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Einführung in dieGeschichte des Christentums

vonFranz Xaver Bischof, Thomas Bremer,Giancarlo Collet und Alfons Fürst

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www.fsc.org

MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

FSC® C083411

®

Sonderausgabe(durchgesehener Nachdruck der Ausgabe 2012)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Finken & Bumiller, StuttgartSatz: dtp studio mainz | Jörg EckartKarten: Kartografie + Grafik, Klaus-Peter Lawall, UnterensingenHerstellung: Herstellung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-451-31210-6

E-ISBN 978-3-451-81210-1

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Die vorliegende Einführung in die Geschichte des Christentums trägt der Veränderung der Studiengänge und der Lehrformen an den Universitä-ten im deutschsprachigen Raum im Zuge des Bologna-Prozesses Rech-nung. Sie soll in der Anfangsphase des Studiums in die Kirchenge-schichte einführen und aus historischer Perspektive einen Zugang zur Theologie eröffnen. Einerseits ist dafür das Grundwissen zu allen wich-tigen Aspekten der Kirchengeschichte zur Verfügung zu stellen, ande-rerseits sind die wesentlichen Zusammenhänge und Entwicklungsli-nien in der vielfältigen Geschichte der christlichen Kirchen aufzuzeigen; auch die weltweite Vielfalt des gegenwärtigen Christentums ist zu be-rücksichtigen. Die vorliegende Einführung verbindet daher elementare Informationen mit tieferen Einsichten in die kirchen- und theologiege-schichtlichen Entwicklungen in ihren jeweiligen historischen Bedingt-heiten und vielfältigen Verzweigungen.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurde für diese Einführung in die Ge-schichte des Christentums ein neuartiges Konzept entwickelt. Neben dem Faktor ‚Zeit‘, der naturgemäß historische Darstellungen gliedert, steht explizit die Größe ‚Raum‘ als Strukturprinzip von Geschichtsschrei-bung, die, wie in der Einleitung dargestellt, unsere Wahrnehmung und Beschreibung der Welt wohl noch stärker prägt als die Zeit (Kapitel 1). Als zweite Besonderheit ist die Darstellung nicht chronologisch, sondern nach Themen gegliedert. Die Hauptthemen der Entwicklung von Chris-tentum und Kirche werden jeweils von ihren Anfängen bis in die Gegen-wart in der Vielfalt ihrer Auffächerungen in verschiedenen christlichen Traditionen verfolgt: Im Ersten Teil werden die Mission und Ausbreitung

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Vorwort

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des Christentums in seinen unterschiedlichen Räumen und Epochen bis hin zu seiner weltweiten Ausdifferenzierung in der Neuzeit darge-stellt (Kapitel 2–7). Im Zweiten Teil geht es um die vielfältigen Verfl ech-tungen des christlichen Glaubens und seiner kirchlichen Institutionen in die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten (Ka-pitel 8–12). Der Dritte Teil behandelt die innere Geschichte des Christen-tums im Blick auf die Entwicklung von Lebensformen, Kirchenstruktu-ren und Theologien und mündet in einen Ausblick auf die gegenwärtige Vielfalt der Weltkirche (Kapitel 13–20).

Aus dieser Anlage sollen die wichtigsten Aspekte des Christentums in ihrer zeitlich wie räumlich kontingenten Gestaltwerdung sichtbar wer-den. Aus der immensen Fülle des historischen Materials werden regio-nale und epochale Zusammenhänge und Entwicklungslinien aufgezeigt und sowohl Kontinuitäten als auch Wandlungen und Brüche transparent gemacht, wobei zwangsläufi g Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Durch Querverweise sind alle Teile eng miteinander verzahnt. Wer will, kann auch die einer Epoche zugeordneten Kapitel nebeneinander lesen und sich so die einzelnen Facetten der Geschichte des Christentums im Altertum, im Mittelalter oder in der Neuzeit vor Augen führen.

Mit dieser Anlage dient das Buch einem dreifachen Zweck: Als Lehr-buch stellt es das Grundwissen in Kirchengeschichte zur Verfügung, das in allen theologischen Studiengängen erforderlich ist. Die Karten, Bil-der und Quellentexte, auf die mit Siglen (K, B, Q) verwiesen wird, sol-len es ermöglichen, das Buch auch als Studienbuch zu benützen und das Dargestellte einerseits an den Quellen zu vertiefen, andererseits von die-sen her zu erschließen. Und schließlich kann es als Überblickswerk fun-gieren, dem die Autoren ein neues Muster für die Darstellung der Ge-schichte des Christentums zugrunde gelegt haben.

Im Register sind zu den Personennamen die Lebens- und Regie-rungsdaten (soweit vorhanden) notiert, um den Text von Zahlen zu ent-lasten. Sämtliche geographischen Namen und Bezeichnungen sind in ein Ortsregister aufgenommen, aus dem man sich Informationen zu einzelnen Orten und Regionen der Christentumsgeschichte beschaffen kann. Und schließlich ist das Buch mit einem ausführlichen und detail-lierten Sachregister versehen, mit dessen Hilfe der Darstellung zahlrei-che Einzelinformationen entnommen werden können. Das Literaturver-

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Vorwort

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zeichnis enthält nur einige wenige Titel zu einzelnen Aspekten, die zum Weiterlesen anregen sollen. Für die Erarbeitung dieser Einführung in die Geschichte des Christentums wurden natürlich die vielfachen Forschun-gen herangezogen, die es zu den unterschiedlichen Bereichen der Kir-chengeschichte gibt, besonders die im Literaturverzeichnis vermerkten Bücher. Auf Einzelhinweise in Fußnoten haben wir bewusst verzichtet, weil das für ein Buch dieser Art nicht sinnvoll wäre, doch fühlen wir uns den Mühen und Ergebnissen der kirchenhistorischen Forschung dank-bar verpfl ichtet.

Dem Verlag Herder, vertreten durch den Lektor im Programmbereich Theologie, Dr. Bruno Steimer, gebührt unser herzlicher Dank für die ausgezeichnete Betreuung der aufwändigen Drucklegung und die enga-gierte Zusammenarbeit. Besonders hervorzuheben ist die Bereitschaft des Verlags, Karten im Blick auf die Zwecke dieses Buches neu zeich-nen zu lassen. Beim Korrekturlesen des Manuskripts und der Druckfah-nen haben die Studentischen Hilfskräfte Anne Achternkamp, Christine Kerber und Christian Pelz tatkräftig mitgewirkt, und auch für die Er-stellung der Register sei ihnen herzlich gedankt.

Franz Xaver BischofThomas BremerGiancarlo Collet

Alfons Fürst

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

EinleitungKapitel 1Christentum in Raum und Zeit (Thomas Bremer) . . . . . . . . . . . . . . . 191. Geschichtskonstruktion und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . 202. Räume und Raumvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233. Die Räume des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264. Raum und Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295. Staat und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326. Kirchengeschichte und Theologie (Alfons Fürst). . . . . . . . . . . . 37

Erster TeilMission und Ausbreitung des ChristentumsRäume – Epochen – Christentümer

Kapitel 2Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum(Alfons Fürst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung . . . . . . . . . . . . . 412. Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513. Methoden der Ausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544. Bekehrungsmotive und Erfolgsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

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Inhalt

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Kapitel 3Die Ausbreitung des östlichen Christentums (Thomas Bremer) . . . . 621. Die ostkirchlichen Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632. Die Ausbreitung der ostkirchlichen Traditionen . . . . . . . . . . . 66

Kapitel 4Die Ausbreitung des westlichen Christentums(Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771. Die Völkerwanderung und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772. Die Christianisierung der Franken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803. Die irische Kirche und ihre Festlandmission . . . . . . . . . . . . . . 844. Die angelsächsische Kirche und ihre Festlandmission . . . . . . 875. Die Christianisierung Nord- und Osteuropas . . . . . . . . . . . . . . 926. Die Expansion des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Kapitel 5Die weltweite Expansion des Christentums in der Frühen Neuzeit(Giancarlo Collet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991. Die Anfänge weltweiter christlicher Mission . . . . . . . . . . . . . . 1002. Motive der europäischen Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023. Die Missionierung der Neuen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084. Methoden der Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135. Die Anfänge der christlichen Mission in Nordamerika . . . . . . 1166. Die Anfänge der christlichen Mission in Afrika . . . . . . . . . . . 1217. Christliche Missionsversuche in Süd- und Ostasien . . . . . . . . 124

Kapitel 6Weltweites Christentum in der Neuzeit (Giancarlo Collet) . . . . . . . . . 1281. Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1282. Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323. Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1374. Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1475. Das katholische Missionsverständnis der Gegenwart . . . . . . . 156

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Inhalt

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Kapitel 7Christliche Einigungsbestrebungen (Thomas Bremer) . . . . . . . . . . . . . 1611. Unionsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1612. Die ökumenische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Zweiter TeilDie Christen in der WeltKirchen – Staaten – Gesellschaften

Kapitel 8Die Christen in Staat und Gesellschaft der Antike(Alfons Fürst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731. Koexistenz und Konfrontation in vorkonstantinischer Zeit . . . 1732. Die Konstantinische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1863. Staat und Kirche in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Kapitel 9Christliche Gesellschaftsordnung im abendländischen Mittelalter(Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2061. Grundzüge der gesellschaftlichen und politischen

Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2062. Der Bund des Papsttums mit den Franken . . . . . . . . . . . . . . . . 2083. Die karolingische Kirchenherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2134. Das ottonische Königtum und die deutsche Reichskirche . . . 2185. Das gregorianische Papsttum und der Investiturstreit . . . . . . 2216. Die Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt . . 2297. Die Kreuzzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Kapitel 10Kirche, Staat und Glaubenswelten in Reformation und Früher Neuzeit (Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2431. Die Ausgangslage im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2432. Der reformatorische Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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Inhalt

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3. Die Politisierung der Reformation und die einsetzende Konfessionsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

4. Das Konfessionelle Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2695. Staatskirchentum im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . 282

Kapitel 11Kirche, Staat und Gesellschaft in der westlichen Moderne(Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2861. Revolutionärer Umbruch und Neuordnung der kirchlichen

Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2862. Christliche oder säkulare Gesellschaftsordnung? . . . . . . . . . . 2963. Konkordatspolitik und die Herausforderung des

Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3044. Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat . . . . . . . . . . . . . . . 313

Kapitel 12Kirche und Staat im Osten (Thomas Bremer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3171. Das „byzantinische Jahrtausend“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3172. Die östliche Kirche unter islamischer Herrschaft . . . . . . . . . . 3203. Staat und Kirche in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3224. Die orthodoxen Kirchen in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . 3255. Kirche und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Dritter TeilDie innere Entwicklung des ChristentumsLebensformen – Kirchenstrukturen – Theologien

Kapitel 13Frühchristliche Lebensformen und christliches Mönchtum(Alfons Fürst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3311. Wandercharismatiker und Ortsgemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . 3312. Die Entstehung des Mönchtums in der Spätantike . . . . . . . . . 3333. Das Mönchtum in den östlichen Kirchen (Thomas Bremer) . . 341

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Inhalt

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Kapitel 14Abendländisches Mönchtum und Ordensleben in Mittelalterund Neuzeit (Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3501. Von der Vielzahl der Regeln zur Vorherrschaft der

Benediktsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3502. Das westliche Mönchtum als Träger der abendländischen

Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3543. Die Frage nach der rechten Nachfolge Christi. Neue Orden

unter veränderten Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3604. Krise und Erneuerung des Ordenslebens in Humanismus,

Reformation und Früher Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3695. Kontinuitätsbruch, Krisen und Neuaufbrüche von der

Aufklärung bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Kapitel 15Die Entstehung der kirchlichen Ämter und Strukturen(Alfons Fürst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3851. Die kirchlichen Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3852. Die Communio-Struktur und Communio-Praxis der

Alten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3983. Die Entstehung der Metropolien und Patriarchate . . . . . . . . . . 4044. Kirchenspaltungen (Thomas Bremer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Kapitel 16Papsttum und Episkopat in der katholischen Kirche (Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4181. Die Entstehung des Papsttums (Alfons Fürst) . . . . . . . . . . . . . . 4182. Päpstliche und episkopale Gewalt im Frühen Mittelalter . . . . 4253. Machtfülle des Papsttums: Der Papst als Haupt der

abendländischen Kirche und Christenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4314. Papale und konziliare Ekklesiologie im Widerstreit . . . . . . . . . 4385. Römische Zentralisierung und gegenläufi ge Tendenzen:

Papsttum und Episkopat in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . 4446. Die Durchsetzung des päpstlichen Absolutismus im

19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452

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Inhalt

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7. Päpstlicher Universalismus im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 4598. Neue Akzente des Zweiten Vatikanischen Konzils . . . . . . . . . . 461

Kapitel 17Die Ökumenischen Konzilien der Alten Kirche (Alfons Fürst) . . . . . . . 4671. Synodalpraxis und Ökumenische Konzilien . . . . . . . . . . . . . . . 4672. Trinität: Die Konzilien von Nizäa 325

und Konstantinopel 381 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4733. Christologie: Die Konzilien von Ephesus 431

und Chalzedon 451 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4864. Streit um Chalzedon: Die Konzilien von

Konstantinopel 553 und 680/81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

Kapitel 18Wachsende Entfremdung zwischen Ost und West: Der Bilderstreitund der Konfl ikt um den Patriarchen Photius (Thomas Bremer) . . . . 4951. Der Ablauf der Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4962. Gründe, Hintergründe und Folgen des Bilderstreits . . . . . . . . 5003. Der Konfl ikt um den Patriarchen Photius (Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

Kapitel 19Die Konzilien des abendländischen Mittelalters und der Neuzeit(Franz Xaver Bischof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5121. Von der synodalen Praxis in der westlichen Christenheit

zu den päpstlichen Konzilien des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . 5122. Das Vierte Laterankonzil 1215 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5153. Die päpstlichen Konzilien des späten Mittelalters . . . . . . . . . . 5174. Das Konzil steht über dem Papst: Die Reformkonzilien

des späten Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5225. Katholische Selbstbehauptung und konfessionelle

Abgrenzung: Das Konzil von Trient 1545–1563 . . . . . . . . . . . . 5326. Die einseitige Ausrichtung der Kirche auf den Papst:

Das Erste Vatikanische Konzil 1869/70 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5437. Innerkirchliche Erneuerung und Versöhnung mit der

Moderne: Das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965 . . . . . . . 550

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Inhalt

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Kapitel 20Vielfalt der Weltkirche (Giancarlo Collet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

