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verschuldung aufgrund der hohen Grund- stückspreise, die geringe Produktionsbasis in der Industrie sowie das hohe Auslandsdefizit könnten das Wachstum gefährden.« Wenn Spanien nicht in der Eurozone wäre, »würden wir unsere Währung, die peseta, stark entwer- tet vorfinden, mit einer Inflationsrate um das doppelte so hoch wie die aktuelle, mit einem sehr hohen Haushaltsdefizit und einer Ver- schuldung von etwa 100 Prozent des BIP«, schrieb Guillermo De la Dehesa im letzten Jahr in El País. »Wir würden sicherlich starke Anpassungsmaßnahmen der internen Nachfrage vornehmen, die uns eine Rezession produziert hätte, da die hohen Erdölpreise, mit einer abgewerteten Peseta, und unsere Abhän- gigkeit von den Erdölim- porten, uns ein Handels- defizit mit gigantischen Ausmaßen produziert hätte, das wir wiederum mit Euros und Dollars durch die Exporte ausglei- chen müssten, was unmöglich wäre, ohne unsere Auslandsschulden zu erhöhen«, so De la Dehesa. Sollten die Roh- stoffpreise weltweit weiter ansteigen und die Zinsen in der Eurozone plötzlich steigen, wäre eine Krise in der Immobilienbranche nicht ausgeschlossen. Der logische Rückgang in der Bauindustrie würde dann die Seifenblase der Immo- bilienspekulation zum Platzen bringen. Das Wirtschaftswachstum und die Konsumtätigkeit würden sinken, und die Banken gerieten in einen Abwärtsstrudel. Drei Spaniens Folglich würde die Erwerbslosigkeit steigen, die Gehälter sinken und die öffentliche Not explodieren. Vor allem wirkt es sich auf die verschiedenen sozialen Gruppen unterschied- lich aus. In dem selben Land existieren parallel drei Spaniens, findet das Seminar für Alterna- tive Wirtschaft TAIFA, eine Gruppe kritischer Ökonomen aus Katalonien 12 : Ein »arbeitendes Spanien«, das wächst, mit einer Bevölkerung, die seine materiellen Be- dürfnisse relativ gut abdeckt, einem hohen – fast krankhaften – Konsumniveau und einem enormen Verschuldungsgrad. »Typische Fami- lien, mit ein oder zwei Kindern, beide Erwach- senen erwerbstätig, leben gut, haben aber nur wenige soziale Dienste zur Verfügung, die zudem immer mehr privatisiert werden. Sie tatenlos zu oder ist in korrupte Machenschaf- ten verwickelt. Unterdessen konzentriert sich die Bevölke- rung und die Wirtschaftsaktivitäten auf 20 Prozent des Territoriums. In einigen Provinzen ist der urbanisierte Boden in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gestiegen (vor allem Madrid und die Küstenregion um die Strand- metropolen in Murcia, Alicante, Malaga und Valencia). Allein im letzten Jahr wurden 800 000 neue Wohnungen gebaut, mehr als in Deutschland, Frankreich und England zusam- men. Die Nachfrage ist groß, die Preise stei- gend. Die Familien schuldeten den Kreditan- stalten zum Ende 2005 mehr als 650 Mrd. Euro, davon 474,40 Mrd. in Hypotheken. Das sind bereits 53 Prozent des BIP. Einer Untersu- chung des Nationalen Statistikinstituts zufolge gaben die spanischen Haushalte 1985 noch 30 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel, Alkohol und Tabak aus. Heute seien es weni- ger als 20 Prozent. Ein immer größerer Anteil entfalle auf Konsumartikel und vor allem auf die Dienstleistungen, insbesondere die finan- ziellen. Mit den Jahren, aber vor allem seit 1996, gewinnt der Anteil (55 Prozent), den die Bürger in eine Eigentumswohnung investie- ren, an Bedeutung. Dieser Immobilienboom ist nicht nur mit der internen Nachfrage und den billigen Krediten (von 15 Prozent im Jahr 1992 auf 4 Prozent heute) zu erklären. Aus- landsinvestitionen in den spanischen Immobi- liensektor in Form von Renten-, Investitions- und Immobilienfonds bzw. Geldwäsche, mit Rentabilitätsraten von bis zu 20 Prozent in den letzten Jahren, ließen den Sektor explodie- ren. Heute sind bereits 17 Prozent der spani- schen Wirtschaft von dem »Ziegel« – wie man hier spöttisch sagt – abhängig. Der intensive Urbanisierungsprozess verursacht natürlich auch enorme Umweltbelastungen (Wasser- mangel, dichte Besiedelung, Abfallversorgung, stark zunehmender Verkehr und Energiekon- sum etc.). Das »spanische Wunder«? Vereinfachend kann gesagt werden, dass das neoliberale Entwicklungsmodell der spani- schen Wirtschaft zwar relativ hohe Wachs- tumsraten bescherte und für ein angestiegenes Lebensniveau sorgte. Doch offenbart es gleich- zeitig eine Reihe von Problemen, die darauf schließen lassen, dass dieses Wachstum sehr wahrscheinlich bald abnehmen wird. 11 So warnte die Spanischen Zentralbank vor einiger Zeit vor der Möglichkeit einer »schlagartigen und ungeordneten Korrektur« des spanischen Immobilienmarktes. »Ein derartiges Szenarium hätte enorme Folgen für die spanische Wirt- schaft«, meint Durán, »die in den letzten Jah- ren das größte Defizit der Welt akkumulierte, nämlich 7 Prozent des BIP, was bisher ohne Probleme durch die Beteiligung am Euro finanziert werden konnte, doch die Familien- sein«, glaubt der Wirtschaftsminister Pedro Solbes. In Spanien fielen die Herstellungskos- ten 2003 um 0,5 Prozent. Die durchschnittli- che Arbeitszeit pro Jahr (1 757,2 h) stieg im letzten Jahr um zwei Stunden, während die Nettogehälter 2004 und 2005 stagnierten. Und trotzdem machen Wirtschaft und Regie- rung weiterhin die »hohen Lohnkosten« für die fehlende Produktivität verantwortlich. In den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres registrierte das Arbeitsministerium mehr als 900 000 Unfälle. Dabei kamen 990 Perso- nen ums Leben. Ein Drittel der Opfer sind Migranten. Oft arbeiten sie ohne eine spezifi- sche Ausbildung, oder es fehlt an Arbeits- schutzmaßnahmen. Eine Reportage in der Zei- tung El País über den Bau der neuen U-Bahn- linien in Madrid zeigt die Realität des neuen Arbeitsmarktes: Auf dem Bild, das den Text begleitet, sieht man nur Migranten, die in den Tunnelschächten arbeiten. Spanien sei ein Bei- spiel dafür, so der EU-Kommissar für Erwerbs- tätigkeit und soziale Fragen, Vladimir Spidla, um zu zeigen, dass die Ankunft einer erhebli- chen Zahl von Migranten und ihre Regulari- sierung zu positiven Wirtschaftsdaten führen kann. Migranten: die neuen Sklaven des 21. Jahrhunderts Nach Angaben der Spanischen Kommission zur Hilfe von Flüchtlingen (CEAR), benötige das Land jedes Jahr die Zuwanderung von 300000 Personen, um das BIP, die Geburten- rate und das Rentensystem stabil zu halten. Lebten 1998 etwa 630 000 Ausländer in Spa- nien (davon 42 Prozent aus der EU), sprechen die offiziellen Statistiken heute von 3 691 500 (8,4 Prozent, davon 21,3 Prozent aus der EU). Einmal am Zielort angelangt, arbeiten die meisten von ihnen in den Nischen des Arbeits- marktes unter sklavenähnlichen Bedingungen: Schuhproduktion, Landwirtschaft, Lederverar- beitung, Baustellen, Reinigung, Prostitution sowie Hausarbeit. 