5 das makromolekül als festkörper und als schmelze

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333 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 5.1 Strukturen 5.1.1 Klassifizierung Polymere Festkörper lassen sich in drei Klassen einteilen: (1) Thermoplaste Dazu gehören amorphe unvernetzte und teilkristalline unvernetzte Polymere. Sie sind schmelzbar und können durch Extrusion, Spritzguß oder im Spinnverfahren verarbeitet werden. In organischen Lösemitteln sind sie oft löslich. Sie enthalten sowohl kristalline als auch amorphe Bereiche. Die Makromolekülketten gehen dabei durch mehrere Bereiche und stellen so den Zusammenhalt des Polymers her (siehe Abbildung 5.1). (2) Elastomere Hierbei handelt es sich um amorphe, leicht vernetzte Polymere (Kautschuke). Sie sind dehnbar, können aber nicht in den geschmolzenen Zustand überführt werden. In Lösemitteln quellen sie; aber sie sind nicht löslich. (3) Duroplaste Sie besitzen die Struktur engmaschiger Netzwerke. Die Kettenwachstumsreaktion erfolgt gleichzeitig mit der Vernetzung bei hohen Temperaturen und Drücken im sogenannten Här- tungsprozeß. Duroplaste sind im ausgehärteten Zustand unschmelzbar, unlöslich und zeigen keine oder nur geringe Quellung. In Tabelle 5.1 sind einige Beispiele für Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste aufgezählt. Abbildung 5.1: Zweiphasenmodell eines teilkristallinen polymeren Festkörpers. (A.V. Tobolsky, H.F. Mark, 1980) Tabelle 5.1: Ausgewählte Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste Thermoplaste Elastomere Duroplaste Polyethylen Polyoxymethylen Polypropylen Polyamide teilkristallin U V | W | Polyvinylchlorid Polystyrol Polymethylacrylat amorph U V | W | Polyisobutylen Polydimethylsiloxan cis-Polyisopren Polybutadien Polyurethankautschuk Kautschuk BUNA-S Phenolformaldehydharz Harnstofformaldehydharz Epoxydharz ungesättigtes Polyesterharz

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333

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5.1 Strukturen

5.1.1 Klassifizierung Polymere Festkörper lassen sich in drei Klassen einteilen: (1) Thermoplaste − Dazu gehören amorphe unvernetzte und teilkristalline unvernetzte Polymere. Sie sind schmelzbar und können durch Extrusion, Spritzguß oder im Spinnverfahren verarbeitet werden. In organischen Lösemitteln sind sie oft löslich. Sie enthalten sowohl kristalline als auch amorphe Bereiche. Die Makromolekülketten gehen dabei durch mehrere Bereiche und stellen so den Zusammenhalt des Polymers her (siehe Abbildung 5.1). (2) Elastomere − Hierbei handelt es sich um amorphe, leicht vernetzte Polymere (Kautschuke). Sie sind dehnbar, können aber nicht in den geschmolzenen Zustand überführt werden. In Lösemitteln quellen sie; aber sie sind nicht löslich. (3) Duroplaste − Sie besitzen die Struktur engmaschiger Netzwerke. Die Kettenwachstumsreaktion erfolgt gleichzeitig mit der Vernetzung bei hohen Temperaturen und Drücken im sogenannten Här-tungsprozeß. Duroplaste sind im ausgehärteten Zustand unschmelzbar, unlöslich und zeigen keine oder nur geringe Quellung.

In Tabelle 5.1 sind einige Beispiele für Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste aufgezählt. Abbildung 5.1: Zweiphasenmodell eines teilkristallinen polymeren Festkörpers. (A.V. Tobolsky, H.F. Mark, 1980)

Tabelle 5.1: Ausgewählte Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste

Thermoplaste Elastomere Duroplaste

PolyethylenPolyoxymethylenPolypropylenPolyamide

teilkristallinUV|W|

PolyvinylchloridPolystyrolPolymethylacrylat

amorphUV|W|

Polyisobutylen Polydimethylsiloxan cis-Polyisopren Polybutadien Polyurethankautschuk Kautschuk BUNA-S

Phenolformaldehydharz Harnstofformaldehydharz Epoxydharz ungesättigtes Polyesterharz

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5.1 Strukturen 334

5.1.2 Kristalline Polymere

5.1.2.1 Kristallinität Viele Polymere kristallisieren zu einem bestimmten Anteil, wenn die Polymerschmelze unter den Schmelzpunkt der kristallinen Phase abkühlt. Das Röntgendiagramm zeigt dann einige mehr oder weniger scharfe Röntgeninterferenzen. Polymere kristallisieren aber sehr viel schwieriger als nie-dermolekulare Stoffe und nur sehr selten vollständig. Der Kristallisationsgrad hängt von verschie-denen Faktoren ab. Diese sind: − die Abkühlgeschwindigkeit − die Schmelztemperatur − die chemische Zusammensetzung − die Taktizität − die Molmasse des Polymers − der Grad der Kettenverzweigung − Zusätze wie Nukleations-Agenzien.

Die Schmelzen industriell hergestellter Polymere werden vielfach sehr schnell abgekühlt. Der Kristallisationsgrad hängt dabei von der Kristallisationskinetik und der Abkühlrate ab. Es ist mög-lich, die Schmelze so schnell abzukühlen, daß die Kristallisation gar nicht erst stattfindet. Die Kris-tallisation kann aber nachträglich induziert werden. Das amorphe Polymer wird dazu bei einer Temperatur ausgekühlt, die leicht unterhalb der Schmelztemperatur Tm liegt.

5.1.2.2 Struktur der Kristalle Ein Kristall besitzt verschiedene physikalische Eigenschaften. Diese ergeben sich aus seiner chemi-schen Zusammensetzung, der Symmetrie seines Aufbaus und der Art der Bindungen zwischen sei-nen Bausteinen. Für die Behandlung festkörperphysikalischer Probleme ist es deshalb notwendig, bestimmte kristallographische Grundlagen zu kennen, die hier kurz zusammengestellt werden. Idealkristalle Kristalline Festkörper können aus einer Vielzahl von Kristallen unterschiedlicher Größe und Orientierung oder aus einem einzigen Kristall bestehen. Es wird zwischen Poly- und Einkristallen unterschieden. Die Wärmeschwingung der Kristallbausteine sorgt allerdings dafür, daß eine echte räumliche Ordnung (Periodizität) nur im Zeitmittel vorliegt. Das gilt auch für den absolu-ten Nullpunkt der Temperatur, denn nach der Quantenmechanik ist die Nullpunktsenergie des har-monischen Oszillators ungleich null.

In der Kristallographie wird zwischen Ideal- und Realkristallen unterschieden. Ein Kristall heißt Idealkristall, wenn die periodische Anordnung der Bausteine zeitlich konstant und mathema-tisch exakt ist, sonst heißt er Realkristall.

Die aus der Schmelze gezogenen Polymerkristalle weisen in der Regel viele Defekte auf. Ein höherer Grad an Perfektion wird bei Polymerkristallen gefunden, die in verdünnten Polymerlösun-gen entstehen. Die Polymere treten dort als isolierte Knäuel auf, und die Kristallisation wird nicht durch Verhakungen behindert.

