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Leseprobe

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Debra Satz

Von Waren und Werten

Die Macht der Märkte und warum mancheDinge nicht zum Verkauf stehen sollten

Aus dem Englischen von Michael Adrianund Bettina Engels

Hamburger Edition

Leseprobe

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Einleitung

Märkte sind wichtige Formen der Organisation von Wirtschaft undGesellschaft. Sie erlauben es einer Vielzahl einander ansonsten völligunbekannter Menschen, in einem System des freiwilligen Tauschesmiteinander zu kooperieren. Durch Märkte können sich Menschensignalisieren, was sie wollen, sie können Informationen verbreitenund Innovationen belohnen. Märkte ermöglichen es Menschen, ihreAktivitäten wechselseitig aufeinander einzustellen, ohne dafür einezentrale Planungsbehörde zu benötigen. Darüber hinaus geltenMärkte weithin als die effizienteste Methode, um in einer komplexenWirtschaft die Produktion und den Vertrieb von Waren und Dienst-leistungen zu organisieren.

Es überrascht daher nicht, dass Märkte und die politischen Theo-rien, die für eine Ausdehnung des Marktprinzips eintreten, nachdem Zusammenbruch des Kommunismus großen Auftrieb erhielten.Märkte sind inzwischen nicht nur auf dem gesamten Planeten ver-breitet, sie erobern sich auch immer neue Bereiche, wie etwa den derUmweltverschmutzung.1 Viele sehen in den Institutionen des Mark-tes ein Allheilmittel gegen die Mängel der schwerfälligen Staatsbüro-kratien der westlichen Welt, die Armut des Südens und die staatlicheZwangskontrolle der Planwirtschaften. Selbst die jüngste Wirtschafts-krise hat an dieser Einschätzung nichts geändert.

Während der Markt also in neue Bereiche vorgedrungen ist, kames zugleich zu neuen Kontroversen über die Moral von Märkten, andenen menschliche Organe, fortpflanzungsmedizinische Dienstleis-tungen, sogenannte Blutdiamanten, Sex, Waffen, lebensrettende Me-

1 In den vergangenen 20 Jahren wurde eine Reihe von Schadstoffen zu handelba-ren Wirtschaftsgütern. Unternehmen, die weniger als den ihnen zugewiesenenGrenzwert (oder die Deckelung) an einem Schadstoff ausstoßen, können denRest ihrer Emissionsberechtigung auf dem freien Markt verkaufen oder für einezukünftige Verwendung zurücklegen. Unternehmen, deren Anlagen einen hö-heren Verschmutzungsgrad aufweisen, können dann entweder diese überzäh-ligen Berechtigungen erwerben und weiterhin dieselbe Menge an Schadstoffenproduzieren wie bisher oder ihre Schadstoffemissionen senken, je nachdem, wasgünstiger für sie ist.

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dikamente, Rauschgift und inzwischen auch Kreditderivate gehan-delt werden. Märkte für diese Güter unterscheiden sich in den Augenvieler Menschen grundsätzlich von Märkten für Autos oder Sojaboh-nen und lösen auch ganz andere Reaktionen aus. Man könnte sagen,dass solche Märkte vielen Beobachtern toxisch erscheinen, als Giftfür grundlegende menschliche Werte. Und so rufen sie weithin Un-behagen, ja bisweilen sogar Abscheu hervor.

Nehmen wir zum Beispiel die Kinderarbeit, mit der ich mich imsiebten Kapitel dieses Buches befasse. Kinderarbeit ist in vielen Ent-wicklungsländern verbreitet und war einst auch in der »Ersten Welt«gang und gäbe. Einige Ökonomen und Politikberater sprechen sichgegen ein Verbot von Kinderarbeit aus, mit dem Hinweis, dassfür manche Familien die Arbeit ihrer Kinder überlebensnotwendigsei. Gleichzeitig aber glauben viele Menschen, dass jede anständigeGesellschaft moralisch verpflichtet ist, Kleinkinder vor Arbeit zuschützen.