AnhangLiteratur1. Gesamtdarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5852. Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5863. Weltweites Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5874. Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5875. Quellenwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5896. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590

Quellen, Karten und Bilder1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5932. Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5963. Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599

Register1. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6012. Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6113. Begriffe und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620

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Christentum in Raum und Zeit

Wir kennen das Christentum heute als eine Weltreligion. Das bedeu-tet nicht nur, dass sich eine große Zahl von Frauen und Männern zum Christentum bekennt, sondern vor allem, dass es überall in der Welt Christen und Kirchen gibt, also Gruppen von Menschen, die sich auf Jesus von Nazaret berufen, der in den ersten drei Jahrzehnten unserer Zeitrechnung in Palästina gelebt und gewirkt hat. Wenn wir uns mit der Geschichte des Christentums beschäftigen, stehen wir also vor dem Phänomen seiner Ausbreitung: Eine sehr kleine, überschaubare Gruppe von Menschen hat begonnen, diesen Jesus nach seinem Tod als den auf-erstandenen Messias, den Gesandten Gottes zu glauben und zu verkün-digen. Zugleich haben sich die Anhänger Jesu entschlossen, ihre Bot-schaft nicht nur an ihre jüdischen Glaubensgenossen, sondern an alle Menschen zu richten. In der Folge dieser Entscheidung breitete sich das Christentum rasch aus, zunächst im Mittelmeerraum und in den öst-lich davon liegenden Gebieten Asiens. Mit der wachsenden politischen Bedeutung (Mittel-)Europas am Übergang vom Altertum zum Mittel-alter wurde dann dieser Kontinent christlich, in einer westlichen und in einer östlichen Variante. Gleichzeitig verloren andere Gebiete durch das Vordringen des Islam ihre christliche Prägung, insbesondere der Nahe Osten und Nordafrika, für einige Jahrhunderte auch die Iberische Halbinsel. Das vorderasiatische Christentum, das sich bis Zentralasien und sogar bis Indien und China ausgebreitet hatte, verlor an Bedeutung und verschwand weitgehend. Mit der weltweiten Expansion der europäi-schen Zivilisation in der Neuzeit gelangte auch das Christentum in alle Gebiete der Erde: Entdeckungsreisen und der damit zusammenhängen-

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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de Kolonialismus waren immer mit christlicher Mission verknüpft. In der Folge ist das Christentum heute nicht nur in Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, in Australien, in weiten Teilen Afrikas sowie in manchen Gebieten Asiens die vorherrschende Religion. Doch auch dort, wo andere Religionen dominieren, gibt es christliche Gemeinden. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass auf der Erde auch etliche Regionen zu fi nden sind, in denen es kein Christentum gibt.

1. Geschichtskonstruktion und Erinnerungskultur

Perspektiven und Deutung Die Geschichte der Ausbreitung des Chris-tentums lässt sich als ungeheure Erfolgsgeschichte lesen: Aus kleinen und bescheidenen Anfängen, die lokal begrenzt waren, ist rasch und nachhaltig eine Weltreligion und zugleich ein politisch und gesellschaft-lich wichtiger Faktor geworden. Diese Ausbreitungsgeschichte lässt sich allerdings auch ganz anders interpretieren, etwa als Unterdrückungsge-schichte, und solche Interpretationen werden immer häufi ger: Indigene Völker beklagen, dass mit dem Christentum nicht nur ihre alten Reli-gionen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen und Werte verändert und somit ihre Identität zerstört worden seien. Dem Christentum wird zudem vorgeworfen, durch die große Nähe zu Herrschaft und Macht wenigstens billigend an Ungerechtigkeit und Gewalt beteiligt gewesen zu sein. Die Intoleranz der christlichen Lehre gegenüber anderen Reli-gionen hat diese häufi g verdrängt. Die Unterdrückung aller anderen re-ligiösen Phänomene gehörte oft zum Programm der Christianisierung, wie es von den Akteuren und den Zeitgenossen verstanden wurde. Mit dem europäischen Christentum wurden auch seine Spaltungen expor-tiert, so dass bis dahin homogene Gesellschaften durch die Christiani-sierung in Glaubensauseinandersetzungen hineingezogen wurden und diese zu bestehen hatten. Die Rhetorik nicht nur radikaler Islamisten, in der die westlichen, vor allem die amerikanischen Truppen bei den mili-tärischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre im Nahen Osten als Kreuzfahrer bezeichnet werden, macht deutlich, wie tief historische Er-innerungen sitzen und die Interpretation gegenwärtiger politischer Er-eignisse steuern können.

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1. Geschichtskonstruktion und Erinnerungskultur

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Dieses Beispiel zeigt, dass sich historische Ereignisse und Prozes-se immer auch aus anderen Perspektiven sehen und zeigen lassen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Geschichte ein soziales Konstrukt ist, das zumeist eine praktische Absicht verfolgt. Es gibt nicht die Geschichte so, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke), ‚objektiv‘, sondern es gibt viele Arten, die Quellen und Zeugnis-se vergangener Ereignisse und Epochen zu interpretieren. Die Ausbrei-tung des Christentums als einzigartige Erfolgsgeschichte oder als Ka-tastrophe für indigene Völker und jahrhundertealte Kulturen: Jede der beiden Interpretationen lässt sich mit guten Gründen und Argumenten vertreten, dazu viele weitere, auch differenziertere. Jede schriftlich fi -xierte Geschichte muss deshalb kritisch gelesen werden; das gilt selbst-verständlich auch für die hier vorliegende.

Geschichte als Erinnerungskultur Allerdings versuchen Menschen und Gruppen immer wieder, die Geschichte in ihrem Sinne darzustellen und ihre Sichtweise zur einzig gültigen zu erklären. Ein Mittel, um das zu erreichen, ist die Erinnerungskultur: Man überlässt die Interpreta-tion der Vergangenheit nicht einfach sich selber, sondern versucht sie zu steuern. Insbesondere Akte der kollektiven Erinnerung dienen hier-zu, von denen das Christentum geradezu geprägt ist: Feiern, Gedenk-tage, Denkmäler sind ebenso wie Mythen, Legenden und Geschich-ten (im Sinne von Erzählungen) Instrumente der Erinnerungskultur. Auch hierfür ein Beispiel: Mit einiger historischer Wahrscheinlichkeit hat Martin Luther nie seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche von Wittenberg geschlagen (p Kap. 10.2). Doch gehört es zum festen Bestandteil christlicher, vor allem protestantischer Erinnerungskultur, dass dieses Ereignis so stattgefunden hat. Es gibt einen Tag, an dem die Erinnerung daran begangen wird (31. Oktober, Reformationstag), zahl-reiche bildliche Darstellungen, an der Tür der Kirche befi ndet sich heute ein Bronzerelief mit der Abbildung der Thesen, und auch der 2003 ent-standene Spielfi lm Luther zeigt die Szene eindrucksvoll. Ob der Thesen-anschlag historisch war oder nicht, ist ein relativ kleines und unwichti-ges Detail, zumal die Thesen ohne jeden Zweifel von Luther stammen und von ihm verbreitet wurden. Doch lässt sich daran einfach nachvoll-ziehen, wie auf ähnliche Weise auch bei anderen Ereignissen die Erin-

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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nerung kultiviert und damit in eine bestimmte Richtung gelenkt wer-den kann.

Geschichte als Konstruktion Das an diesem Beispiel Gezeigte lässt sich auch allgemein formulieren: Gewiss haftet Geschichte, auch die Geschichte des Christentums, an bestimmten Ereignissen der Vergan-genheit, die real stattgefunden haben. Das Geschehene als solches ist allerdings nicht mehr unmittelbar zugänglich, sondern nur noch im Medium von Quellen unterschiedlichster Art (vor allem schriftliche und bildliche Erzeugnisse, aber auch monumentale Denkmäler u. a.). Die-se Quellen sind nicht einfach Fakten oder Daten, sondern bereits ers-te Rezeption und Deutung des Geschehenen und bedürfen daher ih-rerseits der Deutung. In diesem Prozess interpretierender Rezeption entsteht Geschichte durch Refl exion auf nie objektive Zeugnisse unwie-derbringlich vergangener Ereignisse. Geschichtsdarstellungen sind da-bei immer Konstruktionen mit Hilfe bestimmter Modelle, zum Beispiel von Fortschritt oder Dekadenz, von Periodisierungen oder Zyklen oder von Entwicklungsprozessen. Während Ereignisse und Zusammenhän-ge der Gegenwart als unübersichtlich wahrgenommen werden, funktio-niert Geschichtsschreibung nach dem Prinzip der retrospektiven Ver-einfachung durch Selektion und Ordnung der Fülle der zur Verfügung stehenden Zeugnisse (die in verschiedenen Räumen und Epochen sehr unterschiedlich zahlreich sind). Auf diese Weise wird Geschichte kon-struiert und gibt es Geschichte nur im Modus solcher Konstruktionen. Moderne Geschichtsdarstellungen sind zwar bemüht, ihre Konstruktio-nen möglichst eng an den verfügbaren Quellen zu kontrollieren und hermeneutisch auf ihre Voraussetzungen und die leitenden Interessen der Historiker hin zu befragen. Gleichwohl sind sie – bewusst oder un-bewusst –, verglichen mit dem nicht mehr direkt zugänglichen histori-schen Ereignis, eine Konstruktion, mit der die Identität gegenwärtiger Kollektive (zum Beispiel der christlichen Kirchen) hergestellt und gesi-chert und grundlegende Überzeugungen formuliert und vermittelt wer-den sollen.

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2. Räume und Raumvorstellungen

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2. Räume und Raumvorstellungen

Spatial turn Betrachtet man die Geschichte des Christentums unter den genannten Voraussetzungen, so erscheinen manche Probleme und Phänomene in neuem Licht. Doch ist nicht nur Geschichte Konstruk-tion, sondern auch die konkreten (geographischen) Räume, in denen Geschichte, also historische Ereignisse und Abläufe, stattfand, sind Kon-struktionen. Die Geschichte einer Religion, die sich von einem konkre-ten Ort, nämlich Jerusalem, über die ganze Erde ausbreitet, kann daher nicht nur in Epochen eingeteilt, sondern muss auch unter dem Aspekt des Raumes betrachtet werden. Deswegen gehört es zu einer Geschich-te des Christentums, etwas über die Räume zu sagen. In den Sozialwis-senschaften spricht man vom spatial turn, also von der Hinwendung zu diesem räumlichen Aspekt, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Tatsächlich widmet man dem Phänomen ‚Raum‘ heute bei der Betrach-tung historischer Vorgänge mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Bei der Geschichte des Christentums ist das jedoch in besonderem Maße zu be-achten, weil es sich aus einer ursprünglich lokalen Richtung des palästi-nischen Judentums zu einer Weltreligion entwickelt hat. An verschiede-nen Orten kann es zur selben Zeit unterschiedliche Entwicklungsstufen des Christentums gegeben haben, und die Gegebenheiten eines Rau-mes wirkten auf die Ausbreitung des christlichen Glaubens zurück. Der Raum ist einerseits vorgegeben, doch wird er auch wahrgenommen und gestaltet.

Raum, Kultur, Inkulturation In diesem Zusammenhang ist die Frage der Inkulturation zu beachten, also die Frage danach, wie das Christentum mit Kulturen umgegangen ist, die es vorgefunden hat, und wie es sich zu ihnen verhalten hat. Schließlich ist das Christentum keine unveränder-liche Größe, die von außen in Räume eingedrungen ist, sondern es hat sich in diesen Räumen und unter den dort vorgefundenen Bedingungen und Gegebenheiten entwickelt, und es hat diese Räume auch seinerseits gestaltet. Damit ist nicht in erster Linie Kultivierung und landschaftliche Veränderung gemeint, wie sie etwa in christlichen Gebieten durch den Kirchenbau geschieht, sondern die Charakterisierung von geographi-schen Gebieten in religiöser Terminologie (etwa Bamberg als das ‚frän-

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kische Rom‘, die USA als ‚God’s own country‘, die Kennzeichnung ver-schiedener Orte mit traditionellem Katholizismus als ‚schwärzeste Stadt Deutschlands‘). Im Falle der Inkulturation ist vor allem in der Neuzeit zu beachten, dass das Christentum in einer bestimmten Prägung auf ande-re Kulturen und Religionen gestoßen ist. Nicht zuletzt das Christentum römisch-katholischer Tradition hat sich als europäische Religion verstan-den, war zumeist bereits von den Auseinandersetzungen mit der Refor-mation geprägt (gegenreformatorisch, oder nachtridentinisch, benannt nach dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert) und betrachtete sich als überlegene, weil einzig wahre Religion. Die Frage nach Dialog oder gegenseitigem Respekt stellte sich also wegen der Intoleranz der christli-chen Lehre gegenüber anderen Religionen nicht.

Tatsächlich ist das Christentum in dieser europäischen Prägung in andere Kulturen eingedrungen, hat sich an sie anzupassen versucht oder hat sie verdrängt. Doch dieser Prozess hatte auch seine Konse-quenzen für das Christentum. Man bedenke nur die Folgen, wenn man die Grundlagen des christlichen Glaubens in eine Sprache übersetzen möchte, die kein Wort für ‚Gott‘ kennt, wie das etwa im Japanischen der Fall ist. Es ist völlig unmöglich, dass es davon unberührt bleibt: Durch den Kontakt mit den anderen Kulturen musste sich auch das Chris-tentum notwendigerweise entwickeln und verändern. Die Redeweise vom Christentum als einer europäischen Religion muss dann modifi -ziert werden: Heute gibt es regional geprägte ‚Christentümer‘. In unse-ren Tagen leben die meisten Christen in Lateinamerika. Das Christen-tum wird mehr und mehr zu einer Religionsgemeinschaft, die die große Mehrheit ihrer Mitglieder in der südlichen, und das heißt: in der ärme-ren und religiös vielfältigeren Hemisphäre der Erde hat. All das hat Aus-wirkungen auf die konkrete Gestalt des Christentums und ebenso auf seine Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung.

Räume als Konstruktionen Auch die Raumvorstellungen, die wir in unseren Köpfen haben, sind Konstruktionen. Wie wir Räume sehen, ist nicht objektiv gegeben und unveränderlich, sondern wird durch unse-re Wahrnehmung bestimmt. Das lässt sich anschaulich an einer Kar-te zeigen, die 1541 von einem zu seiner Zeit bekannten Kartenmaler aus Genua namens Maggiolo erstellt wurde. K 01 Sie zeigt eine Sicht auf

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das Mittelmeer aus einer sehr ungewohnten Perspektive. Es ist deutlich, dass die Karte von einem Seefahrer stammt: Alle Küstenorte sind be-nannt, die See ist im Mittelpunkt, und an den entfernteren Landgebie-ten hat der Maler kein großes Interesse; die mitteleuropäischen Städte sind als Burgen stilisiert, die afrikanischen Orte als Zelte. Lediglich sei-ne Heimatstadt Genua ist deutlich hervorgehoben.

