2.2 intervention – Überlegungen und auswahl · für, als auch konsequenz aus körperbau des...

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95 2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl aus: Gjelsvik, Die Bobath-Therapie in der Erwachsenenneurologie (ISBN 9783131447821) © 2012 Georg Thieme Verlag KG Auf der Grundlage von kontinuierlicher Befund- aufnahme und Clinical Reasoning wählt der Thera- peut die Interventionen aus, die ihm für den indivi- duellen Patienten am besten geeignet erscheinen. Das Bobath-Konzept ist keine spezifische Behand- lungsmethode, sondern ein allgemeines Konzept, das zurzeit folgendermaßen definiert wird: Merke: Das Bobath-Konzept ist ein Ansatz zur Problemlö- sung in der Befundaufnahme und Behandlung von  Menschen mit Störungen der Funktion, der Bewe- gung und der posturalen Kontrolle aufgrund einer  Läsion des ZNS (IBITA 2005). Die Behandlung wird für jeden einzelnen Patienten „maßgeschneidert“. Wichtigstes Kriterium ist da- bei, wie der Patient auf die Behandlung anspricht. Alle Interventionen basieren also auf den individu- ellen Voraussetzungen des Patienten, seinen sen- somotorischen Dysfunktionen, seinen perzeptiven und kognitiven Ressourcen und Problemen, den ad- aptiven kompensatorischen Strategien, die er ent- wickelt hat, seiner Umgebung sowie seinen Zielen und Aufgaben. Alle Interventionen sollten auf Akti- vitäten ausgerichtet sein, um die Behandlung so ef- fizient wie möglich zu machen, und sollten darauf abzielen, dass die Resultate der Behandlung in den Alltag des Patienten integriert werden können. Aspekte der Behandlung: Wiedererlangung der Kontrolle über die Bewe- gung; motorisches Lernen; interdisziplinärer Ansatz, um das Lernen und die Übertragung in den Alltag zu verbessern; Verfolgung kompensatorischer Strategien, wenn die Grenzen des motorischen Lernens erreicht sind, auch unter Verwendung von Orthesen und anderen Hilfsmitteln; Managementstrategien zur Vermeidung oder Minimierung von Komplikationen. 2.2.1 Posturale Sets Bertha Bobath beschreibt posturale Sets als „adap- tions of posture [which] change with the intended movement – in fact, they may precede it“ (Bobath 1990, S. 68). Die einzelnen Körpersegmente stehen in einem biomechanischen und neuromuskulären Verhältnis zueinander, das sowohl die Grundlage für, als auch Konsequenz aus Körperbau des Indi- viduums, Bewegung und Verhältnis zur Umgebung darstellt. Dieses Verhältnis verändert sich im Ver- lauf einer Aktivität kontinuierlich. Neuromuskuläre Aktivität und biomechanische Faktoren beeinflus- sen sich gegenseitig. Veränderungen im Verhältnis zur Umgebung und in den biomechanischen Be- ziehungen aufgrund von Veränderungen der rota- torischen Komponenten oder der Bewegungsrich- tung der Gelenke erfordern eine Anpassung der neuromuskulären Aktivität, selbst wenn das Ziel der Bewegung oder Aufgabe sich nicht ändert. Die neuromuskuläre Aktivität hängt vom Ausgangs- punkt der Bewegung ab: Beim Einnehmen einer stehenden Haltung macht es also durchaus einen großen Unterschied, ob man dazu von einem nied- rigen, weichen Sofa aufsteht oder von einem Bar- hocker herabsteigt. Wenn man im Stehen oder Sitzen den Ellbogen flektiert, wird diese Bewe- gung primär vom M. biceps bewerkstelligt. Befin- 2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl Alle oben beschriebenen Abweichungen erschwe- ren oder verhindern normale Gewichtsverlagerung, Gleichgewicht und Haltungsänderung. Die Behand- lung zielt darauf ab, die Störungen, also die Über- empfindlichkeit und Unbeweglichkeit des Fußes zu beseitigen, die Muskellänge und -flexibilität so- wie die posturale Kontrolle, und hier insbesondere die Stabilitätskomponenten, in unterschiedlichen Situationen zu verbessern. All dies muss in Aktivi- täten integriert werden, bei denen die Gewichts- belastung eine Rolle spielt, wobei die Gewichts- belastung allmählich zunehmen und die aktive Bewegung des Fußes variiert werden sollte. Bei- spiele für solche Aktivitäten sind der Übergang vom Sitzen zum Stehen über einen oder beide Füße, der Übergang vom kontrollierten Stehen zum Sitzen, der Übergang vom Stehen zum Schrittstand, das Gehen in verschiedene Richtungen, das Herab- steigen von einer erhöhten Sitzhaltung (auf einem Bein oder auf beiden Beinen), Treppensteigen etc. Die Wiederherstellung des dynamischen Zusam- menspiels von Fuß, Knie und Hüfte ist von aus- schlaggebender Bedeutung für die Fähigkeit des Patienten, das Gleichgewicht zu halten und sich zu bewegen.

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Page 1: 2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl · für, als auch Konsequenz aus Körperbau des Indi-viduums, Bewegung und Verhältnis zur Umgebung darstellt. Dieses Verhältnis verändert

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2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl

aus: Gjelsvik, Die Bobath-Therapie in der Erwachsenenneurologie (ISBN 9783131447821) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

Auf der Grundlage von kontinuierlicher Befund-aufnahme und Clinical Reasoning wählt der Thera-peut die Interventionen aus, die ihm für den indivi-duellen Patienten am besten geeignet erscheinen. Das Bobath-Konzept ist keine spezifische Behand-lungsmethode, sondern ein allgemeines Konzept, das zurzeit folgendermaßen definiert wird:

Merke:Das Bobath-Konzept ist ein Ansatz zur Problemlö-sung in der Befundaufnahme und Behandlung von Menschen mit Störungen der Funktion, der Bewe-gung und der posturalen Kontrolle aufgrund einer Läsion des ZNS (IBITA 2005).

Die Behandlung wird für jeden einzelnen Patienten „maßgeschneidert“. Wichtigstes Kriterium ist da-bei, wie der Patient auf die Behandlung anspricht. Alle Interventionen basieren also auf den individu-ellen Voraussetzungen des Patienten, seinen sen-somotorischen Dysfunktionen, seinen perzeptiven und kognitiven Ressourcen und Problemen, den ad-aptiven kompensatorischen Strategien, die er ent-wickelt hat, seiner Umgebung sowie seinen Zielen und Aufgaben. Alle Interventionen sollten auf Akti-vitäten ausgerichtet sein, um die Behandlung so ef-fizient wie möglich zu machen, und sollten darauf abzielen, dass die Resultate der Behandlung in den Alltag des Patienten integriert werden können.