Oder denken wir an ein zweites Beispiel: menschliche Nieren. Inallen Industrienationen ist es gegenwärtig gesetzwidrig, eine Nierezu verkaufen, obwohl es in diesen Gesellschaften einen chronischenMangel an Spenderorganen gibt. Aus der Perspektive eines Ökono-men ist das Verkaufsverbot ineffizient, weil finanzielle Anreize dasAngebot wahrscheinlich vergrößern und damit Menschenleben ret-ten würden. Manche Menschen aber wollen den Verkauf von Orga-nen unter keinen Umständen akzeptieren. Diesen Fall werde ich imneunten Kapitel erörtern.

Welche Erwägungen sollten die Debatten über solche Märkte lei-ten? Gibt es gewisse Dinge, die nicht gekauft oder verkauft werdensollten? Allgemeiner gefragt: Was ist es, das uns am Wesen bestimm-ter Tauschvorgänge als zerstörerisch und unheilvoll, als toxisch er-scheint? Wie sollten wir gesellschaftspolitisch auf diese toxischenMärkte reagieren? Mit diesen Fragen habe ich mich über zehn Jahrelang beschäftigt, und das vorliegende Buch präsentiert und begrün-det die Antworten, die ich dabei gefunden habe.

Meine Antworten sind in hohem Maß durch die Auseinanderset-zung mit den herrschenden Theorien geprägt, die man heute hin-sichtlich der Märkte und ihrer Grenzen in der Ökonomie und derpolitischen Philosophie findet. Obwohl auch im Rahmen dieserPerspektiven wichtige Erkenntnisse gewonnen wurden, scheinenmir ihre theoretischen Kategorien nur von begrenztem Nutzen für

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die Beantwortung der genannten Fragen zu sein. Und zwar deshalb,weil beide Wissenschaften Märkte grundsätzlich als eine homogeneInstitution betrachten, die auf unterschiedlichen Feldern vergleich-bare Fragen aufwirft. Doch diese Annahme ist meines Erachtensfalsch. Nicht nur weisen Märkte Ressourcen unterschiedlichen Nut-zen zu und verteilen Einkommen unter verschiedenen Menschen,bestimmte Märkte prägen auch unsere Politik und Kultur, ja selbstunsere Identitäten. Manche Märkte konterkarieren wünschenswertemenschliche Fähigkeiten; manche beeinflussen unsere Präferenzenauf fragwürdige Weise; und manche fördern hierarchische Verhält-nisse zwischen Menschen. Effizienz ist eindeutig nicht der einzigmaßgebliche Wert zur Beurteilung von Märkten: Wir müssen dieAuswirkungen prüfen, die Märkte auf die soziale Gerechtigkeit ha-ben sowie darauf, wer wir sind, wie wir uns zueinander verhaltenund welche Art von Gesellschaft wir gestalten können. Selbst wennMärkte für Güter wie Kinderarbeit effizient wären, so gäbe es im-mer noch gute Gründe, sie abzulehnen, insofern sie Kindern scha-den oder eine Gefahr für die demokratische Regierungsform dar-stellen.2 In diesem Buch stelle ich die eindimensionale Sichtweisevon Märkten infrage, die man in vielen wirtschaftswissenschaft-lichen Lehrbüchern findet, und versuche, Märkte als Institutionenzu beschreiben, die genauso viele politische und moralische Fragenaufwerfen wie ökonomische.

Ich lehne aber auch die allzu holzschnittartige Auffassung vonMärkten ab, der man immer noch in einem Gutteil der zeitgenös-sischen liberalen Philosophie begegnet. Die meisten liberal-egalitä-ren Theoretiker analysieren fragwürdige Märkte unter dem Ge-sichtspunkt der Verteilung und nicht (oder nicht nur) unter demökonomischen Aspekt der Effizienz. Aus egalitaristischer Perspek-tive liegt toxischen Märkten – Märkten, in denen mit Sex, Organen,Kinderarbeit, Nieren oder der Leibeigenschaft gehandelt wird – einevorgängig ungerechte Ressourcenverteilung zugrunde, womit insbe-sondere Einkommen und Wohlstand gemeint sind. Die Geißel vonHunger und Armut, die Eltern zwingt, ihre Kinder arbeiten zu schi-cken, ist dieser Auffassung zufolge das eigentliche Problem, nicht derMarkt für Kinderarbeit als solcher.