Wir nehmen heute das Mittelmeer als die Grenze zwischen Europa und Afrika wahr. Wir zählen Portugal, Spanien, Italien und Griechen-land zu Europa, ebenso Malta, während Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen als afrikanische Staaten betrachtet werden. Besonders deut-lich wird das an der Straße von Gibraltar, wo eine Meerenge von weni-gen Kilometern die beiden Kontinente trennt. Doch ließe sich das Mit-telmeerbecken auch als ein gemeinsamer Raum sehen, der durch das Meer und die anliegenden Küstengebiete gebildet wird, so wie es auf der Karte von Maggiolo dargestellt ist. Das Meer verbindet die Menschen, die an seinen verschiedenen Küsten leben, sie leben in ähnlichen klima-tischen Umständen, betreiben auf die gleiche Art Fischfang, bauen die gleichen Früchte an und gehören insofern zu einer Kultur, an den Nord-rändern des Mittelmeeres ebenso wie an seinen Südküsten. Tatsächlich war das die Wahrnehmung, die über viele Jahrhunderte vorherrschte: In der Antike, als das Christentum entstand, waren Africa und Europa die Bezeichnungen für die südliche und die nördliche Küste des Mittel-meeres, das als ein Raum, nämlich der des Imperium Romanum gese-hen wurde. Aus dieser Sicht, also wenn wir den Mittelmeerraum anders wahrnehmen würden, ließe sich mit ebenso großer Berechtigung von folgenden drei ‚Kontinenten‘ sprechen: einem europäischen Raum nörd-lich der Alpen, einem afrikanischen südlich der Sahara und eben dem Mittelmeerraum. Das zeigt uns die Karte aus dem 16. Jahrhundert, und sie zeigt, dass unsere heutige Sichtweise von der Grenze zwischen den Kontinenten nur eine von mehreren möglichen ist. Übrigens spricht vie-les dafür, dass wir eine solche Sichtweise hätten, wenn das nördliche Af-rika christlich geblieben und nicht islamisch geworden wäre.

Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass Räume immer Vorstellun-gen in unseren Köpfen sind, also Konstruktionen. Wir erkennen Din-ge in der Wirklichkeit wieder, weil wir sie wiederzuerkennen erwarten, weil man sie uns gesagt hat bzw. weil wir sie uns vorher zurechtgedacht

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haben. Aber mit ebenso großer Berechtigung könnte man sie auch an-ders sehen – es gibt keinen objektiven Grund für die eine oder die ande-re Wahrnehmung.

3. Die Räume des Christentums

Die eine Welt des antiken Christentums Wie angedeutet, hat das Chris-tentum seine Anfänge in Palästina. Es hat sich dann sehr bald im Mit-telmeerraum ausgebreitet, zunächst vor allem in den Städten. Dazu ge-hörten auch solche Gebiete, die heute nicht mehr christlich geprägt sind, etwa Nordafrika oder der arabische Raum. Wichtig ist, dass die Verbrei-tung an Verkehrswege, und zwar vor allem an Wasserwege gebunden war. Meere und Flüsse prägten also Räume, in denen sich das Christen-tum ausbreitete. Es konzentrierte sich über Jahrhunderte – von einigen Ausnahmen abgesehen – auf das Gebiet südlich der Alpen. Auch als es in unseren Breiten die ersten Christen gab, blieb sowohl im Bewusst-sein als auch in der theologischen Diskussion das Mittelmeerbecken der Raum des Christentums schlechthin. Lange Zeit war sein Bereich daher auch weitgehend faktisch (nicht programmatisch) mit dem Römischen Reich identisch, in dem es allmählich zur größten und wichtigsten Reli-gion wurde. Als das Imperium Romanum im 4. Jahrhundert geteilt wur-de, hatte das auch Auswirkungen auf die Kirche: Es entstand ein west-licher Reichsteil, in dem Latein gesprochen wurde, dessen wichtigster Ort Rom war und in dem lange Zeit instabile politische Verhältnisse herrschten, bis er schließlich im späten 5. Jahrhundert zerfi el. Und es gab das Oströmische (oder: Byzantinische) Reich mit der neu errichteten Hauptstadt Konstantinopel und relativ stabilen politischen Verhältnis-sen; immerhin existierte es mehr als tausend Jahre, bis zur Eroberung der Stadt durch die Osmanen 1453. Hier wurde vor allem Griechisch ge-sprochen, aber auch Syrisch und andere Sprachen. Dennoch war man sich bewusst, dass die Kirche in beiden Reichshälften ein und dieselbe war. Sie wurde vor allem durch die Einheit im Glauben zusammenge-halten, um den oft hart gerungen wurde, und durch die kirchliche Ge-meinschaft, die sich primär als Eucharistiegemeinschaft äußerte: Mit wem man gemeinsam die Eucharistie feiern konnte, mit dem gehör-

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3. Die Räume des Christentums

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te man zur einen Kirche Jesu Christi. Das konnte sich in einer konkre-ten gemeinsamen Feier manifestieren, in der Regel aber durch die Nen-nung von Bischöfen im eucharistischen Gebet, wie es ja heute noch der Fall ist, wenn etwa in der römischen Messe der Bischof von Rom und der Ortsbischof genannt werden.

Es muss hinzugefügt werden, dass sich das Christentum von seinen Anfängen an auch nach Osten, nach Asien ausgebreitet hat. Die syri-sche Kirche verbreitete sich bis nach Indien und China. Der vordringen-de Islam und später die Mongolenangriffe löschten dieses Christentum jedoch fast vollständig aus. In der Wahrnehmung der Reichskirche, also innerhalb des Römischen Imperiums, spielte dieses Christentum aber keine besondere Rolle, weil es sich östlich der Reichsgrenzen befand, im Perserreich und anderen, weit entfernten Gebieten, so dass man von Rom und Konstantinopel aus keinen Zugriff und keine Einfl ussmög-lichkeiten auf die Kirchen dort hatte. Die christliche Kirche war schon so stark Reichskirche geworden, dass man Christentum außerhalb der Grenzen nicht im gleichen Maße als dazugehörig wahrnehmen konn-te. Theologische Entwicklungen, in deren Verlauf die syrische Kirche in den Verdacht der Häresie geriet, unterstützten das Phänomen noch, dass man sie nicht als Teil der einen Kirche betrachtete.

Die zwei Welten des mittelalterlichen Christentums Dieses Bewusstsein von Zusammengehörigkeit der westlichen und der östlichen Kirche im Reich änderte sich entscheidend durch die Allianz, die die römischen Bischöfe mit den Franken schlossen und die durch die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 deutlich wurde. Jetzt entstand nördlich der Alpen ein bislang kaum beachteter Machtfaktor, ein christliches Reich, das beanspruchte – und zwar mit Erfolg –, auf Kirchenangele-genheiten Einfl uss zu nehmen. Gleichzeitig drang aus dem arabischen Raum der Islam vor und verbreitete sich in den südlichen Mittelmeer-raum und von dort nach Südwesteuropa. So entstanden zwei neue Räu-me: ein westchristlicher, der sich auf das westliche Europa südlich und nördlich der Alpen erstreckte, aber nicht mehr auf Nordafrika, das is-lamisch geworden war. Es war das Gebiet der Latinitas, also dort, wo unter den Gebildeten Latein gesprochen wurde, das auch die Sprache der Liturgie war und blieb. Zugleich entstand ein ostchristlicher Raum,

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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der sich ebenfalls nach Norden verschob: Das südöstliche Mittelmeerge-biet wurde islamisch, dafür wurden die Gebiete um das Schwarze Meer und nördlich davon, heute die Ukraine und Russland, christlich, und zwar in der ostchristlichen, griechischen Tradition, weil sie von Byzanz (Konstantinopel) aus missioniert wurden. Hier gab es keine einheitli-che Sprache wie im Westen, da sich in Kirche und Liturgie von Anfang an das Prinzip der Volkssprache durchsetzte. Das Mittelmeerbecken als der erste Raum des Christentums wurde durch ‚Europa‘ abgelöst, aller-dings in einer sprachlichen, kulturellen und kirchlichen Zweiteilung. Diese Teilung bleibt bis heute bestimmend. Die meisten Gymnasias-ten können im schulischen Geschichtsunterricht etwas von den Ausein-andersetzungen zwischen Papst und Kaiser und von der Reformation hören, aber in der Regel nichts davon, was gleichzeitig im Byzantini-schen Reich oder in Russland geschehen ist. Die politische Trennung im 20. Jahrhundert hat das eher noch verstärkt: Wir nehmen bis heute nicht oder nur sehr eingeschränkt wahr, was östlich (oder südlich) von uns ge-schieht, im kirchlichen Bereich ebensowenig wie im profanen.

Die vielfältige Welt des neuzeitlichen Christentums Über Jahrhunder-te blieb das Christentum zu seinem größten Teil auf den europäischen Raum beschränkt und entwickelte sich hier. Auch fand im 16. Jahrhun-dert die Reformation hier statt, in deren Folge sich das westliche Chris-tentum in mehrere Konfessionen spaltete. Eine Öffnung dieses christ-lichen Raumes geschah erst mit den Entdeckungsreisen, vor allem mit der Entdeckung Amerikas und der Missionierung des Kontinents. In den neuen Erdteilen entstand ein außereuropäisches Christentum, das anfangs noch lange Zeit von Europa abhängig war, dann jedoch eigene Strukturen und Schwerpunkte entwickelte. Hier lässt sich nur in Stich-worten andeuten, welche Folgen das hatte: Veränderungen in der Li-turgie; die Problematik der Mission im Zusammenhang mit dem Ko-lonialismus; das Abrücken vom Eurozentrismus; das Entstehen einer weltweiten ökumenischen Bewegung; das Entstehen von regionalen ‚Christentümern‘. Das Christentum wurde bunter und vielfältiger, als es jemals war. Gesellschaftliche Entwicklungen trugen dazu bei: die Er-fi ndung des Buchdrucks, die es ganz einfach machte, neue Gedanken schnell und in großer Anzahl zu verbreiten; neue Medien, die Kommu-

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4. Raum und Grenze

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nikation davon unabhängig machen, dass die Gesprächspartner am glei-chen Ort sind; einfachere Möglichkeiten, auch große Entfernungen in kürzester Zeit zu überwinden. All das sind Faktoren, die das Christen-tum in der Neuzeit stark veränderten. Auch innerhalb der katholischen Kirche, die ja oft als monolithischer Block erscheint, wurde deutlich, dass es regionale Spezifi ka gibt, die sich etwa in theologischen Entwick-lungen, der Bedeutung von nationalen und regionalen Bischofskonfe-renzen oder Veränderungen in der Liturgie zeigten. Bei allem Blick für lokale Besonderheiten und je eigene Traditionen nimmt das Christen-tum heute aber die Welt als seinen Raum wahr, es sieht sich nicht mehr auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Die Kirchen sind insofern ein global player, ja sie haben sogar durch ihre historische Entwicklung die Globalisierung in gewisser Weise vorweggenommen.

Es sei nochmals festgehalten: Geschichte geschieht immer in kon-kreten Räumen, die von den Akteuren wahrgenommen werden und umgekehrt wieder auf die historischen Abläufe und deren Wahrneh-mung einwirken. Wichtig ist zu verdeutlichen, dass alle Räume wie auch alle Geschichte Konstruktionen sind; sie sind veränderlich und unterliegen der Interpretation. Wir brauchen sie, um unsere Wahrneh-mung der Welt zu gliedern und um auf diese Weise die Welt verstehen zu können.

4. Raum und Grenze

Grenzen als Konstruktionen Räume werden gemeinhin durch Grenzen defi niert. Das können Staatsgrenzen oder andere politische Grenzen im modernen Sinne sein, aber auch etwa natürliche Grenzen wie Flüsse, Küsten und Gebirge, oder Sprach- und Kulturgrenzen. Doch auch Gren-zen sind in aller Regel Konstruktionen, die uns helfen, die Welt einzu-teilen und damit zu erfassen. In fast allen Fällen ließen sich Grenzen mit guten Gründen auch anders setzen. Wie das Beispiel der Mittelmeerkarte gezeigt hat, K 01 gilt das sogar für ,natürliche‘ Grenzen: Das Mittelmeer lässt sich als gemeinsamer Raum oder als Kontinente trennende Grenze konstruieren. Ein Fluss etwa kann Städte, Regionen und Länder teilen, er kann sie aber auch miteinander verbinden. Die Alpen als der große

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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europäische Gebirgszug haben natürlich Grenzcharakter, doch fi nden sich etwa nördlich und südlich von ihnen ähnliche Siedlungs- und Be-wirtschaftungsformen; sie haben also auch verbindenden Charakter.

Bei politischen und natürlichen Grenzen scheint ihr Verlauf in der Regel klar. Doch zeigt sich, dass wir auch hier zu Konstruktionen grei-fen müssen. Über lange Jahrhunderte, bis in die Neuzeit hinein, waren feste Staatsgrenzen unbekannt. Die Linien, mit denen heute in Atlanten zur Geschichte die Grenzen des Römischen Reiches, des Heiligen Rö-mischen Reiches deutscher Nation und anderer Imperien eingezeichnet sind oder die die Verbreitung des Christentums illustrieren sollen, ent-sprechen nur in den wenigsten Fällen einer Realität. Staatliche Macht erstreckte sich bis in die Neuzeit nur auf die Gebiete, in denen man Mi-litärposten unterhalten und Steuern einziehen konnte. Historisch lässt sich hier in den meisten Fällen kaum von festen Grenzen sprechen, son-dern eher von Grenzräumen, die mal dem einen, dann wieder dem an-deren Herrschaftssystem zuneigten oder zugehörten.

