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Das Telefon aufl egen, den Computer ausschalten, den Notizblock zur Hand nehmen und selbst nachsehen – daraus allein entsteht noch keine Reportage. Die Gewinner des n-ost Reportagepreises sind tage-, manch-mal wochenlang vor Ort geblieben. Sie haben ihr Thema bis ins Detail recherchiert, das Vertrauen ihrer Protagonisten gewonnen und das Ge-sehene eindringlich beschrieben: Einer setzt die Wirklichkeit für den Leser neu zusammen und gibt ihr so eine ganz besondere Spannung. Ein anderer spiegelt eine landesweite Tragödie im Gesicht eines einzigen Menschen. Die Dritte blickt aus ungewohnter Perspektive auf weithin Bekanntes.
Zu einer knappen Stunde, einer Autofahrt, hat Sven Behrisch (1. Platz) die Erfahrungen eines jungen Schweizer Bauern in der Ukraine verdichtet. In „Kein schöner Land“ (Dummy, September 2009) beschreibt er die Begeis-terung, mit der der 28-Jährige sich dort einen eigenen Hof aufbaute und die Brutalität, mit der ihn sein Konkurrent seither zu vertreiben sucht.
Andreas Albes (2. Platz) führt den Leser nach Kasachstan, wo das so-wjetische Militär bis 1989 mehr als 400 Atombomben testete und die
Bewohner des Gebiets als Forschungsobjekte benutzte. Für seine Re-portage „Strahlende Zukunft“ (Neon, September 2009) besuchte er Be-rik Sysdikow, den „Mann ohne Gesicht“, an dessen Kopf man nur mit Mühe einen kleinen Mund und ein zugewachsenes Augenlid erkennt.
Vom Zwiespalt der Arbeit im KZ Auschwitz erzählt n-ost Korrespon-dentin Agnieszka Hreczuk (3. Platz) in „Was vom Entsetzen bleibt“ (Ta-gesspiegel, 27. Januar 2010). Sie porträtiert eine Konservatorin, die mit Leidenschaft ihren Beruf ausübt – aber bewusst kein Deutsch lernt, um Distanz zu den Gegenständen zu bewahren, die sie in den Händen hält.
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„Wenn wir unseren Blick auf Osteuropa schärfen und dabei die gängigen Klischees hinter uns lassen wollen, dann brauchen wir genau solche Re-portagen“, sagt Sabine Adler, die Leiterin des Hauptstadtstudios beim Deutschlandradio und Mitglied der Reportagepreis-Jury. Seit 2007 ver-leiht das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung den Preis jährlich für herausragende Texte über Mittel- und Osteuropa in deutschspra-chigen Medien. Er ist mit 2.000 Euro (1. Preis), 1.000 Euro (2. Preis) und 500 Euro (3. Preis) dotiert.
Wir danken Vorjury und Jury herzlich für ihre engagierte Arbeit und der Metro AG für ihre großzügige Unterstützung. Unser Dank geht auch an die mehr als 80 Autoren und Leser, die in diesem Jahr Vorschläge für den Reportagepreis eingesandt haben. Wir gratulieren den Preisträgern und Nominierten und wünschen ihnen weiterhin Elan bei der Arbeit, packende Themen und begeisterte Leser.
Berlin, im Oktober 2010
Christina Hebel Hanno Gundert Ulrike GruskaVorsitzende Geschäftsführer Projektleiterin
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Benjamin Bidder
David Böcking
Katrin Krauß
Ulrich Krökel
Bettina Röder
Bernhard Rude
Irmhild Speck
Richard Wiens
Spiegel Online, Korrespondent (Moskau)
Financial Times Deutschland, Online-Redakteur (Berlin)
Katholische Universität Eichstätt, Dozentin für Print-Journalismus
Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, Redakteur (Flensburg)
Publik-Forum, Redakteurin im Hauptstadtbüro (Berlin)
Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp), Studien-leiter Ostkurse – Weiterbildung für Journalisten aus MOE (München)
Akademie für Publizistik, Seminarleiterin (Hamburg)
Salzburger Nachrichten, Ressortleiter Wirtschaft (Wien)
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Wie er den Betrieb jetzt nur ganz schnell loswird, überlegt er auf der Autobahn. Wie er die Ernte zu einem guten Preis verhökert, einen Käufer fi ndet und das Geld über die Grenze bringt. Wie er nicht mehr wöchentlich zu Gerichtsterminen nach Kiew wird fahren müssen, die Richter schmieren, weil er keine Wahl hat und die Polizei auf der Auto-bahn, weil er zu schnell ist. Wie er die korrupten Beamten zurücklässt, den Konkurrenten, der ihn verprügeln ließ, die betrunkenen Mitarbei-ter und den Dieselgeruch aus dem Wasserhahn. Wie er, Moritz Stamm, in die Schweiz zurückkehrt. Der Terror ein Ende nimmt. Ruhe ein-kehrt. Frieden. Ganz still ist es im Auto, auch der 200-Kilo-Anwalt auf dem Beifah-rersitz hat zu Reden aufgehört. Doch sein „Njet“ klingt nach. Ruhig
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Ein Schweizer Bauer sucht ausgerechnet in der Ukraine sein Glück. Dort hat niemand auf ihn gewartet. Im Gegenteil
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hält Stamm seine hellen Augen geradeaus gerichtet, entspannt liegt seine Hand auf dem Lenker, aber hinter seiner hohen Stirn wütet ein Kampf. Aufgeben oder weitermachen. Links und rechts der Autobahn gleiten die Felder vorbei, die ihn vor vier Jahren hierher gezogen haben in die Zentralukraine zwischen Kiew und der Krim. Dunkel sind die Äcker und endlos weit. Schwarzerde, sie hat dem Land ihren Namen ge-geben: Kornkammer Europas. Herr über 1500 Hektar davon ist Stamm, mehr als die Gemeinde Thayngen, wo er geboren ist, fast dreimal so viel wie der größte Betrieb in der Schweiz, Herr über 25 Angestellte, über drei Mähdrescher, drei Hunde und 140 Schafe. Herr? Stamm ist 28. Weil der Hof in der Heimat seinen Bruder und ihn nicht ernähren konnte, musste er sich etwas anderes suchen. Ein Freund erzählte ihm von der Ukraine. „Ich bin da rüber gebrettert, in meinem Golf II,“ und er verliebte sich in die Erde. Drei Monate später kehrt er zurück. Einem benachbarten Landwirt erzählt er von der Ackererde, als die Tür aufgeht und er sich ein zweites Mal verliebt, diesmal in Clara, eine Deutsche. Anfang letzten Jahres, als er den Betrieb in dem Dorf Bagwa über-nahm, wollte er selbst bestimmen. Nicht mehr Angestellter sein wie auf dem Hof zuvor, nicht mehr sich rechtfertigen müssen „wegen der Brennesseln vor dem Kuhstall“. Die Getreidepreise explodierten, der Boden war günstig, sein Ukrainisch fl ießend. Die Leute mögen ihn. Sei-ne Freundin Clara zog zu ihm. Mitarbeiter, die Diesel und Werkzeuge klauen, konnten ihn nicht schrecken. Sie sind arm. Eine Bürokratie, die das Land in der Korruptionsstatistik von Transparency International den vorletzten Platz in Europa beschert, auch nicht. Stamm ist Landwirt und kein Steuerprüfer. „Und die Erde ist die beste der Welt.“ Womit Stamm aber nicht gerechnet hatte, waren sein Konkurrent Petro Jewitsch und die drei Mitglieder eines Kiewer Kickbox-Clubs, die am 7. August um 14 Uhr vor seiner Werkhalle standen. Jewitsch warnte ihn, er solle verschwinden, dann warfen ihn die anderen zu Boden, bra-chen ihm einen Wirbel, zerquetschten eine Niere und prellten die Rip-pen. „Nur ins Gesicht haben sie nicht getreten, damit man nichts sieht. Alte KGB-Methode.“ Wegen der inneren Verletzungen und des Wirbel-bruchs trägt er ein massives Korsett unter der Kleidung. „Das nächste Mal müssen sie stärker zuschlagen“, sagt Stamm mit einem Lächeln, das all seine Erzählungen über die Ukraine begleitet. Betroffenheit