2 Für eine ähnliche Auffassung vgl. Bowles, »What Markets Can – and Cannot –Do«.

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Diese Sichtweise hat einiges für sich. Wie diese Egalitaristen glaubeauch ich, dass die Fairness der gegebenen Wohlstands- und Einkom-mensverteilung von größter Bedeutung für unsere Bewertung vonMärkten ist, so auch für jene, an denen Kinderarbeit gehandelt wird.Gewiss erscheinen uns einige Märkte als toxisch, weil sie ihren Ur-sprung in Not und Verzweiflung haben. Dennoch möchte ich imvorliegenden Buch zeigen, dass es Gründe gibt, bestimmten Märkteneinen Riegel vorzuschieben, das heißt, die Menge von Dingen zu be-grenzen, die für Geld zu haben sind, selbst wenn sich diese Begren-zung nicht mit dem Argument wirtschaftlicher Not oder einer ur-sprünglich ungerechten Verteilung von Einkommen und Wohlstandrechtfertigen lässt. Die Art von Gleichheit, die ich verfechte, hat nicht-ökonomische Dimensionen und hängt vom Zugang zu spezifischenGütern wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung ab.

Über meine Kritik an den derzeit herrschenden Sichtweisen aufdie Grenzen von Märkten hinaus versuche ich, an ältere Traditionender politischen Ökonomie und der egalitaristischen politischen Phi-losophie anzuknüpfen. Diese Traditionen erkannten die unterschied-liche Natur diverser Markttypen an. Frühe Theoretiker des Marktes,wie Adam Smith und David Ricardo, hatten ein besonders feines Ge-spür dafür, wie bestimmte Märkte Verhältnisse von Freiheit undGleichheit zwischen den Angehörigen einer Gesellschaft zu beför-dern, aber auch zu untergraben vermochten. So stellten etwa die klas-sischen politischen Ökonomen fest, dass Arbeitsmärkte die Betei-ligten gegebenenfalls in servile Untertanen und eine herrschsüchtige,auf die Ausübung ihrer willkürlichen Macht versessene Obrigkeitverwandeln konnten. Diese Denker registrierten auch, dass sich be-stimmte Märkte von Haus aus durch ein Informationsgefälle undeine ungenügende Rechtsdurchsetzung auszeichneten, was es man-chen Marktakteuren erlaubte, andere auszubeuten. Zugleich glaub-ten sie aber, dass angemessen strukturierte und begrenzte Märkteeine überaus wichtige Rolle für die Zersetzung der hierarchischenStruktur der Feudalgesellschaft und die Förderung egalitärer sozialerBeziehungen spielten.

Sozialliberalen, vom Geist des 19. Jahrhunderts geprägten Den-kern wie T. H. Marshall galten bestimmte Güter wie Bildung, derZugang zu Beschäftigung, Gesundheitsversorgung und Wahlen alsunverzichtbar dafür, dass Bürger sich als Gleiche verstehen konnten.Sie forderten eine rechtliche Garantie dieser Güter, womit sie – als

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Rechte – der Verfügungsgewalt des Marktes zumindest in gewissemMaß entzogen sind. Versteht man etwa die Gesundheitsversorgungals ein Recht, dann bringt man damit zum Ausdruck, dass es einenbestimmten Anspruch auf medizinische Versorgung gibt, der un-abhängig vom »Band der baren Zahlung«, unabhängig also von denreinen Geldverhältnissen besteht. Dasselbe gilt auch für das Rechtder Redefreiheit: Obwohl der Zugang zu einem sehr großen Pu-blikum kostspielig sein kann, schließt das Verständnis von Redefrei-heit als eines Rechts ein, dass niemand eine Geldzahlung leisten muss,um die Redefreiheit selbst zu erwerben. Wie Marshall schrieb: »In ih-rer modernen Form implizieren soziale Rechte ein Eindringen desStatus in den Vertrag, die Unterwerfung des Marktpreises unter diesoziale Gerechtigkeit, die Ersetzung des freien Tauschs durch die Er-klärung von Rechten.«3