Ganz ähnlich verhält es sich etwa bei kulturellen oder religiösen Grenzen. In diesen Fällen werden eigentlich nicht die Räume durch Grenzen festgelegt, sondern umgekehrt die Grenzen durch die Räume bestimmt. Bei den Grenzen des deutschen Sprachgebiets muss man zu-erst den Raum bestimmen, also die Gebiete, in denen deutsch gespro-chen wird, und kann dann die Grenzen dieses Raumes festlegen. Ähnli-ches gilt für Konfessionsgrenzen. In solchen Fällen werden die Grenzen von den Inhalten oder den Besonderheiten des Raumes bestimmt. Es kann also je nachdem, ob man vom Raum oder von dessen Charakteris-tika ausgeht, ein Perspektivenwechsel stattfi nden. Steht der Raum im Vordergrund, lautet die Frage, die durch die Bestimmung einer Gren-ze beantwortet werden soll: Wie?, also etwa: Wie wird in diesem Gebiet gesprochen? Geht es um die Sache, antwortet die Grenze auf die Frage: Wo?, in unserem Beispiel also: Wo wird deutsch gesprochen?

Grenzräume Nun zeigt es sich allerdings, dass es bei solchen Gren-zen zahlreiche Überschneidungen gibt, also Gebiete, in denen deutsch und noch eine andere Sprache gesprochen wird, oder in denen Katholi-ken und Orthodoxe leben. Die Funktion einer Grenze, einen Raum von einem anderen abzugrenzen, ihn zu bestimmen, funktioniert in sol-

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4. Raum und Grenze

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K01 Maggiolo, Portolan-Karte (1541)

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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chen Fällen offensichtlich nicht. Man muss hier ebenfalls von Grenz-räumen oder Grenzbereichen sprechen.

Grenzen können also sehr häufi g einen bestimmten Raum gar nicht abgrenzen, und sie stellen auch sehr oft keine Trennung dar, sondern ha-ben immer auch eine verbindende Funktion. Die Grenze ist ja der Ort der Berührung. Wenn etwa ein Fluss eine Grenze bildet, so ist doch dieses Gewässer zugleich der Ort, an dem Schiffe landen und es Kontakt mit der anderen Seite geben kann. Das gilt auch und gerade für kulturelle und religiöse Grenzen. Vor allem an den Rändern religiöser Grenzräume gab es stets Phänomene, die die Durchgängigkeit der Grenzen verdeut-lichten. Einige Beispiele: Katholiken und Protestanten in Deutschland teilten sich Kirchengebäude und lernten in verschiedenen Gebieten, ins-besondere in den konfessionell nicht eindeutig geprägten Städten, mit-einander zu leben; orthodoxe Theologen übernahmen – häufi g nach Studienaufenthalten im Westen – katholische oder evangelische Denk-modelle, um die Lehre ihrer eigenen Kirche zu systematisieren; bei den Muslimen in Südosteuropa lassen sich manche Spuren der christlichen Volksfrömmigkeit fi nden, bis hin zu Elementen einer Marienverehrung bei bosnischen Muslimen. Das heißt nicht, dass die Konfessionen oder gar die Religionen problemlos miteinander leben konnten; wir wissen schließlich ja auch von vielen Konfl ikten und Beispielen für Intoleranz und Gegensatz. Aber es zeigt, dass die religiösen Grenzen in Europa kei-neswegs undurchlässig und unüberwindbar waren. Das wurden sie zu-meist erst dann, wenn sie mit anderen Grenzen, insbesondere – in der Neuzeit – mit nationalen Grenzen, zusammenfi elen. In diesen Fällen wurde das religiöse Bewusstsein instrumentalisiert, zum Teil auch erst geweckt, um eine Homogenisierung zu erreichen.

5. Staat und Nation

Staat und Herrschaftsbereich Wenn man geschichtliche Abläufe auch in ihrer räumlichen Dimension betrachtet, muss der Staat eine zentrale Rolle spielen. Doch hat sich der Begriff des Staates im Laufe der Geschich-te erheblich gewandelt. Historische Gebilde, die wir mit diesem Wort be-zeichnen, haben wenig mit dem modernen Staat zu tun. Daher ist es oft

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5. Staat und Nation

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angemessen, etwa von Herrschaftssystemen oder Herrschaftsformen zu sprechen. Die Elemente, mit denen wir in der Moderne einen Staat defi -nieren – etwa festes Territorium, Staatsvolk, funktionierende Ausübung von Macht, Verwaltung –, lassen sich bei den historischen Staatsgebil-den nur selten fi nden. Die Frage nach dem Territorium ist schon erläu-tert worden. Für Staaten in der Geschichte ist es zudem typisch, dass sich das Territorium häufi g ändert. Das lässt sich auch in der Gegenwart se-hen, wenn man etwa bedenkt, welche Grenzen Deutschland allein im 20. Jahrhundert hatte, und sich Karten mit den Grenzen von 1914, 1918, 1937, 1949 und 1990 betrachtet. Vormoderne Staaten verfügten aber in der Regel nicht über ein festes Staatsgebiet. Die Peripherien von Staats-gebieten hatten immer ausgefranste und unklare Ränder. Auch bedeute-te etwa die (militärische) Kontrolle über eine Stadt noch nicht, dass die-se Stadt und ihr Einzugsgebiet zum festen Herrschaftsgebiet gehörten. Bei den Römern etwa wurde eine Militäreinheit dorthin verlegt, und eine kleine Schicht von Beamten regelte die fi nanziellen Angelegenheiten, die sich vor allem auf das Einziehen von Steuern beschränkten. Für die be-troffene Bevölkerung änderte sich meist nicht viel, zumal es letzten En-des keine Rolle spielte, an wen man die Abgaben zu leisten oder für wen man in den Krieg zu ziehen hatte. Nationale Empfi ndungen, die hier von Bedeutung hätten werden können, sind eine moderne Erscheinung; sie spielten über viele Jahrhunderte keine Rolle.

Nationen als Konstrukt Das ist ein weiterer Punkt, der den moder-nen Staat von historischen Phänomenen unterscheidet. Das nationa-le Bewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand umfangrei-cher historischer Forschungen gewesen. Heute ist unumstritten, dass nationale Zugehörigkeit ebenfalls ein soziales Konstrukt ist: Wir sind Deutsche (oder Franzosen, Schweden etc.), weil wir alle denken, dass wir Deutsche (Franzosen, Schweden etc.) sind, weil man es uns gesagt hat, weil wir so erzogen worden sind. Es gibt aber kein objektives Kri-terium hierfür, wie etwa Abstammung. Die Angehörigen einer Nation sind untereinander nicht mehr oder weniger miteinander verwandt als mit den Angehörigen von Nachbarnationen; es gibt keine ‚Gemeinschaft des Blutes‘. Gerade in Mitteleuropa, wo von den Völkerwanderungen bis zu den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Men-

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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schen ihre angestammten Wohnorte verlassen mussten, ist jede Vorstel-lung der gemeinsamen Abstammung einer Nation fi ktiv.

Das Bewusstsein von einer Zugehörigkeit aller zu einer Nation ist im 19. Jahrhundert entstanden und hat sich seither sehr wirkmächtig entfaltet. Nunmehr war der Gedanke möglich, dass es zwischen Herr-schern und Beherrschten eine elementare Gemeinsamkeit gibt, nämlich die Zugehörigkeit zur selben Nation. Dieses Band wurde jetzt als stär-ker gedacht als etwa soziale oder politische Unterschiede (der deutsche Kaiser Wilhelm II. beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“). In der Vormoder-ne wäre das ein absurder Gedanke gewesen. Ein Herrscher konnte Sei-nesgleichen in den Herrschern anderer Staaten sehen, nicht aber in den von ihm beherrschten Untertanen, mit denen ihn nichts verband. Da-her war es auch etwa völlig unnötig, mit ihnen eine gemeinsame Spra-che zu haben; es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Eliten und die beherrschten Menschen unterschiedliche Sprachen verwendeten. Die Erweiterung von Herrschaftsgebieten durch Eroberungen brachte mehr Macht, mehr Ausdehnung und mehr Einnahmen; die neu hinzugewon-nenen Untertanen aber wurden gleichsam als zu diesem Territorium ge-hörig betrachtet; sie waren damit auch nicht mehr Fremde. Erst mit dem Nationalgedanken, der danach strebte, alle Angehörigen einer Nation in einem Staat (dem Nationalstaat) zu vereinen, wurde es möglich, die An-gehörigen der eigenen Nation in anderen Staaten zu ‚befreien‘, um mit ihnen in einem Staat zu leben. Jetzt konnte man Eroberungszüge und Machtwillen national kaschieren, um ein edles und allgemein akzep-tiertes Motiv für Krieg und Gewalt zu haben. In der Moderne lassen sich die Folgen dieser Entwicklung betrachten: Völkermord und ‚ethnische Säuberung‘ sind die logische Konsequenz aus Machtwillen in der Kom-bination mit nationalem Bewusstsein. Auch ist die Mobilisierung der Bevölkerung für eine nationale Idee in der Vormoderne nicht denkbar, und Freiwilligenarmeen tauchten im großen Maße erst dann auf, als es die Vorstellung von einem Vaterland gab, das man verteidigen muss. Je-denfalls ist der Nationalismus eine relativ junge Erscheinung und damit auch die Idee, dass es eine enge, irrationale Verbindung zwischen den Bewohnern eines Staates und diesem Staat gibt.

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5. Staat und Nation

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Herrschaftssysteme Schließlich unterscheidet sich der moderne Staat vom staatlichen Gebilde der Vormoderne dadurch, dass Machtausübung und Verwaltung anders funktionieren. Ein Staat, der überall auf seinem Staatsgebiet und unter allen seinen Bürgern Recht durchsetzen kann und will, ist relativ neu. Schon in antiken Staaten funktionierten man-che Elemente der Verwaltung erstaunlich gut (so etwa bei den Römern die Militärverwaltung), doch lässt sich nicht von einem durchorgani-sierten und verwalteten Staat sprechen. Er funktionierte immer nur in mehr oder weniger großen Bereichen; an anderen hingegen war er nicht interessiert. In ähnlicher Weise war auch ein Herrscher häufi g nicht einfach an der Spitze eines Herrschaftssystems, einer Regierung, son-dern er stand einem Personenverband vor, den er sich durch verschie-dene Privilegien loyal zu halten versuchte. Diese Gruppe, aus der sich häufi g die soziale Schicht ‚Adel‘ entwickelte, garantierte dem Herrscher einerseits, dass seine Herrschaft von einer Gruppe getragen wurde, auf die er sich (in der Regel wenigstens) verlassen konnte, und ermöglich-te zugleich den Mitgliedern dieser Gruppe eine privilegierte Position in unmittelbarer Nähe zur Macht, mit der Möglichkeit, auch Zugang zu ökonomischen Ressourcen zu erhalten. Auch in den modernen Staaten lässt sich diese Nähe zwischen politischer Macht und wirtschaftlichen Interessen beobachten, doch gibt es zumeist Kontrollmechanismen, die wenigstens groben Missbrauch verhindern oder erschweren, und die so-ziale Mobilität ist heute wesentlich größer; es ist also einfacher (wenn auch nicht einfach), aus machtferneren Positionen in den Bereich der Machtausübung zu gelangen.

Es wird deutlich, dass die Bevölkerung bei der vormodernen Struk-tur keine besondere Bedeutung hat, jedenfalls keine aktive. Hier sind deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen zu se-hen, und in Europa vor allem zwischen Stadt und Land. In den Städ-ten entwickelte sich ein Bürgertum, das selbstständig auftreten, eigene Rechte einfordern und politisch agieren konnte. Es kam zur Heraus-bildung einer Gesellschaft, also dazu, dass sich die Bevölkerung nach sozialen Merkmalen strukturierte. Das war auf dem Land nicht so, denn dort lebte die Bevölkerung in Subsistenzwirtschaft, musste also ihre Arbeitskraft für das eigene physische Überleben investieren. Ins-gesamt kann jedoch auf die Vormoderne die Vorstellung von einem

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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Staatsvolk im Sinne eines politisch agierenden Subjekts nicht ange-wendet werden.

Es zeigt sich also, dass der Staatsbegriff nicht ideal ist, wenn wir da-mit Realitäten früherer Epochen umschreiben wollen. Doch ist er für ein historisches Denken, das geographische Räume berücksichtigen will, ebenso notwendig wie die Vorstellung von festen Grenzen; sie müs-sen eben beide kritisch refl ektiert werden.

Christliche Kirchen und staatliche Herrschaft Für die Kirchengeschich-te haben diese Erkenntnisse große Bedeutung. Üblicherweise wird von der Beziehung zwischen Kirche und Staat gesprochen. Wenden wir aber einen modernen Staatsbegriff an, dann werden wir kaum adäquat er-fassen, dass es historisch in der Regel um die Beteiligung kirchlicher Würdenträger an profaner Herrschaft ging, dass wir also viel mehr an Personenbeziehungen als an Strukturen zwischen Institutionen denken müssen. Das zeigt sich etwa, wenn die Bischöfe ab dem 4. Jahrhundert das Privileg erhalten, sich an den Instanzen des Römischen Reiches vor-bei direkt an den Kaiser zu wenden. Im Investiturstreit kämpften Papst und Kaiser um das Recht, die Bischöfe einzusetzen. Der Erfolg der Re-formation war in vielem davon abhängig, dass die Reformatoren das Un-gleichgewicht zwischen dem Kaiser und den Landesfürsten ausnutzen konnten; viele Fürsten unterstützten nicht so sehr aus Glaubensgrün-den die eine oder die andere Seite, sondern wegen der politischen Kon-stellation. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Beziehungen der Kirchen zu Herrschaftsformen nicht in den Kategorien eines neuzeitli-chen Staates gedacht werden dürfen.

In ähnlicher Weise lässt sich das auch über die Bedeutung der Na-tion für die Kirchengeschichte sagen. Seit der Entstehung des moder-nen Nationsgedankens haben sich Kirchen oft sehr eng an Nationen an-gelehnt (und umgekehrt). Nationale und religiöse Konfl ikte sind häufi g miteinander verbunden; es mag hier genügen, auf Nordirland, das frü-here Jugoslawien oder die Konfl ikte im Nahen Osten zu verweisen, um das zu zeigen. Die Frage der Nation hat also auch weitreichende Impli-kationen für die Kirchengeschichte.

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6. Kirchengeschichte und Theologie

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6. Kirchengeschichte und Theologie

Viele der oben dargestellten Erkenntnisse stammen aus der allgemei-nen historischen Forschung. Daher ist zu fragen, ob es denn ein Spe-zifi kum der Kirchengeschichte gibt, das sie als theologische Disziplin qualifi ziert und von historischer Beschäftigung mit kirchlichen Phäno-menen unterscheidet. Anders ausgedrückt: Unterscheiden sich die Er-gebnisse eines Profanhistorikers von denen eines Kirchengeschichtlers, wenn sie dasselbe historische Phänomen untersuchen?