Aspekte der Behandlung:– Wiedererlangung der Kontrolle über die Bewe-

gung;– motorisches Lernen;– interdisziplinärer Ansatz, um das Lernen und die

Übertragung in den Alltag zu verbessern;

– Verfolgung kompensatorischer Strategien, wenn die Grenzen des motorischen Lernens erreicht sind, auch unter Verwendung von Orthesen und anderen Hilfsmitteln;

– Managementstrategien zur Vermeidung oder Minimierung von Komplikationen.

2.2.1 PosturaleSets

Bertha Bobath beschreibt posturale Sets als „adap-tions of posture [which] change with the intended movement – in fact, they may precede it“ (Bobath 1990, S. 68). Die einzelnen Körpersegmente stehen in einem biomechanischen und neuromuskulären Verhältnis zueinander, das sowohl die Grundlage für, als auch Konsequenz aus Körperbau des Indi-viduums, Bewegung und Verhältnis zur Umgebung darstellt. Dieses Verhältnis verändert sich im Ver-lauf einer Aktivität kontinuierlich. Neuromuskuläre Aktivität und biomechanische Faktoren beeinflus-sen sich gegenseitig. Veränderungen im Verhältnis zur Umgebung und in den biomechanischen Be-ziehungen aufgrund von Veränderungen der rota-torischen Komponenten oder der Bewegungsrich-tung der Gelenke erfordern eine Anpassung der neuromuskulären Aktivität, selbst wenn das Ziel der Bewegung oder Aufgabe sich nicht ändert. Die neuromuskuläre Aktivität hängt vom Ausgangs-punkt der Bewegung ab: Beim Einnehmen einer stehenden Haltung macht es also durchaus einen großen Unterschied, ob man dazu von einem nied-rigen, weichen Sofa aufsteht oder von einem Bar-hocker herabsteigt. Wenn man im Stehen oder Sitzen den Ellbogen flektiert, wird diese Bewe-gung primär vom M. biceps bewerkstelligt. Befin-

2.2 Intervention–ÜberlegungenundAuswahl

Alle oben beschriebenen Abweichungen erschwe-ren oder verhindern normale Gewichtsverlagerung, Gleichgewicht und Haltungsänderung. Die Behand-lung zielt darauf ab, die Störungen, also die Über-empfindlichkeit und Unbeweglichkeit des Fußes zu beseitigen, die Muskellänge und -flexibilität so-wie die posturale Kontrolle, und hier insbesondere die Stabilitätskomponenten, in unterschiedlichen Situationen zu verbessern. All dies muss in Aktivi-täten integriert werden, bei denen die Gewichts-belastung eine Rolle spielt, wobei die Gewichts-belastung allmählich zunehmen und die aktive Bewegung des Fußes variiert werden sollte. Bei-

spiele für solche Aktivitäten sind der Übergang vom Sitzen zum Stehen über einen oder beide Füße, der Übergang vom kontrollierten Stehen zum Sitzen, der Übergang vom Stehen zum Schrittstand, das Gehen in verschiedene Richtungen, das Herab-steigen von einer erhöhten Sitzhaltung (auf einem Bein oder auf beiden Beinen), Treppensteigen etc. Die Wiederherstellung des dynamischen Zusam-menspiels von Fuß, Knie und Hüfte ist von aus-schlaggebender Bedeutung für die Fähigkeit des Patienten, das Gleichgewicht zu halten und sich zu bewegen.

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det sich der Arm dabei jedoch oberhalb der Schul-ter oder führt man diese Bewegung aus, während man auf dem Rücken liegt und den Arm nach oben ausstreckt, übernimmt der M. triceps die Rolle des Agonisten, da unter diesen Umständen eine stär-kere exzentrische Kontrolle erforderlich ist.

Die für eine Beckenkippung erforderliche neuro-muskuläre Aktivität ist bei jeder Körperhaltung an-ders, weil sich mit dem sich verändernden Verhält-nis zwischen Schwerkraft und Unterstützungsfläche auch die biomechanischen Relationen ändern. Aus diesem Grund findet beim Sitzen, beim Übergang vom Sitzen zum Stehen, beim Stehen, beim Über-gang vom Sitzen zur Rückenlage und in der Rücken-lage eine jeweils unterschiedliche neuromuskuläre Aktivität statt. Unter Bewegungsanalyse versteht man die detaillierte Analyse einer Bewegung wäh-rend sämtlicher (Übergangs-)Phasen einer Aktivi-tät, auf deren Grundlage man Hypothesen darüber aufstellen kann, wie der Patient die neuromuskuläre Aktivität bei funktionellen Handlungen rekrutiert. Zusammen mit einer Analyse der Leistungsfähigkeit des Patienten, wozu auch eine Befundaufnahme und Evaluierung der perzeptiven und kognitiven Funkti-onen gehört, bildet die Bewegungsanalyse den Aus-gangspunkt für das Clinical Reasoning.

Merke:Posturale Sets beschreiben, in welchem Verhältnis  die einzelnen Körpersegmente zu einem bestimm-ten  Zeitpunk  zueinander  stehen.  Bewegung  kann als  kontinuierliche  Veränderung  von  posturalen Sets beschrieben werden.

Wenn die Filmaufnahme einer Bewegung in Stand-bilder zerlegt wird, repräsentiert jedes Bild ein an-deres posturales Set. Eine Analyse der posturalen Sets gibt Aufschluss über:– den Einfluss der Schwerkraft;– das Verhältnis zur Unterstützungsfläche;– die Ausrichtung;– die Bewegungsmuster;– die neuromuskuläre Aktivität.

Kliniker neigen dazu, Grundstellungen zu analy-sieren, Menschen bewegen sich jedoch von Stel-lung zu Stellung, d. h. sie bewegen sich durch die einzelnen Stellungen hindurch und befinden sich meistens „zwischen“ verschiedenen Grundstellun-gen. Zu den Grundstellungen gehören Sitzen, Stehen, Standschritt sowie Rücken- und Bauchlage. Zu den wichtigsten Aspekten der Grundstellungen gehö-ren Symmetrie bzw. Asymmetrie (z. B. beim Stand-schritt) und die Gewichtsverteilung. Unter postu-ralen Sets versteht man sämtliche Variationen, die

innerhalb einer Grundstellung möglich sind, sowie die Übergänge zwischen verschiedenen Stellungen.

Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen posturaler Kontrolle und posturalen Sets. Die Ana-lyse der posturalen Sets einer funktionellen Akti-vität ermöglicht es dem Therapeuten, die Verän-derungen in der Ausrichtung „der Reihe nach“ zu beobachten, und Hypothesen über die einer Bewe-gung zugrunde liegenden neuromuskulären Akti-vität aufzustellen. Ob diese Hypothesen zutreffen oder nicht, stellt sich erst im Verlauf der Behand-lung heraus: Verbessert sich der Zustand des Pati-enten durch die gewählten Interventionen, deutet dies auf die Richtigkeit der Hypothesen hin. Führen die gewählten Interventionen jedoch nicht zu einer Verbesserung der motorischen Kontrolle, müssen sowohl die Interventionen als auch die Hypothesen einer nochmaligen Prüfung unterzogen werden. Der Therapeut muss also die Interventionen konti-nuierlich auf die Reaktionen des Patienten und die auszuführenden Bewegungen abstimmen.

Bei der Behandlung muss darauf geachtet wer-den, dass posturale Sets zielgerichtet eingesetzt werden, d. h. die Anforderungen, die ein bestimm-tes posturales Set an einen Patienten stellt, dürfen dessen Fähigkeiten nicht übersteigen. Welche pos-turalen Sets gewählt werden, hängt einerseits da-von ab, inwieweit der Patient sein Gleichgewicht kontrollieren kann und in welchem Verhältnis sich sein Körper zur Unterstützungsfläche befindet und andererseits von der auszuführenden Aktivität oder Aufgabe. Wenn der Patient eine geringe posturale Kontrolle, eine flektierte asymmetrische Körperhal-tung, eine falsche Ausrichtung oder eine vom Nor-malen abweichende Tonusverteilung aufweist, wird er nicht in der Lage sein, eine geeignete Aktivität zu rekrutieren, um mit der Umgebung zu interagieren bzw. auf die Umgebung zu reagieren. Shumway-Cook u. Woollacott (2006) beschreiben eine ideale Ausrichtung beim Stehen wie folgt: „(...) muscles throughout the body, not just those of the trunk, are tonically active to maintain the body in a narrowly confined vertical position during quiet stance. Once the centre of gravity moves outside the narrow range defined by the ideal alignment, more muscular effort is required to recover a stable position“. Bei einer op-timalen oder idealen Ausrichtung müssen wir un-abhängig davon in welchem posturalen Set wir uns befinden, zur Erhaltung der Stabilität nicht mehr Kraft aufwenden als unbedingt nötig. Eine ungeeig-nete oder falsche Ausrichtung hat zur Folge, dass ein unzweckmäßiges Rekrutierungsmuster beibe-halten und auf diese Weise verhindert wird, dass der Patient seine Reaktion an die Umgebung anpas-sen kann. Sahrmann (1992) weist darauf hin, dass normales neuromuskuläres Zusammenspiel, Mus-

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kelgleichgewicht und adaptive Muskelaktivität eine gute Ausrichtung unterstützen und eine gute Ausrichtung wiederum eine normale adaptive neu-romuskuläre Aktivität begünstigt.

Welche neuromuskuläre Aktivität für eine selek-tive Bewegung erforderlich ist, hängt davon ab, in welchem posturalen Set man sich befindet. Ändert sich die biomechanische Ausrichtung, ändert sich auch die neuromuskuläre Aktivität.

AnalysevonGrundstellungenundposturalenSets

Voraussetzung für den Erfolg einer Behandlung und die Motivation des Patienten ist, dass die als Inter-vention gewählten posturalen Sets den spezifischen Problemen des Patienten entsprechen. Vor- und Nachteile, Variierbarkeit und Schwierigkeitsgrad eines posturalen Sets müssen unter Berücksichti-gung der motorischen Fähigkeiten des Patienten beurteilt werden. Gleichgewicht und Bewegung re-sultieren aus der Interaktion vieler Muskelgruppen und ihrer exzentrischen und konzentrischen Akti-vität als Agonisten, Antagonisten und Synergisten. Es ist nicht möglich, die Muskelaktivität vollstän-dig (d. h. sämtliche Aktivität in allen Muskeln wäh-rend aller Phasen einer Handlung) zu analysieren, und das gesamte Ausmaß der Variabilität in Worte

zu fassen. Es ist jedoch durchaus möglich, die we-sentlichen Eigenschaften und Qualitäten einer Kör-perhaltung herauszuarbeiten und zu beschreiben. Im Folgenden werden die Grundstellungen Stehen, Sitzen, Rückenlage und Seitenlage in ihren Grund-zügen dargestellt. Alle anderen Haltungen können nach diesem Muster analysiert werden.

Stehen

Diese Grundstellung ist vor allem durch die Exten-sion von Rumpf, Kopf, Hals und Beinen gekenn-zeichnet. Diese selektive Extension basiert auf dem Zusammenspiel der Rumpfmuskulatur, der Kernstabilität und der für das Gleichgewicht ver-antwortlichen Muskelaktivität der Beine. Freihän-diges Stehen ist ein aktiver Vorgang, der posturale Tonus ist relativ hoch, die Unterstützungsfläche relativ klein. Die Schultern sind leicht protrahiert, aber relativ entspannt, die Arme hängen locker herab (Abb. 2.15 a–b). Die Rotation der Arme hängt von der individuellen biomechanischen Ausrich-tung und neuromuskulären Aktivität ab, insbeson-dere im Bereich des Rumpfes und des Schultergür-tels. Eine Zunahme der Extension von Thorax und Schultergürtel führt zu einer stärkeren Außenrota-tion der Arme, wohingegen aktive Protraktion und Flexion eine stärkere Innenrotation bewirken. Ste-

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Abb. 2.15a–b  Grundstellung beim Stehen.

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hen ist generell eine Haltung, die die Extension be-günstigt. Bei guter Ausrichtung wirkt sich der Ein-fluss der Schwerkraft positiv auf den posturalen Tonus und die posturale Kontrolle aus.