Obgleich ich Denkern wie Smith und Marshall in vielen De-tails widerspreche, darf mein Buch doch im Großen und Ganzenals eine Wiederbelebung dieser älteren Argumentationen verstandenwerden – denen zufolge einige Märkte den Einzelnen und die Gesell-schaft auf fragwürdige Weise prägen, weshalb bestimmte Güter demMarkt entzogen bleiben müssen. Die treibende Kraft und das zen-trale Argument dieses Buches bildet die Vision einer Gesellschaft vonGleichen: einer Gesellschaft, in der es »keine Kratzfüße, kein Katz-buckeln und kein Speichellecken mehr, kein angstvolles Zittern,keine Hoheit und keine Ihro Gnaden, keine Herren und Sklavenmehr« gibt.4 Wie wir sehen werden, leisten Märkte einen wichtigenBeitrag zur Ermöglichung einer solchen Gesellschaft; damit sie diesaber tun können, muss man ihnen Grenzen setzen und einige Güterallen Menschen garantieren.

Zum Aufbau des Buches

Das vorliegende Buch baut auf früheren Arbeiten auf und verbindetsie zu einer allgemeineren Theorie der Beurteilung von Märkten.Diese Theorie entwickle ich in drei Schritten. Im ersten Teil desBuches entfalte ich die Idee des Marktes als eines ökonomischen und

3 Marshall, »Staatsbürgerrechte«, S. 82.4 Walzer, Sphären, S. 18.

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sozialen Mechanismus zur Preisbildung, Verhaltenskoordination undErweiterung von Wahlmöglichkeiten. Die Ansätze der Wohlfahrts-ökonomik und der neoklassischen Theorie können starke Argumentefür den Marktmechanismus vorweisen. Vor allem ist der Markt oft(wenn auch nicht immer) unter dem Strich für alle Beteiligten effi-zienter, das heißt in einem technischen Sinne besser als seine Alterna-tiven. Ich erläutere und verteidige zumindest einige der Einsichtendieser beiden ökonomischen Denkansätze. Nichtsdestotrotz möchteich anhand bestimmter Beispiele zeigen, wo diese ökonomischenDenkweisen an ihre Grenzen stoßen. Ich werde geltend machen, dasskeine der beiden Schulen unsere negativen Reaktionen auf gewisseMärkte (für Sex, Waffen, Umweltverschmutzung) angemessen erklä-ren kann, genauso wenig, wie sie zu erklären vermögen, warum einVerbot bestimmter Märkte (für Wählerstimmen, Söldner oder dasSeelenheil) auch in solchen Fällen gerechtfertigt sein kann, in denenes mit Effizienzeinbußen verbunden ist.

Im zweiten Teil des Buches trage ich das Material für eine eigeneTheorie zusammen. Zunächst lege ich im zweiten Kapitel das Markt-verständnis der klassischen politischen Ökonomie dar. Für die klas-sischen Ökonomen bezog sich der Begriff Markt eigentlich auf eineheterogene Menge wirtschaftlicher Beziehungen. Adam Smith undseine Anhänger entwickelten je eigene Theorien dafür, wie Konsum-gütermärkte, aber auch Märkte für Land, Arbeit und Kredit funktio-nierten. Ihre Theorien trugen den jeweiligen Gegenständen Rech-nung, die an verschiedenen Märkten getauscht werden: Smith zeigtedie riskanten Motive der Kreditnehmer auf; Ricardo und Malthuskonzentrierten sich auf die natürliche Begrenztheit des Angebots anGrund und Boden; und Marx arbeitete den unverwechselbaren Cha-rakter der menschlichen Arbeitskraft als einer Ware heraus, derenErwerb manchen Menschen Macht und Befehlsgewalt über andereverleiht.5

Zwei Merkmale der klassischen Herangehensweise an Märkte sindfür meine eigene Auffassung wichtig. Erstens richteten die klassi-schen politischen Ökonomen ihr Augenmerk darauf, inwiefern be-stimmte Tauschvorgänge beeinflussen können, wer wir sind bezie-hungsweise durch den Tauschprozess werden. Insbesondere sahen

5 Vgl. Bowles, »What Markets Can – and Cannot – Do«.

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sie, dass der Arbeitsmarkt die am Tausch beteiligten Parteien in einerWeise zu formen vermochte, wie es ein typischer Warenmarkt – derAutomobilmarkt beispielsweise – nicht tut. Diese Theoretiker regis-trierten, dass das, was eine Person tun und sein kann, was sie wünschtund was sie sich erhoffen kann, wesentlich durch die Struktur undden Charakter des Arbeitsmarktes geprägt ist.