Kirchengeschichte als historische Disziplin Kirchengeschichte versteht sich als historische Disziplin innerhalb der Theologie: Sie ist eine his-torische Disziplin, gehört damit also in den Bereich der Geschichtswis-senschaft, und sie ist dies in der Theologie, zu der sie auch zu zählen ist. Damit hat die Kirchengeschichte eine doppelte Anbindung. Als his-torisches Fach wird sie die Methoden, Erkenntnisse und Standards der Geschichtswissenschaft beachten. Viele Einsichten hat die Kirchenge-schichte von der allgemeinen Geschichtswissenschaft übernommen. Dazu gehört auch, dass die Konzentration auf Institutionengeschichte als veraltet betrachtet werden kann. Zwar sind die Quellen, derer sich historische Forschung bedienen kann, zumeist von, für und über Herr-scher und deren Institutionen, aber sie bieten auch Material für eine So-zialgeschichte, in der besondere Gruppen der Bevölkerung in das Er-kenntnisinteresse rücken. Die Frauenforschung hat gerade auch in der Kirchengeschichte die Aufmerksamkeit auf die Geschichte von Frauen gelenkt; in diesem Kontext sind Arbeiten zu mittelalterlichen Frauen-klöstern, zur Frauenmystik und zu anderen frauenspezifi schen Themen entstanden. Ein weiterer sozialgeschichtlicher Aspekt ist die Frömmig-keitsgeschichte: Wie hat zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten das kirchliche und religiöse Leben konkret ausgesehen? Welche Formen haben Menschen entwickelt, um alleine oder in Gemeinschaf-ten ihren christlichen Glauben zu leben? Welche Aspekte standen hier-bei im Vordergrund, und wie verhalten sie sich zur Theologie der ent-sprechenden Zeit? Ein weiterer Themenbereich ist die Untersuchung der Geistlichkeit als sozialer Gruppe: Aus welcher sozialen Schicht ka-men die Geistlichen der Kirchen? Wie wurden sie ausgesucht, wie aus-

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Kapitel 1 Christentum in Raum und Zeit

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gebildet? Welche Karrierechancen gab es, wie wurden sie genutzt? Es ließen sich zahlreiche weitere Themen nennen, die sozialgeschichtli-chem Interesse entspringen. Doch nicht nur die Sozialgeschichte gibt neue Impulse, auch Mentalitätsgeschichte, Religionsgeschichte (im re-ligionswissenschaftlichen Sinn), Regionalgeschichte, Kulturgeschichte (des Todes, der Kindheit u. a.) beeinfl ussen die Kirchengeschichte. Und wie diese Impulse aus der allgemeinen Geschichte empfängt, kann sie ihrerseits Erkenntnisse und Einsichten an diese weitergeben. Es ist klar, dass im vorliegenden Buch diese Aspekte nicht alle bearbeitet und dar-gestellt werden können, doch müssen sie wenigstens genannt werden. Sie bilden den weiteren Horizont einer Einführung in die Geschichte des Christentums, die sich nicht auf die Darstellung rein binnenkirchli-cher Phänomene beschränkt.

Kirchengeschichte als theologische Disziplin Doch unterscheidet sich die Kirchengeschichte nicht nur durch ihre Inhalte von der Allgemein-geschichte. Sie ist eben auch theologische Disziplin und bringt in die kritische Refl exion des eigenen Glaubens die historische Dimension ein. Insofern hat sie also durchaus auch ein praktisches Interesse: Durch die Erkenntnis historischer Prozesse und Abläufe wird die Theologie in einen geschichtlichen Kontext gestellt. Es wird deutlich gemacht, dass sich viele Erscheinungsformen in der Kirche historisch entwickelt ha-ben, dass es sie früher nicht gegeben hat und dass sie sich ebenso gut anders hätten entwickeln können. Vergessene und verdrängte Alterna-tiven, verpasste und verspielte Chancen werden dadurch sichtbar ge-macht. Wie ,Christentümer‘ und Kirchen sich heute darstellen, sind sie historisch geworden. Das war nicht immer so selbstverständlich, wie wir das heute sagen. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass die theologische Einsicht beeinträch-tigt und Entscheidendes am Christentum nicht wahrgenommen wird, wenn das Wissen um geschichtliche Entwicklungen und Bedingthei-ten vernachlässigt wird. Nur so kann klar werden, was zwar historischer Entwicklung unterliegt, aber immer Teil des christlichen Glaubens ge-wesen ist und bleibend zu ihm gehört.

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Mission und Ausbreitung des Christentums

RäumeEpochenChristentümer

Erst

er T

eil

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Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

Judentum und Christentum Das Christentum ist eine Religion, die aus einer anderen Religion heraus entstanden ist: aus dem Judentum. Die Begründer der christlichen Religion gehörten ihrer ethnischen und reli-giösen Herkunft nach einer anderen Religion an: Der wohl im Jahre 30 auf Betreiben seiner jüdischen Gegner vom römischen Statthalter der Provinz Palästina, Pontius Pilatus, durch Kreuzigung hingerichtete Je-sus aus Nazaret in Galiläa war Jude und praktizierte seine Religion; sei-ne ersten Anhänger waren ebenfalls Juden. Der bedeutendste Verkün-der der christlichen Botschaft am Anfang, Paulus, stammte aus Tarsus in Kilikien an der Südküste Kleinasiens (in der heutigen Türkei); er hat-te kulturell seinen Hintergrund in der griechischen Welt, verstand sich selbst aber in religiöser Hinsicht als Jude strengster Observanz, ehe er sich wenige Jahre nach dem Tod Jesu dem „Weg“, wie das Christentum anfangs genannt wurde, anschloss und das Evangelium, die „Frohe Bot-schaft“ von der Auferstehung des gekreuzigten Jesus, im östlichen Mit-telmeerraum verkündete. Q 01 Dieser historische Zusammenhang mit dem Judentum ist eine Besonderheit des Christentums, die weitreichen-de Folgen für sein Selbstverständnis, seine religiösen und theologischen Überzeugungen und für manche seiner strukturellen Eigenheiten hat.

In einem hoch komplexen, innerchristlich heftig umstrittenen Pro-zess wuchs die neue Religion des Christentums im Laufe des 1. Jahr-hunderts aus ihrer Herkunftsreligion heraus. Im 2. Jahrhundert war die Trennung vom Judentum defi nitiv vollzogen. Dabei hat die sich

Kapi

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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im 2. und 3. Jahrhundert durchsetzende Hauptlinie des Christentums das alttestamentliche Erbe (vor allem die jüdischen heiligen Schriften, christlich Altes Testament genannt) aber nicht aufgegeben, sondern als Basis beibehalten. Anhänger Jesu, die sich weiterhin als Juden verstan-den und jüdische Riten praktizierten, hat es in einzelnen Gruppen noch bis in das 4. Jahrhundert hinein gegeben, doch geriet dieses so genann-te Judenchristentum rasch ins Abseits. Der Hauptmotor dieser Entwick-lung war die Propagierung des Glaubens an die Messianität Jesu – das heißt an seine Bedeutung als Erlöser, als Heiland im religiösen Sinn der Befreiung von Sünde und Schuld – über das Judentum hinaus in die nicht-jüdische, ‚heidnische‘ Welt der Antike. Während die christliche Verkündigung im Judentum weitgehend auf Ablehnung stieß, fand sie parallel dazu im ‚Heidentum‘ zunehmend Anklang. Der Trennungspro-zess des Christentums vom Judentum war gleichbedeutend mit einem

Q01 Paulus, Brief an die Galater 1,11–23 (ca. 53/55)

Ich erkläre euch, Brüder und Schwestern: Das Evangelium, das ich verkün-digt habe, stammt nicht von Menschen; ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen. Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe, und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein. Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkün-dige, da zog ich keinen Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas [Petrus] kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Von den anderen Aposteln habe ich keinen ge-sehen, nur Jakobus, den Bruder des Herrn [Jesus]. Was ich euch hier schrei-be – Gott weiß, dass ich nicht lüge. Danach ging ich in das Gebiet von Sy-rien und Kilikien. Den Gemeinden Christi in Judäa aber blieb ich persönlich unbekannt, sie hörten nur: Er, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er früher vernichten wollte.

Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Jubiläumsausgabe. Psalmen und Neues Testament ökumenischer Text, Stuttgart/Klosterneuburg 1989, 1296.

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1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

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immer stärkeren Hineinwachsen des aus der jüdischen Religion und Kultur kommenden Christentums in die antike, vor allem griechisch-römische, aber auch syrische Welt des Mittelmeerraums. Im Zuge die-ser Entwicklung wurden die Anhänger Jesu mehr und mehr zu einer von den jüdischen Gemeinden unterscheidbaren eigenen Gruppierung, die das Identitätsmerkmal männlicher Juden, die Beschneidung, nicht mehr praktizierte, sondern durch die Taufe als Aufnahmeritus in die christliche Gemeinde ersetzte. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte erhielt diese neue religiöse Gruppe schon in den ersten beiden Jahrzehn-ten nach der Hinrichtung Jesu in Antiochia in Syrien von Außenstehen-den erstmals die Bezeichnung ‚Christen‘ (Apg 11,26: „Christianer“). Im Unterschied zum ethnisch konstituierten Judentum stammten Christen (zumindest potentiell) aus allen Völkern (das ist die eigentliche Bedeu-tung des griechischen Begriffs, der später mit ,Heiden‘ wiedergegeben zu werden pfl egt). Es gehört zu den im Rahmen der antiken Religionsge-schichte auffälligen Eigenheiten des Christentums, eine ethnisch und territorial ungebundene Religion zu sein.

Nach ihrer Trennung entwickelten sich Judentum und Christentum weitgehend unabhängig voneinander in einem oft friedlichen Neben-einander, zuweilen aber auch in einem konfl iktreichen Gegeneinan-der. Ressentiments und Aggressionen gegen Juden und das Judentum gab es auch schon in der vorchristlichen Antike. Das Christentum hat aber zur Verschärfung des Antijudaismus beigetragen, mit fürchterli-chen Folgen für das Judentum bis in das 20. Jahrhundert, die von sozia-ler Deklassierung und Ausgrenzung bis hin zu physischer Vernichtung reichten. Die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen ist weit-hin geprägt von christlicher Judenfeindschaft. Doch sollte nicht verges-sen werden, dass es zu allen Zeiten auch eine freundliche Einstellung einzelner Christen gegenüber Juden und dem Judentum und fruchtba-ren Austausch gegeben hat. In der Gegenwart hat der jüdisch-christliche Dialog auf verschiedenen Ebenen bei allen bleibenden Differenzen zur Verbesserung der Beziehungen geführt.

Aufgrund seiner Herkunft aus dem Judentum und aufgrund der schwierigen Geschichte der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum kann Letzteres nicht davon absehen, sein Selbstverständ-nis im Blick auf diesen bleibenden Zusammenhang zu formulieren.

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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Zahlreiche Elemente im Christentum wurzeln im Judentum. Das gilt für das Gottesbild (ein einziger Gott für alle Menschen: Monotheismus), für das Menschenbild (der Mensch als Ebenbild Gottes, die Unvergäng-lichkeit seiner personalen Identität), für das Geschichtsbild (der Ablauf historischer Ereignisse als linearer Prozess mit Anfang und Ende, der Glaube an die Führung durch Gott, die Hoffnung auf das Gelingen der gesamten Menschheitsgeschichte), für das Weltbild (Erschaffung und Ende der Welt), für das Offenbarungsverständnis (die schriftliche Fi-xierung des Wortes Gottes in einem Kanon heiliger Schriften), für die individuelle und die kollektive Heilshoffnung (der Glaube an die Auf-erstehung, die Erwartung eines Gerichts und des Reiches Gottes), für zahlreiche ethische Standards (vor allem die Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe und konkret praktizierte soziale Verantwortung), für etliche Elemente der Liturgie (etwa Lesungen aus der Bibel mit Predigt oder die Psalmen als wichtigste Gebete) und für manche Formen der Gemeindeorganisation (etwa Presbyter, „Älteste“, als Gemeindeleiter). Auch wenn sich das Christentum vom Judentum getrennt und in man-cher Hinsicht weit von diesem entfernt hat, sind wesentliche Elemente seiner Überzeugung und Erscheinungsform nicht ohne ihre Verwurze-lung in der jüdischen Tradition zu verstehen.

Inkulturation und Exkulturation Spricht man von Mission oder Ausbrei-tung des Christentums in der Antike, muss man sich zunächst klar ma-chen, um was für ein Phänomen es sich gehandelt hat. Es ging dabei nicht um die Eroberung von ganzen Regionen oder Ländern durch ein von außen kommendes Christentum. Auf diese Weise verlief Mission erst nach der Antike, insbesondere in der Neuzeit. Für die Ausbreitung des Christentums in der Antike ist demgegenüber Folgendes kennzeich-nend:

Von einem Prozess der Inkulturation, also des Hineinwachsens der christlichen Religion in die antike Kultur bzw. in regionale Kulturen des antiken Mittelmeerraums kann man insofern sprechen, als funda-mentale Überzeugungen des Christentums aus dem Judentum stam-men. Diese ihrer Herkunft nach jüdischen Anschauungen mussten der nicht-jüdischen, vor allem griechisch und römisch geprägten Kultur und Religiosität vermittelt werden. Diese Auseinandersetzung von Anti-

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1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

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ke und Christentum war ein komplexer Prozess wechselseitiger Beein-fl ussung und Veränderung. Die am Ende der Antike aus diesem Prozess hervorgehende christliche Religion und Kultur war ein Amalgam aus jüdischen und heidnischen Zutaten. Ein Beispiel dafür ist die christli-che Theologie, die einerseits aus Begriffen und Denkformen der antiken Philosophie geschmiedet ist (etwa in der Trinitätslehre), in deren Zen-trum andererseits aber Vorstellungen stehen wie die Menschwerdung Gottes (Inkarnation) oder die Auferstehung, die jüdische Hintergründe haben und aus antiken philosophischen Traditionen nicht ableitbar sind.