13 In vielen Fällen ohne Arbeitsvertrag und ohne Sozialversicherung, schuften sie zu Hungerlöhnen, im Durch- schnitt 10 bis 13 Stunden am Tag. Dieser Niedriglohnsektor bzw. informelle Arbeits- markt erwirtschafte jedoch bereits 23 Prozent des spanischen BIPs (130 Mrd. Euro). 14 Das geltende Ausländergesetz reproduziert diese Situation vielfach. »Während es ein Angebot klandestiner Arbeiter gibt, benutzen das die Unternehmer, um die Kosten zu drücken und die Bedingungen zu verschlechtern«, erklärt die Migrationsbeauftragte der Gewerkschaft UGT, Almudena Fontech. Dieser Sachverhalt hat unter anderem zur Folge, dass durch die prekären Arbeitsverhältnisse die Unfallquote überdimensional ansteigt. (Siehe oben) Die Arbeitslosenquote unter Migranten ist dreimal so hoch wie beim Rest der Bevölke- akzeptieren den Diskurs des Individualismus und glauben, wer nicht so lebt wie sie, ist sel- ber schuld«, so TAIFA in einer Studie. Dann haben wir das »verschwenderische Spanien« einer Minderheit mit außerordentli- chen Lebensbedingungen: Finanzmann/frau, Eigentümer von Immobilien, Finanzkapital oder Industrien, erfolgreiche Unternehmer, hohe Angestellte, einige Journalisten, Künstler, Sportler und ihre Familien, sowie ein reichli- cher Teil der Politiker und der Kirche. Das ist die spanische jet society. Sie bestimmen die Meinungsbildung in den Massenmedien und glauben: »Spanien geht es gut«. Zuletzt ist da das arme Spanien, dem es gar nicht gut geht und das etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Dieses Spanien leidet unter Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäfti- gung, eingefrorenen bzw. sinkenden Löhnen, fehlenden sozialen Dienstleistungen, unge- recht verteiltem Reichtum, Ausgrenzung und Armut. »Menschen, die überleben, weiter nichts. Eine Bevölkerung, die kein Lebenspro- jekt vor Augen hat, keine Zukunftsaussichten. Das ist das traurige Spanien, das viel zu viele Menschen betrifft«, so TAIFA. Eine mögliche Rezession beantwortet die Regierung mit den üblichen neoliberalen Rezepten. »Wie können wir dem Defizit begegnen? Natürlich mit einer höheren Wett- bewerbsfähigkeit der Firmen, die nur durch eine steigende Produktivität erreichbar ist. Oder anders gesagt: wenn die Gehälter steigen, weil die Produktivität zunimmt, die Herstel- lungskosten jedoch gleichbleiben, haben wir mehr Spielraum, um wettbewerbsfähiger zu A express 7-8/2006 15 Entgeltgruppe. Weitergehende An- sprüche auf Zeitzuschläge bestehen nicht. (...) In-Kraft-Treten, Mindestlaufzeit, Übergangsregelung 1. In-Kraft-Treten: 1. August 2006 2. Bei abgeschlossenen Sanierungs-/ Notlagentarifverträgen, Tarifverträ- gen zur Zukunftssicherung und anderweitigen Tarifverträgen zur Beschäftigungssicherung, einschließ- lich Tarifverträge nach dem TVsA, treten die vorstehenden Regelungen erst mit Ablauf der zum Zeitpunkt des Abschlusses des jeweiligen Tarif- vertrages geltenden Laufzeit bzw. im Falle einer Kündigung des jeweiligen Tarifvertrages mit Ablauf der Kündi- gungsfrist in Kraft. 3. Für die Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 31. Juli 2006 erhalten Ärzte mit dem Entgelt für August 2006 eine anteilige Jahressonderzahlung, wenn sie am 1. August 2006 im Arbeitsverhältnis stehen. 4. Für die Laufzeit gelten die entspre- chenden Regelungen des TVöD. (Quelle: Presseerklärung von ver.di, 1. August. 2006) Der Tarifabschluss des Marburger Bund (MB) Am Donnerstag, den 17. August 2006 haben sich die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und der Marburger Bund (MB) auf einen Tarifvertrag für die Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern geeinigt. (...) Im Einzelnen wurden folgende Eck- punkte vereinbart (siehe untenste- hende mb-Tabelle): Im Tarifgebiet Ost beträgt der Bemessungssatz 95,5 Prozent der Tabellenentgelte. Dieser Bemessungs- satz erhöht sich zum 1. Juli 2007 auf 97 Prozent. Aus diesen Tabellenwerten erge- ben sich für die Ärztinnen und Ärzte deutlich verbesserte Einkommen. Durchschnittlich steigen die Ein- kommen je nach Struktur des Kran- kenhauses um ca. 10 bis 13 Prozent gegenüber dem TVöD. Bereitschaftsdienst Vereinbart wurde eine Erhöhung der Entgelte durch Anhebung der Bemes- sungssätze sowie eine Vereinfachung der Abrechnung. Bemessungssätze Stufe I (bis zu 25 Prozent Arbeitsleistung) 60 Prozent Stufe II (über 25 – 40 Prozent Arbeitsleistung) 75 Prozent Stufe III (über 40 – 49 Prozent Arbeitsleistung) 90 Prozent Stundenentgelte (Tarifgebiet West) Assistenzarzt 22,30 Euro Facharzt 27,10 Euro Oberarzt 30,00 Euro Ltd. Oberarzt 32,00 Euro Wochentags sind tägliche Arbeitszei- ten einschließlich Bereitschaftsdienst von bis zu 18 Stunden möglich. An Wochenenden und aufgrund von Betriebs-/Dienstvereinbarungen kann die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 24 Stunden verlängert werden. Arbeitszeiterfassung Hinsichtlich der Arbeitszeiterfassung wurde vereinbart, die Arbeitszeiten der Ärzte durch elektronische Verfah- ren oder auf andere Art objektiv zu dokumentieren. Tarifgebiet Ost Für das Tarifgebiet Ost sind die Tabellenwerte des Tarifgebiets West reduziert um den für das Tarifgebiet Ost gültigen Bemessungssätze (95,5 Prozent; ab 1. Juli 2007 97 Prozent) vereinbart worden. Dazu der Verhandlungsführer der VKA, Otto Foit: »...Beim finanziellen Gesamtvolumen liegen wir unter dem Abschluss der Länder mit dem Marburger Bund. Wir fürchten jedoch, dass auch dieses Ergebnis die Schmerzgrenze vieler kommunaler Kliniken überschreitet und deren Existenznöte steigern wird.« Ausdrücklich bekräftigte die VKA ihr Ziel, an den kommunalen Klini- ken weiterhin nur mit einem einheit- lichen materiellen Tarifrecht zu arbei- Marburger Bund: Entgelttabelle – monatlich in Euro Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 Arzt 3 420 3 640 3 760 4 000 4 200 Facharzt 4 450 4 800 5 110 5 300 5 600 Oberarzt 5 650 6 000 AT (freie Vereinbarung) Ltd. Oberarzt 6 500 AT (freie Vereinbarung) * Werte auf Basis von 40 Stunden/Woche einschließlich Jahressonderzahlung * Die Tatsache, dass ein Leistungsentgelt für Ärztinnen und Ärzte nicht tarifvertraglich verein- bart worden ist, bedeutet nicht, dass die kommunalen Krankenhäuser bei Ärztinnen und Ärz- ten auf materielle Leistungsanreize verzichten. Sie können schon in 2007 leistungsdifferenzie- rende Zielvereinbarungen mit Ärztinnen und Ärzten praktizieren.