und Belustigung liegen darin, als sähe er einen derben Bauernschwank. Eigentlich witzig, wäre er nicht selbst der Dumme. Die Taktik seines Gegners lautet Zermürbung, Prozess um Prozess hängt er ihm an. An sich unproblematisch, wenn man unschuldig ist, nicht aber in der Ukraine. „Wenn du einen Prozess gewinnen willst, gibst du die Hälfte des Verhandlungswerts dem Richter. Legt der Geg-ner nach, musst du auch wieder was draufl egen.“ Die Anklage wird zum Druckmittel: Verliert man, zahlt man, gewinnt man, zahlt man auch. Einen regierungsnahen Wirtschaftsverband in Kiew stört das nicht wei-ter; ausländische Investoren müssten zur Kenntnis nehmen, dass wie in jedem Staat auch in der Ukraine „landesspezifi sche Umstände“ herrsch-ten. Dass sein Kontrahent früher Bezirkschef war und dadurch gute Kontakte pfl egt, ist ein weiterer, ein bezirksspezifi scher Umstand, den Stamm zur Kenntnis nehmen muss. Moritz Stamm ist ein seelenruhiger, ein freundlicher, ein redseliger Mensch. Er ist jemand, der gerne Ja sagt, einen Wunsch erfüllt. Bittet ihn ein Mitarbeiter um einen Gefallen, beugt er seinen Oberkörper vor, hebt die Augenbrauen, sagt „jawoll, ja, gerne“ und nickt dabei. Er hat viel Nein gehört in der Ukraine, dem muss er etwas entgegen setzen. „Wenn man hier irgendetwas will, heißt es immer erst: ‚geht nicht.’“ Viel war die Rede davon, wie mühsam der Weg der vom Kommunismus befrei-ten Russen und Ukrainer in den offenen Markt verläuft. Nicht weniger mühsam ist der Weg für Stamm, nur in die andere Richtung. Vom al-penmilchgebremsten Marktliberalismus der Schweiz in die sozialistisch gedüngte Schwarzerde des Ellbogen- und Prügelkapitalismus. Es hätte ein guter Tag werden können. Mit seinem Gegenspieler, ei-nem ukrainischen Dünge-Händler, der ihn mit allen Mitteln von seinem Land verjagen will, hat er in wochenlangen Verhandlungen einen Kom-promiss abgemacht. Bei dem Gerichtstermin heute geht es um die Ein-stellung eines der vielen Verfahren, darunter auch Stamms Anklage we-gen Körperverletzung. Stimmt das Gericht zu, ist der Weg zum Frieden frei. Der Dicke hatte vor der Abfahrt getrödelt, sie sind jetzt spät dran, in einer Stunde beginnt die Verhandlung. Noch 60 Kilometer sind es bis Kiew, drei Millionen Einwohner, auf der Stadtautobahn wird gebaut. Auf dem Weg eröffnet ihm sein Anwalt, während er erfolglos versucht, den Gurt um seinen Bauch zu bekommen, dass der Konkurrent den Kom-promiss nicht unterzeichnet hat. „Njet Kompromiss“ wiederholt er und
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schüttelt den Zeigefi nger, weil sein Hals es dem Kopf nicht recht erlau-ben will, „Kompromiss njet.“ Was bedeutet das? „Er hat ein Spielchen mit mir gespielt,“ sagt Stamm gefasst. „Auf dem Papier ziehe ich den Vorwurf der Körperverletzung zurück, das kann er jetzt als Beweis dafür nehmen, dass er mich gar nicht zusammengeschlagen hat.“ Wenn er jetzt auch noch die Verhandlung verpasst, kann er sich gegen die Behauptung des Konkurrenten nicht verteidigen. Dann ist es amtlich: Stamm wurde nicht verprügelt. Das Gericht wird feststellen, er habe gelogen. Viel Zeit zur Verzweifl ung bleibt Stamm nicht. Das Handy klingelt. Clara kämpft mit den Tränen und seiner Buchhalterin, weil sie ihr kein Blankoformular geben will. Das Handy klingelt ein zweites Mal. Zwei seiner Fahrer wurden von der Polizei angehalten, weil sie die falschen Papiere dabei haben. Außerdem ist ihnen der Sprit ausgegangen. Jetzt brauchen sie Diesel und Schmiergeld. Und den nötigen Schein, um die Ware abzuholen, haben sie auch nicht. „An und für sich nicht unge-wöhnlich“, sagt Stamm, „aber heute kommt alles zusammen.“ In dem großen zweistöckigen Ziegelgebäude der Kolchose, die Stamm übernommen hat, bewohnen er und seine Freundin zwei Zim-mer. In sie gelangt man über ein fi nsteres Treppenhaus aus Beton, einen langen Gang und eine Lattenholztür mit einem Schiebeschloss. Einen Schlüssel gibt es nicht. Zur Verteidigung gegen unliebsamen Besuch hal-ten sie sich einen freundlichen Schäferhund und zwei kleine Mischlinge, „aber die kämpfen nur mit dem Schlaf.“ In der Küche haben sie eine Arbeitsecke eingerichtet. Mit dem Lap-top kann man sich über Handy ins Internet einwählen. Das ist die eine Verbindung zur Heimat. Die andere baumelt an der Küchenzeile gegen-über. Zwei Topfl appen, von Clara gehäkelt, einer in Schwarz-Rot-Gold, einer mit dem Schweizerkreuz. Wann sie in den Westen zurückkehren will? „Irgendwann, bald,“ sagt sie, wenn Moritz die Schulden beglichen hat. Auch so ein Kompromiss. Clara hat Angst, dass die Schläger wieder kommen. Moritz nicht. Es hätte sie schlimmer treffen können, „unserem Nachbar, einem Deut-schen 30 Kilometer weiter, haben sie in sein Sofa geschossen.“ „Hör auf“, sagt Clara. Sie will über etwas anderes reden. Und eine Isolierung unter dem Küchenboden will sie auch, spätestens wenn Kinder da sind. „Damit die“, sagt Stamm, „beim Krabbeln im Winter nicht festfrieren.“ Derzeit hat er andere Sorgen. Gut eine Million Franken hat er hier in-
vestiert, zusätzlich zu den laufenden Kosten und der Pacht. Auf dem Hof zu Hause liegt eine Hypothek, vergangenes Jahr hat Dürre die Ern-te dezimiert, dieses Jahr war es ein Hagelsturm. „Aber nächstes Jahr wird es was.“ Auf dem Tisch dampft ein Lamm-Gulasch aus Eigenproduktion. Stamm langt kräftig zu. Frühstück fi el aus, zwischendrin aß er nur ein wenig Schokolade, wie jeden Tag. Keine Zeit. Aufrecht sitzt er nun da, über dem Korsett seine Arbeitskluft, einen grünen Overall, den Clara „seinen Strampelanzug“ nennt. Zwischen den Bissen redet er schnell. Die Behörden und die Schmiererei seien nicht das Problem. Ein paar Tausender an die Polizei, und, er nimmt die Gabel in die Faust, „ich kann einen Hammer nehmen, hier ein Loch in den Boden schlagen und ein Heizrohr verlegen.“ Brandschutz, Bauaufsicht, Dämmrichtlinien sind kein Thema. Aber die Angestellten. Einmal hat er einen vor Wut am Hals gepackt, es war ihm schrecklich peinlich. Am nächsten Tag gratulierten ihm die Kollegen des Malträtierten. Er werde langsam ein Kosak, ein echter Ukrainer. Um acht beginnt die Arbeit. Eigentlich. Gegen halb neun sind die meisten da. Sie tragen Schirmmützen, Armeehosen und abgeschnittene Gummistiefel. Die Werkhalle ist hoch, mit einem Schwebekran an der Decke und neben den Mähdrescher, der hier abgestellt ist, würden noch drei weitere passen. In den Nebenräumen lagern in hohen Metallregalen Kugellager, Zahnräder und Werkzeuge. Pascha, die Frau, deren rote Haa-re unter ihrem Kopftuch hervorstehen, wacht über sie. Als Schreibtisch-stuhl dient ein ausgebauter Lastwagen-Sitz, von einem der Modelle, die ihr Mann fuhr, früher. „Er hat Probleme mit dem Alkohol“, sagt Stamm. Ein Arbeiter kommt ins Lager und holt eine Kette für die Motorsäge. An der Werkbank unter dem Obenohne-Kalender nimmt ein Kollege die Kette und beginnt, sie auf das Blatt zu setzen. Der Kettenholer sieht zu. Ein dritter kommt angeschlendert und der Monteur ruht sich ein wenig aus. Am Ende stehen sie zu viert in der Runde und diskutieren. Es sieht gemütlich aus, und das ist das Problem. Um seinen Leuten das Leistungsprinzip näher zu bringen, hat Stamm es einmal mit Prämien versucht. Der Traktorist, der seine Arbeit am bes-ten machte, ein junger Mann mit Frau und kleinem Kind, bekam 1000 Griwna, rund 200 Franken. Er kaufte sich eine Karaoke-Anlage. Seitdem sind die Prämien vom Tisch.