Gleichwohl ist Inkulturation für den Ausbreitungs- und Wachstums-prozess des Christentums in der Antike streng genommen ein unpas-sender Begriff. Er evoziert nämlich die Vorstellung einer fertig ausge-bildeten Religion namens Christentum, die von der antiken Welt Besitz ergriffen hätte, als wäre diese ihr fremd gewesen. In beiden Punkten liegen die Dinge anders: Erstens wurde das Christentum im Laufe der ersten Jahrhunderte erst ausgestaltet; die organisatorischen Strukturen, die religiösen Riten, die Theologie, das Gemeindeleben, die Lebenspra-xis des einzelnen Christen – all das war im Entstehen begriffen. Na-türlich hat sich das Christentum auch später noch vielfach weiterent-wickelt. Aber die grundlegende Formung der christlichen Institutionen und Überzeugungen fand in den ersten Jahrhunderten statt. Diese Ent-wicklung geschah zweitens in einer Welt, die den Christen gerade nicht fremd war. Das Christentum wurde nicht als fremde Größe in die antike Welt inkulturiert. In der Antike verhält es sich, zugespitzt ausgedrückt, gerade umgekehrt. Es waren Menschen der Antike, die sich dem Chris-tentum zuwandten – in ihrer Kultur und Gesellschaft, aus der sie kamen und in der sie weiterhin lebten; diese antiken Menschen machten das Christentum zu dem, was es am Ende der Antike dann war. Die Aus-breitung und die Gestaltwerdung des Christentums waren parallel ab-laufende und sich gegenseitig befruchtende Prozesse. Das antike Chris-tentum kam nicht von außen in die antike Welt, sondern entstand in und aus der antiken Kultur. Wie von Inkulturation könnte man zugleich auch von Exkulturation sprechen: Das, was das Christentum in seiner frühen Geschichte in allen seinen Aspekten geworden ist, ist eine Reli-gion, die sich aus dem Judentum, seiner Herkunftsreligion, und aus der Antike, seiner Herkunftswelt, heraus entwickelt hat.

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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Das Christentum als Stadtreligion Bis in das 4. Jahrhundert hinein wa-ren das sich solchermaßen formierende Christentum bzw. die christ-lichen Kirchen nicht eine große wohlorganisierte Institution, sondern bestanden aus kleinen und kleinsten Gruppen von Christen. Solche christlichen Gruppen gab es vor allem in den Städten, meist in den Pro-vinzhauptstädten des Römischen Reiches. Das Christentum war zu-nächst eine Stadtreligion, sogar ein ausgesprochenes Großstadtphäno-men. Die wichtigsten und größten Gemeinden etablierten sich in den größeren Städten der Antike: Antiochia, Ephesus, Rom, Alexandria, Kar-thago – das waren die Zentren des Christentums in den ersten Jahrhun-derten. Im 4. Jahrhundert wurden Konstantinopel und Mailand zu wei-teren wichtigen Zentren, ferner außerhalb des Reiches im Osten Edessa (schon seit dem 2. Jahrhundert), Nisibis in Syrien und Seleukia-Ktesi-phon am Tigris.

Der städtische Charakter ist ein wichtiges Charakteristikum des frühen Christentums. Im Blick auf seine Gründungsereignisse impli-ziert er eine einschneidende Transformation. Die Jesusbewegung kam aus der bäuerlich strukturierten Welt Palästinas. In den Dörfern Gali-läas am See Gennesaret hatte Jesus hauptsächlich gelebt und gewirkt, und in einer solchen Welt von Bauern, Fischern, Handwerkern und klei-nen Händlern, wie sie plastisch in den Gleichnissen der neutestamentli-chen Evangelien zum Ausdruck kommt, hat sich der Jesusglaube außer-halb von Jerusalem in Judäa und Samaria zunächst ausgebreitet. Mit dem Wirken griechischsprachiger Juden (der so genannten Hellenis-ten), die sich wie Paulus zu Jesus als Messias (Christus) bekannten, in der griechisch-römischen Welt gelangte er bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Tod Jesu in einen neuen sozialen Raum: in die Stadt. Es war das urbane Milieu der hellenistischen Städte, in dem sich das Heiden-christentum etablierte (das Christentum, dessen Anhänger Nichtjuden, ‚Heiden‘ waren). Von Ausnahmen im syrisch-palästinischen und klein-asiatischen Raum abgesehen war das Christentum in allen Regionen der antiken Welt zunächst Stadtreligion. Aus diesem Grund ist das latei-nische Wort für den Landbewohner, paganus, zum Synonym für Nicht-christ geworden (pagan = heidnisch). Erst vom 4. Jahrhundert an ist das Christentum verstärkt auf das Land vorgedrungen.

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1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

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Von der Minderheit zur Mehrheit Absolute oder relative Zahlen für die Christen in einer antiken Stadt oder Region zu benennen, ist in Erman-gelung präziser Nachrichten dazu nicht möglich. Überlieferte Angaben oder Zahlen, die gerne von Tausenden von Bekehrungen sprechen, sind symbolisch als Ausdruck für den Erfolg der Mission zu verstehen. Bis in das 4. Jahrhundert hinein müssen wir im Verhältnis zur Gesamtbe-völkerung von einem sehr geringen Anteil an Christen ausgehen. Die christlichen Gruppen bildeten eine kleine, allerdings auffällige und ste-tig wachsende Minderheit. Geht man, unter Vernachlässigung tempo-rärer Unregelmäßigkeiten, auf lange Sicht von einem exponentiellen Wachstum aus, erreichte die Zahl der Christinnen und Christen um 300 eine nicht mehr unbedeutende Größenordnung, mit allerdings gro-ßen regionalen Unterschieden. Erst im Laufe des 4. Jahrhunderts ist das Christentum im Römischen Reich aus dem Status einer Minder-heit herausgekommen. Im 5./6. Jahrhundert setzte es sich – nicht zu-letzt mit politischer Unterstützung durch die zu Christen gewordenen römischen Herrscher – gegen alle anderen antiken Religionen durch, von denen sich lediglich das Judentum über die Antike hinaus zu be-haupten vermochte.

Wenn wir also von der Ausbreitung des Christentums in der Anti-ke reden, müssen wir uns, mit einem Bild ausgedrückt, ein Netz von meist kleinen Gruppen vorstellen, die sich zunächst fast ausschließ-lich in Städten bildeten. Dieses Netz war anfangs äußerst weitmaschig: Zwischen den christlichen Stadtgemeinden lagen oft große Entfernun-gen. Das Netz christlicher Gemeinden bestand aus kleinen Ortsgrup-pen, überspannte aber einen enorm weiten Raum. Engmaschiger war es lediglich dort, wo es viele Städte (meist Kleinstädte) gab, vor allem im westlichen Kleinasien und im römischen Nordafrika. Vom 4. Jahrhun-dert an wurde dieses Netz allmählich dichter, bis sich das Christentum im Mittelmeerraum (und in Vorderasien) mit dem Ende der Antike fl ä-chendeckend ausgebreitet hatte.

Die Geographie der Ausbreitung Christliche Gruppen gab es zuerst an den Orten des Wirkens Jesu in Jerusalem und in Galiläa. Bereits in den ersten Jahren nach dem Tod Jesu bildeten sich weitere Gruppen in Judäa, Samaria und Phönikien, in Damaskus und in der Dekapolis (in

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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einer Region östlich von Galiläa mit vielen griechischen Kleinstädten), sodann an der Ostküste des Mittelmeers entlang bis hinauf nach An-tiochia am Orontes in Syrien. Von dort aus entstanden, vor allem durch das Wirken des Paulus, christliche Gemeinden in den Städten des süd-lichen, mittleren und westlichen Kleinasien (mit einem Schwerpunkt in Ephesus) sowie im europäischen Teil Griechenlands in Philippi, Thessa-loniki und Korinth; frühe Gemeinden gab es auch auf Zypern und auf Kreta, desgleichen sehr früh in Rom, ohne dass wir wüssten, wie das vor sich ging (p Kap. 16.1). K 02

Im 2. und 3. Jahrhundert bildeten sich christliche Gruppen in ver-schiedenen Städten in nahezu allen Regionen der Mittelmeerwelt. K 03 Die Anfänge dieser Gemeinden liegen meist im Dunkeln, und die Nach-richten, die wir haben, beruhen auf Zufällen der Überlieferung; wir hören von folgenden Orten: Alexandria, der hellenistischen Metropole Ägyptens, weiter westlich von den griechischen Städten in der Kyrenai-ka in Libyen, sodann von den zahlreichen Kleinstädten im römischen Nordafrika mit dem Zentrum Karthago, in Gallien Lyon und Vienne. Christliche Gemeinden entstanden ferner in Ostsyrien, wo sich im 3./4. Jahrhundert eine syrischsprachige Kirche etablierte. Einen merk-lichen Schub gab es in der zweiten Hälfte des 3. und im beginnenden 4. Jahrhundert, als vereinzelt christliche Gemeinden in den Donaupro-vinzen, in Dalmatien, in Mittel- und Unteritalien, im südlichen Spanien und in Britannien entstanden, ferner verstärkt auch in Ägypten; für den Anfang des 4. Jahrhunderts sind Christen in Trier, Köln und Mainz be-zeugt.

Schon im 2./3. Jahrhundert bildeten sich christliche Gemeinden auch außerhalb des Römischen Reiches, besonders Richtung Osten in Mesopotamien und im westlichen Persien. In Armenien wurde das Christentum bereits Anfang des 4. Jahrhunderts Staatsreligion (noch vor der Konstantinischen Wende im Römerreich); in die griechischen Küstenstädte Georgiens gelangte es ebenfalls im 4. Jahrhundert, des-gleichen vereinzelt zu den (West-)Goten an der unteren Donau und am Schwarzen Meer und zu germanischen Völkern, dazu im 4./5. Jahrhun-dert nach Irland. Ebenfalls in dieser Zeit kam es nach Südarabien und Äthiopien, im 5./6. Jahrhundert nach Nubien. An der Südwestküste In-diens (in Malabar) waren wohl schon im 2./3. Jahrhundert christliche

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1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

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K02 Christliche Gemeinden im 1. Jahrhundert

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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K03 Christentum in der Spätantike

Alexandria

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2. Rahmenbedingungen

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Gemeinden entstanden, und zwar wahrscheinlich von Ägypten aus auf der stark frequentierten Monsunroute, der Schifffahrtsroute zwischen dem Roten Meer und Indien; im 5./6. Jahrhundert gelangte das Chris-tentum von Persien aus nach Nordwestindien (heute Pakistan) und ent-lang der Seidenstraße schließlich bis Zentralasien, in die Mongolei und nach China (p Kap. 3.2).

2. Rahmenbedingungen

Jüdische und christliche Mission Eine nicht geringe Rolle bei der Aus-breitung des Christentums spielte das Judentum. Seit dem Babyloni-schen Exil (6. Jahrhundert v.Chr.) lebten Juden nicht mehr nur in Paläs-tina, sondern in vielen Gebieten des Vorderen Orients. In der Epoche des Hellenismus breiteten sich vom 3. Jahrhundert v.Chr. an jüdische Ge-meinden besonders in den zahlreichen griechischen Städten des östli-chen Mittelmeerraums aus, ferner, doch weniger stark, im Westen, und existierten dort bis über das Ende der Antike hinaus. Dieses Diasporaju-dentum – wörtlich: das „Judentum in der Zerstreuung“ – hat in der grie-chisch-römischen Welt religiöse Vorstellungen bekannt gemacht, an die die Christen anknüpfen konnten: den Glauben an einen einzigen Gott für alle Menschen, eine anspruchsvolle Ethik (elementarisiert in den Zehn Geboten), heilige alte Texte mit Offenbarungscharakter (die jüdische Bi-bel), häusliche religiöse Bräuche (insbesondere die Sabbatriten) – das war ein auch für Nichtjuden attraktives Traditionsgut. Das griechischspra-chige Diasporajudentum hat der Ausbreitung des Christentums viel Vor-arbeit geleistet. Dieses breitete sich vor allem in Städten aus, in denen es eine jüdische Gemeinde gab. Besonders für heidnische Interessenten am Judentum, die in den Quellen „Gottesfürchtige“ genannt werden, dürfte das Christentum auch wegen seiner niedrigeren Eingangshürden (Taufe statt Beschneidung) die attraktivere Option gewesen sein.

Politische Bedingungen Weitere Vorteile bot die Herrschaft der Römer im Mittelmeerraum. Sie sorgte für politische Stabilität und Sicherheit im Innern wie an den Grenzen (das Schlagwort für die zugehörige rö-mische Ideologie, die in diesem Fall auch ein gutes Stück Wirklichkeit

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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war, hieß pax Romana, „römischer Friede“). Das 1. und 2. Jahrhundert waren die Blütezeit der Antike. Diese brachte den Menschen wirtschaft-liche Prosperität, einen fl orierenden Austausch von Gütern und Ideen und eine nahezu uneingeschränkte Mobilität ohne hinderliche Gren-zen. Ein ausgezeichnetes, ursprünglich für militärische Zwecke ange-legtes Straßennetz und sichere Routen auf dem Mittelmeer – die Pirate-rie war weitgehend eingedämmt – ermöglichten schnelle Ortswechsel. Entlang dieser Verkehrswege hat das Christentum sich zunächst aus-gebreitet (besonders in Hafenstädten) und dabei weite Distanzen über-wunden.

Kulturelle Bedingungen Auch in kultureller Hinsicht waren die Rah-menbedingungen günstig. Im Vielvölkerstaat der Römer gab es zwar vielfältige ethnische Eigenheiten, die sich in den Städten bunt misch-ten, doch auch eine Klammer: die hellenistisch-römische Kultur. Weil es damit einen kulturellen Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen und Denkformen gab, konnte die in jüdischen Traditionen wurzelnde christliche Botschaft, die nicht erst nachträglich hellenisiert, sondern von Anfang an in griechischer Gestalt geformt wurde, in großen Tei-len der antiken Welt verstanden werden. Auch hierfür hatte das helle-nistische Judentum Vorarbeit geleistet, indem es jüdisches Denken mit griechischer Philosophie kombinierte und die in hebräischer Sprache geschriebene jüdische Bibel in das Griechische übersetzte (die Septua-ginta, entstanden in Alexandria vom 3. bis 1. Jahrhundert v.Chr. und mit diesem lateinischen Zahlbegriff benannt nach den legendarischen sieb-zig Übersetzern).

Ein Hauptfaktor dabei war die Sprache. Das Griechische in Form der Koiné, des allgemein verbreiteten Idioms, war Verkehrssprache im Rö-merreich, und zwar ungleich stärker als das auf Militär, Justiz und Ver-waltung beschränkte Latein. In der Weltsprache Griechisch wurden die ersten christlichen Schriften abgefasst.