Zweitens stellten die Klassiker fest, dass die Struktur bestimmterMärkte – die unterschiedliche Fähigkeit der Parteien, den Markt zuverlassen und sich Alternativen zu suchen – Beziehungen des Herr-schens und Beherrschtwerdens zwischen den Beteiligten erzeugt. Siesahen, dass Menschen unter Umständen bestimmte Güter dringendbenötigen, die andere kontrollieren. Unter solchen Umständen, sofanden sie, sei die Position der schwächeren Seite nicht nur anfälligfür Missbrauch und Ausbeutung, sondern gänzlich vom Willen einesanderen abhängig.6

Im dritten Kapitel untersuche ich, welche Stellung dem Marktin der zeitgenössischen egalitaristischen politischen Philosophie ein-geräumt wird. Dieses am stärksten auf die akademische Diskussionbezogene Kapitel beschäftigt sich im Detail mit neueren philosophi-schen Argumenten über die Rolle von Märkten in einer gerechtenGesellschaft. Während sich früher die Geister an Märkten schieden,billigen die meisten Egalitaristen dem Markt heutzutage eine promi-nente Rolle zu. Manche, wie etwa der Philosoph und Rechtstheore-tiker Ronald Dworkin, gehen sogar noch einen Schritt weiter: SeinesErachtens ist der Markt sogar für unser Verständnis von Gleichheitals solcher unerlässlich. Zu dieser Schlussfolgerung führen ihn diefolgenden Überlegungen: Gleichheit setzt die Ressourcengleichheitder Beteiligten voraus, und Märkte erlauben es Menschen mit unter-schiedlichen Präferenzen, die ihnen wichtigen Güter zu erwerben,ohne dass dies gegen die Bedingung der Ressourcengleichheit ver-stößt. Nur der Markt zeige uns, dass die Bündel verschiedener Güter,die jeder von uns der egalitaristischen Theorie zufolge ursprünglichbeanspruchen kann, tatsächlich von gleichem Wert sind. Ein Ziel die-ses Kapitels ist es nun, diese Vorstellung, Märkte könnten eine solcheapriorische Funktion für die konkrete Gestaltung der Verteilungs-gleichheit übernehmen, zu widerlegen. Märkte sind wichtige Institu-

6 Vgl. Pettit, Republicanism, für eine Erörterung der liberalen Idee von Freiheitals Nichtbeherrschung.

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tionen, sie können ein Motor des Fortschritts zu mehr sozialerGleichheit sein, und dennoch hat der Egalitarismus gute Gründe,einige der Resultate zurückzuweisen, die uns selbst perfekte Märktebescheren.

Sogar Egalitaristen, die Märkte lediglich als einen instrumentellenMechanismus zur Erzeugung von Wohlstand betrachten, halten estendenziell für einen Fehler, das Augenmerk zu sehr auf bestimmteMärkte zu richten – Märkte für so spezielle Güter wie Arbeit oderNieren. Die meisten Egalitaristen von heute sind, wie der Wirtschafts-wissenschaftler James Tobin einmal bemerkte, »allgemeine Egalita-risten«.7 Als solche erkennen sie an, dass gezielte Eingriffe inbestimmte Märkte, beispielsweise die Rationierung des Benzinver-kaufs, in der Regel ineffizienter sind als eine allgemeine Einkommens-umverteilung. Manche politischen Philosophen machen sich denallgemeinen Egalitarismus auch deswegen zu eigen, weil sie es als –inakzeptablen – paternalistischen Eingriff in die persönliche Freiheitbetrachten, wenn man bestimmte Märkte verbietet. Solange niemandzu Schaden kommt, empfinden sie eine Einschränkung der Freiheit,über das eigene Einkommen verfügen zu dürfen, als einen Mangel anRespekt. Nach Auffassung des allgemeinen Egalitarismus sollten wiruns nicht auf die Funktionsweise irgendeines bestimmten Marktes,sondern auf die zugrunde liegende Ressourcenverteilung konzen-trieren. Ist die Fairness der Ressourcenverteilung gewährleistet, dannsollten wir die Märkte ihre Arbeit tun lassen. Wenn Märkte un-zulänglich sind oder wir zu dem Schluss kommen, der Markt pro-duziere zu viel Ungleichheit, dann korrigieren wir diese Problemeeinfach durch ein Steuer- und Transfersystem.