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verschuldung aufgrund der hohen Grund-stückspreise, die geringe Produktionsbasis inder Industrie sowie das hohe Auslandsdefizitkönnten das Wachstum gefährden.« WennSpanien nicht in der Eurozone wäre, »würdenwir unsere Währung, die peseta, stark entwer-tet vorfinden, mit einer Inflationsrate um dasdoppelte so hoch wie die aktuelle, mit einemsehr hohen Haushaltsdefizit und einer Ver-schuldung von etwa 100 Prozent des BIP«,schrieb Guillermo De la Dehesa im letztenJahr in El País. »Wir würden sicherlich starkeAnpassungsmaßnahmender internen Nachfragevornehmen, die uns eineRezession produziert hätte,da die hohen Erdölpreise,mit einer abgewertetenPeseta, und unsere Abhän-gigkeit von den Erdölim-porten, uns ein Handels-defizit mit gigantischenAusmaßen produzierthätte, das wir wiederummit Euros und Dollarsdurch die Exporte ausglei-chen müssten, wasunmöglich wäre, ohneunsere Auslandsschuldenzu erhöhen«, so De laDehesa. Sollten die Roh-stoffpreise weltweit weiteransteigen und die Zinsenin der Eurozone plötzlichsteigen, wäre eine Krise inder Immobilienbranchenicht ausgeschlossen. Derlogische Rückgang in derBauindustrie würde danndie Seifenblase der Immo-bilienspekulation zumPlatzen bringen. Das Wirtschaftswachstumund die Konsumtätigkeit würden sinken, unddie Banken gerieten in einen Abwärtsstrudel.