Diese Umstände brachten allerdings auch Einschränkungen mit sich. Griechische Sprache und Kultur waren in der Regel in den Städten verbreitet und im Osten viel stärker präsent als im Westen und in den Randgebieten des Reiches. Auf dem Land und an den Rändern gab es zahllose Volkssprachen. Solche Sprachbarrieren haben die Ausbreitung

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2. Rahmenbedingungen

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des Christentums zunächst stark behindert. Auch deshalb war es an-fangs fast ausschließlich eine Religion für griechischsprachige Städter. Daneben gab es im Orient schon früh syrischsprachiges Christentum. Erst allmählich hat das Christentum sich auch in anderen Sprachen ar-tikuliert: Latein seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert in Nordafrika und im Westen (die Sprache der Gemeinde von Rom war bis in das 3. Jahr-hundert das Griechische, in der Liturgie sogar bis in das 4. Jahrhundert), Koptisch in Ägypten vom 3. Jahrhundert an, im Osten neben Syrisch später auch Armenisch und Georgisch.

Religiöse Bedingungen Ein weiterer günstiger Faktor war die weitge-hend freie Entfaltungsmöglichkeit religiöser Praktiken im Römischen Reich. Religiöse Gruppen und Kulte konnten sich in aller Regel unge-hindert etablieren und ausbreiten. Von religiöser Toleranz des römi-schen Staates zu reden, wie das häufi g geschieht, ist allerdings anachro-nistisch. Toleranz ist ein moderner Begriff aus der Aufklärung, der in einer Pluralität von Überzeugungen und Lebenswelten gegenseitige Achtung und Anerkennung des Anderen, gerade auch des Fremden, zum Ausdruck bringt und einfordert. Ein solches Konzept war der Anti-ke jedoch fremd. Es gab zwar eine unüberschaubare Vielfalt an Gott-heiten und Kulten, doch stellt sich diese nur dem Blick des modernen Historikers als Pluralität dar. In der faktischen Lebenswelt der antiken Menschen gab es regional oder lokal begrenzte Gottheiten und Kulte – von denen manche überregionale Bedeutung erlangten –, die sich meist gegenseitig ausschlossen und mehr zu Abgrenzung und Konfl ikt als zu Integration und friedlichem Miteinander tendierten. In dieser Welt re-ligiöser Konkurrenz erschien das Christentum zu Beginn als ein Kult unter vielen anderen, der politisch nicht weiter auffi el. Die Freiheit der Religionsausübung endete zwar (nicht nur für die Christen, sondern zum Beispiel auch für den orgiastischen Dionysuskult oder die kelti-schen Druiden) an den religiösen Ansprüchen, die der antike Staat an seine Bürger stellte (im Kaiserkult). Doch die Bedrängnis, in welche die Christen dadurch in Form von Pogromen und staatlicher Verfolgung ge-rieten (p Kap. 8.1), hat ihrer Verbreitung keinen Abbruch getan.

Aufgrund dieser insgesamt günstigen Rahmenbedingungen hat sich das antike Christentum vorwiegend im Römerreich, das heißt in

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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den Gebieten rund um das Mittelmeer ausgebreitet, sich aber nicht an dieses gebunden, wie die schon früh einsetzende Ausdehnung über die Grenzen des Imperium Romanum hinaus in Vorderasien zeigt.

3. Methoden der Ausbreitung

Angesichts der Jahrhunderte lang anhaltenden Ausbreitung des antiken Christentums wäre zu erwarten, dass die Christen sich in Theorie und Praxis nach Kräften um die Mission bemüht hätten. Erstaunlicherwei-se ist jedoch das Gegenteil zu konstatieren. In den theologischen Schrif-ten kommt das Thema kaum vor, und die Alte Kirche hat weder ein Programm für die Mission entworfen noch Institutionen oder ein Amt dafür geschaffen. Sie kannte nicht einmal ein Wort für Mission und auch keine Bezeichnung für den Missionar. Diese auffälligen Defi zite erklären sich aus folgenden Faktoren:

Missionsauftrag und Missionsverständnis Schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts gingen die Christen fraglos davon aus, dass die Welt be-reits missioniert sei. Der Missionsauftrag, mit dem das Matthäusevange-lium schließt, allen Völkern das Evangelium zu verkünden (Mt 28,19), ist an die Apostel gerichtet, und man nahm an, dass diese den Auftrag ihres auferstandenen Herrn natürlich vollständig ausgeführt hätten. Aus die-ser Perspektive heraus haben die christlichen Theologen schon früh be-hauptet, die Lehre Jesu habe sich über die ganze bewohnte Erde ausge-breitet. Nur vereinzelt wurde diese Sicht von Theologen wie Origenes oder Augustinus kritisiert und eine realistischere Perspektive entwickelt.

Zu dieser Vorstellung gehörte ein bestimmtes Verständnis von Mis-sion: Es ging um die Proklamation des Evangeliums vor der Welt. Ent-scheidend war nicht, dass alle Menschen bekehrt waren – was ja augen-scheinlich nicht der Fall war –, sondern dass in jedem Volk und Land gepredigt worden war (was freilich auch nicht der Fall war). Das Evan-gelium war nach dem Missionsverständnis der Alten Kirche überall auf der Welt präsent und zugänglich. Die Christen, genauer: die Apostel hätten das Ihre schon getan. Es liege am Einzelnen, wie er sich nun ent-scheide. Dabei rechnete man nicht damit, dass sich wirklich alle Men-

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3. Methoden der Ausbreitung

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schen dem christlichen Glauben anschließen würden. Vielmehr ging man von einer bleibenden Differenz zwischen Glaube und Unglaube aus. Zudem betrachtete man Bekehrung als Sache Gottes und vertraute auf das gelebte Zeugnis eines integren Glaubens statt auf werbewirksa-me Propagandatechniken. Auch daraus erklärt sich, dass es kaum orga-nisierte Initiativen gab.

Missionare Professionelle Missionare sind lediglich für die früheste Zeit bezeugt. Das waren Wanderprediger vom Typ des Paulus, die allein oder zu zweit (auch als Ehepaar) an verschiedenen Orten Gemeinden gründeten und weiterzogen (p Kap. 13.1). Solche Wandermissionare, in Habitus und Auftreten ziemlich auffällige Gestalten, gab es bis Anfang des 2. Jahrhunderts, vereinzelt auch noch bis in das 3. Jahrhundert hin-ein. Q 02 Danach spielten sie jedoch keine Rolle mehr, und auch schon für die Anfangszeit sollte man ihre Bedeutung nicht überschätzen.

Q02 Origenes, Apologie gegen Celsus III 9 (248)

Die Christen, so viel an ihnen liegt, unterlassen es nicht, die Lehre über-all in der Welt zu verbreiten. Einige haben es beispielsweise unternommen, nicht nur von Stadt zu Stadt, sondern von Dorf zu Dorf und Gehöft zu Ge-höft zu ziehen, um auch andere zu einer ehrfürchtigen Haltung gegenüber Gott zu führen. Man wird doch nicht sagen können, dass sie so etwas des Geldes wegen tun, da sie manchmal nicht einmal das zum Lebensunterhalt Nötige nehmen; und wenn der Mangel daran sie einmal dazu zwingen soll-te, begnügen sie sich nur mit dem Notwendigen, auch wenn viele mit ih-nen teilen und ihnen mehr als das Notwendige geben wollen. Heutzutage, da infolge der großen Schar derer, die zum Glauben kommen, auch reiche Männer und Personen in angesehenen Positionen, kultivierte und edle Frau-en die Glaubensboten aufnehmen, könnte jemand vielleicht die Behauptung wagen, dass einige aus Prestigegründen die Leitung der christlichen Unter-weisung übernehmen. Am Anfang allerdings, als insbesondere den Lehrern große Gefahr drohte, konnte man einen solchen Verdacht vernünftigerwei-se nicht hegen. Auch heutzutage ist das fehlende Ansehen bei den übrigen Menschen größer als das vermeintliche Ansehen bei den Glaubensgenos-sen, und zwar nicht einmal bei allen.

Origenes, Contra Celsum – Gegen Celsus. Zweiter Teilband, eingeleitet und kommen-tiert von Michael Fiedrowicz, übersetzt von Claudia Barthold (Fontes Christiani 50/2),Freiburg/Basel/Wien 2011, 526–529.

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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Wirkmächtig war die Christianisierung des Landes durch Asketen und Mönche seit dem 4./5. Jahrhundert, beispielsweise im nordwestli-chen Syrien oder im keltischen Britannien, die manchmal so vorgingen, dass sie die heidnischen Kultstätten gewaltsam zerstörten oder okku-pierten. Aus der Verehrung dieser in nicht wenigen Fällen charisma-tisch begabten Männer entstanden neue, christliche Heiligtümer in einer nunmehr christlichen Landschaft.

Mission im Alltag Wie aber sind Menschen in den ersten Jahrhunder-ten in insgesamt nicht geringer Zahl in Kontakt mit dem Christentum gekommen, obwohl die Gemeinden sich offenkundig nicht darum ge-kümmert haben? Das Christentum hat sich durch Mikrokommunika-tion ausgebreitet, das heißt über die normalen Kontakte des alltäglichen Lebens zwischen Einzelpersonen. Die Leute, die sich zum Christentum bekehrten, lebten weiter in ihrer bisherigen Umgebung, fi elen darin aber durch ihren neuen Lebensstil und neue Verhaltensweisen auf. Und sie sprachen natürlich über ihren neuen Glauben, sei es auf Nachfrage, sei es von sich aus. So waren es in der Tat die einfachen Leute, die „Wollarbeiter, Schuster und Walker“, wie der Christentumskritiker Celsus im 2. Jahr-hundert polemisch sagte (überliefert bei Origenes, Apologie gegen Celsus III 55), die das Evangelium zu Hause, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz oder im Geschäftsleben unter die Leute brachten. Das Christentum ver-breitete sich über persönliche Beziehungen in den sozialen Netzwerken der Antike. Frauen, die in den christlichen Gemeinden überproportio-nal vertreten waren, hatten daran einen erheblichen Anteil, zum Beispiel die Purpurhändlerin Lydia in Philippi (Apg 16,11–15). Auch die Wander-missionare der Frühzeit darf man sich nicht als Prediger auf dem Markt-platz vorstellen. Die Gemeinde in Korinth etwa ist von Paulus aus alltägli-chen Beziehungen heraus aufgebaut worden, in Wohnung und Werkstatt eines bereits christlichen jüdischen Ehepaars aus Rom (Priska und ihr Mann Aquila), bei dem er Arbeit gefunden hatte (Apg 18,1–4). Reisende Christen, Seeleute, Kaufl eute, Soldaten, Migranten, ferner Sklaven und Kriegsgefangene haben das Christentum auf diese Weise in alle Regio-nen der antiken Welt gebracht. Eben aufgrund dieser Art der Verbreitung sind Namen von Missionaren aus der Frühzeit kaum bekannt. Die Mis-sion verlief anonym bzw. war Sache aller Christen.

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3. Methoden der Ausbreitung

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Auf diesem Weg hat sich das Christentum von Anfang an in allen Schichten der Bevölkerung ausgebreitet. Es war nie auf die Unterschicht beschränkt und schon gar nicht eine Sklavenreligion. Von Anfang an schlossen sich auch Gebildete, Wohlhabende und Leute in mittleren und hohen Positionen in Politik und Verwaltung den christlichen Gemein-den an. Die Schicht privilegierter, gut situierter Leute in den antiken Städten spielte sogar eine tragende Rolle bei der Ausbreitung und Or-ganisation des Christentums. Seit dem 3. Jahrhundert fasste das Chris-tentum auch am kaiserlichen Hof und im Militär zunehmend Fuß, im 4. Jahrhundert schließlich auch in den höchsten Kreisen der antiken Gesellschaft: im alten römischen Adel. Die christlichen Gemeinden bil-deten hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung einen Querschnitt durch die Gesellschaft, wobei die unteren Schichten den Hauptanteil stellten. Das entsprach der Sozialstruktur der Epoche.

Katechumenat und Taufe Die in alltäglichen Kontakten gewonnenen Interessenten am Christentum wurden stufenweise an die christliche Gemeinde vor Ort herangeführt. Ihre Lebensumstände wurden einer eingehenden Prüfung unterzogen; manche Tätigkeiten (etwa Zuhälter oder Betreiber von Gladiatorenschulen) führten zur Verweigerung der Aufnahme. An die Zulassung schloss sich ein mehrjähriger Unterricht an, der Katechumenat, in dem die Bewerberinnen und Bewerber in den Grundsätzen des christlichen Glaubens und Lebens unterrichtet wur-den und schon teilweise am Gemeindeleben teilnahmen. Lehre und Le-benspraxis spielten eine zentrale Rolle im Christentum, wodurch es sich strukturell wesentlich von antiken Kulten unterschied. Insbesondere die kleinen Gemeinden der vorkonstantinischen Zeit, die sich in der Situ-ation einer marginalisierten Minderheit befanden, legten Wert auf die Ernsthaftigkeit der Bekehrung, weshalb die Taufe erst nach Absolvie-rung dieser Vorbereitungszeit erteilt wurde. Die Vermassung des Chris-tentums in der Spätantike und das Aufkommen der Kindertaufe führ-ten zum Ende dieser ganz auf das Individuum und seine persönliche Entscheidung zugeschnittenen Form von Missionierung.

Mission und Gewalt Entgegen einem verbreiteten Klischee hat die Anwendung von Zwang bei der Ausbreitung des Christentums in der

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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Antike kaum und erst spät eine Rolle gespielt. Aufforderungen zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige oder deren theologische Rechtfertigung bezogen sich nicht auf Nichtchristen, sondern auf Häre-tiker, das heißt auf Christen mit abweichenden Glaubensvorstellungen. Religiös motivierte Gewalt betraf in der Antike nahezu ausschließlich innerchristliche Konfl ikte. Allerdings gab es im Gefolge der antiheidni-schen Gesetzgebung des christlichen Staates (p Kap. 8.2) im ausgehen-den 4. und beginnenden 5. Jahrhundert eine Reihe von gewalttätigen Aktionen gegen heidnische Kulte: Opferverbote, Tempelschließungen, Tempelzerstörungen, Umwandlung von Tempeln in Kirchen, Drang-salierung von Heiden, in seltenen Fällen bis hin zu deren Ermordung (etwa im Jahre 415 die bestialische Ermordung der Philosophin Hypa-tia in Alexandria durch einen christlichen Mob). Aufs Ganze gesehen waren solche Vorfälle jedoch eher Randerscheinungen der Christiani-sierung der spätantiken Gesellschaft, die in der Regel auf weit weniger spektakuläre, friedliche Weise verlief. Die Durchsetzung des Christen-tums wurde von der Schwäche des Heidentums begünstigt, das ohne christliches Zutun seit dem 3. Jahrhundert an Plausibilität und Attrak-tivität verlor. Von Zwangsbekehrungen hören wir erst im 5. und 6. Jahr-hundert und dann auch nur in wenigen Einzelfällen. Vor allem Kaiser Justinian I. verschärfte den Christianisierungsdruck gegenüber den we-nigen noch verbliebenen heidnischen Teilen der Bevölkerung des Rö-mischen Reiches. Die führenden Männer der Alten Kirche indes haben eine Missionierung mit Hilfe von Zwang und Gewalt immer abgelehnt und statt dessen für Religionsfreiheit plädiert. Im antiken Christentum galt Bekehrung als Sache von Freiwilligkeit und Überzeugung.