Dagegen möchte ich zeigen, dass der Steuer- und Transferegalita-rismus zu wenig darauf geachtet hat, welche politischen und zwi-schenmenschlichen Konsequenzen sich aus bestimmten Märktenergeben, auf welche Art und Weise diese Märkte uns, unsere Bezie-hungen zu anderen und unsere Gesellschaft prägen. Eine gerechteGesellschaft muss einige Marktentscheidungen, die ihre Bürger tref-fen könnten, ausschließen; ein offensichtliches Beispiel hierfür wäreein Markt für Wählerstimmen, doch hoffe ich zeigen zu können, dasses auch andere, weniger offensichtliche Fälle gibt.

7 Tobin, »On Limiting«.

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Das vierte Kapitel (und Herzstück) des Buches expliziert in Formmeiner eigenen Theorie, was bestimmte Märkte zu toxischen macht.Die Theorie ist komplex. Ich bestimme vier Parameter, die für die Be-urteilung individueller Märkte relevant sind. Diese Parameter lautenVerwundbarkeit oder Vulnerabilität, eingeschränkte Handlungsfä-higkeit, extrem schädliche Resultate für den Einzelnen und extremschädliche Resultate für die Gesellschaft.8

Die ersten beiden Parameter, Verwundbarkeit und eingeschränkteHandlungsfähigkeit, sind charakteristisch für die Quellen eines Mark-tes: Sie kennzeichnen, was Menschen in eine Markttransaktion ein-bringen.9 So können sich Märkte etwa in Situationen bilden, in denenMenschen so arm oder verzweifelt sind, dass sie einen Tausch zu allenBedingungen akzeptieren müssen. An solchen Märkten leiden Men-schen unter ihrer Verwundbarkeit. Andere Märkte entstehen unterUmständen, unter denen einige der Beteiligten nur wenig über dieGüter ihres Tauschgeschäftes wissen oder eventuell nicht direkt amTausch beteiligt, sondern von den Entscheidungen anderer abhängigsind. In meiner Terminologie verfügen Menschen an solchen Märk-ten über eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit.10

Das zweite Paar von Parametern ist charakteristisch für die Ergeb-nisse eines Marktes. Einige Märkte können dergestalt funktionieren,dass sich manche der Beteiligten schließlich in extrem schlechtenVerhältnissen wiederfinden, dass sie gegebenenfalls notleidend wer-den oder sich in ihren grundlegendsten Interessen verletzt sehen. Sol-che Märkte produzieren mithin extrem schädliche Resultate für denEinzelnen. Und dann gibt es noch Märkte, die nicht nur für einzelnePersonen, sondern auch für die Gesellschaft extrem schädliche Resul-tate produzieren: Sie untergraben die notwendigen Rahmenbedin-gungen für eine Gesellschaft von Gleichen und fördern Verhältnissedemütigender Unterordnung oder willkürlicher Macht.

Im vierten Kapitel erläutere ich die Bedeutung dieser vier Para-meter im Detail und versuche zu begründen, dass ein hoher Wert fürauch nur einen dieser Parameter (beispielsweise extrem schädliche

8 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Kanbur, »On Obnoxious Markets«.9 Ich danke Josh Cohen für den Hinweis, dass meine Parameter unter die beiden

Kategorien Quellen und Auswirkungen fallen.10 Ich mache hier Anleihen bei Kanburs Terminologie, vgl. »On Obnoxious Mar-

kets«, S. 45–52.