VorteilePosturale Sets im Stehen bieten unzählige Varia- tionsmöglichkeiten; die Fußposition kann verän- dert werden, der Patient kann unter Verwendung von beweglichen oder unbeweglichen Hilfsmitteln von vorn, von hinten oder von der Seite abgestützt werden, sodass er gefahrlos seine motorische Kont- rolle erforschen kann. Alle Veränderungen verur-sachen neuromuskuläre Anpassungen. Die Plat-zierung der Arme beeinflusst die tonale Aktivi-tät im Körper: Wenn der Winkel zwischen Arm und Rumpf mehr als 90° beträgt, führt dies zu ei-ner besseren Fazilitation der Rumpfextension. Die Arme können auf unterschiedliche Weise bzw. in unterschiedlicher Höhe platziert werden. Der ak-tive Einsatz eines Armes oder beider Arme kann sich, je nachdem wie die Arme eingesetzt werden, sowohl positiv als auch negativ auf die posturale Kontrolle auswirken (Slijper u. Latash 2000, Jeka 1997, Jeka u. Lackner 1994), wie in Abb. 2.16 a–b, Abb. 2.17 a–c, Abb. 2.18 a–b und Abb. 2.19 zu sehen ist.

Zwei mögliche posturale Sets im Stehen sind das Stehen mit parallel ausgerichteten Füßen und der Schrittstand. Der Übergang vom ersten dieser bei-den Sets zum zweiten entspricht der Gewichtsver-lagerung beim Gehen. Durch das Üben dieser bei-den posturalen Sets kann der Patient lernen, sowohl die Gewichtsverlagerung als auch den Übergang von der Stand- zur Schwungphase (auch bei gleichzei-tiger Richtungsänderung) besser zu beherrschen.

Veränderungen der Hüftrotation erfordern eine veränderte neuromuskuläre Aktivität; in physi-ologischer Hinsicht kann eine Außenrotation im Standbein die Abduktion und Extension unter-stützen und so die Stabilität fördern. Das „Loslas-sen“ bzw. die exzentrische Aktivierung der Hüft- extension/-abduktion/-außenrotation erleichtert die Einleitung der Schwungphase. Wenn der Pati-ent über ein gewisses Maß an posturaler Kontrolle verfügt, sich in der Behandlungssituation einiger-maßen sicher fühlt und bereit ist, seine Möglich-keiten zu erforschen, sind im Grunde alle Voraus-setzungen gegeben, um sowohl die distale als auch die proximale Ausrichtung therapeutisch zu be-handeln und erfolgreich zu korrigieren. Dabei ist es wichtig, dem Patienten auf adäquate und ge-eignete Weise Hilfestellung zu leisten, z. B. im Be-reich der Knie, sodass er die Rumpfkontrolle oder

Abb.  2.16a–b  Die  Abbildung  zeigt  eine  laterale  Ge-wichtsverlagerung. Der Arm ist auf Schulterhöhe abdu-ziert, während die Patientin einen Ball über eine Fläche 

rollt. Wenn die Patientin keinen Druck auf den Ball aus-übt, nehmen die Anforderungen an Extension und Stabi-lität auf der Seite zu, die das Gewicht trägt.

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die Bewegung des Beckens mit oder ohne Fazilita-tion erfahren und entwickeln kann. Die Verwen-dung von Hilfsmitteln, z. B. eine in ihrer Höhe ver-stellbare Liege (Abb. 2.20 a–d), die vor, hinter oder neben dem Patienten aufgestellt wird, erleichtert bzw. ermöglicht das aktive Variieren und Auspro-bieren verschiedener Sitz- und Standpositionen. Der Patient sollte darin unterstützt werden, Erfah-rungen mit dem Variieren der exzentrischen Kont- rolle und dem Abstufen von Bewegungen in unter-schiedliche Richtungen zu sammeln. Exzentrische Muskelaktivität scheint sowohl eine kräftigende Wirkung zu haben als auch zu einer effizienteren Generalisierung (Carry-over-Effekt) beizutragen, sodass Muskelarbeit und funktionelle Aktivitäten besser variiert werden können (Patten et al. 2004). Krafttraining führt zu einer signifikanten Verbesse- rung der Synaptogenese auf den Motoneuronen im Rückenmark und scheint sich nicht negativ auf die Spastizität auszuwirken (Spastizität im Sinne der Definition von Pandyan et al. 2005; vgl. Kap. 1.3). Patten et al. (2004) weisen außerdem darauf hin, dass das Training von Fertigkeiten in Kombination mit einem aufgabenspezifischen Training die ak-tivitätsabhängige kortikale Reorganisation verbes-sert. Die Behandlung sollte also zielgerichtet, spe-zifische Aspekte des Krafttrainings berücksichtigen

Abb. 2.17a–c  Die Anforderungen an posturale Stabili-tät und Orientierung nehmen weiter zu, wenn die Arme  aktiv sind.

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Abb. 2.18a–b  Die Einbeziehung der Wand kann dabei helfen, die Arme richtig zu platzieren. Die Patientin muss sowohl den Körper als auch die Arme stabilisieren, um ihr posturales Set aufrechtzuerhalten und sich gleichzei-tig bewegen zu können.a  Mehr  Außenrotation  des  Armes  im  Schultergelenk, kombiniert  mit  Extension  im  Ellbogengelenk  und  Pro-

traktion der Schulter verbessert  die abdominale Aktivie-rung als Teil der posturalen Kontrolle. Verbesserte pos-turale Kontrolle erhöht die Stabilität des Schultergelenks und des Armes.b Verbesserte posturale Kontrolle und Stabilisierung des linken Armes erleichtern die Bewegungsfreiheit für die Funktionen des rechten Armes.

Abb. 2.19  Fast alle täglichen Aktivitäten erfordern eine permanente posturale Kontrolle.

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Abb. 2.20a–b  Die Patientin setzt sich auf eine relativ hohe  Bank.  Sie  muss  sich  dabei  stabilisieren  und  über das Standbein bewegen. Diese Situation stellt in Bezug auf Abduktion und Außenrotation spezifische Anforde- rungen an die Hüfte, die das Gewicht trägt, um das Be-cken auf die Bank zu heben. Außerdem müssen die einzel- nen Körpersegmente aufeinander abgestimmt werden. c Die  Rotationskomponenten  können  variiert  werden, um die Anforderungen an posturale Kontrolle, Gleichge-

wicht und Bewegung zu verändern, sowohl beim Über-gang vom Stehen zum Sitzen als  auch beim  Übergang vom Sitzen zum Stehen. d Posturales Set bei erhöhter Sitzhaltung. Diese Haltung erfordert eine hohe Beckenmobilität (Bewegung des Be-ckens in Relation zu den Hüften und der Lendenwirbel-säule), erleichtert jedoch den Übergang vom Stehen zum Sitzen und umgekehrt.