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„Im Kommunismus,“ sagt Stamm, „hat man die Fahrer nach dem Sprit bezahlt, den sie verbrauchen. Die haben dann den Tank abgelassen und sich ein Bier aufgemacht.“ Die Bezahlung hat sich geändert, von der Mentalität ist manches hängen geblieben. Ein Sprecher der Landwirt-schaftslobby in Kiew nennt es „die innere Bereitschaft, Engagement zu zeigen“, ein anderer Schweizer Investor ein paar Höfe weiter den „Grund, warum das Land den Arsch nicht hochkriegt.“ Deshalb haue er jetzt auch ab, endgültig, in wenigen Monaten. Stamm: „Das sagt er schon seit Jahren, wie so viele.“ Im Volksmund geht eine alte Erzählung: Als Gott an die Völker das Land verteilte, haben die Ukrainer verschlafen. Als sie erwachten, liefen sie zu Gott und bettelten, er möchte ihnen auch etwas geben. Gott aber hatte nur noch ein Stück übrig, das schönste von allen, das er für sich aufhob. Vor dem silbern glänzenden Hoftor, die Hände in die Taschen des Overalls vergraben, blickt Stamm auf sein Land. „So etwas bekomme ich nie wieder.“ Unter dem Schleier des Morgennebels wirkt die Erde, als würde sie dampfen. Frisch geschoren, verschwimmen die sanft ge-wellten Felder im Dunst, besiedelt von Baumgruppen, gerahmt von Alle-en und bekrönt von den Schreien der Wildgänse, die sich für ihren Flug über das Schwarze Meer formieren. Bis Odessa sind es drei Stunden. Zum Hof führt eine gepfl asterte Straße, der die Zeit, der Regen und schwere russische Schlepper so tiefe Krater geschlagen haben, dass man die letzten 300 Meter nur Schritttempo fahren kann. Am Strassenrand steht eine Betonwanne. Was aussieht wie eine Kuhtränke, ist der Brun-nen, an dem sich Stamm und Clara ihr Trinkwasser holen, denn was bei ihnen aus dem Hahn kommt, muss vorher durch den Boden des Werk-hofs, in den nicht nur der ukrainische Regen, sondern auch eine Menge Altöl gesickert ist. Dort, im Fuhrpark, reißen zwei Männer ausdauernd an der Handleine eines gelben Schleppers bis es knallt und der Motor zu rattern beginnt. Zwischen blassblauen Lastwagen mit knolligen Schnauzen, bulligen Erntemaschinen, aus deren Seiten die Eingeweide aus Kabeln und Ge-winden quellen, und einem DDRMähdrescher der Marke „Fortschritt“, glänzt ein hochhackiger Hightech-Traktor wie eine Diva im Pailletten-kleid in einer alten Büffelherde. „250 PS, unsere stärkste Maschine“, sagt Stamm, nur kompatibel sei sie nicht mit dem ukrainischen Gerät; technisch stießen da Welten aufeinander. Das kommt ihm bekannt vor.
Er durchquert den Hof, läuft durch das offene Tor und stapft ins Feld. Dicke Klumpen hängen sich an die Stiefel. Fest saugt sich die schwe-re, tonige Erde an ihre Besucher und viele, wie Moritz Stamm, lässt sie nicht mehr los. 200.000 Franken, schätzt Stamm, kann er dieses Jahr „nach Hause schicken“, trotz Hagelsturm, rund zwei Drittel mehr als ein Schweizer Betrieb im Durchschnitt erwirtschaftet. Hunderte Inves-toren aus der ganzen Welt sind in den letzten Jahren hierher geströmt, angezogen vom Reichtum des Bodens, den hohen Erträgen und der bil-ligen Pacht. Rund 70 Franken zahlt Stamm pro Hektar und Jahr, in der Schweiz ist es das achtfache. Doch kaufen kann man in der Ukraine zwar die Behörden, das Land jedoch nicht. Noch nicht. „Angenommen“, sagt der Vizegouverneur in seinem Büro, wo es so kalt ist, dass sein Sekretär im Mantel auf der Heizung sitzt, „Investo-ren aus dem Ausland kauften hunderttausend Hektar Schweizer Boden. Würde“ – er stockt – „und außerdem angenommen, die Schweiz wäre so groß wie die Ukraine. Würde das die Regierung zulassen?“ Zufrieden über den gelungenen Vergleich lüftet er kurz die Oberlippe, unter der eine makellose Reihe Zahngold erstrahlt. Die ukrainische Regierung verbiete den Eigentümern, ihr Land zu verkaufen, um sie zu schützen. „Sie würden das Geld für den Verkauf falsch ausgeben. Sie wären schnell wieder so arm wie zuvor.“ Es ist das Karaoke-Argument. Es gibt noch ein weiteres. „Wir möchten nicht, dass die Ukrainer nicht mehr Herr ihres eigenen Grund und Bodens sind.“ Libyen, Saudi-Arabien, auch China zeigten offenes Interesse daran, hunderttausende Hektar ukrainischen Ackerboden zu kaufen, um die Versorgung mit Weizen und Mais zu sichern. Niemand wisse, wer hinter den Mega-In-vestoren stecke, die aus Steuergründen vor allem in Zypern gemeldet seien. Ernst blickt der Gouverneur über seinen massiven Schreibtisch aus Mahagoni-Imitat. Auf diesem steht ein Miniatur-Globus aus Sow-jetzeiten, die Grenzen der Ukraine sind nicht eingezeichnet, anektiert vom großen Bruder. Noch einmal soll das nicht passieren. Damit Stamm die Felder bewirtschaften darf, muss er deren Eigentü-mer bezahlen. Es sind 400. Denn als der neu gegründete Staat Mitte der Neunzigerjahre die Kolchosen der Sowjetzeit aufl öste, teilte er das Land und gab es den Bauern, die es zuvor schon beackerten. Zwischen drei und fünf Hektar sind die Parzellen groß, je nach Güte des Grundes. Von seinem Vorgänger, einem Ukrainer, der kurz vor dem Bankrott stand,
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übernahm er die Verträge mit den Grundbesitzern. Ein paar von ihnen wollten das aber nicht und unterschrieben bei jemand anderem, bei Pet-ro Jewitsch. Obwohl sie das gesetzlich nicht durften, war Stamm zunächst damit einverstanden. Aber. Im sogenannten Büro, einem Häuschen am Ein-gang zu dem leeren, weißen Getreidehof, wo eine Babuschka mit dicken Fingern die Scheine und Münzen für die Pachtauszahlung sortiert, deu-tet Stamm auf eine Karte. Sie zeigt die Grenzen seines Betriebs mitsamt den einzelnen, rechteckigen Parzellen. Einige davon sind dunkel schraf-fi ert, wie Sprenkel. „Das sind die Flächen des Konkurrenten.“ Jedes dieser Sprenkel bedeutet: Trecker anhalten, umspannen und wenden, 60 mal, an beiden Seiten. Es kam zum Prozess und Stamm errang einen verhängnisvollen Sieg. Denn seither waren die Flächen doppelt verpachtet: An Stamm, der sie fortan auch kultivierte, und an Jewitsch, der ihn dafür verklagte und das von Stamm gesäte Getreide einfach selbst erntete. Im Jahr darauf verzichtete Stamm auf die Flächen und umrundete die Parzellen mit dem Traktor. Jewitsch forderte ihn auf, das ganze Land an ihn zu über-geben und zu verschwinden. Dann kamen die Schläger. Und Jewitsch verklagte sein Opfer wegen Körperverletzung. Er hatte sogar ein Attest. „Die Polizei hält sich gottlob heraus, sonst würde alles noch teurer.“ Stamm blickt von der Karte auf und lächelt sein ukrainisches Lächeln aus Belustigung und Verzweifl ung, mit einer Tendenz zur Entschuldi-gung, weil alles so absurd ist: „ein Theaterstadel. Aber jetzt haben wir ja den Kompromiss.“ 50 Meter neben seinem liegt das Büro des Konkurrenten, in einem nüchternen Ziegelbau, wo auch die Bürgermeisterin residiert. Die Leute erzählen, dass man sie manchmal im Morgenmantel, eine Flasche Wodka in der Hand, auf der Dorfstraße sehen könnte. Sie hat es nicht leicht, zwischen Stamm und dem Konkurrenten. „Jeder Konfl ikt ist ein Pro-blem“, stellt sie fest. Aber: „Die Polizei hat sich eingeschaltet, sie wird den Streit zwischen Moritz und Jewitsch bald lösen.“ Dessen Sekretärin kommt aus dem Gebäude, überquert die Straße und läuft zu ihrem weiß und blau gestrichenen Häuschen. Sie sieht aus wie die meisten Frauen im Dorf, klein, mit Kopftuch und herzlich, gera-dezu überschwänglich bei der Begrüßung. Ihre Hände aber sind weich und glatt, nicht rau und rissig von der Feldarbeit. „Moritz“, sogar sie