Es existieren in der Natur viele Einkristalle (z.B. Diamant). Für andere Materialien, wie bei Metallen und Halbleitern, ist die Herstellung von Einkristallen aus der Schmelze mittlerweile Rou-tine. Es ist dagegen nicht möglich, polymere Einkristalle herzustellen. Am perfektesten sind noch die Diacetylen-Kristalle. Der Kristallisationsgrad dieser Polymere kann fast 100 % betragen. Basisgitter und Punktgitter Die periodisch angeordneten Bausteine eines Idealkristalls sind identisch. Sie können aus einem einzelnen Atom, aber auch aus sehr vielen verschiedenen Atomen (Segmenten) bestehen. Die Identität der Bausteine beinhaltet dabei die Gleichheit in der Atomzu-sammensetzung, der Atomanordnung und in der Orientierung im Raum. Die Lage jedes Bausteins

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 335

wird durch einen für alle Bausteine gleichartigen Punkt im Koordinatensystem, z.B. durch den Schwerpunkt, festgelegt. Man erhält dadurch ein Punktgitter (siehe Abbildung 5.2). Abbildung 5.2: Kristallstruktur a) Basisgitter b) Punktgitter

Das Punktgitter ist aber nur eine Abstraktion. Um die wahre Struktur des Kristalls zu beschreiben, muß außerdem bekannt sein, welcher als Basis bezeichneter Baustein jeden der Gitterpunkte besetzt (vergleiche Abbildung 5.2). Wir können also sagen: Das Punktgitter und eine die Gitterpunkte be-setzende Basis bestimmen die Struktur eines Kristalls. Gittergeraden und Netzebenen Eine durch mindestens zwei Gitterpunkte gehende Gerade heißt Gittergerade. Zueinander parallele Geraden bilden eine Geradenschar. Eine Netzebene ist ein zwei-dimensionales Punktgitter. Sie enthält mindestens drei nicht kollineare Gitterpunkte und wird durch kongruente Vielecke bedeckt, deren Eckpunkte die Gitterpunkte sind. Zueinander parallele Netz-ebenen bilden eine Netzebenenschar. Elementarvektoren und Elementarzelle Die von einem Gitterpunkt zu drei benachbarten, nicht komplanaren Gitterpunkten weisenden Vektoren a, b und c eines dreidimensionalen Punktgitters heißen Elementarvektoren. Das von a, b und c aufgespannte Parallelepiped ist die Elementarzelle. Durch die fortgesetzte Translation der Elementarzelle erhält man das gesamte Gitter. Das Punktgit-ter kann dabei durch verschiedene Elementarzellen aufgebaut werden. Einige Typen von Elemen-tarzellen für ein zweidimensionales Punktgitter zeigt Abbildung 5.3. Abbildung 5.3: Verschiedene Elementarzellen eines zwei- dimensionalen Punktgitters. Die Zellen a, b und c sind primitiv, Zelle d ist zentriert.

Eine Elementarzelle heißt primitiv, wenn ausschließlich die Eckpunkte der Zelle durch Gitterpunkte besetzt sind. Es ist aber auch möglich, daß im Innern der Elementarzelle Gitterpunkte vorhanden sind. Die Zelle heißt dann zentriert. Im dreidimensionalen Punktgitter existieren zwei Arten der Zentrierung: Innenzentrierte Elementarzellen besitzen einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Raum-diagonalen, flächenzentrierte einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Diagonalen der betreffenden Fläche. Symmetrieoperationen und Bravais-Gitter Jede Transformation, die ein gegebenes Gitter in sich selbst überführt, ist eine „Symmetrieoperation“. Die einfachste Symmetrieoperation ist die Translation. Weitere Symmetrieoperationen sind Drehungen an Achsen, Spiegelungen an Ebenen und deren Zusammensetzungen. Eine sehr wichtige Zusammensetzung ist die Inversion. Es handelt sich dabei um eine Halbdrehung (φ = 180°) und die nachfolgende Spiegelung an einer Ebene senk-

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5.1 Strukturen 336

recht zur Drehachse. Operationen, bei denen mindestens ein Punkt des Gitters in sich selbst abge-bildet wird, heißen Punktsymmetrieoperationen. Beispiele sind die Drehung, Spiegelung und Inver-sion. Bei der Inversion bleibt der Schnittpunkt zwischen der Drehachse und der Spiegelebene raum-fest. Er heißt Symmetriezentrum. Symmetrieelemente sind Drehachsen, Spiegelebenen und Sym-metriezentren.

Ein Punktgitter kann natürlich nicht durch jede Drehung mit sich selbst zur Deckung gebracht werden. Es sind nur die Drehungen erlaubt, bei denen die Drehachse parallel zu einer Gittergeraden und senkrecht zu einer Netzebene liegt. Die Drehachse heißt n-zählig, wenn die Gittersymmetrie bei der Drehung um den Winkel 360°/n erhalten bleibt. Es existieren nur ein-, zwei-, drei-, vier- und sechszählige Drehachsen, wobei n = 1 die Identität mit der Ausgangslage bedeutet.

Die Kristalle, bei denen die gleichen Punktsymmetrieoperationen möglich sind, bilden eine Kristallklasse. Es existieren 32 solcher Kristallklassen. Wenn man noch die Translation dazunimmt, treten zwei zusätzliche Symmetrieoperationen auf. Das sind die Schraubung (Drehung verknüpft mit Translation) und die Gleitspiegelung (Spiegelung verknüpft mit Translation). Die Kristalle las-sen sich dadurch in 230 verschiedene Raumgruppen unterteilen.

Tabelle 5.2: Kristallsysteme und Bravais-Gitter des dreidimensionalen Punktgitters

Kristallsystem Geometrie der Elementarzelle Bravais-Gitter

a b c a≠ ≠ ≠ ≠ ≠ ≠ °; ;α β γ α β γ, , 90

a b c a≠ ≠ ≠ = = ° ≠; α γ β90

a b c a≠ ≠ ≠ = = =; °α β γ 90

a b c= ≠ = = ° =; ; °α β γ90 120

a b c= = = = ≠ ° <; , °α β γ 90 120

a b c= ≠ = = = °; α β γ 90

a b c= = = = = °; α β γ 90

triklin triklin

monoklin primitiv monoklin basisflächenzentriert monoklin

rhombisch primitiv rhombisch basisflächenzentriert rhombisch innenzentriert rhombisch allseitig flächenzentriert rhombisch

hexagonal hexagonal

rhomboedrisch rhomboedrisch

tetragonal primitiv tetragonal innenzentriert tetragonal

kubisch primitiv kubisch innenzentriert kubisch allseitig flächenzentiert kubisch

Die 32 Kristallklassen kann man in sieben Kristallsysteme einordnen. Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse der Elementarvektoren charakterisiert. Die Elementarzellen können dabei primitiv oder zentriert sein. Es gibt insgesamt 14 wesentlich verschiedene Gitterty-pen. Sie unterscheiden sich durch ihre Symmetrie und durch die Zentrierung der Elementarzellen. Diese 14 Gittertypen heißen Bravais-Gitter. Eine Übersicht gibt Tabelle 5.2. a, b und c sind die Längen der Elementarvektoren. α ist der Winkel zwischen den Vektoren b und c, β der zwischen a und c und γ der zwischen a und b. Weißsche und Millersche Indizes − Translationen werden durch den Gittervektor (5.1)

beschrieben. Sind die ganzen Zahlen m, n und p teilerfremd, so weist der Gittervektor rm,n,p von irgendeinem Gitterpunkt zum in der Richtung von r gelegenen nächstbenachbarten Gitterpunkt.

(, , , ,m n p m n p m n p= + + ∈r a b c )Z

m,n,p

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 337

Alle zu ihm parallelen Gittergeraden werden durch das in eckige Klammern gesetzte Zahlentripel [m n p] gekennzeichnet.

Die Lage der Netzebenen eines Gitterpunktes werden ähnlich beschrieben. Wir betrachten da-zu die Netzebene in Abbildung 5.4, linkes Bild. Diese schneidet die durch a, b und c gegebenen Achsen bei m a, n b und p c. Alle Ebenen, die parallel zu dieser Ebene sind, lassen sich durch eine einzige Netzebene charakterisieren. Diese besitzt nach Weiß den kleinsten Abstand vom Koordina-tenursprung. Für sie sind die Zahlen m, n und p (Weißsche Indizes) teilerfremd. Bei der Röntgen-strukturanalyse ist es allerdings praktischer, eine Netzebenenschar durch die Millerschen Indizes h, k und l zu beschreiben. Sie sind das Tripel der kleinsten ganzen Zahlen, für welche die folgende Beziehung erfüllt ist: (5.2) 1 1 1m n p h k l: : = : :

Das reziproke Gitter − Für die Auswertung von Röntgenbeugungsdiagrammen ist es zweckmäßig, das reziproke Gitter einzuführen. Es wird durch die Elementarvektoren

(5.3)

aufgespannt. Die Vektoren a, b und c sind die Elementarvektoren des ursprünglichen Punktgitters. Ein Gittervektor des reziproken Gitters besitzt die Form: (5.4)

( ) ( ) ( )2 π , 2 π , 2 π× ×= = =× ×

a c c a a bA B Ca b c b c a c a b

××

G A B Ch k l h k l h k l, , = + + ∈, , Za fEr steht senkrecht zu der Netzebenenschar (h k l). Da a c ist, gilt außerdem

(5.5) Der Abstand d (siehe Abbildung 5.4, rechtes Bild) zweier benachbarter Netzebenen in der Schar (h k l) ist somit gleich:

( ) ( ) 0× = × =a a a b

2 π=G a

(5.6)

Mit Gleichung (5.5) folgt schließlich: (5.7)

( )0 d=G a G G a =

G = 2 π d

Abbildung 5.4: Linkes Bild: Zur Bezeichnung der Netzebenen; m = 3, n = 2 und p = 2 Rechtes Bild: Zwei Netzebenen im Abstand d ; G0 ist der Einheitsvektor

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5.1 Strukturen 338

5.1.2.3 Röntgenstrukturanalyse Die Röntgenstrukturanalyse ist ein Untersuchungsverfahren zur Bestimmung der Kristallsymmetrie, der Größe der Elementarzelle sowie der Lage der Atomkerne und der Elektronendichteverteilung in der Elementarzelle. Das Verfahren basiert auf der 1912 von Max von Laue entdeckten Erscheinung, daß Röntgenstrahlen an Kristallgittern gebeugt werden, wenn die Strahlung unter einem festen Win-kel auf den Kristall trifft. Die anschauliche Erklärung dieses Sachverhalts gelang 1914 W.H. Bragg (Vater) und W.L. Bragg (Sohn).