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Abb. 2.21a–d  Sich im Stehen an- oder auszuziehen ist eine gewöhnliche, alltägliche Aktivität. a Die Patientin balanciert auf dem rechten Bein, während sie die Hose über das linke Bein zieht. Dabei handelt es sich um eine komplexe perzeptive, kognitive und senso-motorische Aktivität, die eine Problemlösung und eine kontinuierliche Anpassung an die Verlagerung der klei-nen Unterstützungsfläche verlangt. b Die Patientin hängt ihre Hose an einen Haken in Schul-terhöhe. Sie muss den Haken im Raum lokalisieren, eine Problemlösung  für  diese  Aufgabe  finden,  ihr  Gewicht verlagern und gleichzeitig  ihre posturale Stabilität auf-

rechterhalten, um dem Arm die für das Aufhängen der Hose nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen.c Beim Anziehen des Pullovers schiebt die Patientin ihren Arm und ihre Hand in den Ärmel, d. h. Arm und Hand füh-ren eine aktive (Extensions-)Bewegung aus. d Während sie sich den Pullover über den Kopf zieht, ist ihre  Sicht  behindert  und  die  Integration  somatosenso-rischer Inputs erschwert die posturale Kontrolle. Die Be-deutung der sensomotorischen Anpassung, die nötig ist, um die posturale Kontrolle aufrechtzuerhalten, nimmt zu. Die Körpersegmente werden aufeinander abgestimmt.

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(exzentrisch) und kontextbasiert sein. Diese Kom-bination ist am besten geeignet, um die Alltags-funktion des Patienten zu verbessern.

Posturale Sets im Stehen haben oft eine moti-vierende Wirkung, da sie es dem Patienten leicht machen, seinen Körper bzw. das Verhältnis seines Körpers zur Umgebung bewusst wahrzunehmen. Stehen hat außerdem eine positive Wirkung auf die orthostatische Kontrolle des Blutdrucks, die Blut-versorgung sowie die Funktion von Lunge, Darm und Blase.

NachteileManche Patienten haben einen sehr niedrigen pos-turalen Tonus und daher bereitet es ihnen Schwie-rigkeiten, sich gegen die Wirkung der Schwerkraft aufzurichten. Der Gebrauch von Hilfsmitteln, um sich abzustützen oder anzulehnen, kann dazu füh-ren, dass ungeeignete aktive Flexorkomponenten rekrutiert werden, die es dem Patienten zusätzlich schwerer oder sogar unmöglich machen, mit dem Einfluss der Schwerkraft zurechtzukommen und eine gute posturale Kontrolle zu entwickeln. Un-sicherheit kann diese Flexorstrategien weiter ver-stärken.

Bei posturalen Sets im Stehen kann es sinnvoll oder sogar erforderlich sein, dass der Therapeut die Hilfe eines zweiten Therapeuten oder eines Assisten- ten in Anspruch nimmt, um die Behandlungssitua- tion so zu gestalten, dass der Patient in die Lage ver- setzt wird, eine posturale Aktivierung zu entwickeln. Die Verwendung eines „standing frame“ oder eines vergleichbaren Hilfsmittels kann in manchen Fällen angebracht sein. Zu beachten ist dabei, dass der Pa-tient vollständig aufgerichtet sein, d. h. eine verti-kale Ausrichtung von 90° haben muss, um den pos-turalen Tonus und die von der Unterstützungsfläche (den Füßen) ausgehende Aktivität zu fazilitieren.

Sitzen

Wesentliche Merkmale dieser Grundstellung sind Rumpfextension, Kernstabilität sowie Ausrichtung von Kopf und Hals in Extension und angemessene Bauchmuskelaktivität. Die Hüften befinden sich in einer Position biomechanischer Flexion, aber die Stabilität beim Sitzen hängt vom Zusammen-spiel der neuromuskulären Aktivierung von Exten-sion/Abduktion/Außenrotation und Flexion ab. Die Oberschenkel ruhen auf der Liege und bilden ei-nen Bezugspunkt für den Rumpf. Die Komponen-ten der Hüftrotation können variieren, aber die op-timale neuromuskuläre Aktivität als Grundlage für die Stabilität ist eher durch Außen- als durch In-nenrotation gekennzeichnet (Abb. 2.22 a–b). Abb. 2.22a–b  Grundstellung beim aufrechten Sitzen.

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2 Physiotherapie

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Wenn sie nicht aktiv sind, ruhen die Arme in ad-duzierter Haltung, die Rotation hängt vom neuro-muskulären und biomechanischen Verhältnis von Thorax, Kopf, Hals und Schultergürtel ab. Sitzen ist für viele Aktivitäten eine funktionelle Position, die dem Therapeuten viele Handlings- und Variations-möglichkeiten eröffnet.

VorteileJe nachdem, welche neuromuskuläre Aktivität der Therapeut fazilitieren will, können posturale Sets im Sitzen nahezu unendlich variiert werden: Auf-rechtes oder geneigtes Sitzen, mehr oder weniger rotiert, nach hinten oder nach vorne gebeugt, auf hohen oder niedrigen Sitzgelegenheiten, auf der Sitzfläche oder auf der Kante eines Stuhls, auf un-terschiedlichen Sitzgelegenheiten (z. B. Bett, Liege, verschiedene Stühle und Hocker) von unterschied-licher Textur und Festigkeit, auf dem Boden. Postu-rale Sets im Sitzen können in Relation zur Aufgabe variiert werden, abhängig davon, wo und in wel-che Richtung die folgende Bewegung des Patienten gehen soll, d. h. abhängig von der Richtung der zu entwickelnden Aktivität bzw. der dazu erforder-lichen neuromuskulären Aktivität (Abb. 2.23 a–b, Abb. 2.24 a–b und Abb. 2.25 a–b).

Position, Haltung und Aktivität der Arme beein-flussen die neuromuskuläre Aktivität im Rumpf. Je nachdem, auf welche Weise die Arme unterstüt-zend eingesetzt werden, kann dadurch die postu-rale Kontrolle des Patienten vermindert werden, da sich die Bezugspunkte für die Gleichgewichtsreak-tionen von den Füßen (beim Stehen) bzw. dem Ge-säß und den Oberschenkeln (beim Sitzen) auf die Arme und die zur Unterstützung benutzten Hilfs-mittel verschieben (Jeka 1997, Jeka u. Lackner 1994; vgl Kap. 2.2.5). Arme oberhalb von 90° fazilitieren Rumpfextension und posturale Aktivierung. Wenn der Patient damit beginnen kann, das Gewicht der Arme zu übernehmen, werden posturale Stabilität und Kraft im gesamten Körper und in den Armen verstärkt, was erforderlich ist, wenn man beispiels-weise Teller in einen hohen Schrank einräumen oder einen Mantel auf einen Haken hängen will. Die Bewegung des Körpers in Relation zu stabilen Armen oder die Bewegung der Arme in Relation zu einem stabilen Rumpf fazilitiert das Zusammen-spiel von Stabilität und Bewegung, wodurch die posturale Kontrolle erleichtert wird (Abb. 2.26).