duzt ihn, „ist ein netter Junge, aber leider denkt er nur an sich.“ Er habe seinen Betrieb in Ordnung gebracht, gute Technik aus dem Westen an-geschafft und zahle seinen Verpächtern mehr Geld als sie es kann. „Die Leute sagen, dass sie ihn mögen, aber er hat sie gekauft.“ „Es herrscht Krieg im Dorf“, sagt sie, „und das Geld markiert die Grenze.“ Die wenigen Patrioten hätten ihr Land bei Jewitsch, die ande-ren ließen sich von Stamm bezirzen. Sogar ihre Schwester. Die Mutter, die ansehen musste, wie die Nazis die Ukrainer knechteten, ihr Getreide und sogar ihre Ackererde in Güterzügen über die Grenze brachten, sei vor Gram und im Streit darüber gestorben. Deutsche, Schweizer, alles eins, Faschisten, die ihre Väter mit Waffengewalt aus dem Land vertrie-ben hätten, jetzt sind sie wieder da. Sie schluchzt, Tränen rinnen ihr über die Backen. „Ich will, dass im Dorf wieder Eintracht herrscht. So lange Moritz hier ist, geht das nicht.“ Und der Schlägertrupp, schafft der die Eintracht? Ihre Tränen versiegen, die hellen Augen weiten sich. Schlägertrupp? „Die Leute erzählen viele Geschichten im Dorf, ich habe Stamm am selben Abend mit dem Auto durch den Ort fahren sehen, ge-nau hier, an meinem Haus vorbei.“ Stamm lacht, als er das hört. Er steht vor dem Getreidehof, auf der anderen Straßenseite zerrt ein kleiner, buckliger Mann einen Sack vom Gepäckträger seines Fahrrads und in ein Häuschen. Es ist die Getreide-mühle für die Dorfbewohner, die Stamm betreibt und fi nanziert. „Das muss ich machen, für die Leute bin ich der Nachfolger der Sowjetkol-chose.“ Deshalb beschenkt er am Veteranentag die Veteranen, streichelt an 80. Geburtstagen faltige Wangen und hält in seinem Fuhrpark sogar einen Leichenwagen. „Manchmal ist es schön, der Dorfvorsteher zu sein, den Menschen eine Freude zu machen.“ Zwei alte Frauen kommen herbei. „Moritz“, rufen sie, „wann schaffst Du uns endlich eine Gaslei-tung herbei? Es wird Winter.“ Stamm grinst. „Aber manchmal ist es auch mühsam.“ Pascha, die Frau aus dem Materiallager, sitzt in einem ihrer drei win-zigen, reinlichen Zimmer, deren jedes sie mit grellen türkisen Vorhän-gen, rosa geblümten Wandtapeten und bunt bestickten Stoffdecken ge-schmückt hat. Blickt man zu lange auf eine Stelle, beginnt sie zu kreisen. „Habe ich alles selbst dekoriert“, sagt sie. Dass sie sich diesen Wohlstand leisten könne, habe sie Moritz zu verdanken. Streng sei er, aber gütig. Um acht Uhr müsse man mit der Arbeit beginnen, aber dafür bekomme
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auch jeder pünktlich seinen Lohn. Wie ein Besessener arbeite er, ren-ne am Tag 200mal über den Hof und kontrolliere jeden Arbeitsschritt. „Moritz ist so dreckig wie ein Traktorfahrer, er ist einer von uns.“ Sie nickt entschieden, macht dann einen Sprung von der Sofakante und marschiert nach draußen. „Hier, die Kuh.“ Wie fast jeder in Bagwa mit seinen 600 Einwohnern hat auch sie eine eigene Kuh. Überall, entlang den Landstraßen und so-gar der Autobahn sieht man einzelne Menschen eine einzelne Kuh zum Grasen führen. Natürlich könnten sich die Leute zusammen tun. An-dererseits hat eine Dörfl erin einmal, anstatt die Gänse ihrer Nachbarin zu hüten, diese in ihrem Keller gekidnappt. Die revanchierte sich, in-dem sie ihr Diesel in den Brunnen kippte. „Mit der Dorfgemeinschaft ist das schwierig“, sagt Pascha. Jeder produziert das, was er braucht, daher weitgehend selbst. Das funktioniert, weil jeder von der Kolchose zusätzlich zu den drei Hektar Land noch ein Gartengrundstück erhielt. Auf ihrem Feld, zu dem man über das glitschige Hühnergehege mit dem Schweinekoben gelangt, pfl anzt sie Mais, Rüben und Kartoffeln. Die Pacht lässt sie sich in Getreide auszahlen. Ein Teil geht an die Tiere, den anderen verkauft ihr Mann. Der mit dem Problem mit dem Alkohol. Bevor die Dorfstraße nach einer letzten Biegung sich wieder in den Weiten der Mittelukraine verliert, steht zur Linken ein langgestrecktes, zweistöckiges Haus, in dessen Garten Kinder in schwarzen Anzügen und Kostümchen auf einem Metallgestell turnen. Der rot lackierte Die-lenboden im Inneren glänzt frisch gereinigt. Eine neue Tischtennisplat-te steht im Vorraum, im Klassenzimmer für ukrainische Literatur thront eine Büste des Nationaldichters Schevschenko vor einer Wandtapete mit Wasserfall. Die Dorfschule von Bagwa ist ein aufgeräumter Ort und die größte Schule weit und breit. 60 artig bezopfte Mädchen und stramm geschorene Jungen zwischen sechs und zwölf Jahren treffen hier auf ein Dutzend Lehrer. Bis vor kurzem waren es noch dreizehn, bis sich nach einem Jahr herausstellte, dass die neue Englisch-Lehrkraft gar kein Eng-lisch spricht. Die anderen sitzen nun aufgeregt in dem engen Lehrerzimmer, ernst wie beim Vokabeltest. Sie wollen mehr Kinder, mehr Geld, ein anderes Schulsystem, eine andere Regierung. Der Kommunismus, sagt die Vi-ze-Direktorin Ljudmilla Petrivna, habe sicherlich seine Schattenseiten gehabt, aber auch viel Gutes. „Wir haben eine wunderbare Verfassung,
aber niemand hält sich daran.“ Damals hätten alle Arbeit und jeder den gleichen Besitz gehabt. Heute habe fast niemand Arbeit, sehr viele wenig Besitz und wenige sehr viel Besitz. Aber dafür hätten sie Moritz. „Moris, Moris“, tönt es beschwörend. Moritz sei ein wundervoller Mensch, er habe der Schule einen Drucker, ein Faxgerät und neue Vor-hänge geschenkt. Ob man sie sehen möchte? Sie hätten Angst, dass er in die Schweiz zurückkehre. Ob man Genaueres wisse? Ob alle Schweizer so seien wie er? Die Schweiz sei sicher der schönste Ort auf der Welt. Dass er Ausländer ist, sei ihnen völlig egal, er zahle schließlich die höhere Pacht. Sie alle hätten ihr Land an Moritz gegeben, auch weil der Konkurrent der Schule nichts gibt. Nur als er nach seiner Attacke auf Moritz um seinen Ruf fürchtete, habe er die Tischtennisplatte gestiftet. Zwei Mädchen kommen herein, fragen, ob sie die Musikanlage in die Turnhalle mitnehmen dürfen. Die Musikanlage, ja natürlich dürfen sie, ist auch von Moritz. Die Mädchen, sagt Ljudmilla, schöne Mädchen, würden sicher bald in die Stadt wegziehen, wie alle jungen auf dem Land, wie Moritz wahrscheinlich auch. Warum helfen ihm die Schwei-zer nicht gegen manche Leute hier, „die ihn behandeln wie die Tiere“, der Schweizer Präsident, warum hilft er nicht? „Moritz’ Probleme sind unsere Probleme.“ Sein aktuelles Problem ist der Stau auf der Stadtautobahn. Der An-walt hat seinen Gurt losgelassen. In der Ferne ragen die Bürotürme von Kiew in die Luft, die von den Abgasen der Autos fl immert. Dort irgend-wo ist das Appellationsgericht und dort muss er in zehn Minuten sein. Stamm parkt sein Auto und ruft ein Taxi, dessen Fahrer über Nebenstra-ßen, Parkplätze und Kreuzungen rauscht, dass die Geldscheine seiner Expresszulage auf dem Armaturenbrett tanzen. Eine letzte scharfe Bie-gung in eine unscheinbare Toreinfahrt und er ist da. Aber zu spät. Der Prozess ist vorbei, keine zehn Minuten kann er gedauert haben, wenn er pünktlich begann. Der Anwalt redet in dem winzigen Vorzim-mer auf zwei junge Beamte ein, die nicht den Einruck vermitteln, als würden sie ihm zuhören. Schließlich schafft er es, die Richterin ans Te-lefon zu bekommen. Der Beschluss des Gerichts würde Stamm binnen fünf Tagen mitgeteilt werden, per Post. „Njet gut“, der Dicke, Schweiß-tropfen auf der Stirn, wackelt mit dem Zeigefi nger, „njet gut.“ Stamm sagt kein Wort. Erst als er wieder bei seinem Auto anlangt, entfährt es ihm leise: „Jetzt geht alles wieder von vorne los.“