Drei Spaniens

Folglich würde die Erwerbslosigkeit steigen,die Gehälter sinken und die öffentliche Notexplodieren. Vor allem wirkt es sich auf dieverschiedenen sozialen Gruppen unterschied-lich aus. In dem selben Land existieren paralleldrei Spaniens, findet das Seminar für Alterna-tive Wirtschaft TAIFA, eine Gruppe kritischerÖkonomen aus Katalonien12:

Ein »arbeitendes Spanien«, das wächst, miteiner Bevölkerung, die seine materiellen Be-dürfnisse relativ gut abdeckt, einem hohen –fast krankhaften – Konsumniveau und einemenormen Verschuldungsgrad. »Typische Fami-lien, mit ein oder zwei Kindern, beide Erwach-senen erwerbstätig, leben gut, haben aber nurwenige soziale Dienste zur Verfügung, diezudem immer mehr privatisiert werden. Sie

tatenlos zu oder ist in korrupte Machenschaf-ten verwickelt.

Unterdessen konzentriert sich die Bevölke-rung und die Wirtschaftsaktivitäten auf 20Prozent des Territoriums. In einigen Provinzenist der urbanisierte Boden in den letzten zehnJahren um 50 Prozent gestiegen (vor allemMadrid und die Küstenregion um die Strand-metropolen in Murcia, Alicante, Malaga undValencia). Allein im letzten Jahr wurden800 000 neue Wohnungen gebaut, mehr als inDeutschland, Frankreich und England zusam-men. Die Nachfrage ist groß, die Preise stei-gend. Die Familien schuldeten den Kreditan-stalten zum Ende 2005 mehr als 650 Mrd.Euro, davon 474,40 Mrd. in Hypotheken. Dassind bereits 53 Prozent des BIP. Einer Untersu-chung des Nationalen Statistikinstituts zufolgegaben die spanischen Haushalte 1985 noch 30Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel,Alkohol und Tabak aus. Heute seien es weni-ger als 20 Prozent. Ein immer größerer Anteilentfalle auf Konsumartikel und vor allem aufdie Dienstleistungen, insbesondere die finan-ziellen. Mit den Jahren, aber vor allem seit1996, gewinnt der Anteil (55 Prozent), den dieBürger in eine Eigentumswohnung investie-ren, an Bedeutung. Dieser Immobilienboomist nicht nur mit der internen Nachfrage undden billigen Krediten (von 15 Prozent im Jahr1992 auf 4 Prozent heute) zu erklären. Aus-landsinvestitionen in den spanischen Immobi-liensektor in Form von Renten-, Investitions-und Immobilienfonds bzw. Geldwäsche, mitRentabilitätsraten von bis zu 20 Prozent inden letzten Jahren, ließen den Sektor explodie-ren. Heute sind bereits 17 Prozent der spani-schen Wirtschaft von dem »Ziegel« – wie manhier spöttisch sagt – abhängig. Der intensiveUrbanisierungsprozess verursacht natürlichauch enorme Umweltbelastungen (Wasser-mangel, dichte Besiedelung, Abfallversorgung,stark zunehmender Verkehr und Energiekon-sum etc.).

Das »spanische Wunder«?

