermittelt.Auchder christliche Glaube artikuliert sich inWorten, Zeichen und Bildern seiner Zeit.Zum evangelischen Bildungsauftrag gehörtdamit grundlegend, Kirchengemeindenund alle hauptamtlichen und ehrenamtli-chen Mitarbeitenden in ihrer ästhetischenKompetenz (Wahrnehmungs-, Reflexions-und Gestaltungsfähigkeit) umfassend zu fördern, besonders in den Bereichen Gottesdienst, Liturgie und Bildung.

Der Inhalt des Antrags beschreibt die fürdie Württembergische Landeskirche zuziehenden Konsequenzen. Der Dialog zwischen Kirche und Kultur wird als wesentliche Aufgabe aktueller kirchlicher

Arbeit begriffen. Darum ist er in einer derSache angemessenen Weise zu fördern.Dabei sind die landeskirchlichen Initiativenund Einrichtungen kultureller Bildungs-arbeit sowie der Kunstbeauftragte einzu-beziehen.

Kommentar des Kunstbeauftragten

Reinhard Lambert Auer

Erfreulich ist die Tatsche, dass mit diesemAntrag, der bei ganz wenigen Enthaltungenbreite Zustimmung fand, die Themen, dieim Konsultationsprozess „Protestantismusund Kultur“ von EKD und VEF noch vor der Jahrtausendwende angeregt wordenwaren, offiziell in unserer LandeskircheAufnahme gefunden haben. Eingebrachthatte diesen Antrag 2006 als Erstunter-zeichner Dr. Wolfgang Schöllkopf, Ulm.

Es wird in der nächsten Zukunft darum ge-hen, dass die im Antrag genannten Punkteauch eine entsprechende Umsetzung er-fahren. Der „Rat für Kultur in der Evange-lischen Landeskirche in Württemberg“ war seit seiner Gründung Anfang 2006 lediglich ein informelles Gremium aus Personen verschiedener landeskirchlicherInstitutionen und Arbeitsbereiche, die – inunterschiedlicher Ausrichtung – mit Kulturbefasst sind. Es bleibt zu hoffen, dass miteiner offiziellen Beauftragung des Kultur-rats auch die Möglichkeiten, gehört zuwerden und für die Angelegenheit der Kul-tur und für die Förderung ästhetischer Bil-dung Einfluss zu nehmen, größer werden.

In einem Fachbereit, der seit einigen Jah-ren die Arbeit des Kunstbeauftragten infor-mell begleitet, haben wir uns bereits aus-führlicher mit den im Antrag benanntenFragestellungen befasst. Entstanden ist einPositionspapier „Mehr als nur schönerSchein – Ästhetische Bildung als Aufgabeder Kirche“. Es kann, da es für einen Ab-druck an dieser Stelle zu umfangreich ist,über die Homepage des Vereins eingese-hen werden (www.kirche-kunst.de).

UV-Licht macht verborgene Strukturendes Lebendigen sichtbar. Im Rahmen derJahrestagung des Vereins in Weingartenführte Christina Kubisch durch ihre Aus-stellung im Tagungshaus der Akademieder Diözese Rottenburg-Stuttgart.

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Blicke auf „Unorte, deren Ansicht nicht enttäuscht“, bescheinigt ihm sein Wetz-laer Kurator.

Manche Fotos übermalt der geboreneStuttgarter mit einzelnen Linien, Balken,oder einem Gitter. „Ich verlange von mei-nen Fotos maximale Schärfe“, sagt derKünstler, der diese Schärfe wieder bricht.Das exakt und deutlich Abgebildete bekommt durch das durchscheinendeWachs eine steuerbare Unschärfe. DasAusloten dieser idealen Unschärfe be-stimmt Wiedmaiers Arbeit.

„Der Arbeitsprozess erfordert absoluteKonzentration“, seufzt der Künstler, derüber das Verfahren bereitwillig Auskunftgibt. Denn: „Ich bin mir sicher, es gibt keinen zweiten Wahnsinnigen, der sich das antut.“

Die Fotografien werden mit hitzebe-ständigen Leim auf HDF-Platten kaschiert.„Hitzebeständig“ deshalb, weil eineSchicht von bis zu 50 Lagen Wachs das Foto unter sich begräbt. Mit einer metalle-nen Schiene zieht der Künstler die Wachs-schichten schichtweise wieder ab.