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Folgen für Kinder an Kinderarbeitsmärkten) ausreicht, um einenMarkt als »toxisch« zu kategorisieren. Obwohl also im Prinzip jederMarkt toxisch werden kann, glaube ich doch, dass bestimmte Märktemit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit extrem schädliche Resul-tate zeitigen als andere – sich also durch eingeschränkte Handlungs-fähigkeit auszeichnen, vorhandene Vulnerabilitäten ausbeuten oderextrem schädliche und ungleiche soziale Beziehungen fördern. Sohaben etwa die Märkte für Gesundheit, Bildung, Arbeit und politi-schen Einfluss in der heutigen amerikanischen Gesellschaft allesamterhebliche Auswirkungen auf die Struktur der zwischenmenschlichenBeziehungen – anders als der Markt für Äpfel. Diese Märkte beein-flussen in hohem Maß, wer wir sind, was uns wichtig ist, wie wir han-deln und welche Art von Gesellschaft wir verwirklichen können. AmEnde versuche ich zu zeigen, dass viele, wenn nicht gar alle toxischenMärkte, eine Gefahr für die Demokratie darstellen.

Die Argumentation in diesem Kapitel verhilft uns sowohl zueinem Rahmen für die Beurteilung von Märkten als auch zu Krite-rien, anhand deren potenzielle Eingriffe in einen Markt geprüft wer-den müssen. Nicht zwangsläufig ist die beste Reaktion auf einentoxischen Markt, ihn zu verbieten. Manchmal kann das Verbot einesbestimmten Marktes die Probleme, die zu unserer Verurteilungdieses Marktes führten, sogar verschärfen.11 Legale oder geduldeteKinderarbeit dürfte wahrscheinlich der Kinderprostitution auf einemSchwarzmarkt vorzuziehen sein. Wo es gute Gründe dafür gibt, einembestimmten Markt doch keinen Riegel vorzuschieben, können wirgegebenenfalls Maßnahmen ergreifen, die direkt auf die spezifischenProbleme dieses Marktes reagieren, wie etwa eine Veränderung derbestehenden Eigentumsrechte oder eine Umverteilung von Einkom-men. Dennoch möchte ich zeigen, dass gewisse Märkte ein für alle-mal verhindert werden müssen; es gibt Gründe genug, manch roteLinie zu ziehen.

Im dritten Teil des Buches soll die zuvor entfaltete Theorie dannauf aktuelle Kontroversen um die Reichweite des Marktes angewen-det werden. Die Kapitel 5 bis 9 setzen sich mit Märkten für die weib-liche Reproduktion, Prostitution, Kinderarbeit, Schuldknechtschaftund menschliche Organe auseinander. In jedem einzelnen Fall mache

11 Vgl. ebenda, S. 56.

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ich auf moralische Vorbehalte gegenüber diesen Märkten aufmerk-sam, die aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften und des Steuer-und-Transfer-Egalitarismus nur schwer in vollem Umfang zu erfassensind. In jedem dieser Fälle gehe ich über Erwägungen der Effizienzund der Verteilungsgleichheit hinaus, um die allgemeineren kulturel-len und politischen Auswirkungen des jeweiligen Marktes in denBlick zu bekommen.

Ich sollte betonen, dass dieses Buch der politischen Philosophieund nicht der Volkswirtschaftslehre zuzurechnen ist. Es ficht norma-tive Aspekte des neoklassischen und des wohlfahrtsökonomischenAnsatzes an, nicht ihren Erklärungsgehalt. Die zentralen Kategoriender genannten Ansätze erlauben es nicht, den ganzen Umfang vonFragen zu stellen, die nach meiner Ansicht für die Beurteilung vonMärkten relevant sind. Und in der Tat waren diese Ansätze ja auchnicht dazu gedacht, solche Fragen zu stellen. Außerdem kritisiere ichin diesem Buch die Rolle, die Märkten von der heutigen egalitaris-tischen Theorie zugesprochen wird. Wenn wir Märkte nur unter demAspekt der Güterverteilung betrachten und nicht auch die Beziehun-gen zwischen den Menschen in Rechnung stellen, die diese Güterherstellen und tauschen, dann blenden wir zentrale Bewertungsfra-gen aus dem Horizont unserer politischen Entscheidungen aus. ZurBeurteilung von Märkten müssen wir nicht nur auf die Erzeugungund Verteilung von Gütern achten, sondern auch auf die gesellschaft-lichen und politischen Verhältnisse, die durch verschiedene Märktegestützt und gefördert werden, einschließlich ihrer Auswirkungenauf Reiche und Arme, Frauen und Männer, Menschen mit mehr oderweniger Macht. Wir müssen die Effekte diverser Märkte auf die ge-sellschaftlichen Normen untersuchen, die unseren zwischenmensch-lichen Beziehungen zugrunde liegen.