Vereinfachend kann gesagt werden, dass dasneoliberale Entwicklungsmodell der spani-schen Wirtschaft zwar relativ hohe Wachs-tumsraten bescherte und für ein angestiegenesLebensniveau sorgte. Doch offenbart es gleich-zeitig eine Reihe von Problemen, die daraufschließen lassen, dass dieses Wachstum sehrwahrscheinlich bald abnehmen wird.11 Sowarnte die Spanischen Zentralbank vor einigerZeit vor der Möglichkeit einer »schlagartigenund ungeordneten Korrektur« des spanischenImmobilienmarktes. »Ein derartiges Szenariumhätte enorme Folgen für die spanische Wirt-schaft«, meint Durán, »die in den letzten Jah-ren das größte Defizit der Welt akkumulierte,nämlich 7 Prozent des BIP, was bisher ohneProbleme durch die Beteiligung am Eurofinanziert werden konnte, doch die Familien-

sein«, glaubt der Wirtschaftsminister PedroSolbes. In Spanien fielen die Herstellungskos-ten 2003 um 0,5 Prozent. Die durchschnittli-che Arbeitszeit pro Jahr (1 757,2 h) stieg imletzten Jahr um zwei Stunden, während dieNettogehälter 2004 und 2005 stagnierten.Und trotzdem machen Wirtschaft und Regie-rung weiterhin die »hohen Lohnkosten« fürdie fehlende Produktivität verantwortlich.

In den ersten elf Monaten des vergangenenJahres registrierte das Arbeitsministerium mehrals 900 000 Unfälle. Dabei kamen 990 Perso-nen ums Leben. Ein Drittel der Opfer sindMigranten. Oft arbeiten sie ohne eine spezifi-sche Ausbildung, oder es fehlt an Arbeits-schutzmaßnahmen. Eine Reportage in der Zei-tung El País über den Bau der neuen U-Bahn-linien in Madrid zeigt die Realität des neuenArbeitsmarktes: Auf dem Bild, das den Textbegleitet, sieht man nur Migranten, die in denTunnelschächten arbeiten. Spanien sei ein Bei-spiel dafür, so der EU-Kommissar für Erwerbs-tätigkeit und soziale Fragen, Vladimir Spidla,um zu zeigen, dass die Ankunft einer erhebli-chen Zahl von Migranten und ihre Regulari-sierung zu positiven Wirtschaftsdaten führenkann.

Migranten: die neuen Sklaven des 21. Jahrhunderts

Nach Angaben der Spanischen Kommissionzur Hilfe von Flüchtlingen (CEAR), benötigedas Land jedes Jahr die Zuwanderung von300 000 Personen, um das BIP, die Geburten-rate und das Rentensystem stabil zu halten.Lebten 1998 etwa 630 000 Ausländer in Spa-nien (davon 42 Prozent aus der EU), sprechendie offiziellen Statistiken heute von 3 691 500(8,4 Prozent, davon 21,3 Prozent aus der EU).

Einmal am Zielort angelangt, arbeiten diemeisten von ihnen in den Nischen des Arbeits-marktes unter sklavenähnlichen Bedingungen:Schuhproduktion, Landwirtschaft, Lederverar-beitung, Baustellen, Reinigung, Prostitutionsowie Hausarbeit.13 In vielen Fällen ohneArbeitsvertrag und ohne Sozialversicherung,schuften sie zu Hungerlöhnen, im Durch-schnitt 10 bis 13 Stunden am Tag. DieserNiedriglohnsektor bzw. informelle Arbeits-markt erwirtschafte jedoch bereits 23 Prozentdes spanischen BIPs (130 Mrd. Euro).14 Dasgeltende Ausländergesetz reproduziert dieseSituation vielfach. »Während es ein Angebotklandestiner Arbeiter gibt, benutzen das dieUnternehmer, um die Kosten zu drücken unddie Bedingungen zu verschlechtern«, erklärtdie Migrationsbeauftragte der GewerkschaftUGT, Almudena Fontech. Dieser Sachverhalthat unter anderem zur Folge, dass durch dieprekären Arbeitsverhältnisse die Unfallquoteüberdimensional ansteigt. (Siehe oben)

Die Arbeitslosenquote unter Migranten istdreimal so hoch wie beim Rest der Bevölke-

akzeptieren den Diskurs des Individualismusund glauben, wer nicht so lebt wie sie, ist sel-ber schuld«, so TAIFA in einer Studie.

Dann haben wir das »verschwenderischeSpanien« einer Minderheit mit außerordentli-chen Lebensbedingungen: Finanzmann/frau,Eigentümer von Immobilien, Finanzkapitaloder Industrien, erfolgreiche Unternehmer,hohe Angestellte, einige Journalisten, Künstler,Sportler und ihre Familien, sowie ein reichli-cher Teil der Politiker und der Kirche. Das istdie spanische jet society. Sie bestimmen die

Meinungsbildung in den Massenmedien undglauben: »Spanien geht es gut«.