4. Bekehrungsmotive und Erfolgsgründe

Aus kleinen Anfängen ist das Christentum in der Spätantike zur Re-ligion der meisten Menschen der antiken Welt geworden. Was waren die Gründe dafür? Von den vielen namenlosen Christen, die nichts ge-schrieben haben und über die nichts aufgeschrieben worden ist, wis-sen wir dazu nichts. Wir können nicht sagen, was den einzelnen Ger-ber oder Händler, Fischer oder Matrosen, Stadtrat oder Kaufmann, die

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4. Bekehrungsmotive und Erfolgsgründe

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Hausfrau oder Bäuerin, Mutter oder Sklavin dazu gebracht hat, Christ zu werden. Unmittelbare Zeugnisse haben wir nur von den Gebildeten unter den Christen. Sofern diese – was selten der Fall war – überhaupt von ihrer Bekehrung erzählten, taten sie das freilich mit ausgesproche-ner Zurückhaltung (Augustins ausführliche Darstellung seiner Bekeh-rung in den Bekenntnissen ist eine Ausnahme). Dennoch lassen sich in ihren Äußerungen Gründe erkennen, die ihnen das Christentum at-traktiv erscheinen ließen.

Attraktivität des Christentums Das Christentum bot dem menschli-chen Bedürfnis nach Sinn und Glück klare Orientierungen, vermittel-te Erklärungen der Welt samt ihren negativen Seiten und stiftete Hoff-nung, mit der man leben konnte. Die Befreiung von Determinismus und Fatalismus – Schicksalsglaube und Astrologie waren weit verbreitet – sowie von Sünde und Schuld durch die Sündenvergebung in der Taufe (und in der Buße) hatte entlastende Wirkung und eröffnete die grandio-se Aussicht auf Unsterblichkeit.

Dazu kamen eine klare Ethik mit prägnanten Grundsätzen (zum Beispiel das Verbot von Abtreibung und Kindesaussetzung, die in der Antike verbreitet waren) und vor allem eine sozialethische Praxis in den christlichen Gemeinden, wie es sie in der antiken Welt nur noch im Ju-dentum gab. Die karitativen Tätigkeiten der Christen für die ärmsten Teile der Bevölkerung, um die sich in der Antike sonst niemand küm-merte (vor allem Witwen und Waisen, aber auch Kranke und Bettler), haben sehr überzeugend gewirkt und dürften gerade Menschen aus den einfachen Bevölkerungsschichten angezogen haben. Deren Lebenspro-bleme, die in den überbevölkerten, schmutzigen und von Krankheiten, Seuchen und Katastrophen (Erdbeben, Feuersbrünste, soziale Unruhen, Eroberung und Plünderung) heimgesuchten Städten der Antike drama-tisch waren, wurden in den christlichen Gemeinden aufgefangen. In der Spätantike wurden große Teile der Bevölkerung des Römischen Rei-ches dadurch für soziale Belange sensibilisiert.

Ferner dürfte die ansatzweise Aufhebung der sozialen Unterschie-de attraktiv gewesen sein. Das Christentum hat zwar weder zur Ab-schaffung der Sklaverei beigetragen – es hat diese im Gegenteil sogar gerechtfertigt – noch die Stellung der Frau aufgewertet, doch wurden

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Kapitel 2 Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum

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die sozialen Grenzen in der Liturgie und durch die Sorge für Arme und Bedürftige faktisch durchbrochen. Mag die postulierte Gleichheit al-ler Menschen in der Praxis auch schwierig gewesen sein, so dürfte der geschwisterliche Umgang miteinander vor allem in der frühesten Zeit doch wohl oft Grund genug gewesen sein, sich in solche Gesellschaft zu begeben.

Generell ist anzunehmen, dass einzelne Christen, die ein engagier-tes Leben aus ihrem Glauben heraus führten, einen tiefen persönlichen Eindruck auf Nichtchristen gemacht haben. Besonders die Martyrien weckten nicht selten Bewunderung für die Leute, die für ihre Überzeu-gung in den Tod gingen.

Alle diese Bekehrungsmotive waren nicht exklusiv christlich – sie galten beispielsweise auch für das Judentum, das ebenfalls eine attrak-tive Religion war – und konnten auch den gegenteiligen Effekt haben. Sittliches Versagen von Christen, das es nicht selten gegeben hat, kon-terkarierte die moralischen Ideale und Forderungen; das Martyrium konnte Abscheu hervorrufen vor so viel unbegreifl icher Verstocktheit. Die Bibel schließlich in ihrer unklassischen griechischen und miserab-len altlateinischen Fassung (vor der besseren Übersetzung des Hierony-mus, der Vulgata) wirkte auf die vorwiegend rhetorisch und literarisch Gebildeten oft anstößig (weswegen zum Beispiel ein Mann wie Augusti-nus mit dem kirchlichen Christentum Nordafrikas zunächst nichts an-fangen konnte). Die angeführten Motive garantierten eine Bekehrung also keineswegs automatisch.

Strukturelle Besonderheiten des Christentums Bei der Suche nach Er-klärungen für den Aufstieg des Christentums sind nicht zuletzt seine strukturellen Besonderheiten zu berücksichtigen. Das antike Christen-tum entwickelte überregionale Organisationsformen auf der Basis von festen, in allen Gemeinden im Wesentlichen identischen institutionellen Strukturen (p Kap. 15.1; 15.3), ferner eine Theologie, deren Grundaus-sagen einerseits einfach und jedem Menschen vermittelbar waren, de-ren Begründung und Entfaltung andererseits aber höchste intellektuelle Ansprüche stellte und befriedigte, und schließlich ethische Normen, die das Leben des Einzelnen umfassend regelten (oder das jedenfalls bean-spruchten), mit dem daraus entspringenden sozialen Engagement aber

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4. Bekehrungsmotive und Erfolgsgründe

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auch Hilfen zur Bewältigung des Alltags zur Verfügung stellten. Zu-dem war es mit seiner immer umfangreicher werdenden literarischen Produktion im intellektuellen Diskurs der Zeit in zunehmendem Maße präsent.

Schließlich passte das Christentum mit seiner universalen Zielset-zung – ein Gott und eine Wahrheit für alle Menschen – sowohl zu den zeitgenössischen philosophischen Ideen der Einheit des Menschenge-schlechts und der Einzigkeit eines (obersten) Gottes als auch zur römi-schen politischen Ideologie der Einheit der Welt unter einer Herrschaft. Für solche Vorstellungen und für die damit einhergehende Mentalität nicht weniger Menschen der Spätantike bot sich das Christentum als Religion geradezu an. Mit seinem Monotheismus lag es im Trend einer Zeit, die viele Einheitstendenzen aufwies.

Ohne den Erfolg des Christentums in der Spätantike wirklich erklä-ren zu können, lassen die genannten Aspekte in ihrer Summe dieses er-staunliche Phänomen doch verständlich werden. Der Hauptgrund dürf-te in der spezifi schen Verbindung von Theologie und Ethik zu sehen sein: Die zentralen Lehren des Christentums begründeten und stützten verbindliche, effektive und befreiende soziale Beziehungen.

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Die Ausbreitung des östlichen Christentums

Das Christentum im Osten Das Christentum fand auch außerhalb des Römischen Reiches Anhänger, und zwar vor allem östlich seiner Gren-zen, im Persischen Reich und auf der Arabischen Halbinsel. Auch hier waren es zunächst jüdische Gemeinden, in denen Jesus von Nazaret als der Messias geglaubt und verkündet wurde; später wurde das Evan-gelium auch von ‚Heiden‘, also von Nichtjuden angenommen, und es entstand ein dichtes Netz von Ortskirchen. Das Christentum verbrei-tete sich im Vorderen Orient auf denselben Wegen wie im Römischen Reich, also einerseits durch persönliche Kontakte und Netzwerke, an-dererseits entlang der bekannten Straßen und vor allem in den Städ-ten. Der Handel mit seinen Wegen und Beziehungen spielte hierbei eine große Rolle. Später waren es auch Herrscherpersönlichkeiten, die das Christentum in ihrem Bereich gefördert oder sogar für ihre Untertanen angeordnet haben, so dass man von einer Christianisierung von oben sprechen kann. Infolge der schlechten politischen Beziehungen zwi-schen Römern und Persern konnten die in diesem Raum entstehenden christlichen Gemeinden nur unter größten Schwierigkeiten in Kontakt mit den Gemeinden innerhalb des Römischen Reiches bleiben, so dass sie sich später selbstständig entwickelten. Es war sogar in ihrem Interes-se, die Unabhängigkeit von der Kirche im Römischen Reich zu betonen, um gegenüber den eigenen Herrschern nicht als illoyal zu erscheinen.

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1. Die ostkirchlichen Traditionen

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1. Die ostkirchlichen Traditionen

Ein wichtiges Element bei der Ausbreitung des östlichen Christentums war die kulturelle Prägung, die sich vor allem in der verwendeten Spra-che sowie in liturgischen Besonderheiten zeigte. Diese Vielfalt ist auch angesichts der Tatsache wichtig, dass im Westen – nach anfänglicher Verwendung des Griechischen – über lange Jahrhunderte ausschließ-lich Latein in Gebrauch war, so dass man von der lateinischen oder der römischen Kirche sprach und spricht. Grundsätzlich lassen sich für den Osten folgende Traditionen unterscheiden:

Die griechische Tradition Sie wurde zur am weitesten verbreiteten, weil die griechische Sprache als lingua franca des Römerreichs den Christen zur Kommunikation diente. Die Evangelien und die Briefe der Apos-tel waren auf Griechisch abgefasst, die jüdische Bibel wurde in ihrer griechischen Übersetzung (der Septuaginta) gelesen (p Kap. 2.2), und die Liturgie wurde weitgehend in griechischer Sprache gefeiert. Nach der Teilung des Römischen Reiches Ende des 4. Jahrhunderts war das Griechische Verwaltungs- und Kommunikationssprache im östlichen Reichsteil. Im Westen wurde es vom Lateinischen abgelöst, und die zunehmende Entfremdung zwischen griechischem und lateinischem Christentum zeigte sich auch darin, dass man einander in späteren Jahrhunderten schlicht nicht mehr verstand.

Die syrische Tradition Im historischen Syrien (etwa heutiges Syrien, Li-banon, Jordanien, Teile des Iraks und der Türkei) bediente man sich der syrischen Sprache, die zur semitischen Sprachfamilie gehört und damit dem Hebräischen wie dem Aramäischen (der Sprache Jesu und seiner Jünger) viel näher stand. Wichtigster Ort und Hauptstadt der römischen Provinz Oriens war Antiochia (heute Antakya in der südlichen Türkei). Die Grenze zwischen Römer- und Perserreich verlief durch das Gebiet des syrischen Christentums, das somit in zwei Teile getrennt wurde, das westsyrische (mit Antiochia als Zentrum) im Römerreich und das ostsyrische (mit Edessa als Hauptort, heute Urfa/Türkei) unter der Per-serherrschaft. Trotz der Herkunft aus derselben Tradition und trotz der Verwendung derselben Sprache entwickelten sich beide Teile zu selbst-

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Kapitel 3 Die Ausbreitung des östlichen Christentums

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ständigen Kirchen, die sich später aufgrund theologischer Differenzen gegenseitig die Rechtgläubigkeit aberkannten.

Die koptische Tradition Sie war in Ägypten beheimatet (das Wort ‚Kop-te‘ ist eine Verballhornung von Aigyptios, Ägypter), wo es seit dem 2. Jahr-hundert Christentum gab. Hauptort war die nach Rom bedeutendste Metropole der christlichen Antike, Alexandria. Die Bewohner Ägyptens legten großen Wert auf ihre Eigenständigkeit und empfanden die Römer als Besatzer. Auch die Beziehung zwischen der Hauptstadt des Oströ-mischen Reiches, Konstantinopel, und Alexandria war von Rivalität ge-prägt. In kirchlicher Hinsicht zeigte sich die Sonderstellung Alexandrias in zahlreichen liturgischen Besonderheiten sowie in der Entwicklung einer eigenen theologischen Schule, die vor allem im 5. Jahrhundert gro-ße theologische und kirchenpolitische Bedeutung erlangen sollte. Die koptische Sprache ist aus der altägyptischen Sprache entstanden, hat aber viele griechische Anteile aufgenommen. Die meisten großen Theo-logen Alexandrias verfassten ihre Werke allerdings auf Griechisch.

Die armenische Tradition Das Christentum hatte in Armenien früh Fuß gefasst und war von weiten Teilen der Bevölkerung angenommen worden. Traditionell wird das Jahr 304 als der Zeitpunkt genannt, zu dem es in Armenien Staatsreligion wurde. Allerdings entwickelte sich die armenische Kirche in großer Unabhängigkeit von der restlichen Christenheit, von der sie durch ihre geographische Lage getrennt war. Oft gab es nicht einmal die Möglichkeit zu Kontakten, und viele der kirchlichen und theologischen Entwicklungen im Römischen Reich konnten von den Armeniern nicht mitvollzogen werden. Die Kirche dort bediente sich der armenischen Sprache. Die armenische Tradition blieb auf Armenien beschränkt, war dort aber unangefochten.

Jerusalem als Mittelpunkt der christlichen Welt Diese kirchlichen Tra-ditionen gab und gibt es im christlichen Osten. Durch die historische Entwicklung konnten sie in ganz unterschiedlicher Weise zur Ausbrei-tung des Christentums beitragen. Es sei noch hinzugefügt, dass Jeru-salem immer eine besondere Rolle gespielt und die anderen Traditionen oft massiv beeinfl usst hat, vor allem in der Liturgie. Man glaubte, dass