Abbildung 5.5 I: Röntgen-Streuung an einem Kristallgitter. Abbildung 5.5 II: a) Schematische Darstellung der Versuchsanordnung von Debye und Scherrer, b) Debye-Scherrer-Diagramm

Die Braggs nahmen an, daß die Partikel eines Kristalls ein Raumgitter bilden. Fällt Röntgenstrah-lung auf das Gitter, so treten Interferenzen auf. Die einfallenden Wellen werden an den Partikeln kohärent gestreut. Wir betrachten dazu Abbildung 5.5 I. Der Kristall besteht aus den Netzebenen mit dem Abstand d. Die Röntgenstrahlen fallen unter dem Winkel ϕ ein. Sie werden an den Netz- ebenen (den Kristallpartikeln) reflektiert. Für den Gangunterschied der reflektierten Strahlen gilt: (5.8) Um ein Intensitätsmaximum (konstruktive Interferenz) zu erhalten, muß die Bedingung (5.9)

erfüllt sein. Sie heißt Bragg-Bedingung, der Winkel ϕ ist der Glanzwinkel.

AB BC d+ = 2 sinϕ

2 d z zsin 1 2 3ϕ λ= = , , , ...a f

Die wohl wichtigste Methode zur Strukturuntersuchung von Kristallen ist das Debye-Scherrer-Verfahren. Das zu untersuchende Material wird dabei pulverisiert und in die Form eines Stäbchens gepreßt. Das Stäbchen wird in die Mitte eines kreiszylindrisch gebogenen Films gebracht (siehe Abbildung 5.5 II) und senkrecht bestrahlt. Die Kristalle sind regellos innerhalb des Stäbchens verteilt. Es sind deshalb stets Kristalle vorhanden, welche die Braggsche Reflexionsbedingung bzgl. dieser oder jener Netzebene erfüllen. Die an gleichen Netzebenen gebeugten Strahlen liegen auf einem Kegelmantel, dessen Achse mit der Richtung des einfallenden Strahls zusammenfällt. Ver-schiedene Netzebenen erzeugen Beugungskegel mit verschiedenen Öffnungswinkeln. Die Schnitt-linien der Kegelmäntel mit dem Film ergeben die Debye-Scherrer-Diagramme (siehe Abbildung 5.5 II b) und Abbildung 5.6 a)).

Bei dem von Debye und Scherrer entwickelten Verfahren ist λ bekannt, und ϕ wird gemessen. Der Netzebenenabstand d wird mit Hilfe von Gleichung (5.9) berechnet. Mit den Abständen d der verschiedenen Netzebenenscharen und den zugehörigen Millerschen Indizes wird dann mit den Gleichungen (5.4) bis (5.7) das reziproke Gitter aufgebaut. Dieses liefert unter Berücksichtigung der Gleichungen (5.2) und (5.3) die Elementarzelle des ursprünglichen Gitters.

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 339

Abbildung 5.6: Röntgenbeugungsdiagramme. a) α-Crystobalit, b) ungestretchtes und c) gestretchtes Polyisobutylen (J.T. Randall, The Diffraction of X-Rays and Electrons by Amorphous Solids, Liquids and Gases, Wiley (1934); C.S. Fuller et al., J.Am.Chem.Soc., 62(1940)1905)

Polymere erfordern eine spezielle Untersuchungstechnik. Sie werden nicht pulverisiert, wohl aber zu Stäbchen geformt. Die Stäbchen werden zu langen Fasern gedehnt. Die Verhakungen der Polymerketten in der Probe werden dadurch zum Teil aufgehoben. Die Ketten werden parallel zur Stretchrichtung ausgerichtet. Es entstehen kristalline Regionen gebündelter Polymerketten. Jeweils eine Achse der Elementarzellen der kristallinen Regionen ist parallel zur Faserachse ausgerichtet. Die beiden anderen Achsen sind zufällig zur Faserachse orientiert. Das Röntgenbeugungsdiagramm ähnelt deshalb dem Rotationsdiagramm eines Einkristalls, wenn man eine Achse des Einkristalls fixiert und den Einkristall um diese Achse dreht. Einige Beispiele für Röntgenbeugungsdiagramme zeigt Abbildung 5.6. Das Polyisobutylen in Abbildung 5.6 b) ist nicht gestretcht, das Polyisobutylen der Abbildung 5.6 c) ist gestretcht. Abbildung 5.6 a) zeigt das Pulverdiagramm von α-Crystobalit.

Röntgenbilder vom Typ der Abbildung 5.6 c) heißen Faserdiagramme. Sie unterscheiden sich in bestimmten Punkten von den Rotationsdiagrammen echter Einkristalle. (1) Die Röntgenreflexe sind sehr viel diffuser als bei echten Einkristallen. Erklärung: Die kristalline Ordnung erstreckt sich jeweils nur über kleine Bereiche des Polymers. (2) Die Reflexe sind kurze Bögen und keine Spots. Dies ist auf die nicht perfekte Anordnung der kristallinen Regionen zurückzuführen. Nicht alle Re-gionen sind genau parallel zur Faserachse ausgerichtet. (3) Es werden weniger Reflexe als beim Einkristall beobachtet. Die kristallinen Zonen des Polymers sind relativ klein. Reflexe, die von grösseren interplanaren Distanzen herrühren, fehlen deshalb. (4) Die Faser besitzt viele nichtkristal-line Regionen. Es wird deshalb eine starke Hintergrundstrahlung beobachtet.

Die Interpretation eines Faserdiagrammes ähnelt der eines Röntgendiagrammes von Einkris-tallen. Die Strukturanalyse ist bei Polymeren aber schwieriger. Auch wenn der Kristallchemiker alle (h k l)-Reflexe sehr genau vermessen hat, besitzt er in den meisten Fällen nicht genügend Informa-tionen, um die Kristallstrukur eindeutig zu bestimmen. Er ist auf Vermutungen und Erfahrungswerte angewiesen. Das sind: (1) Polymerketten nehmen innerhalb eines Kristalls die Konformation mit der niedrigsten Energie an, (2) die Ketten sind meistens so angeordnet, daß sie den zur Verfügung stehenden Raum möglichst effizient ausfüllen. (3) Die Kristallstrukturen chemisch verwandter Po-lymere sind oft bekannt. Sie können als Startpunkt für die Strukturbestimmung des zu untersuchen-den Polymers dienen. (4) Die stereochemische Natur der Polymerketten hängt von der Synthese-Methode ab. Es ist somit wichtig, diese zu kennen. (5) Spektroskopische Methoden liefern die de-taillierte Mikrostruktur der Polymermoleküle. Sie kann Informationen über die Konformation und die Anordnung der Ketten innerhalb des Kristalls liefern. (6) Es ist auch für verschiedene Struktur-modelle möglich, die Kristallstruktur mit der niedrigsten Energie zu berechnen. Das ist allerdings sehr schwierig, weil man dazu die Art der Wechselwirkungen zwischen den Gitterpunkten kennen muß. Hat man eine in Frage kommende Struktur gefunden, so ist es auf alle Fälle notwendig, die gemessenen Positionen und Intensitäten der (h k l)-Reflexe mit den theoretisch berechneten zu ver-gleichen. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist aber niemals perfekt. Die vorgeschlagene Struktur muß solange verfeinert werden, bis man einen besten Fit für die gemesse-

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5.1 Strukturen 340

nen Daten gefunden hat. Auch die dann gefundene Kristallstruktur stellt nur eine Idealisierung dar. In vielen Fällen ist es möglich, bessere Fits (Modelle) zu finden. Die in den Lehrbüchern diskutier-ten Kristallstrukturen besitzen deshalb eine statistische Sicherheit von nur höchstens 90%.