Zuletzt ist da das arme Spanien, dem es garnicht gut geht und das etwa ein Viertel derBevölkerung ausmacht. Dieses Spanien leidetunter Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäfti-gung, eingefrorenen bzw. sinkenden Löhnen,fehlenden sozialen Dienstleistungen, unge-recht verteiltem Reichtum, Ausgrenzung undArmut. »Menschen, die überleben, weiternichts. Eine Bevölkerung, die kein Lebenspro-jekt vor Augen hat, keine Zukunftsaussichten.Das ist das traurige Spanien, das viel zu vieleMenschen betrifft«, so TAIFA.

Eine mögliche Rezession beantwortet dieRegierung mit den üblichen neoliberalenRezepten. »Wie können wir dem Defizitbegegnen? Natürlich mit einer höheren Wett-bewerbsfähigkeit der Firmen, die nur durcheine steigende Produktivität erreichbar ist.Oder anders gesagt: wenn die Gehälter steigen,weil die Produktivität zunimmt, die Herstel-lungskosten jedoch gleichbleiben, haben wirmehr Spielraum, um wettbewerbsfähiger zu

A express 7-8/2006 15

Entgeltgruppe. Weitergehende An-sprüche auf Zeitzuschläge bestehennicht. (...)

In-Kraft-Treten, Mindestlaufzeit,Übergangsregelung

1. In-Kraft-Treten: 1. August 20062. Bei abgeschlossenen Sanierungs-/Notlagentarifverträgen, Tarifverträ-gen zur Zukunftssicherung undanderweitigen Tarifverträgen zurBeschäftigungssicherung, einschließ-lich Tarifverträge nach dem TVsA,treten die vorstehenden Regelungenerst mit Ablauf der zum Zeitpunktdes Abschlusses des jeweiligen Tarif-vertrages geltenden Laufzeit bzw. imFalle einer Kündigung des jeweiligenTarifvertrages mit Ablauf der Kündi-gungsfrist in Kraft.3. Für die Zeit vom 1. Januar 2006bis zum 31. Juli 2006 erhalten Ärztemit dem Entgelt für August 2006eine anteilige Jahressonderzahlung,wenn sie am 1. August 2006 imArbeitsverhältnis stehen.4. Für die Laufzeit gelten die entspre-

chenden Regelungen des TVöD.(Quelle: Presseerklärung von ver.di,

1. August. 2006)

Der Tarifabschluss desMarburger Bund (MB)

Am Donnerstag, den 17. August2006 haben sich die Vereinigung derkommunalen Arbeitgeberverbände(VKA) und der Marburger Bund(MB) auf einen Tarifvertrag für dieÄrztinnen und Ärzte an kommunalenKrankenhäusern geeinigt. (...) Im

Einzelnen wurden folgende Eck-punkte vereinbart (siehe untenste-hende mb-Tabelle):

Im Tarifgebiet Ost beträgt derBemessungssatz 95,5 Prozent derTabellenentgelte. Dieser Bemessungs-satz erhöht sich zum 1. Juli 2007 auf97 Prozent.

Aus diesen Tabellenwerten erge-ben sich für die Ärztinnen und Ärztedeutlich verbesserte Einkommen.Durchschnittlich steigen die Ein-kommen je nach Struktur des Kran-kenhauses um ca. 10 bis 13 Prozentgegenüber dem TVöD.

BereitschaftsdienstVereinbart wurde eine Erhöhung derEntgelte durch Anhebung der Bemes-sungssätze sowie eine Vereinfachungder Abrechnung.

BemessungssätzeStufe I (bis zu 25 Prozent Arbeitsleistung) 60 ProzentStufe II (über 25 – 40 ProzentArbeitsleistung) 75 ProzentStufe III (über 40 – 49 ProzentArbeitsleistung) 90 Prozent

Stundenentgelte (Tarifgebiet West)Assistenzarzt 22,30 EuroFacharzt 27,10 EuroOberarzt 30,00 EuroLtd. Oberarzt 32,00 Euro

Wochentags sind tägliche Arbeitszei-ten einschließlich Bereitschaftsdienstvon bis zu 18 Stunden möglich. AnWochenenden und aufgrund vonBetriebs-/Dienstvereinbarungenkann die tägliche Arbeitszeit auf biszu 24 Stunden verlängert werden.

ArbeitszeiterfassungHinsichtlich der Arbeitszeiterfassungwurde vereinbart, die Arbeitszeitender Ärzte durch elektronische Verfah-ren oder auf andere Art objektiv zudokumentieren.

Tarifgebiet OstFür das Tarifgebiet Ost sind dieTabellenwerte des Tarifgebiets Westreduziert um den für das TarifgebietOst gültigen Bemessungssätze (95,5Prozent; ab 1. Juli 2007 97 Prozent)vereinbart worden.