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In Semipalatinsk nennen sie Berik den Mann ohne Gesicht. Aber das stimmt nicht. Man muss nur genau hinschauen. Da ist der kleine Mund, der herzlich lachen kann, und sein linkes, oberes Augenlid, das zwar zu-gewachsen ist, aber auf und ab hüpft, wenn Berik sich freut. Doch die meisten Menschen sehen nur die vielen Wucherungen, von denen die größte von der rechten Stirnseite bis zu seinem Kiefer reicht. Wenn Be-rik sich Schweiß abwischt, muss er den Hautlappen anheben. Anschlie-ßend lässt er ihn mit dem Geräusch einer Ohrfeige zurück auf die Wange klatschen. Es ist Nachmittag. Draußen weht der Nordostwind den Staub der kasachischen Steppe in die Stadt. Berik sitzt auf dem Bett und schaukelt mit den Beinen. Er hat ein paar Stunden auf seinem Elektroklavier ge-
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Strahlende ZukunftNeon, September 2009
Auf einem Testgelände in Kasachstan hat das sowjetische Militär bis 1989 insgesamt 461 Atombomben gezündet. Welcher Gefahr sie ausgesetzt sind, hat man den Bewohnern der umliegenden Städte nie mitgeteilt, im Gegenteil: Man benutzte sie als Forschungsobjekte. Bis heute werden nahe dem radioaktiv verstrahlten Gebiet zahllose Kinder mit schweren Behinderungen geboren
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klimpert und »Jingle Bells« geübt. Die Melodie lief so oft im Radio, dass er sie eines Tages nachspielte. »Happy Birthday« kann er auch. Anson-sten war er sechs mal im Treppenhaus, eine rauchen. So etwas wie Familienleben beginnt für Berik erst nach zwanzig Uhr. Dann kehrt seine Mutter vom Basar heim, wo sie Kaugummi und Cola verkauft. Später kommen seine Schwägerin und sein Bruder, der als Wachmann arbeitet. Sie teilen sich die winzige Dreizimmerwohnung. Im Januar wurde Berik dreißig. Er hat nie schreiben oder rechnen ge-lernt, geschweige denn, Blindenschrift zu lesen. Dafür kann er erklären, was Rente ist, weil seine Mutter ständig klagt, dass ihre nicht reicht. Be-rik weiß vieles, weil er das wenige, was um ihn herum passiert, begierig aufsaugt. Nur was eine Atombombe ist, weiß Berik nicht. Dieses Thema ist tabu zu Hause. Dabei ist die Bombe an allem schuld. Die 340 000-Einwohner-Stadt Semipalatinsk liegt im Nordosten Kasachstans, unmittelbar an der Grenze eines ehemaligen Atomtestge-ländes der UdSSR. »Polygon« heißt es auf Russisch. Vor sechzig Jahren, am 29. August 1949, explodierte hier die erste sowjetische Atombombe, Sprengkraft: zwanzig Kilotonnen. Bis 1989 wurden auf dem Polygon 113 über- und 348 unterirdische Atomtests durchgeführt. Auf einer Flä-che von 300 000 Quadratkilometern, einem Neuntel Kasachstans, ging der Fallout von 2500 Hiroshima-Bomben nieder. Um die Menschen scherten sich die Politbonzen in Moskau dabei nicht, im Gegenteil, siebenutzten sie als Versuchsobjekte. Professor Nailia Tschaischnusowa hat es eilig. Eine Konferenz mit Wissenschaftlern aus Japan muss vorbereitet werden, Gewebeproben warten auf ihren Versand, und jeden Moment müssten ihre »Scouts« zurück sein, die ständig nach neuen Strahlenopfern suchen. Ihre Zahl wird mal mehr, mal weniger; momentan nimmt sie dramatisch zu. Die zierliche Ärztin rennt so hektisch auf und ab, dass ihr die große lila Brille ständig von der Nase rutscht. Ihr Büro liegt in einem Nebentrakt des Instituts für Radiologie, ein gelber, unscheinbarer Bau. Früher hieß es »Dispensarium Nr. 4« und war wohl der geheimste Ort der Sowjetunion. Hier werteten Forscher des Kreml die Ergebnisse ihrer Menschenver-suche aus. Heute ist Tschaischnusowa Herrscherin über die einst hochge-heimen Akten, zumindest jene, die nach dem Zusammenbruch der So-wjetunion nicht vernichtet wurden: Berge von vergilbtem Papier, die
sich um ihren Schreibtisch türmen. Seit 1984 arbeitet Tschaischnusowa hier. Als sie die Stelle bekam, war sie dreißig, eine junge Assistenzärztin, Mitglied der Partei. Von den fi nsteren Geheimnissen des Dispensariums hatte sie keine Ahnung. Es war einfach irgendein Institut, und das Beste: Es lag in ihrer Heimatstadt. »Natürlich begriff ich sofort, was hier vor sich ging. Aber niemand fühlte sich schuldig. Wir haben die Bomben ja nicht gezündet.« »Sie wollen wissen, was Radioaktivität ist?«, fragt Tschaischnusowa und legt ein orangefarbenes Fotoalbum vor sich auf den Tisch. »Radi-oaktivität ist mächtiger als alles, was Sie sich vorstellen können.« Sie schlägt das Album auf. Die ersten Bilder sind schwarz-weiß und wurden vor Jahrzehnten aufgenommen, die letzten vor wenigen Wochen. Sie zeigen Kinder ohne Arme, ohne Unterschenkel, ohne Ohren, einem Jun-gen fehlt der Penis, einem anderen die ganze Schulter, sodass sein Arm wie bei einer Puppe herunterbaumelt. Manche haben vom Unterleib an keine Haut auf dem Fleisch. Der Körper eines Mädchens ist mit Mela-nomen übersät. Die Bilder zeigen Köpfe, fl ach und riesig wie aus einem Science-Fiction- Film. Die Körper der Kinder wurden zerstört von Jod 131, Cäsium 137, Strontium 90 – nukleare Spaltprodukte, die sich im Knochenmark, den Zähnen, den Schilddrüsen ablagern; sie schädigen das Erbgut, verhindern die Blutbildung, setzen das Immunsystem außer Kraft. 147 000 Personen hat Professor Tschaischnusowa in ihrer Daten-bank, 30 000 sind bereits tot. Ein Phänomen in der Region sei die hohe Selbstmordrate, erklärt sie. Bis zu 47 Suizide pro 10 000 Einwohner, darunter viele Jugendliche und sogar Kinder. »Offensichtlich gibt es da im Gehirn eine biochemische Reaktion, die wir noch nicht entschlüsselt haben.« Es ist kurz vor acht, als Beriks Mutter mit zwei schweren Tüten die Eisentreppe zu ihrer Wohnung hinaufstapft. Sie hat Milch, Reis und Hammelfl eisch mitgebracht. Seinelchan Sysdikowa wird bald siebzig, in ihrem runden, dunklen Gesicht blitzen schwarze Augen, um ihren kräftigen Körper hat sie eine Schürze gewickelt. Erschöpft sinkt sie auf einen Hocker in der Küche. Dann kocht sie Tee auf einer Elektroherd-platte, die auf dem Boden steht. Wie war das, als Berik geboren wurde? »Wie schon? Normal. Ich habe ihn im Kreißsaal zur Welt gebracht wie seine neun Geschwister. « Sie lächelt kurz. »Mit dem Orden für Hel-