2 3

OrthorhombischC2221

2 4

Triklin

4,9 5,4

17,2

5.1.2.4 Polymer-Kristallstrukturen (ausgewählte Beispiele) Zur Zeit (1996) sind die Kristallstrukturen von einigen hundert Polymeren bekannt. Ausgewählte Beispiele sind in Tabelle 5.3 zusammengestellt. Tabelle 5.3: Kristallstrukturen einiger Polymere (B. Wunderlich, 1973)

14,50 5,60 7,40

90° 90° 90°

8

48,5° 77°

63,5°

1

1,240

Polymer- Grundbaustein

Kristallsystem Raumgruppe

Achsen der Elementarzelle in Å (a, b u. c)

α β γ

0,930

Polyvinylchlorid (syndiotaktisch) −CH2−CHCl−

Grundbau- steine pro Ele-

mentarzelle

ρ/(g/cm3)

OrthorhombischPbcm

10,40 5,30 5,10

Polyethylen I −CH2−

90° 90° 90°

4

1,477

OrthorhombischPnam

7,42 4,95 2,55

90° 90° 90°

Polyvinylalkohol (ataktisch) −CH2−CHOH−

Monoklin P

4

0,997

2/m

7,81 2,51 5,51

90° 97,7° 90°

Polyethylen II −CH2−

Monoklin C

2

1,350

2/m

8,09 2,53 4,79

90° 107,9°

90°

4

Polyvinylfluorid (ataktisch) −CH2−CHF−

OrthorhombischCm2m

0,998

Polytetrafluorethylen I −CF −

8,57 4,95 2,52

90° 90° 90°

2

2

Triklin P1

1,430

1,4-Polyisopren (cis) −CH −CCH =CH−CH −

5,59 5,59

16,88

90° 90°

119,3°

13

2,347

Polytetrafluorethylen II −CF2−

Trigonal P31 oder P3

2 3 2

OrthorhombischP bac

12,46 8,86 8,10

90° 90° 90°

8

1,009

2

5,66 5,66

19,50

90° 90°

120°

15

2 3 2

2,302

Polypropylen (isotaktisch) −CH −CHCH −

OrthorhombischP212 2

2 3

Monoklin P21/c

1 1

7,83 11,87 4,75

90° 90° 90°

6,66 20,78 6,49

90° 99,6° 90°

12

4

1,025

Nylon 66, α −(CH ) −NH−CO− −(CH ) −CO−NH−

0,946

Polypropylen (syndiotaktisch) −CH −CHCH −

2 6

1,4-Polyisopren (trans) −CH −CCH =CH−CH −

P1

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 341

Nylon 66, β −(CH2)6−NH−CO− −(CH ) −CO−NH− 2 4

Triklin

4,9 8,0

17,2

90° 77° 67°

2 P1

1,250

Ausgewählte Beispiele Eines der einfachsten Polymere ist Polyethylen, −(CH2−CH2)− . Es ist hochkristallin. Die Kettenkonformation mit der niedrigsten Energie ist die alltrans-Konformation, d.h. die ebene Zick-Zack-Kette. Die Elementarzelle ist entweder orthorhombisch oder monoklin.

n

Abbildung 5.7: Elementarzelle des orthorhombischen Polyethylenkristalls. (C.W. Bunn, Trans. Farad. Soc. 35 (1939) 482)

Abbildung 5.7 zeigt das Modell der Elementarzelle eines orthorhombischen Polyethylen-Kristalls. Die Achsen der gestreckten Molekülketten sind parallel zur c-Achse ausgerichtet. Sie werden durch Van-der-Waals-Bindungen in ihrer Position gehalten. Die Wechselwirkungen zwischen den H-Atomen bestimmen den Platzwinkel in der Zelle. Das ist der Winkel, den die „molekularen Zick-Zacks“ mit der a- bzw. b-Achse bilden. Die orthorhombische Kristallstruktur (Polyethylen I) ist die stabilere Struktur. Die monokline Modifikation (Polyethylen II) wird erhalten, wenn man Polyethy-len I mechanisch deformiert. Die Kettenmoleküle von Polyethylen II besitzen ebenfalls die Gestalt einer ebenen Zick-Zack-Kette. Ihre Segmente sind aber in der Elementarzelle anders angeordnet als die von Polyethylen I (siehe Tabelle 5.3).

Polytetrafluorethylene kommen in zwei Modifikationen vor. Bei tiefen Temperaturen (T ≤ 19 °C), ist die Modifikation I stabil. Modifikation II wird bei Temperaturen oberhalb von T = 19 °C beobachtet. F-Atome sind deutlich größer als H-Atome. Eine Anordnung der Grundbausteine −CF − in der Form einer ebenen Zick-Zack-Kette ist deshalb aus rein sterischen Gründen nicht möglich. Polytetrafluorethylen-Moleküle besitzen die Konformation einer Helix. Unterhalb von T = 19 °C treten die Moleküle als 13/6 Helix und oberhalb dieser Temperatur als 15/7 Helix auf.

2

Ataktische Vinylpolymere (−CH2−CHX−) kristallisieren nur dann, wenn der Substituent X genügend klein ist. OH-Gruppen sind relativ klein. Polyvinylalkohol kristalliert deshalb in der Form der ebenen Zick-Zack-Kette zu monoklinen Strukturen ähnlich wie Polyethylen. Vinylpolymere müssen aber entweder iso- oder syndiotaktisch sein, damit sie überhaupt kristallisieren. Isotaktische Vinylpolymere kristallisieren in Form einer Helix. So besitzt isotaktisches Polypropylen die Form einer 3/1 Helix. Die Grundbausteine nehmen dabei abwechselnd trans- und gauche-Positionen ein.

n

Page 10: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5.1 Strukturen 342

In syndiotaktischen Vinylpolymeren hängt die Konformation der Moleküle von der Größe des Sub-stituenten ab. Für größere X finden wir die Helix und für genügend kleine X die ebene Zick-Zack-Konformation.

Nylon ist ein Polyamid. Die Kettenmoleküle sind hier durch Wasserstoffbrücken-Bindungen zwischen den CO- und NH-Gruppen verknüpft. Sowohl Nylon 6 als auch Nylon 6.6 kristallisieren in der ebenen Zick-Zack-Konformation. Die verschiedenen Modelle für die Kristallmodifikationen von Polyamid werden bei Wunderlich diskutiert.

5.1.2.5 Morphologie und Textur Die kristallinen Zonen (Kristallite) eines Polymers besitzen verschiedene Gestalten. Es wird zwi-schen den Extremgestalten Fransenkristallit und Faltungskristallit unterschieden (siehe Abbildung 5.8). Abbildung 5.8: Fransenkristallit Faltungskristallit

Der Fransenkristallit besteht aus mehreren Polymerketten, die parallel zueinander angeordnet sind. Die Enden der Ketten hängen wie Fransen aus dem Kristallit heraus und bilden eine amorphe Phase. Jede einzelne Polymerkette durchläuft mehrere Kristallite und mehrere amorphe Zonen.

Die Polymerketten eines Faltungskristallits bilden regelmäßige Falten. Sehr enge Falten sind aber aus Spannungsgründen nicht möglich. Die Oberflächen der Faltungsbögen können regelmäßig oder unregelmäßig aufgebaut sein. In der Regel ist die Oberfläche „unscharf“. Sie enthält neben „scharfen Falten“ auch längere Schlaufen und heraushängende Kettenenden. Sie ist amorph.