Posturale Sets im Sitzen können problemlos va-riiert und den einzelnen Behandlungsphasen ange- passt werden: Von einer in erster Linie mobilisie-

Abb. 2.23a–b  Erhöhte Adduktion der Hüften ist ein bei der Stabilisierung und Bewegung von Hüften und Becken häufig auftretendes Problem. a Erhöhte  Abduktion/Außenrotation  der  Hüften  kann Aufrichtung und posturale Kontrolle erleichtern und da-

mit auch das Zusammenspiel einzelner Körpersegmente. Eine größere und offenere Basis erlaubt eine größere Be-wegungsfreiheit proximaler Segmente. b Variation  der  Rotation  verlagert  das  Gewicht  auf  an-dere Bereiche und erhöht so die Stabilität.

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Abb. 2.24a–b  Selektive Bewegung des Beckens in Re-lation zu Hüften und Lendenwirbelsäule erfordert eine Aufrichtung von Rumpf, Kopf und Hals. Zu beachten ist die Stellung des Kopfes, wenn die Patientin den Rumpf 

flektiert. Wenn die Arme – wie abgebildet – auf einem Tisch oder einer Liege ruhen, ist eine größere Bewegung der Schultern erforderlich, um den Körper von der Liege wegzubewegen.

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Abb. 2.25a–b  Ein gutes posturales Set, um Kopf und Hals  zu  entspannen  und  das  Zusammenspiel  einzelner Körpersegmente  in  Bezug  auf  Aufrichtung  und  postu-rale  Kontrolle  zu  erleichtern,  ist  das  Sitzen  mit  auf  der Stirn abgelegtem Kopf. In einer klinischen Situation ist es 

wichtig, dem Patienten das aktive Sitzen zu erleichtern. Er darf dabei jedoch nicht seinen Tonus vermindern oder über  die  Stirn  Druck  ausüben,  da  dies  dem  Ziel  dieses posturalen Sets zuwiderlaufen würde. 

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renden Phase über eine Fazilitation der Aktivität bis hin zu einer Phase, in der sich der Patient ohne fremde Hilfe bewegt. Posturale Sets im Sitzen werden so an-gepasst, dass die neuromuskuläre Aktivität im Hin-blick darauf optimiert wird, welche Funktion der Patient ausführen soll. So wird beispielsweise eine erhöhte Sitzhaltung mit hoher Extensorenaktivität gewählt, wenn die posturale Kontrolle beim Auf-stehen fazilitiert werden soll. Für andere Aufgaben kann z. B. eine frühe Aktivierung/Stimulierung/Fazi-litation der Arm- und Handfunktion sinnvoll sein.

Posturale Sets im Sitzen werden eingesetzt:– um das Becken in Relation zum Rumpf und zur

Unterstützungsfläche zu mobilisieren;– um die segmentale lumbale Extension zu er-

leichtern, wodurch Komponenten der Hüftsta-bilität und der abdominalen Aktivität fazilitiert

werden, was sich positiv auf die posturale Kont- rolle auswirkt und dafür sorgt, dass die Arme für andere Funktionen zur Verfügung stehen;

– um Bewegungsabläufe zu variieren, z. B. vom Sit-zen in die Rückenlage oder vom Sitzen zum Ste-hen;

– um die feinmotorische Aktivität der Hand bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der posturalen Aktivierung zu stimulieren und zu fazilitieren, oder um Arm und Hand einzusetzen, um die posturale Kontrolle zu fazilitieren;

– um beim Sitzen mit nach hinten abgelegtem Oberkörper Zugang zu einem steifen oder über-empfindlichen Fuß oder zu verkürzten Hüft- flexoren und -adduktoren zu haben, um eine Ver-besserung der Stabilität bei Haltungsänderun- gen und beim Stehen vorzubereiten (Abb. 2.27, Abb. 2.28 a–g).

Abb. 2.26  Die Patientin stabilisiert sich über den linken Arm, während sie ihr Gewicht verlagert und sich dreht, um mit der rechten Hand nach einem Buch zu greifen, das sich links von ihr befindet. Der linke Arm wird so zu einem Teil  der  Unterstützungsfläche,  wodurch  sie  sich  weiter nach links bewegen kann. Die Bewegung kann auf diese Weise über die ursprünglichen Grenzen der Stabilität hi- naus reichen. Sie richtet sich in Relation zu ihrem Arm und Rumpf auf, stabilisiert sich über die  linke Seite und be-wegt sich in Relation zu ihrem linken Arm. Der Arm bietet ihr eine dynamische Unterstützung; sie bewegt sich vom Arm weg bzw. auf den Arm zu. Dies erfordert eine gute Mobilität, Stabilität und Koordination im Schultergürtel und zwischen den einzelnen Körpersegmenten.

Abb.  2.27  Sitzen  mit  nach  hinten  abgelegtem  Ober-körper. Wichtig ist hierbei eine gute Ausrichtung in Re-lation  zur  Unterstützungsfläche.  In  Abhängigkeit  von der Anpassungsfähigkeit der Hüftflexoren des Patienten kann diese Position mit stärkerer oder geringerer Unter- stützung  des  Rückens  eingenommen  werden.  Durch  diese Haltung wird eine exzentrische Dehnung der Wir-belsäulenextensoren  erreicht.  Guter  Kontakt  zwischen dem  Lendenwirbelsäulenbereich  und  den  unterstüt-zenden Hilfsmitteln erleichtert die Aktivierung des un-teren  Rumpfes,  um  die  Position  anzupassen  oder  um sich aufzurichten.

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Abb. 2.28

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NachteileAufgrund der größeren Unterstützungsfläche beim Sitzen neigen Patienten mit einem niedrigen postu-ralen Tonus dazu, den Oberkörper zu flektieren und in dieser flektierten Haltung zu verharren, da ihnen keine andere Strategie zur Verfügung steht. Bei Pa-tienten, die sich bereits an diese Haltung gewöhnt haben, kann sich dieser Zustand sogar noch ver-schlimmern, da die Verkürzung der Muskeln, ein-mal in Gang gesetzt, immer weiter voranschreitet.