Dazu der Verhandlungsführer derVKA, Otto Foit: »...Beim finanziellenGesamtvolumen liegen wir unterdem Abschluss der Länder mit demMarburger Bund. Wir fürchtenjedoch, dass auch dieses Ergebnis dieSchmerzgrenze vieler kommunalerKliniken überschreitet und derenExistenznöte steigern wird.«

Ausdrücklich bekräftigte die VKAihr Ziel, an den kommunalen Klini-ken weiterhin nur mit einem einheit-lichen materiellen Tarifrecht zu arbei-

Marburger Bund: Entgelttabelle – monatlich in EuroStufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5

Arzt 3 420 3 640 3 760 4 000 4 200

Facharzt 4 450 4 800 5 110 5 300 5 600

Oberarzt 5 650 6 000 AT (freie Vereinbarung)

Ltd. Oberarzt 6 500 AT (freie Vereinbarung)

* Werte auf Basis von 40 Stunden/Woche einschließlich Jahressonderzahlung

* Die Tatsache, dass ein Leistungsentgelt für Ärztinnen und Ärzte nicht tarifvertraglich verein-bart worden ist, bedeutet nicht, dass die kommunalen Krankenhäuser bei Ärztinnen und Ärz-ten auf materielle Leistungsanreize verzichten. Sie können schon in 2007 leistungsdifferenzie-rende Zielvereinbarungen mit Ärztinnen und Ärzten praktizieren.

und Justiz der EU. Seitdem 1991 die Schenge-ner Visabestimmungen für Marokko in Krafttraten15, wurde aus der Meeresenge zwischenAfrika und Europa ein Massengrab, in demlaut Menschenrechtsorganisationen in denletzten 15 Jahren mehr als 5 000 Menschenertranken.

Spanien fordert von der EU seit Jahrenvehement Mittel und politische sowie juristi-sche Initiativen, um die nationalen Kosten der»Grenzsicherung« auf alle Unionsmitgliederabzuwälzen. »Die Bewachung der Grenzen istkeine nationale, sondern eine EU-weite Ange-legenheit«, so der ehemalige Regierungsbeauf-tragte für Migration, Ingnacio Gonzales, »des-sen Kosten es gilt, gemeinsam zu bestreiten«16.Die EU-Kommission finanziert mittlerweilemit mehreren Millionen Euro den Aufbaueiner Europäischen Agentur, um die Zusam-menarbeit an den Außengrenzen zu verbessernbzw. die Abschiebungen EU-weit zu regeln.Außerdem verlagerte die spanische Regierungdie Schengengrenzen weiter nach Süden, umdie Weiterreise von Migranten aus Ländernsüdlich der Sahara bereits in den Maghrebstaa-ten selbst zu bremsen. So wurden die betref-fenden Behörden dieser Staaten direkt in dieVerwirklichung der europäischen Abschot-tungspolitik eingebunden.

Marokko z.B. folgte den spanischen Forde-rungen, aktivierte seine Grenzpolizei, eröffneteein Überwachungszentrum der Migrationsbe-wegungen, das in Koordination mit demAußen-, Innen- und Finanzministerium »alleInformationen zusammenträgt und Vorschlägezur Eindämmung des Phänomens erarbeitet«.Seit 2004 patroullieren marokkanische undspanische Polizisten und Soldaten auf demSeeweg zwischen El Aaiun und Fuerteventurabzw. in der Meerenge von Gibraltar. Marokkoverwandelte sich damit in ein »Auffanglager«der EU. Menschenrechtsorganisationen erwar-ten schon seit geraumer Zeit, dass sichdadurch die Situation afrikanischer Flüchtlin-ge verschlechtert, weil die sozialen Konflikte inMarokko auf dem Rücken der Migranten aus-getragen werden. Die Tragödie an der Grenzezwischen Marokko und Ceuta bestätigte dieseÄngste. Im Oktober letzten Jahres töteten spa-nische und marokkanische Sicherheitsbeamtemehrere Flüchtlinge, als sie versuchten denGrenzzaun zwischen beiden Staaten zu über-winden. Auch die Militarisierung der Region,die willkürlichen Abschiebungen sowie dieRepression gegen die einheimische Bevölke-rung werden mit Hilfe der spanischen »Koope-ration« in Sachen »Migrationskontrolle«zunehmen. Die spanische Regierung finanziertmarokkanische Abschiebezentren und benutztdie Entwicklungshilfe zur Aufrüstung undModernisierung der marokkanischen Polizei.17

Ganz im Sinne der britischen und deutschenRegierung, außerhalb der EU »Zentren zurAsylbearbeitung« einzurichten, um die»Flüchtlingsströme von den EU-Grenzen fern-zuhalten«.

rung. Viele leben in Armut. In den Gemüse-plantagen von Almeria oder den Erdbeerfel-dern von Huleva nächtigen Migranten unterPlastikplanen, Bauschutt und Holzpaletten.Tausende betteln in Kirchen um Nahrungs-mittel, leben in verlassenen Industriegeländen,Fabriken, Containern, Wohnanhängern, Gara-gen oder in Parks. »19 Prozent der Migrantenwohnen in weniger als zehn Quadratmetern, 50 Prozent mieten Zimmer ohne Bad für durch-schnittlich 200 Euro im Monat«, so CarlosPereda in seiner unlängst veröffentlichten Stu-die »Immigration und Wohnung in Spanien«.

EU-Grenzland

Laut Angaben von Eurostat ließen sich 2003fast 23 Prozent der in die EU eingereistenMigranten in Spanien nieder. Damit löste es Deutschland in der EU-Rangliste um die höchs-ten Aufnahmezahlen ab. Die Ursachen liegenu.a. in der geographisch günstigen Lage (14 kmzwischen Ceuta und Algeciras, 100 km zwi-schen Tarfaya und Fuerteventura) und der stei-genden Nachfrage nach billigen Arbeitskräften.