Ungestreckte synthetische Polymere, wie Polyamide, Polyester und Polyolefine, bilden Fal-tungskristallite. Native Faserpolymere, wie Cellulose und Proteine, sind Fransenkristallite. Bei den meisten Polymeren ist die Kristallitgestalt noch unbekannt. Die Struktur der Kristallite läßt sich überdies durch äußere Einflüsse verändern. Werden z.B. verstreckte, gut kristallisierende Polymere wie HDPE temperiert, so finden tiefgreifende Strukturveränderungen statt. Aus der fibrillären Struk-tur wird eine „Querstruktur“. Diese ist durch relativ große, senkrecht zur Streckrichtung orien-tierte Lamellen gekennzeichnet. Mit steigender Temperatur wird die Struktur geordneter. Die Dicken- und Abstandsschwankungen der Lamellen werden kleiner. Ihre seitliche Ausdehnung nimmt zu. Amor-phe und kristalline Regionen werden durch die Temperaturerhöhung zum Teil entmischt. Die Per-fektion und die Dichte der Kristall-Lamellen wird dadurch größer und die Dichte der amorphen Regionen kleiner (siehe Abbildung 5.9).

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 343

Abbildung 5.9: Strukturmodell von HDPE (1) kalt verstreckt, nicht getempert (2) nach Verstreckung getempert l = seitliche Ausdehnung einer kristallinen Zone

Die Gesamtheit der Orientierungen der in einem Werkstoff vorhandenen Kristallite heißt Tex-tur (Gefüge). Sie beeinflußt die Werkstoffeigenschaften ganz entscheidend. So ändert sich bei ge-walzten und in rekristallisierten Polymeren die Dehnbarkeit bezüglich der verschiedenen Raumrich-tungen. Die Art der Textur hängt von den Kristallisationsbedingungen ab. Enthält das Material viele heterogene Keime, so bilden sich feinkristalline Strukturen aus. Diese haben eine hohe Transparenz und häufig verbesserte mechanische Eigenschaften. Bei relativ kleiner Keimkonzentration entstehen wenige, aber relativ große, annähernd radialsymmetrische Sphärolithe (siehe Abbildung 5.10). Die Sphärolithe sind im Anfangsstadium der Kristallisation (bevor sie sich berühren), kugelartig und wachsen dann zu einer polygonalen Struktur mit ebenen oder schwach gekrümmten Grenzflächen zusammen. Ihr Durchmesser liegt im Mittel bei etwa 0,01 bis 0,1 mm. Für die Feinstruktur der Sphärolithe gilt: Sphärolithe sind aus Lamellen aufgebaut. Diese stellen ihrerseits Faltungskristallite dar. Die Lamellen sind verästelt und in sich verdrillt. Das Zentrum eines Sphärolithen ist ein an den Enden auseinandergespreiztes garbenförmiges Büschel von Einkristallamellen. Zwischen den La-mellen befinden sich die heterogenen Keime.

Abbildung 5.10: Modell eines Sphärolithen (1) Gesamtstruktur (2) vergrößerter Zentralbereich (3) vergrößerter Radialbereich (M. Hoffmann, H. Krömer, R. Kuhn, 1977)

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5.1 Strukturen 344

5.1.2.6 Kristallisationsgrad Der Kristallisationsgrad eines Polymers ist von großer praktischer Bedeutung. Es gibt verschiedene Methoden, ihn zu bestimmen. Diese liefern aber nur bedingt die gleichen Resultate. Die wichtigste Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die Dichte-Methode. Die Dichte eines Po-lymerkristalls ist größer als die Dichte des geschmolzenen Polymers.

Vk sei das Gesamtvolumen aller Kristallite und V das Gesamtvolumen aller amorphen Regio-nen in einem Polymer. Das Gesamtvolumen des Polymers sei V. Es gilt also:

a

(5.10) m sei die Gesamtmasse des Polymers. Das bedeutet: (5.11) wobei mk und ma die Massen der kristallinen und amorphen Regionen in der Probe sind. Die Dichte ρ ist als Masse pro Volumen definiert. Es folgt: (5.12)

mit und . Das Verhältnis gibt den Volumenbruch der Kristallite an. Für die amorphen Regionen gilt: . Gleichung (5.12) läßt sich damit umformen zu:

woraus folgt:

V V V= +k a

am m m= +k

( ) ( )k a k k a am V m m V V V Vρ ρ≡ = + = + ρ

ρ k k≡ m Vk/ ρ a a≡ m aV/φ k k= V V/

φ φa = −1 k

(5.13)

Der Massenbruch wk der Kristallite ist ähnlich definiert. Es gilt: (5.14)

( ) ( )k a k aφ ρ ρ ρ ρ= − −

(k k k k k kw m m V V )ρ ρ φ ρ ρ≡ = =

(5.15) wk k a k= − a−ρ ρ ρ ρ ρ ρb g b g b gwk wird in der Makromolekularen Chemie Kristallisationsgrad genannt. Er ist nach Gleichung (5.15) mit der Probendichte ρ und den Dichten der kristallinen und amorphen Phasen, ρk und ρa, verknüpft.

Die Dichte einer Polymerprobe wird oft durch Flotation in einer Dichte-Gradient-Säule be-stimmt. Das ist ein langes vertikal aufgestelltes Rohr, welches eine Mischung von Flüssigkeiten verschiedener Dichten enthält. Die Säule ist so belegt, daß die Dichte der Flüssigkeitsmischung kontinuierlich vom oberen Ende bis zum unteren Ende des Rohrs zunimmt. Sie wird mit einer Rei-he von Flotern, deren Dichte bekannt ist, geeicht. Die Dichte der zu untersuchenden Polymerprobe ergibt sich aus der Eintauchposition, den sie in der Säule einnimmt.

Die Dichte ρk der Kristallite ist im allgemeinen bekannt. Sie läßt sich aus der Kristallstruktur berechnen (siehe Tabelle 5.3). Die Dichte ρa der amorphen Phasen kann man bestimmen, indem man das Polymer in die amorphe Form überführt. Man muß dazu das Polymer nur genügend schnell aus der Schmelze abkühlen. ρ kann aber auch bestimmt werden, indem man die Dichte der Schmelze für verschiedene Temperaturen ermittelt und diese auf die Kristallisationstemperatur T extrapoliert.

a

k

Eine weitere wichtige Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die Weit-Winkel-Röntgenstreuung (WWR). Abbildung 5.11 zeigt eine typische WWR-Kurve für das teilkri-stalline Polymer Polyethylen. Die gestreute Intensität I ist gegen den Streuwinkel 2θ aufgetragen. Die scharfen Peaks rühren von der Streuung der Kristallite her. Der darunterliegende schattierte Untergrund ist auf die Streuung der amorphen Regionen zurückzuführen. Wenn sich die Streuung in beiden Regionen additiv verhält, gilt: , (5.16) ( )k k k a1I Iφ φ= + − I

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 345

wobei die Indizes k und a für kristallin und amorph stehen. Die Schärfe der Kristallitinterferenzen wird durch verschiedene Faktoren beeinflußt. Diese möchte man möglichst kompensieren. Es wird deshalb nicht die Intensität bei einem festen Winkel gemessen, sondern über den gesamten Winkel-bereich integriert. Der Kristallisationsgrad ergibt sich dann aus den Flächen Ak und A der „kristalli-nen und amorphen Streuung“. Es gilt:

a

(5.17)

Die Abtrennung des diffusen Untergrundes erfolgt dabei rein subjektiv. Die röntgenographisch er-mittelten Kristallisationsgrade stimmen deshalb nur näherungsweise mit den Werten überein, die man mit der Dichte-Methode erhält.

( )k k k aw A A A= +

Abbildung 5.11: WWR-Kurve für Polyethylen. Der amorphe Untergrund ist schattiert. (R.J. Young, 1981)

Die Kristallisationsgrade einiger Polymere sind in Tabelle 5.4 zusammengestellt. Sie liegen zwischen 0,1 und 0,95. Es sei aber betont, daß die Werte aus Tabelle 5.4 nur Näherungswerte dar-stellen. Die Gleichungen (5.15) und (5.17) sind nämlich nur dann exakt, wenn eine Polymerprobe keine Löcher oder Lücken aufweist. ρa muß zudem für alle amorphen Bereiche der Probe den glei-chen Wert besitzen. Das ist in der Praxis fast nie der Fall. Die Polymere besitzen Gitterfehler, und ρa hängt von der thermischen Vorbehandlung der Probe ab.

Tabelle 5.4: Kristallisationsgrade einiger Polymere; Meßmethode: Röntgenographie

Polymer Kristallisationsgrad Polyethylen, linear Polyethylen, verzweigt Polyvinylchlorid Polyacrylnitril Polyamid Baumwolle Kunstseide

80 – 95 60 10 40

60 – 80 70 40

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5.1 Strukturen 346

5.1.2.7 Kristallitdicke Kristallite besitzen eine bestimmte Dicke. Sie läßt sich mit den Methoden der Elektronenmikrosko-pie und der Röntgenkleinwinkel-Streuung bestimmen.