Zwei Ziele sind es, die ich mit dem vorliegenden Buch verfolge.Das erste ist theoretischer Natur und richtet sich vor allem an zeitge-nössische politische Philosophen und philosophisch interessierteÖkonomen; das zweite ist praktischer Natur und steht im Zusam-menhang mit aktuellen politischen Kontroversen. Zunächst hoffeich, einen Beitrag zur aktuellen Gleichheitsdebatte zu leisten. Indiesem Zusammenhang gehe ich unter anderem auf die folgendenFragen ein: Inwiefern bewirken Märkte Fortschritte im Hinblickauf soziale Gleichheit? Sind Beschränkungen der Markttransaktionenzwischen Erwachsenen, die sich einvernehmlich auf einen Handel

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einlassen, zwangsläufig paternalistisch? Wie ist das Verhältnis vonMärkten und staatsbürgerlicher Gleichheit in einer Demokratie be-schaffen? In zweiter Linie versuche ich ganz praktisch einen Denk-ansatz zu skizzieren, der nicht nur für die hier erörterten Beispiele,sondern auch für andere Fälle als Richtschnur zu dienen vermag, umdie Grenzen des Marktes auszuloten. Hier wären etwa Kontroversenum die angemessene Rolle von Märkten bei der Produktion und Dis-tribution lebensrettender Medikamente, um private Gefängnisse,Bildung, den Handel mit Subprime-Hypotheken, die Regelung desKohlendioxidausstoßes und um politische Einflussnahme zu nen-nen. Natürlich werfen all diese Themen komplexe empirische Fragenauf, die sich unmittelbar darauf auswirken, was wir in jedem einzel-nen Fall tun sollten. Die Perspektive, die ich hier entwickle, ist nichtals Schablone gedacht.

Denn mein Ansatz ist, wie noch deutlich werden soll, in einerwichtigen Hinsicht ergebnisoffen: Ich erstelle keine Rangordnungfür die verschiedenen Parameter zur Beurteilung von Märkten undbiete auch keine mathematisch genauen Definitionen; es gibt keineFormel, mit der man ermitteln könnte, wie hoch die Punktzahl füreinen der Parameter sein muss, damit ein Markt als toxisch zu geltenhat. Meine Argumentation wird vielmehr in dem Maß erfolgreichsein, wie ich meine Leserinnen und Leser von der Notwendigkeiteines differenzierten Blicks auf Märkte und ihre komplexen Bezie-hung zu sozialer Gleichheit zu überzeugen vermag.

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Inhalt

Einleitung 9

TEIL I

1 Was tun Märkte? 23

TEIL II

2 Paradigmen der Ökonomie 553 Ort und Reichweite des Marktes in der

zeitgenössischen egalitaristischen politischen Theorie 874 Toxische Märkte 127

TEIL III

5 Märkte für die Reproduktionsarbeit von Frauen 1616 Märkte für Sexarbeit von Frauen 1907 Kinderarbeit: eine normative Perspektive 2188 Freiwillige Versklavung und die Grenzen des Marktes 2409 Ethische Probleme des Nierenmarktes 267

10 Zum Schluss 293

Bibliografie 299Danksagung 316

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Zur Autorin:

Debra Satz ist Professorin für Philosophie sowie Dekanin der Fakul-tät Humanities and Arts an der Stanford University. Ihre Forschungs-schwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Philosophie, Sozial- und Wirtschaftsphilosophie, Feministische Philosophie.

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

© der deutschen Ausgabe 2013 by Hamburger EditionVerlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung© der Originalausgabe 2010 by Oxford University Press, Inc., New YorkTitel der Originalausgabe: »Why Some Things Should Not Be For Sale.The Moral Limits Of Markets«

Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus der Garamond von Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-86854-262-21. Auflage September 2013