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denmütter wurde ich ausgezeichnet.« War gleich klar, dass mit Berik et-was nicht stimmte? »Seine Augen waren riesig.« Sie formt mit den Fingern einen Kreis, groß wie ein Eurostück. »So etwa.« Geweint habe er viel. Ob er je sehen konnte, wisse sie nicht. »Mit sechs wurde sein rechtes Auge entfernt. Danach waren die Schmerzen besser, aber die Wucherungen begannen.« Nun seien ständig Ärzte aufgetaucht. Manchmal dreimal die Woche. Sie hätten Blut und Urinproben genommen und Berik irgendwelche Sub-stanzen gespritzt. »Aber an seinem Zustand änderte sich nichts.« Hatten Sie eine Ahnung von der Strahlung? »Wir wussten nichts. Au-ßerdem hatten wir viel Arbeit. Mein Mann und ich waren Hirten. 700 Schafe von der Sowchose in Snamenka. Von Frühjahr bis Herbst lebten wir im Freien und schliefen in einer Jurte mit den Kindern.« Auf dem Polygon? »Überall. Manchmal kamen Soldaten und sagten, wir sollten uns auf den Boden legen und unter einem Teppich verstecken. Wodka haben sie mitgebracht. Aber wir trinken nicht, wir sind Moslems. Dann kamen die Explosionen, und die Erde hat gebebt.« Haben Sie je einen Atompilz gesehen? »Zweimal, wenige Tage hintereinander. Es war irgendwann im Herbst. Ich hatte ein Baby im Bauch.« Was dachten Sie, was da passiert? »Nichts habe ich gedacht.« Aber irgendetwas denkt man doch, wenn auf einmal der Himmel glüht und eine riesige Wolke aufsteigt? »Über Armeezeug hat man besser nicht nachgedacht.« Ihr Mann… »ist vor sieben Jahren an Krebs gestorben.« Und Ihre anderen Kinder? Alle gesund? »Natürlich gesund!« Beriks Mutter steht auf und geht aus der Küche. Als sie zurückkommt, sind ihre Augen rot und ihre Wangen feucht. Sie bittet uns zu gehen. Für die Gesundheitsbehörden gilt Berik offi ziell nicht als Strah-lenopfer, lediglich als »Invalide ersten Grades«. Seine Invalidenrente beträgt 18 320 kasachische Tenge, 87 Euro; als Strahlenopfer wären es zehn Euro mehr. Die scheinbar kleine Summe bedeutet für die Familie dreißig Liter Milch. Für die Regierung ist es eine Frage von Millionen, ob mehrere hunderttausend Menschen als Strahlenopfer einzustufen sind, was westliche Experten schätzen, oder »allerhöchstens einige
zehntausend«, wie das Nationale Nuklearinstitut versichert. Moskau hat an Kasachstan nie einen Rubel Entschädigung gezahlt. Das Zentrum für ambulante Betreuung behinderter Kinder ist auf zwei Etagen in einem maroden Plattenbau mit feuchten Wänden unter-gebracht. Es existiert seit fünf Jahren. Zum Glück sei sie früher Sekre-tärin beim Komsomol gewesen, sagt Direktorin Rimschan Tinisowa, da habe sie gelernt, ohne Geld auszukommen. Derzeit renovieren Eltern die Räume. »Bei uns machen es die Menschen dem Staat leicht«, erklärt Tinisowa. »Wer ein behindertes Kind hat, stellt keine Forderungen, er versteckt es. Aus Scham.« Es mangele an Aufklärung, viele Familien würden nicht begreifen, dass auch ein spastisch Gelähmter Bewegung braucht, wenn er nicht ganz ans Bett gefesselt sein soll. Und dass sich Downsyndromkranke natürlich zu selbstständigen Wesen entwickeln können, wenn man sie entsprechend fördert. »Falsche Fürsorge ist ein großes Problem.« Man-che Mütter teilten mit ihren behinderten Kindern das Bett und würden ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. »Wir erleben Jungen und Mädchen, die nicht in der Lage sind, einfachste Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Freude oder Trauer auszudrücken.« Tinisowa ist 56 und war Ingenieurin bei der Stadtverwaltung. Sie rutschte auf ihren Posten, weil Kollegen ihr »ein großes Herz« nach-sagten. Pädagogisch geschultes Personal lässt sich kaum auftreiben. Zu Tinisowas Team gehört eine Psychologin, der Rest sind Juristen. Was auch sein Gutes habe, meint sie. Denn die Bürokratie sei unbarm-herzig. Die Mutter eines gelähmten Jungen stellte kürzlich einen An-trag auf eine rollstuhlgerechte Brücke über eine Fernwärmeleitung. Zum Ortstermin rückten drei Beamte an. Am Ende wurde der Antrag abgelehnt: Der Abstand eines rollstuhlgerechten Überweges zu den links und rechts gelegenen Treppen sei zu gering, um die Investition zu rechtfertigen. Nicht selten geben Eltern ihr behindertes Neugeborenes gleich ins Kinderheim an der Gagarinstraße. Oder sie legen es einfach im Morgen-grauen auf die Türschwelle. Jene Jungen und Mädchen, deren »Defekte sich in Grenzen halten«, wie Schwester Brombaewa es ausdrückt, hätten so immerhin die Chance auf Adoption durch eine ausländische Familie aus dem Westen. Kasachen würden grundsätzlich keine behinderten Kinder adoptieren. »Wer braucht die schon bei uns?« Für Ausländer, oft-
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mals solche, die zu Hause ob ihres Alters als Adoptionseltern ausschei-den, ist Semipalatinsk so etwas wie die letzte Chance. Drei Agenturen mit Namen wie »Little Miracles« sind der Grund, warum man in der Stadt ständig Amerikanern, Holländern und auch Deutschen begegnet. Es ist der 18. Juni, ein besonderes Datum für Semipalatinsk, es mar-kiert den letzten Atomtest vor zwanzig Jahren. Zur Gedenkfeier wird Präsident Nursultan Nasarbajew erwartet. Er kommt aus Astana einge-fl ogen, Kasachstans künstlich aus dem Boden gestampfter Hauptstadt mit ihren Glastürmen, die das Land dank seines Ölreichtums fi nanziert. Astana hat die einzige behindertengerechte Buslinie des Landes. Sie führt am Parlament vorbei. In Semipalatinsk wurden für den Präsidenten über Nacht Straßen neu asphaltiert und Bordsteine weiß getüncht, alle fünfzig Meter steht ein Polizist. Nasarbajew ist schon seit der Perestroika im Amt. Er ließ das Polygon vor achtzehn Jahren schließen und Kasachstans Atomraketen verschrotten. Um halb eins rollt sein Konvoi aus schwarzen Limousinen vor das Denkmal für die Strahlenopfer. Es steht abseits in einem Park, ein gigantischer Granitblock mit einem Loch in Form eines Atompilzes. Hunderte Studenten, abkommandiert von ihren Instituten, haben sich versammelt, junge, gesunde Menschen; auf ihren Plakaten steht: »Mit Nasarbajew in eine atomwaffenfreie Zukunft!« Kranke und Behinderte wurden nicht eingeladen. In seiner Rede ruft Nasarbajew die USA auf, seinem Beispiel zu fol-gen und alle Nuklearwaffen zu vernichten. Die Veranstaltung ist kein Gedenken an die Opfer. Der Präsident feiert sich selbst. Während man ihm zuhört, erscheint klar, warum Kasachstan das wahre Ausmaß der Katastrophe ignoriert. Es möchte in der Welt nicht als Land der Strah-lenopfer dastehen. Vor zwei Jahren entschied Nasarbajew, dass Semipa-latinsk nur noch »Semey« heißen soll, damit man beim Klang des Na-mens nicht länger an Leid und Elend denkt. Am nächsten Morgen, der Präsident weilt wieder in Astana, ist Berik schon um acht aufgestanden. Er hat sich über einer Zinkwanne rasiert und die Klinge geschickt durch sein Gesicht geführt, dann hat er sein Aftershave »Man 212« aufgelegt, das er bei seiner Mutter auf dem Basar gekauft hat. Seine beste Hose trägt er auch, sie ist aus braunem Flanell und zu groß für seinen gedrungenen Körper, weshalb er die Hosen-beine ein paarmal hochgekrempelt hat. So steht er nun auf dem Park-