Die Dicke dk eines Kristallites hängt von verschiedenen Faktoren wie Molmasse, Zeit und Druck ab. Der wichtigste Einflußfaktor ist die Kristallisationstemperatur T . Die Kristallitdicke ist in der Regel umso größer, je größer T ist. Das gilt sowohl für Polymerkristalle in Lösung, als auch für Polymerkristalle, die aus der Schmelze entstanden sind. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.12 a). Die Dicke von Polyoxyethylen-Kristallen ist dort für verschiedene Lösemittel gegen die Kristallisationstemperatur T aufgetragen. Wir erhalten für jedes Lösemittel eine Kurve. Alle diese Kurven können wir zu einer Master-Kurve vereinigen, indem wir d gegen 1 1

k

k

k

k auftragen (siehe Abbildung 5.12 b)). T ist dabei die Lösungstemperatur. Der Kristallisationsprozeß ist also in erster Linie durch die Differenz ∆

l bestimmt. Die Kristallisationstemperatur T

selbst spielt eine untergeordnete Rolle. Diese Tatsache ist von großer Wichtigkeit für die Theorie der Kristallisationskinetik.

k

k

5.1.2.8 Kristallitfehler Die Kristalle der meisten Materialien besitzen Fehler wie Punktdefekte oder Versetzungen. Das gilt auch für die kristallinen Zonen der Polymere. Beispiele für Kristallitfehler zeigt Abbildung 5.13.

/ / (∆ )T T T= −l k

T T T= −l k

Abbildung 5.12: Die Abhängigkeit der Kristallitdicke dk von a) der Kristallisationstemperatur Tk und b) der reziproken Unterkühlung 1/∆T = 1/(Tl − T ). Lösemittel: (j) Phenol, (n) m-Cresol, (m) Furfurylalkohol, (s) Benzylalkohol, (d) Acetophenon (J.H. Magill, 1977)

Abbildung 5.13: Kristallitfehler a) Reneker-Defekt, b) Kinke, c) jog-Block und d) Schraubenversetzung mit jog-Block

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 347

Der Reneker-Defekt ist ein Punktfehler. Die mittlere Polymerkette in Abbildung 5.13 a) ist so tordiert, daß sie um die auf die Kettenachse projezierte Länge von 1 bis 10 C−C-Bindungen ver-kürzt wird. Die Ausbuchtung kann dabei entlang der Kette diffundieren und Kristallisationskeime transportieren. Das Dickenwachstum von Polymerkristalliten bei der Temperaturerhöhung läßt sich auf diese Weise erklären.

Abbildung 5.13 b) zeigt eine isolierte Kinke (planare Stufe). Die seitliche Kettenversetzung ist kleiner als der Achsenabstand zweier benachbarter Ketten. Die Kinke ist eine relativ kleine loka-le Störung. Ist sie größer als der Kettenabstand im Kristallit, so spricht man von einem „jog“. Meh-rere zueinander versetzte jogs stellen einen jog-Block dar. Dieser wird meist durch das freie Ende einer Kette induziert.

Eine dreidimensionale Versetzung wird durch die Versetzungsstufe AB und den Burgers-Vektor b charakterisiert. Man spricht von einer Schraubenversetzung, wenn der Vektor b parallel zu der Strecke AB steht. Der Vektor b kann auch senkrecht zu AB stehen. Die Versetzung heißt dann Eckenversetzung (siehe Abbildung 5.14).

Abbildung 5.14: Schraubenversetzung Eckenversetzung (R.J. Young, 1981)

5.1.2.9 Kristallisationskinetik Grundlagen Die Kristallisation ist ein Prozeß, bei dem eine anfänglich ungeordnete Phase in eine geordnete Phase übergeht. Es werden zwei Vorgänge unterschieden, die Keimbildung (nuclea-tion) und das Kristallwachstum (growth). Die Keimbildung wird durch Schwankungen in der Schmelze oder der Lösung hervorgerufen. Infolge der Molekularbewegung lagern sich einzelne Ketten zu kurzlebigen, sehr kleinen kristallähnlichen Gebilden, den Embryonen, zusammen. Ober-halb der Schmelztemperatur sind die Embryonen instabil. Sie zerfallen wieder. Unterhalb der Schmelztemperatur existiert eine kritische Embryogröße. Die Embryonen, die größer als die „kriti-schen Embryonen“ sind, besitzen eine Freie Enthalpie, die kleiner als die der Schmelze ist. Sie wachsen weiter und werden Keime genannt. Die anderen Embryonen lösen sich wieder auf.

Es existieren zwei Arten der Keimbildung. Bei der homogenen Keimbildung lagern sich meh-rere Polymerketten zufällig zu einem Cluster zusammen. Es sind keine weiteren Stoffe beteiligt. Sehr viel häufiger ist aber die heterogene Keimbildung. Hierbei lagern sich die Polymerketten an Fremdstoffen, wie Staubpartikeln oder sonstigen niedermolekularen Verunreinigungen an. Die An-zahl der gebildeten Keime hängt, wenn alle anderen Faktoren konstant gehalten werden, von der Kristallisationstemperatur T ab. Liegt T nur leicht unterhalb der Schmelztemperatur, so bilden sich nur sporadisch Keime. Es entstehen wenige, aber große Kristallite. Ist T dagegen sehr viel kleiner als T , so bilden sich viele Keime. Die Kristallite sind dann relativ klein.

k k

k

mDas Wachstum der Kristallkeime kann in einer, zwei oder drei Dimensionen erfolgen. Es ent-

stehen stäbchen-, scheiben- oder kugelartige Gebilde. Noch freie Polymerketten werden von den Kristallkeimen inkorporiert. Experimentell zugänglich sind die Veränderungen in den linearen Di-

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5.1 Strukturen 348

mensionen der Kristallite. Größen wie Länge und Radius werden gewöhnlich linear mit der Zeit t größer, wenn Tk konstant ist. Für den Radius r eines kugelartigen Kristallits bedeutet dies: (5.18) r k t= w

Die Konstante kw heißt Wachstumsrate. Gleichung (5.18) gilt, solange die Kristallite noch klein sind und nicht zusammenwachsen − also nur in der Anfangsphase des Kristallitwachstums. Die Wachs-tumsrate k ist aber keine Universalkonstante. Sie hängt von der Kristallisationstemperatur T ab (siehe Abbildung 5.15).

w k

Abbildung 5.15: Die Wachstumsrate kw als Funktion von Tk für Poly(tetramethyl-p- phenylen)siloxane verschiedener Molmassen (Mw in g/mol). (J.H. Magill, 1977)

Für Tk > Tm gilt: k = 0. Unterhalb von T wird k zunächst schnell größer. Bei weiterer Abkühlung durchläuft k ein Maximum und wird dann wieder kleiner. Das Vorhandensein des Maximums ist auf zwei miteinander konkurrierender Prozesse zurückzuführen. Die thermodynamisch treibende Kraft der Kristallisation wird mit abnehmender Temperatur stärker. Gleichzeitig nimmt die Viskosi-tät der Schmelze (Lösung) zu. Der Transport der Polymerketten zu den Wachstumspunkten wird dadurch erschwert. An der Stelle des Maximums sind beide „Kräfte“ im Gleichgewicht. Bei weite-rer Abnahme der Temperatur überwiegt die hemmende Wirkung der Viskosität. Die Kristallite hören auf zu wachsen.

w m w

w

Allgemeine Kristallisationskinetik Gegeben sei eine Polymerschmelze der Masse m0. Diese werde auf eine Temperatur T unterhalb der Schmelztemperatur T abgekühlt. Es entstehen Kristal-lite. Diese seien kugelartig. Die Anzahl der Keime n , die pro Zeiteinheit und pro Volumeneinheit gebildet werden, sei konstant. Die Anzahl der Keime, die in dem Zeitintervall dt entstehen, ist dann gleich , wobei ρ die Dichte der Schmelze ist. Die Keime wachsen zu Kristalliten heran. Der Radius der Kristallite zum Zeitpunkt t sei r. Die Masse eines Kristallits ist gleich