Je nachdem, auf welche Weise Hilfsmittel in der Behandlung eingesetzt werden, können sie den posturalen Tonus des Patienten unterschiedlich beeinflussen. Hilfsmittel wie ein Tisch, eine Liege, ein Stock, ein Kissen oder eine Wand vergrößern die Unterstützungsfläche. Wenn sich der Patient auf ein Hilfsmittel aufstützt, werden die Anforderungen an die posturale Kontrolle reduziert. Wenn sich der Pa-tient in ein Hilfsmittel hineindrückt, einen großen

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Abb. 2.28a–g  Ausziehen im Sitzen. Gleichgewicht, Be-wegung,  Gewichtsverlagerung,  Rotation,  Aufrichtung und posturale Kontrolle spielen eine Rolle beim An- oder Ausziehen im Sitzen. Zu beachten ist die Extension der Arme, wenn Pullover und T-Shirt ausgezogen werden (c, e, f) – da der Rumpf stabil ist, sind die Arme frei und kön-nen leicht in die Kleidungsstücke hinein- bzw. aus ihnen herausgeführt werden.

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Teil seines Gewichts an ein Hilfsmittel abgibt oder die Unterstützungsfläche fixiert, erhöht sich die Flexorenaktivität. Der Einsatz von Hilfsmitteln kann jedoch sinnvoll sein, um Bezugspunkte für eine Be-wegung zu schaffen oder die Arme zu entlasten und so die posturale Kontrolle zu fazilitieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, wie die Hilfs-mittel beschaffen sind und aus welchem Material sie bestehen. Eine weiche Sitzfläche wird in stär-kerem Maß die Flexoren-/Adduktoren-/Außen-rotationsaktivität stimulieren als eine harte Sitz-fläche, insbesondere im Bereich des Beckens, der Hüfte und des unteren Teils des Rumpfes. Ein ho-hes Hilfsmittel (z. B. eine Wand, ein langer Stock, ein hoher Tisch oder ein hoher Schrank) ist besser geeignet, um die Extensorenaktivität zu fazilitie-ren, als ein niedriges Hilfsmittel. Natürlich ist auch hier entscheidend, auf welche Weise die Hilfsmit-tel eingesetzt werden.

Rückenlage

Charakteristisch für posturale Sets in der Rücken-lage ist eine Extension in allen Körperregionen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Pati-ent überhaupt in der Lage ist, Hüften, Lendenwir-belsäule, Hals und Schultergürtel exzentrisch zu strecken. Die Unterstützungsfläche ist sehr groß, der Schwerpunkt befindet sich weit unten. Wenn der Patient in der Lage ist, sich der Unterlage an-zupassen und die Muskelspannung „loszulassen“, ist der posturale Tonus sehr niedrig. Kann sich der Patient im Becken-/Hüftbereich nicht entspannen, d. h. vermindert sich der Tonus der Hüftflexoren nicht, führt dies meist dazu, dass das Becken nach vorne gekippt wird. Wenn der Patient jedoch lernt, seine Hüftflexoren und Lendenextensoren exzent-risch zu strecken, werden sich sein Kontakt zur Un-terstützungsfläche und seine Ausrichtung sowohl in Ruhestellung als auch beim Ausführen von Akti-vitäten verbessern. Bei dieser Ausrichtung tendie-ren die Extremitäten dazu, leicht abduziert, außen-rotiert und extendiert zu sein. Normalerweise sind die Unterarme proniert und die Ellbogen leicht flektiert. Wir neigen dazu, uns in Bezug auf die Um-gebung anhand der Stellung unserer Handflächen zu orientieren (Abb. 2.29).

VorteilePosturale Sets in der Rückenlage können auf un-terschiedliche Weise variiert werden: Beide Beine können angewinkelt und in verschiedenen Entfer-nungen von den Hüften aufgestellt werden. Das Ausmaß der Hüft- und Knieflexion bestimmt, wie schwer oder leicht sich das Becken bewegen lässt.

Wenn die Füße in geringer Entfernung von den Hüften aufgestellt werden, können die biomecha-nischen Verhältnisse so genutzt werden, dass die durch eine Beckenkippung hervorgerufene Verlage-rung des Gewichts auf die Füße fazilitiert werden kann (Abb. 2.30 a). Hüftextension und posturale Aktivierung können verbessert werden, indem die Knie so weit nach vorne gebracht werden, dass sie sich genau über den Füßen befinden (Abb. 2.30 b).

Abb. 2.29  Posturales Set in der Rückenlage.

Abb.  2.30a–b  Liegen  mit  angewinkelten  Beinen  und Beckenkippung,  um  die  posturale  Aktivierung  zu  er-leichtern. Zu beachten sind in den beiden Abbildungen die Position der Knie  in Relation zu den Füßen und die daraus resultierende Hüftextension und Aktivierung des unteren Rumpfes.a Die Knie bewegen sich vorwärts über die Füße, um die selektive Beckenkippung zu ermöglichen.b Selektive Beckenkippung setzt Stabiliät in den Sprung- und Kniegelenken voraus und die Aktivierung der ischio-kruralen, der glutäalen und abdominalen Muskulatur.

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Je weiter die Füße von den Hüften entfernt auf-gestellt sind, desto schwieriger wird die Rekrutie-rung der Becken- und posturalen Aktivität, da sich die biomechanische Ausrichtung ändert. Der Ober-körper kann mit Kissen abgestützt werden, um die exzentrische Streckung der Rumpfextensoren zu erhöhen und auf diese Weise die abdominale Akti-vität zu fazilitieren. Das Zusammenspiel von Abdo-minal- und neuromuskulärer Extensorenaktivität ist von entscheidender Bedeutung für die selektive Beckenaktivität, Mobilität und Stabilität. Unter der Voraussetzung, dass der Patient mit dieser Position gut zurechtkommt, sind posturale Sets in der Rü-ckenlage gut geeignet, um eine spezifische Mobi-lisierung von verkürzten oder inaktiven Muskeln herbeizuführen. In therapeutischer Hinsicht kön-nen die verschiedenen Phasen des Übergangs vom Sitzen zur Rückenlage bzw. umgekehrt ausgenutzt werden, um eine abgestufte Koordination von Flex-oren-, Extensoren-, Abduktoren-, Adduktoren- und Rotationskomponenten innerhalb einzelner Kör-persegmente und zwischen verschiedenen Kör- persegmenten zu fazilitieren, um die Kontrolle über Stabilität und Bewegung zu verbessern.