platz und spielt schon voller Vorfreude mit dem Autoschlüssel unseres Fahrers Jeldos. Wir wollen nach Snamenka, jenes Dorf, in dem Berik aufwuchs. Siebzig Kilometer über staubige Pisten voller tiefer Schlaglöcher, ge-radewegs aufs Polygon zu. Niemand weiß zu sagen, wie verseucht das ehemalige Testgelände heute ist. 2003 ließen die Amerikaner eine fuß-ballfeldgroße Fläche zubetonieren, weil das Erdreich so belastet war, dass die US-Regierung fürchtete, Terroristen könnten eine Bombe da-raus bauen. Snamenka hat etwa 2000 Einwohner, von denen bei unserer Ankunft keiner zu sehen ist. Berik verbrachte hier oft die Wintermonate, wenn seine Eltern die Steppe verlassen mussten und ihre Schafe im Stall stan-den. Meistens eine traurige Zeit. Die Nachbarskinder wollten nichts mit Berik zu tun haben, und wenn Gäste kamen, sperrte ihn eine ältere Schwester in ein Zimmer. Bei seiner Tante Katja setzen wir uns auf bunte Kissen im Wohnzim-mer. Ihr Mann hockt auf einem Schemel, starrt dumpf zu Boden, wie immer, seit er mit fünfzig einen Schlaganfall erlitt. Sie erzählt, die mei-sten Dorfbewohner würden von dem leben, was in ihren Gärten wächst, von Schafzucht und von den Fischen, die sie aus dem »Atomsee« angeln. Der heißt so, weil er 1965 durch eine unterirdische Explosion entstand. Katja seufzt. Vor drei Jahren hätte sich der Sohn ihrer Nachbarin um-gebracht. Er sei in die vierte Klasse gegangen, ein guter Junge, nur be-ste Noten. Seine Mutter habe ihn ins Haus geschickt, damit er sich eine Jacke anzieht. Als er nicht zurückkam, sei sie nachsehen gegangen und fand ihn erhängt an einem Heizungsrohr. Eine kleine Poliklinik hat Snamenka auch. Im Eingang warnt ein großes Plakat vor Ansteckungsrisiken der Vogelgrippe. Von Radioakti-vität ist nichts zu lesen. Das modernste Gerät ist ein Telefon mit Wähl-scheibe auf dem Schreibtisch von Chefärztin Gulsada Isbekowa. Stati-onäre Patienten gibt es nicht. Wenn jemand ernsthaft erkranke, erklärt Isbekowa, würde sie in der Stadt anrufen, die schickten dann einen Spe-zialisten, der käme nach einer Woche. Lautet die Diagnose »Krebs im fortgeschrittenen Stadium« – und das tut sie oft –, würde man nur die Angehörigen informieren. »Wozu den Patienten unnötig belasten?« Warum die Leute nicht wegziehen? Isbekowa beugt sich über ihren Schreibtisch. »Wohin denn? Siebzig Kilometer weiter in die Stadt? Dann
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sterben sie eben da.« Doktor Isbekowa war die Erste, die Beriks Wu-cherungen behandelte. Sie punktierte sie, doch außer einer schmierigen rosa Flüssigkeit lief nichts heraus. Nachdem die Atomtests verboten wurden und Mitte der 90er Jahre erstmals Journalisten aus dem Westen das Polygon betraten, berichtete ein italienisches Fernsehteam über Be-rik. Er wurde nach Italien eingeladen, wo ihn Ärzte operierten. Das ist zwölf Jahre her. Die Mediziner erklärten, dass es sich bei den Hautlap-pen um Tumore handele, die durch Mutation des Erbmaterials entste-hen könnten. Mit 25 würden die Wucherungen aufhören. Und tatsäch-lich wuchs das Geschwulst in Beriks rechter Gesichtshälfte nicht weiter. Dafür werden die Tumore auf der linken Seite immer dicker. Auf dem Rückweg erzählt Berik, dass er mit uns nach Deutschland möchte, und er will wissen, ob es in Deutschland auch Schwimmbäder gibt. In Italien habe er in einem großen Pool gebadet, das sei das schönste Erlebnis seines Lebens gewesen. Sein linkes Augenlid hüpft vor Freude auf und ab. Zum Abschied besteht er darauf, uns noch ein Konzert zu geben. »Jingle Bells« und »Happy Birthday«. Als wir ins Taxi steigen, steht Berik allein auf dem Parkplatz und raucht. Wenig später stehen wir am »Semey International Airport«. Ein gelb rotes Schild warnt vor radioaktiver Strahlung. Es klebt an der Gepäckdurchleuchtung, in die wir unsere Taschen schieben.
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Was vom Entsetzen bleibtDer Tagesspiegel, 27.01.2010
Sie arbeitet als Konservatorin im ehemaligen KZ Auschwitz, pflegt die Hinterlassenschaft der Ermordeten: Schuhe, Kof-fer, Kleidung, Briefe. Nel Jastrzebiowka mag ihren Job, aber sie sagt: „Wenn ich zu viel nachdenken würde, könnte ich ihn nicht machen.“
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nicht für Gespräche. Nel Jastrzebiowska arbeitet als Konservatorin im ehemaligen KZ. Sie sind zu elft in der Abteilung, alle unter 35 Jahre, sie kamen nach dem Studium, 2003, als die Abteilung gegründet wurde. Davor wurden nur die Gebäude restauriert, die Exponate schickte man zum Konservieren nach außen. Die meisten Mitarbeiter kommen nicht aus der Gegend – und haben lange überlegt, ob dies der richtige Ort für sie ist. 1940 haben die Deutschen bei Oswiecim, einer 50 Kilometer von Krakau entfernten Stadt, das Konzentrationslager errichtet. Zuerst wur-den dort Polen und sowjetische Kriegsgefangene untergebracht, dann wurde es um Birkenau erweitert und bis zur Befreiung am 27. Januar 1945 zur größten Gaskammer Europas. Nel Jastrzebiowskas Mutter war schockiert, als sie von den Berufs-plänen ihrer Tochter hörte: „Sie meinte, ich werde das mit meiner Ge-sundheit büßen.“ Oft würden die Konservatoren gefragt, wie man an einem solch schrecklichen Ort arbeiten kann. „Eine Journalistin, die malim Museum gedreht hat, war schockiert, dass wir hier in der Frühstück-spause essen!“ Das sei unfair, denn mit ihrer Arbeit zeigten die Konser-vatoren Mitleid und Respekt gegenüber den Opfern. Vielleicht sogar mehr als mancher Besucher. Täglich um 7 Uhr früh kommt Nel Jastrzebiowska also nach Aus-chwitz. Falsch. „Zum Museum Auschwitz oder zum ehemaligen Kon-zentrationslager Auschwitz“, sagt sie. Die Mitarbeiter legen auf den richtigen Namen großen Wert. „Ich wohne in Oswiecim und arbeite im Museum, im ehemaligen KZ Auschwitz“, so stimmt es. Auf dem Weg zum Labor geht sie am Tor mit dem Schild „Arbeit macht frei“ vorbei. Es ist zurzeit nur eine Attrappe, das echte Schild liegt im Labor. Der Schriftzug wurde im Dezember gestohlen, angeblich im Auftrag von Neonazis aus dem Ausland, dann wurde es wiedergefun-den, zerschnitten in drei Teile. Das rote Ziegelhaus, in dem die Konservatoren arbeiten, liegt etwas abseits von der Besichtigungsroute für Touristen. Die dichte Metall-tür schließt mit einem lauten Knall. Die Räume wirken steril und kalt, wie in einem Krankenhaus: Halogenlampen, weiße Keramikfl iesen an der Wand, Mikroskope. Beißend der Geruch von Chemikalien. Hinten steht ein riesiger Tisch, bedeckt mit einem weißen Tuch. Daran sitzen junge Leute in weißen Kitteln. Einige tragen Gummihandschuhe. Nur
der Stacheldraht, den man durch das Fenster sehen kann, verrät die Wahrheit über den Ort. Nel Jastrzebiowska hält einen braunen Schuh in der Hand. Mit einem kleinen Pinsel entfernt sie den Staub vom Leder. Braune Strähnen fallen ihr ins Gesicht, wenn sie ihren Kopf beugt. Am Anfang werden die Schuhe entstaubt. Zuerst oberfl ächlich, mit einem Pinsel, danach gründlicher mit einem speziellen Staubsauger. Dann wird der Stoff vorsichtig mit nassen Wattetupfern gewaschen. In der letzten Phase wird das eingefeuchtete Leder mit einer Art Paste aus Benzin, Lanolin und Klauenöl eingefettet, „Leder absorbiert Fett besser, wenn es feucht ist“, erklärt die Konservatorin. Es sei nicht einfach, mit solchen Gegenständen zu arbeiten. „Wer seine Emotionen nicht unter-drücken kann, wird bald verrückt.“ Solche Gegenstände. Gegenstände, die nach der Befreiung gefunden wurden, in einem Lagerhaus, auf einem riesigen Haufen. 80 000 Schuhe, 3 800 Koffer, 12 000 Kochtöpfe, 460 Prothesen, 570 Lageranzüge, Kin-der-, Damen- und Herrenkleidung, zwei Tonnen Haare, Brillen. Die Konservatoren fi nden in jedem Gegenstand Informationen. Wo-her die Besitzer kamen, ob sie krank oder gesund waren, reich oder arm. Wohlhabende konnten sich Lederkoffer leisten, die Armen hatten Stoff-koffer oder nur Pappkartons. Die schick bestickten Blusen gab es nur in Ungarn, und die schief gelaufenen Absätze von Schuhen zeigen, dass eine ganze Menge Menschen orthopädische Probleme hatten. In man-chen dicken Schuhsohlen fanden sich Geldscheine, Währungen aus ganz Europa, Fragmente von Briefen, eine Postkarte aus dem ungarischen Dorf Nagyvarad. „Wir wussten überhaupt nicht, dass ein Transport aus diesem Ort nach Auschwitz kam“, sagt Nel Jastrzebiowska. Die Men-schen seien wohl direkt in die Gaskammer geschickt und gar nicht auf der Gefangenenliste vermerkt worden. In Ungarn wusste niemand, wo-hin die Leute kamen. „Jetzt könnte ihre Geschichte zu Ende geschrie-ben werden.“ Das macht sie stolz. Die Gegenstände sind mit Menschen verbunden. Je enger ein Ver-hältnis zwischen Mensch und Gegenstand war, desto schwieriger ist es, emotionalen Abstand zu wahren. Mit so einem Koffer ist es ganz unpro-blematisch. Der wird nur kurz in der Hand gehalten. Oder die Doku-mente. Nur Papier ist das, indifferent und unpersönlich. Sie konserviert es gern. „Pilz entfernen, das Papier säubern, glätten, verstärken und die