. Die Gesamtmasse dm aller Kristallite, die sich innerhalb des Zeitintervalls dt bilden, ist zum Zeitpunkt t gleich: (5.19)

Die Kristallitmasse mk, die insgesamt bis zum Zeitpunkt t gebildet wird, ist:

(5.20)

Es folgt:

k m

k

mn m tk md0 / ρ

( )4 3k tw3

k / 3π ρ

( ) 3 3w k k 0d 4 π 3m k t n m t mdρ ρ=

( ) ( )3 3k w k k 0

0

d 4 π 3t

m t k n m t mρ ρ= ∫

(5.21) ( ) ( )3 4k 0 k w k mπ 3m m n k tρ ρ=

Page 17: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 349

m0 ist gleich mk + mm, wobei m die Masse der noch flüssigen Schmelze zum Zeitpunkt t ist. Glei-chung (5.21) läßt sich damit umformen zu:

Die Exponentialfunktion können wir für kleine t in eine Reihe entwickeln und diese nach dem zwei-ten Glied abbrechen. Wir erhalten: (5.25)

Diese Gleichung stimmt mit Gleichung (5.21) überein, wenn ist. Es sei deshalb betont, daß Gleichung (5.24) nur dann benutzt werden darf, wenn die folgendenVoraussetzungen erfüllt sind:

m

(5.22)

1) Die Anzahl der Keime ist entweder konstant, oder sie ist zu Beginn der Kristallisation gleich null und nimmt mit konstanter Geschwindigkeit zu.

2) Die Keime sind statistisch in der Polymerprobe verteilt.

( )3 4m 0 k w k m1 π 3m m n k tρ ρ= −

Wir erkennen folgendes: Der Massenbruch mk/m der Kristallite wächst anfangs mit t4. Das gilt al-lerdings nur, solange wie die Keimbildungsgeschwindigkeit n konstant ist. Werden alle Keime gleichzeitig, z.B. zum Zeitpunkt t = 0 gebildet, so ist n = 0, und m /m ist proportional zu t3.

3) Kristallite und Schmelze besitzen die gleiche Dichte. 4) Die Kristallitform (z.B. Kugel) bleibt während der Kristallisation die gleiche. 5) Die Dichte der Kristallite ist zu allen Zeiten die gleiche.

Vom experimentellen Standpunkt aus betrachtet ist es leichter, Änderungen im spezifischen Volumen als Änderungen in der Masse der Kristallite zu bestimmen.υ , υ und υ seien die spezifi-schen Volumina der Probe zu den Zeitpunkten t = 0, t und t = ∞. Es gilt:

0

k

k k

0 t ∞

(5.26)

0Die Gleichungen (5.21) und (5.22) gelten nur im Anfangsstadium der Kristallisation. Für

grosse t wachsen die Kristallite zusammen. Eine Theorie, die dieses Zusammenwachsen berück-sichtigt, wurde 1939 von Avrami entwickelt. Es gilt: (5.23) m m k t n

kA

0 1b g d= − −exp A ikA ist die Avrami-Konstante, und nA ist der Avrami-Exponent. Die Bedeutung dieser Parameter geht aus Tabelle 5.5 hervor.

Tabelle 5.5: Avrami-Konstanten und Avrami-Exponenten.

Art des Kristallwachstums Konstante Keimkonzentration

Konstante Keimbildungsgeschwindigkeit

k 1) A 2) ( ) 3w4 π 3 k N ( ) 3

w kπ 3 k nk

nA = 1 eindimensional (Stäbchen) ------ nA = 2 zweidimensional (Scheibe) Stäbchen nA = 3 dreidimensional (Kugel) Scheibe nA = 4 ----- Kugel

1) k = Avrami-Konstante für kugelförmige Kristallite k

−3

In der Schmelze entstehen normalerweise kugelförmige kristalline Gebilde. Diese wachsen mit konstanter Geschwindigkeit, d.h. k ist konstant. Der zu erwartende Avrami-Exponent n ist also je nach der Art der Keimbildung drei oder vier. Für n = 4 gilt z.B.:

w A

A

(5.24)

A2) N = Keimkonzentration zum Zeitpunkt t = 0, z.B. in cm

( ) ( )( 3 4k 0 w k1 exp π 3m m k n t= − − )

( ) ( ) 3k 0 w kπ 3m m k n t= 4

ρ ρk = m

υ ρ ρ ρ ρ ρt m m m m= + = + −m m k k k m m kb g b g b g b g0 1 1

Page 18: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5.1 Strukturen 350

Da und ist, folgt:

(5.27)

Gleichung (5.27) lösen wir nach m /m auf. Das Ergebnis setzen wir in die Gleichung (5.23) ein. Wir erhalten dann:

υ ρ0 0= m / m υ ρ∞ = m0 / k

(m 0 0 0t m m mυ υ υ υ∞= + − )∞

m 0

(5.28) ( ) ( ) ( ) ( Am 0 0 Aexp n

tm m k tυ υ υ υ∞ ∞= − − = − )Die Volumendifferenzen und lassen sich mit einem Dilatometer messen. Gleichung (5.28) enthält somit nur zwei Unbekannte, kA und nA. Diese ermitteln wir, indem wir Gleichung (5.28) zweimal logarithmieren. Wir erhalten dadurch die Geradengleichung:

(5.29)

υ υt − ∞ υ υ0 − ∞

( ) ( )( ) ( ) (0 Aln ln ln lnt k n tυ υ υ υ∞ ∞− − = + )A

Der Achsenabschnitt ist ln (kA), und die Steigung ist nA. Für nA findet man Werte, die zwischen zwei und sechs liegen, meistens aber zwischen drei

und vier. Da nA nicht ganzzahlig ist, spricht man von fraktalen Dimensionen. Die Ursache für die Abweichungen zwischen den experimentellen Ergebnissen und der Avrami-Theorie sind: 1) υ∞ ist experimentell nicht genügend genau bestimmbar. Es ist oft unklar, ob die Kristallisation

schon beendet ist oder ob sie noch weiterläuft. 2) Die Voraussetzungen der Avrami-Theorie sind in der Praxis nur bedingt erfüllt. 3) Es kommt oft zu einer Nachkristallisation oder „sekundären Kristallisation“. Der Kristallini-

tätsgrad der bereits gebildeten kristallinen Zonen wird dadurch stark erhöht, häufig um 10 – 20 %.

4) Heterogene Verunreinigungen können als zusätzliche Keime wirken. 5) Nicht kristallisationsfähige Anteile, die sich in der Restschmelze anreichern, führen zu einer

dauernden Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit während der Kristallisation. Es existieren Versuche, die Avrami-Gleichung durch realistischere theoretische Ansätze zu er-

setzen. Eine Anwendung dieser erweiterten Gleichungen ist nur bedingt sinnvoll. Die Ursachen für die Abweichungen zwischen Theorie und Experiment sind nämlich meistens nicht bekannt. Keimbildung Wir unterscheiden zwei Arten der Keimbildung bei Polymeren, die Primär- und die Sekundärkeimbildung. Bei der Primärkeimbildung lagern sich die Kettenmoleküle zu einem zylind-rischen Keim vom Radius r und der Höhe h zusammen. Die Zylinderachse zeigt in Kettenrichtung, und h ist sehr viel kleiner als die Länge l des gestreckten Moleküls. Bei einem Faltenkeim sind die Ketten an den Deckflächen des Zylinders regelmäßig zurückgefaltet, bei einem Fransenkeim ver-laufen sie fransenartig in die Umgebung. Für die Bildung der Oberflächen des Zylinders ist eine bestimmte Energie erforderlich. Die Flächenbildungsenergie der Deckflächen sei σD und die der Mantelfläche σM. Gleichzeitig wird die Kristallisations- oder Kettenfusionsenergie frei. Diese wol-len wir mit ∆G bezeichnen und auf eine Masseneinheit beziehen. ∆G ist eine spezifische Freie Enthalpie. Es gilt:

F F

(5.30) ∆H ist die spezifische Fusionsenthalpie, ∆S die spezifische Fusionsentropie und T die Temperatur, bei der die Kristallisation stattfindet. Im Schmelz-Gleichgewicht ist ∆G = 0 und T = T . Dort gilt:

∆ ∆ ∆G H T SF F= − F

F F

F m

(5.31)

Die Kristallisation findet in der Regel bei einer Temperatur T = T statt, die kleiner als T ist. ∆G ist deshalb endlich (negativ). Wir nehmen an, daß ∆S temperaturunabhängig ist. Gleichung (5.30) läßt sich dann umformen zu:

k m F

F

∆ ∆S H TF F= m

(5.32) ( )F F k F m F m kG H T H T H T T T∆ = ∆ − ∆ = ∆ − m

Page 19: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 351

Die Temperaturdifferenz T heißt Unterkühlung. Wir wollen sie mit ∆T bezeichnen. Die Freie Schmelzenthalpie ∆G läßt sich jetzt berechnen. Es gilt:

Tm − k

M

P

(5.33) wobei der Index P für Primärkeim steht.