Ist das Wachs zu spröde, zu kalt oder zuheiß, verbinden sich die einzelnen Lagennicht und es entstehen unwillkommeneFlecken, Einschlüsse und Abplatzungen.Ganz zum Schluss bekommen die Bildereine dünne Lackschutzschicht. Und die Gesundheit bei der Arbeit mit heißemWachs? „Der Arzt sagt, das hustet sichwieder ab“.

Eigenartig und vielleicht das Besondere anGert Wiedmaiers Arbeiten ist ihre Wirkungaus der Distanz. Mit Wachs überzogene

Bilder sind am deutlichsten aus einem gewissen Abstand zu erkennen. Auch inden kargen Alblandschaften geschiehtAnnäherung durch Distanz, Sichtbar-machen durch Verbergen.

Von einem für Wiedmaier relativ groß-formatigen Portrait seiner Tochter Nina istdie Besuchergruppe besonders angetanund beeindruckt. Das Gesicht der jungenFrau wirkt verfremdet und doch vertraut.Auch ein bisschen unerreichbar. Aber beidiesem Bild ist es nicht nur die Wachs-schicht, die dem Betrachter die Person entzieht. So wie es der Künstler gehängthat, schützt allein die Höhe des Hakens dieFamilienikone vor Zugriffen jeglicher Art.Denn wie sagt Wiedmaier: „Fingernägel ...“

Christina Mayer22

Fotografien von maximaler Schärfe,überzogen mit bis zu 50 Lagen Wachs.Oben: Bilder aus der Alblandschaftsserie.Unten: das Portrait der Tochter Nina.

Auf der Suche nach der idealen UnschärfeEin Atelierbesuch mit dem Verein

„Der größte Feind meiner Arbeit sind Fingernägel“, sagt Gert Wiedmaier.Dabei kann man als Betrachter demDrang, die Oberfläche dieser Bilder zu berühren, kaum widerstehen. Zu samten, zu ebenmäßig, zu verführerisch.Eine Oberfläche wie Milch und Honig.Gegossen aus Wachs. Interessierte Mit-glieder des Vereins für Kirche und Kunstbesuchten den Stuttgarter Künstler GertWiedmaier in seinem Wohnhaus und Atelier in Riedenberg.

Am großen Esstisch in der Wohnküche gibtder Künstler eine Einführung in seine Arbeit. Man darf sitzen bleiben und musssich nur umschauen. Frühe Arbeiten auspigmentiertem Wachs mit einer rauenOberflächenstruktur hängen über der Anrichte. Der Bildgrund erinnert an altes Metall. Einkerbungen in das noch weicheWachsgemenge rhythmisieren die mono-chrome Fläche. Daneben, zwischen zweiKüchenfenstern, sind Wiedmaiers neuesteArbeiten zu sehen: mit Wachs überzogeneFotografien.

Gert Wiedmaier dienen Fotografien alsMalgrund. Es sind selbst fotografierteLandschafts- oder Stadtansichten vonStuttgarts Partnerstadt Samara, von Wetzlar, der Alb, Chicago, Eislingen unddem Bodensee. Keine Touristenansichten,sondern hässliche Baumarktfronten undheruntergekommene Bruchbudenfassa-den. Im Gegensatz zu gängigen Ansichts-kartenidyllen zeige Wiedmaier ehrliche

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Kirchen sehen –Kirchen verstehen –Kirchen erklären

Neuer ökumenischer

Kirchenführer-Basiskurs

beginnt im Oktober

Kirchen sind in unseren Dörfern undStädten markante Zeichen. Die Bedeu-tung der Räume, ihre vielen Symbole und ihr historischer Ursprung sind jedoch oftmals nicht im Bewusstsein.Vielen Menschen sind diese Räume inzwischen auch fremd geworden.Der Basiskurs vermittelt Kenntnisse,mit denen Kirchenräume und ihr Inventar erschlossen und erklärt werden können. Themen sind u.a.:– biblische Grundlagen des Kirchenbaus

und seiner Kunstwerke– theologische und kirchen-

geschichtliche Hintergründe– Bau- und Kunstgeschichte– Symbolik– Didaktik und Methoden der Vermittlung– Ganzheitliche und spirituelle Formen

der KirchenführungDer Kurs wird veranstaltet vom Arbeits-kreis Kirchenraum und Kirchenpädagogikder Ev. Landeskirche Württemberg sowieder Arbeitsgemeinschaft DenkMalBildungder Diözese Rottenburg-Stuttgart.Die komplette Ausschreibung unterwww.kirche-raum-paedagogik.de

Kunst könnte viele neue Freunde gewinnen,wenn endlich der Irrtum beseitigt würde,sie müsste so klar verstanden werden wiedas Schild „Halteverbot“. Betrachten wiralso die Kunst als schwer begreiflich bisunbegreiflich. Letzteres hat sie mit Gott gemeinsam, wobei wir uns stets dessenbewusst sein sollten, dass nicht alles, wasunbegreiflich ist, von Gott stammt.