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Schäden mit einer Papiermasse ergänzen.“ Fertig. Vorsichtshalber lernt sie kein Deutsch, „damit ich nicht verstehen kann, was in den Doku-menten steht“. Unproblematisch sind auch: Kartoffelschäler, Schlüssel und Besteck. Metallteile mit einer bestimmten Gestalt, meist vom Rost angefressen. Die Herausforderung hier ist, den Gegenständen ihr vorheriges Ausse-hen wiederzuschenken. Sogar das Schild „Arbeit macht frei“ war ein neutraler Gegenstand, als es 2005 erstmals konserviert wurde. „Nur technisch kompliziert“, sagt die Konservatorin. Jetzt ist es wieder bei ihnen. Und auf einmal mit emotionalem Inhalt. Denn als es weg war, „hatten wir plötzlich ein Ge-fühl, dass unsere Arbeit an Sinn verloren hat, weil ihr wichtigstes Sym-bol fort war“. Es gibt bei Metall zwei Ausnahmen: die Rasierapparate, mit denen die Köpfe der Häftlinge geschoren wurden, und die Blechdosen, früher mit Zyklon B gefüllt, dem Gift, mit dem Menschen in Auschwitz umge-bracht worden sind. Die Dosen sind ein Albtraum für Konservatoren, weil man den Rost erst bekämpfen kann, wenn die Etiketten weg sind. Die Etiketten aber, mit dem Totenkopf darauf, sind historisch wertvoll, sie dürfen nicht abgenommen werden. Die Apparate und Dosen mit Eti-ketten sind unpersönlich, aber ihre Bestimmung ist so unmenschlich, dass ihre Präsenz bedrückt. In einem weiteren Raum lagern zwei Tonnen Haare. Der Geruch dort ist so schwer, dass manchmal Leute in Ohnmacht fallen. Die Haare sind die einzigen Exponate, die nicht mehr konserviert werden. Wegen der Menschenwürde. Denn wenn man es sich genau überlegt, sind die Haare die Körperteile der nach Auschwitz verschleppten Menschen. Nirgendwo wurde eine Hand oder ein Kopf konserviert. Warum dann die Haare? Außerdem unterliegen die Haare einem natürlichen Zerfall, sie müssten in Zukunft teilweise mit Kunsthaaren ergänzt werden. Es hat auch mal jemand vorgeschlagen, die Haare zu begraben. Aber es wur-den die Haare aller Insassen rasiert und nicht nur derjenigen, die ermor-det wurden. Was also, wenn man die Haare von einem beerdigt, der noch lebt? Also sollen die Haare, so entschied der Stiftungsrat, liegen bleiben, bis sie von allein zerfallen. In der Ausstellung liegt eine Brille, sie hat einen Blutfl eck auf einem Glas. Der Besitzer blutete also, kurz bevor er seine Brille verlor. Ist er
ausgerutscht und hat sich dabei verletzt, oder wurde er beim Aussteigen aus dem Zug von den SS-Leuten zusammengeschlagen? Und der zerris-sene kleine Pulli – ist er kaputtgegangen, als das Kind mit Gewalt aus den Händen der Mutter gerissen wurde? „Wir dürfen die Sachen konservieren, aber nicht verändern“, erklärt Nel Jastrzebiowska. „Sie sollen möglichst in einem solchen Zustand sein wie damals, als sie ihren Besitzern weggenommen wurden.“ Des-halb bleiben die Schlammfl ecken auf einem Koffer, der wohl auf den matschigen Boden bei der Rampe geworfen wurde. Deshalb bleiben die Blutfl ecken auf Brillen und Löcher in der Kleidung. Einer der ersten Aufträge der Konservatorin war ein Kinderkleid. Dunkelblau mit Stickereien. Farbige Blümchen, Blättchen, alles ganz fröhlich. Vorne entdeckte sie einen Fleck. Sie kannte so etwas. Solche Flecken fand sie ständig auf der Bekleidung ihrer damals zweijährigen Tochter. So bekam plötzlich das Kind hinter dem Kleid das Gesicht ihres Kindes. Ein Konservator in Auschwitz darf nicht zu viel nachdenken. Diese Lektion hat sie damals gelernt. Sie versucht sich jetzt ausschließlich auf die technischen Fragen zu konzentrieren. „Ich bin hier, um ein Kleid oder einen Schuh zu konservieren, wenn ich zu viel darüber nachdenke, kann ich meinen Job nicht machen“, sagt sie. Das habe man ihr an der Universität nicht erzählt. Man lernt dort etwas über Farben, Strukturen, Materialien, aber niemand sagt, wie man mit den Gegenständen umge-hen soll, die immer noch nach Menschen riechen. Nach ihrem Blut, ih-rem Schweiß und ihrer Angst. Das Ausmaß der Sammlung der Fundsachen von Auschwitz ist für Besucher oft ein Schock. Und auch für die Konservatoren stellt es eine Herausforderung dar. Während ihre Kollegen in den Museen des Landes mehrere Monate Zeit haben, um ein Buch zu konservieren, müssen sie in Auschwitz im Akkord arbeiten: „Wir müssen in vergleichbarer Zeit tau-sende Seiten von Dokumenten konservieren. Nicht ein Kleid, sondern tausende. Tausende von Schlüsseln anstatt einer Vase.“ Die Konservatoren aus dem Museum Auschwitz haben einen guten Ruf. Und sie haben weltweit kaum Konkurrenz. Einmal meldete sich bei ihnen eine Konservatorin aus Ruanda. Sie wollte sich beraten lassen, wie man Dokumente und Gegenstände pfl egt, die aus Massengräbern geholt wurden. Niemand sonst könne ihr darüber Auskunft geben.
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Ariane Heimbach
Kevin P. Hoffmann
Raluca Nelepcu
Eckehard Pistrick
Thomas Roser
Tina Veihelmann
Christian Weisf log
»Wenn Mama kommt, sind alle Tage wie Ferien« (Brigitte, 12.08.2009)
»Nachbars Feuereifer« (Tagesspiegel, 20.09.2009)
»Sie mussten in der Öffentlichkeit schweigen« (Banater Zeitung, 10.03.2010)
»Traubenschnaps und Wolfsgeheul« (Eurasisches Magazin, 31.12.2009)
»Der bunte Zug der Versöhnung« (Welt am Sonntag, 17.01.2010)
»Zeiten des Aufbruchs« (Dummy, Frühjahr 2010)
»Sklave des Vaterlands« (Tagesspiegel, 25.08.2009)
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Die METRO GROUP zählt zu den bedeutendsten internationalen Handelsunternehmen. Sie erzielte im Jahr 2009 einen Umsatz von rund 66 Mrd. €. Das Unternehmen ist in 34 Ländern an über 2.100 Standorten tätig und beschäftigt rund 290.000 Mitarbeiter. Die Lei-stungsfähigkeit der METRO Group basiert auf der Stärke ihrer Ver-triebsmarken, die selbstständig am Markt agieren: Metro/Makro Cash & Carry – international führend im Selbstbedienungsgroßhandel, Real SB-Warenhäuser, Media Markt und Saturn – europäischer Marktführer im Bereich Elektrofachmärkte, sowie Galeria Kaufhof Warenhäuser. Osteuropa ist eine der Kernwachstumsregionen für den Konzern. In der Region Osteuropa waren die Vertriebslinien der METRO GROUP 2009 mit rund 440 Standorten vertreten und erwirtschafteten einen Umsatz von knapp 16 Mrd. Euro.
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