Ein Keim (Embryo) besitzt bestimmte kritische Abmessungen rc und hc. Der Keim ist stabil, wenn r > rc und zugleich h > h ist. Im anderen Fall ist er instabil. Die kritischen Werte von r und h können wir berechnen. Wir müssen dazu ∆G partiell nach r und h differenzieren und die Resul-tate gleich null setzen. Es gilt:

c c

∆ π ∆ π πG r h G r r hP k F D= + +2 22 2ρ σ σ

c P

(5.34) ( )c c

P c c k F c D c, 2 π 4 π 2 π 0r hG r r h G r hρ σ∆ = ∆ + +∂ ∂ mσ =

und (5.35)

Diese Gleichungen lösen wir nach rc und hc auf. Es folgt:

( )c c

2P c k F c, π 2 π 0r hG h r G rρ∆ = ∆ +∂ ∂ Mσ =

(5.36)

(5.37)

und (5.38)

( ) ( ) ( )c M F k M m k F2 2r G T Hσ ρ σ ρ= − ∆ = − ∆ ∆T

( ) ( ) ( )c D F k D m k F4 4h G T Hσ ρ σ ρ= − ∆ = − ∆ ∆T

∆ π ∆ π ∆ ∆G G T HP,c M D k2

F2

M D m2

k2

F= =8 82 2 2 2σ σ ρ σ σ ρd i b g a fe jT

rc und hc sind umso kleiner, je größer die Unterkühlung ∆T ist. Die Temperatur T darf natürlich nicht beliebig tief gewählt werden. h kann nicht kleiner als die Kuhnsche Segmentlänge l sein. Die Bildung der Sekundärkeime kann in vollkommen analoger Weise erklärt werden. Es handelt sich hierbei um die Bildung von Kristallitkeimen auf der Oberfläche schon fertiger Kristallite. Die-se bilden in der Regel monomolekulare Schichten der Länge l, der Breite b und der Höhe a (siehe Abbildung 5.16).

k

c K

Abbildung 5.16: Sekundärkeim auf der Oberfläche eines Kristalliten

Für die kritischen Abmessungen des Sekundärkeims gilt: (5.39)

lc ist gleich l, weil die Länge des Sekundärkeims durch die Kristallfläche vorgegeben ist.

a G b G G lc M F k c D F k S,c M D F k= − = =2 2 4 Gσ ρ σ ρ σ σ ρ∆ ∆ ∆b g b g b g; ; ∆

∆GS,c ist deutlich kleiner als ∆GP,c. Die Sekundärkeimbildung setzt deshalb schon bei viel ge-ringerer Unterkühlung ∆T ein als die Primärkeimbildung. Ein schönes Beispiel ist lineares Poly-ethylen. Die notwendige Unterkühlung für eine gut meßbare Keimbildungsgeschwindigkeit liegt für Sekundärkeime bei 10 − 15 °C, bei Primärkeimen beträgt sie 50 − 70 °C. Auch die Freie Enthalpie der heterogenen Keimbildung an einer Fremdoberfläche ist viel kleiner als ∆G . Kleine Mengen an Verunreinigungen können deshalb bereits bei geringen Unterkühlungen eine so starke Kristallisa-

P,c

Page 20: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5.1 Strukturen 352

tion durch Sekundärkeimbildung hervorrufen, daß die Primärkeimbildung bedeutungslos wird. Die-ses ist in der Praxis oft der Fall. Es ist deshalb sehr wichtig, die heterogene Sekundärkeimbildung genauer zu erforschen.

5.1.3 Amorphe Polymere

5.1.3.1 Morphologie Die Moleküle eines amorphen Polymers sind nicht zu Kristallgittern angeordnet. In ihnen gibt es keine physikalisch ausgezeichnete Richtung. Ihre physikalischen Eigenschaften sind richtungsun-abhängig. Beispiele für amorphe Polymere sind anorganische Silikatgläser, Harze und ataktisches Polystyrol. Auch vernetzte Polymere, die oberhalb der Schmelztemperatur gummielastisch bis zäh-elastisch sind (wie z.B. SBR, PF und UF), können sich bei der Abkühlung in feste amorphe Gläser umwandeln.

Wird die Schmelze eines amorphen Polymers abgekühlt, ohne daß es zu einer geometrischen Ordnung kommt, so bleibt die amorphe Struktur im Festkörper erhalten. Das Volumen V eines sol-chen Polymers weist einen ganz charakteristischen Temperaturverlauf auf. Er ist in Abbildung 5.17 dargestellt. Abbildung 5.17: V(T) und die Glastemperatur T zu verschiedenen Zeiten t für Polyvinylacetat. (Kovacs, J.Polym.Sci. 30(1958)131)

g

pDer Nachweis, daß ein Polymer amorph oder kristallin ist, erfolgt meist über Messungen zur

Neutronen-, Röntgen- oder Lichtkleinwinkelstreuung. Das Ergebnis ist: Die Molekülketten in einem amorphen Polymer besitzen ähnliche Konformationen wie in der konzentrierten Lösung. Sie bilden statistische Knäuel, die sich gegenseitig durchdringen. Viele Eigenschaften der amorphen Polymere können auf diese Weise befriedigend erklärt werden. Es existieren aber auch Hinweise, daß amor-phe Schmelzen und Gläser eine Nahordnung besitzen. So sind die kurzkettigen Moleküle des Paraf-fins in der Schmelze annähernd parallel angeordnet. Diese Nahordnung reicht allerdings nicht über die erste Koordinationssphäre der Moleküle hinaus.

5.1.3.2 Mesomorphe Phasen Die mesomorphen Phasen stellen ein Mittelding zwischen der amorphen und der kristallinen Phase dar. Es gibt die smektische, die nematische und die cholesterische Phase (siehe Abbildung 5.18). In

g

Die Übergangstemperatur Tg heißt Glastemperatur. Sie ergibt sich als der Schnittpunkt der Tangenten an die beiden linearen Äste von V(T). Einen ähnlichen Kurvenverlauf wie V(T) besitzt die Enthalpie H(T). Man kann T deshalb auch kalorimetrisch durch Messung der spezifischen Wärmekapazität C (T) ermitteln (siehe Kapitel 5.2).

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 353

der smektischen Phase sind die durchweg länglichen Moleküle parallel zueinander orientiert. Sie bilden Schichten, die aneinander abgleiten können. Die Moleküle der nematischen Phase sind eben-falls parallel angeordnet. Sie liegen aber nicht mehr in Schichten. Bei der cholesterischen Phase liegen die Moleküle wieder in Schichten. Die Richtung der Längsachsen der Moleküle ist jedoch in aufeinanderfolgenden Schichten jeweils gegen die vorhergehende Schicht verdreht.

smektisch

nematisch cholesterisch

Abbildung 5.18: Mesomorphe Phasen (J.L. Fergason, Scientific American 211(1964)77)

Die Viskosität smektischer und cholesterischer Systeme ist relativ hoch; nematische Flüssig-keiten haben Viskositäten wie gewöhnliche Flüssigkeiten.

Eine Reihe von Polymeren bildet mesomorphe Phasen. So geht das isotaktische Polypropylen durch schnelles Abkühlen aus der Schmelze in eine smektische Modifikation über. Die Molekülket-ten liegen dabei als 3/1-Helices vor (3 Monomere kommen auf eine Windung). Sie sind parallel zueinander angeordnet. Ein nematisch/smektischer Phasenübergang tritt beim HDPE auf. Am häu-figsten begegnet man den mesomorphen Phasen aber bei Biopolymeren. Offenbar sind Biopolymere in der Lage, auf kleinstem Raum spezielle Umgebungen zu schaffen und diese (für eine bestimmte chemische Reaktion) gegen die übrige Umgebung abzuschirmen.