NachteileIn der Rückenlage ist der posturale Tonus norma-lerweise sehr niedrig, weshalb es in dieser Position relativ schwierig ist, gegen die Schwerkraft gerich-tete Aktivitäten zu initiieren. Die große Kontaktflä-che hat zur Folge, dass viel Reibung und Trägheit überwunden werden müssen. Um in der Rücken-lage aktiv zu sein und sich zum Sitzen aufrichten zu können, muss der Patient entweder seine posturale Aktivität einigermaßen kontrollieren können oder es muss die Möglichkeit bestehen, dass diese Akti-vität fazilitiert werden kann. Der Übergang von der Rückenlage zum Sitzen ist ein sehr komplexer Vor-gang, der, wenn er vom Patienten ohne fremde Hilfe bewerkstelligt werden soll, eine gewisses Maß an posturaler Kontrolle sowie die Fähigkeit erfordert, die Flexoren-, Extensoren-, Abduktoren-, Adduk-toren- und Rotationskomponenten dieser Bewe-gung graduell zu verändern. Oft werden Patienten, sogar in den frühen Stadien nach einer ZNS-Läsion, dazu aufgefordert, diese Bewegung weitgehend ohne fremde Hilfe und ohne Positionsanpassungen durchzuführen, was einen großen Einfluss auf die Wahl der kompensatorischen Strategien auch bei anderen Funktionen hat. Aus diesem Grund ist die Rückenlage meist nicht die erste Wahl in der Behandlung von Patienten mit einem niedrigen posturalen Tonus, sondern ist eher geeignet, um Patienten mit einem höheren Maß an Hintergrund-aktivität im Hinblick auf spezifische Komponenten von Stabilität, Bewegung und Kraft zu trainieren.

Bei manchen Patienten erhöht sich der Tonus in der Rückenlage. Sie sind nicht in der Lage, sich der Unterstützungsfläche anzupassen. Sie empfin- den diese Position als unbequem, fühlen sich un-sicher und verletzlich. Weitere Gründe für die Erhöhung des Tonus können eine verminderte segmentale Mobilität und ein mangelhaftes Zusam- menspiel einzelner Körpersegmente sein, weshalb der Patient nicht oder nur in unzureichendem Maß in der Lage ist, sich zu bewegen und das Gewicht zu verlagern, um seine Haltung zu verändern. Ge-wicht und Reibung sind Faktoren, die die Bewe-gung erschweren, auch im Hinblick auf das thera-peutische Handling.

Seitenlage

Posturale Sets in der Seitenlage zeichnen sich durch eine Extension der unteren Seite, die das Gewicht trägt, und eine stärker flektierte Ausrichtung der oberen Seite aus (Abb. 2.31 a–e). Aufgrund der In-teraktion mit der Unterstützungsfläche werden im Hinblick auf die Stabilität an die untere Seite hö-here Anforderungen gestellt.

VorteilePosturale Sets in der Seitenlage können variiert wer- den, indem die Rotationskomponenten innerhalb des Rumpfes oder der Extremitäten verändert oder indem mehr oder weniger Kissen verwendet wer-den, um die Stabilität zu erhöhen (Abb. 2.31 a–e). Posturale Sets in der Seitenlage ermöglichen eine hohe Mobilität zwischen proximalen Körperseg-menten und die Fazilitation der Platzierung von Oberarm oder Oberschenkel, um die posturale Sta-bilität und Kraft zu erhöhen. Bei Schlaganfallpati-enten kann das Liegen auf der stärker betroffenen Seite aufgrund der Gewichtbelastung und der tak-tilen Inputs Mobilität und Stabilität stimulieren und die posturale Aktivität sowohl zentraler als auch proximaler Segmente fazilitieren. Das Liegen auf der weniger stark betroffenen Seite kann die Stabilität dieser Seite erhöhen, die dadurch besser als Hintergrund für Bewegungen der betroffenen Gliedmaßen dienen kann.

NachteilePosturale Sets in der Seitenlage sind relativ insta-bil, da die Kontaktfläche lang und schmal ist und sich der Schwerpunkt weiter oben befindet als bei der Rückenlage. In der Behandlung können sich da- raus gewisse Schwierigkeiten ergeben, z. B. kann der oben liegende Teil des Schultergürtels insta-bil sein, weil der Patient nicht in der Lage ist, sich an die Unterstützungsfläche anzupassen oder die

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2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl

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untere Seite nicht exzentrisch strecken kann. Die stabile Position der Schulterblätter hängt von der Aktivierung der Interkostalmuskulatur und der Muskulatur des Rumpfes ab. Wenn diese über-dehnt oder inaktiv sind, „rutschen“ die Schulter-blätter auf dem Rumpf nach oben und erschweren so die selektive Platzierung der Arme. Die Stabili-tät der Seitenlage kann verbessert werden, indem Hilfsmittel (z. B. eng zusammengerollte Handtü-cher) unter den Rumpf geschoben werden bzw. den Rumpf von vorn und von hinten abstützen. Der Oberschenkel kann mithilfe von Kissen stabilisiert werden (Abb. 2.31c).

Bei der Behandlung muss der Therapeut darauf achten, dass die gewählten posturalen Sets den spezifischen Problemen des Patienten entspre-chen, d. h. er muss seine Entscheidungen selbstkri-tisch hinterfragen. Entscheidende Fragen bei der Wahl posturaler Sets sind:– Kann die Position des Patienten leicht variiert

werden, um eine geeignete Rekrutierung der neuromuskulären Aktivität herbeizuführen?

– Können die posturalen Sets beim graduellen Übergang von einer Position zu einer anderen leicht variiert werden?

– Wie viel Anstrengung kostet ein posturales Set den Patienten?

– Welche motorischen Strategien werden fazili-tiert?

– Verliert der Patient die motorische Kontrolle wie-der, die er in einer bestimmten Position gewon- nen hat, wenn er in eine andere Position wech-selt?

Bei unseren alltäglichen Aktivitäten bewegen wir uns kontinuierlich von einer Position in eine an-dere. Es kommt relativ selten vor, dass wir eine be-stimmte Position über einen längeren Zeitraum bei-behalten. Dies muss in der Therapie berücksichtigt werden: Der Patient soll lernen, die Kontrolle über seine Bewegungen wiederzuerlangen, und nicht eine statische Aktivität aufrechtzuerhalten. Für die-sen Lernprozess ist es wichtig, dass die Behandlung vor allem auf Funktionalität ausgerichtet ist.

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eAbb. 2.31a–e  Seitenlage mit verschiedenen unterstüt-zenden Hilfsmitteln.