Manfred Rommel

Kunst im HospitalhofStuttgart

Ausstellungen

Geöffnet: Mo. – Fr. 14 – 17 Uhr; an Sonn- und Feiertagen 11 – 12.30 Uhr

Isa Dahl. Daniel Wagenblast

Beziehungsweise. Malerei. Skulptur 14. September – 14. Oktober 2007 Gottesdienst zur Ausstellung: Sonntag,16. September, 10 Uhr, Hospitalkirche.Bildpredigt: Helmut A. Müller.Orgelimprovisation: KMD Jürgen Schwab

Ulrich Bernhardt

Asche und Schnee. Installation. Fotografie9. November – 9. Dezember 2007Gottesdienst zur Ausstellung: Sonntag 11. November, 10 Uhr, Hospitalkirche.Bildpredigt: Helmut A. Müller.Orgelimprovisation: KMD Jürgen Schwab

anschließend um 11.15 Uhr:Empfang 20 Jahre Gegenwartskunst

im Hospitalhof

Begegnung, Gespräch, Führung durch die Ausstellung Ulrich Bernhardt

www.hospitalhof.de

Der Verein für Kirche und Kunst im NetzDer Verein über eine Homepage.Dort finden sich aktuelle Berichte,Bilder und Veranstaltungshinweise.www.kirche-kunst.de

Einladung zur ordentlichen Mitglieder-versammlung 2007

des Vereins für Kirche und Kunst

in der Evangelischen Landeskirche

in Württemberg e.V.

am Samstag, 13. Oktober 2007, 11 Uhr,in der Markuskirche Stuttgart,Filderstraße 22, 70180 Stuttgart.Um Anmeldung wird gebeten:[email protected] 0711/2149-238

Tagesordnung:1. Bericht des Vorstands 2. Bericht des Kunstbeauftragten 3. Wahl eines 2. Vorsitzenden4. Jahresrechnung 2005 und

Wirtschaftsplan 2007 5. Prüfbericht 6. Aussprache7. Entlastung des Vorstands8. Wahl der Rechnungsprüfer9. Verschiedenes

Anträge sind bis zum 14. September 2007an den Vorstand zu richten. Die Vertretungder Kirchengemeinden und sonstigen juristischen Personen kann einer/einemBevollmächtigten übertragen werden,deren/dessen Befugnis durch schriftlicheVollmacht nachzuweisen ist (§ 8 Abs. 5der Satzung). Bezirksvertreter des Vereinserhalten auf Antrag Fahrtkostenersatz.

Stuttgart, 1. September 2007

Der Vorstand:gez. Jo Krummachergez. Johann Albrecht Schüle

Dem Beirat des Vereins gehören derzeit an:Jo Krummacher (1. Vorsitzender),Johann Albrecht Schüle (Finanzen),Johannes Koch („dialog”), Reinhard Lambert Auer (Kunstbeauftragter derLandeskirche), G. Angelika Wetzel (Künstlerin), Bernhard Huber (Künstler),Martina Geist (Künstlerin), Nike Fiedler(Freie Architektin), Ursula Hüfftlein-Otto(Freie Architektin), Helmut A. Müller (Ausstellungsmacher), Elke Gassen (Pa-ramentik) und Ulrich Gräf (Baudirektor).

Was darf Kultur kosten?Über den Wert der Kultur.

Dienstag, 9. Oktober, 19 Uhr,Hospitalkirche Stuttgart,Gymnasiumstraße 36

Mit der Kulturbeauftragten des Rates der EKD, Dr. Petra Bahr, diskutieren Ver-antwortliche aus Kultur und Gesellschaftüber den Wert und Auftrag von Kultur aus evangelischer Sicht.Mit auf dem Podium sitzen:Kulturbürgermeisterin Dr. Susanne Eisenmann, Stadtrat Michail Kienzle,Grüne, und Intendant Hasko Weber,Staatstheater Stuttgart.

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