Aus dem einstigen Auswanderland wurdeein Vorreiter der EU-Migrationspolitik. Zumeinen baute die Regierung das Grenzregimeaus, zum anderen regulierte die die Einreisevon Arbeitskräften, je nach den Bedürfnissender Wirtschaft. Parallel dazu beeinflusste Spa-nien in den letzten Jahren entscheidend dieEntwicklung der Politik der Inneren Sicherheit

Man stelle sich vor, es gelänge, innerhalb einerGesellschaft oder einer Epoche die Hoffnungauf und das Eintreten für eine andere, bessereZukunft überflüssig zu machen, indem manden Anschein erweckte, dass diese Zukunftbereits in die Gegenwart hineinverlegt sei.Man stelle sich darüber hinaus vor, dass esgelänge, diese Gesellschaft oder Zeit alsgetrennt von ihrer Vergangenheit darzustellen,so dass diese Vergangenheit dem Vergessenoder der bloßen Verzierung der Gegenwartüberantwortet werden könnte. Ohne Zweifelwären dies ungemein stabile Verhältnisse undZeiten, in denen Zukunft und Fortschritt alsin der Gegenwart bereits verwirklicht erschie-nen und in denen der Vergangenheit dieFähigkeit abgesprochen wäre, die Gegenwartüber sich aufzuklären und zu verunsichern.

Man könnte dies als bloßes Gedankenspielbezeichnen, doch wie weit sind wir zur Zeittatsächlich noch von einer solchen Gegenwartohne Vergangenheit und Zukunft entfernt? Istes inzwischen nicht banal, auf die völlige Mar-ginalisierung des Engagements für eine Über-windung der bürgerlichen Verhältnisse alsKennzeichen eben dieser Verhältnisse zu ver-weisen? Gelingt es darüber hinaus den herr-schenden politischen und sozialen Institutio-nen sowie deren Meinungsmachern nicht sehrgut, die jeweils eigene Politik und Praxis als diefortlaufende Realisierung des Verbesserungs-möglichen darzustellen, so dass auch innerhalbder bestehenden Verhältnisse die Gegenwartjede bessere Zukunft immer schon auszu-schöpfen scheint? Und ist die Bewältigung derVergangenheit nicht nur in Deutschland nichtbereits soweit gelungen, dass historische Konti-nuitäten bestenfalls als »interessant« erscheinenund vergangene emanzipative Hoffnungenund Kämpfe heute zumeist nur noch demGeltungsinteresse mehr oder weniger rückgrat-loser Wissenschaftler und Journalisten dienen?

Müde Erinnerung

Innerhalb solcher Rahmenbedingungen densiebzigsten Jahrestag des Beginns des spani-schen Bürgerkriegs zu begehen, fällt dement-sprechend schwer. Sicher, man könnte diehistorischen Fakten in Erinnerung rufen wieetwa die 150 000 bis 200 000 umgebrachtenRepublikaner. Man könnte den Internationa-lismus, aber auch die Uneinigkeit der Linkenin Spanien ein weiteres Mal diskutieren, um

Schlechte Aussichten

Unter der scheinbar »idyllischen« Oberflächedes »spanischen Wunders« stecken eine Reihesozialer und ökologischer Probleme. So ver-breiten sich in immer größeren sozialen Berei-chen äußerst prekäre Lebens- und Arbeitsver-hältnisse. Die soziale Ausgrenzung sowie dieGewalt unter Jugendlichen nimmt zu, und dieAnzahl der Häftlinge hat sich in zwanzig Jah-ren verdreifacht.

Den spanischen Behörden bereitet außer-dem die zukünftige Verteilung der EU-FondsSorgen. Nach der EU-Erweiterung 2005 wer-den diese für das Mittelmeerland bedeutendsinken. Bisher erhielt es mehr als ein Viertelder EU-Struktur- und Kohäsionsfonds sowie15 Prozent der Agrarsubventionen. Mit deranstehenden Mittelstreichung ab 2013 wirdSpanien dann neuen Problemen begegnenmüssen. Dass sich die wirtschaftliche undsoziale Situation bis dahin verschlechtert hat,ist kein Geheimnis mehr, auch wenn diegroßen Unternehmen alle drei Monate Gewin-ne melden.

Anmerkungen:1) Die Automobilfirma Seat wurde mit 300 Millarden

Peseten saniert und dann für 80 Millarden Peseten anVolkswagen verkauft.

2) Transport, Telekommunikation, Energie3) Der Anteil der Auslandsinvestitionen am BIP betrug

im Jahr 2000 ganze 35,9 Prozent, ist seitdem aber fal-lend. Vgl. El País-Negocios vom 2. Januar 2005.

4) Die sog. »Goldene Banane« bezeichnet die europäischenRegionen von Südengland-London über Nordfrank-reich-Paris, Beneluxstaaten, Süddeutschland-Frankfurtund Norditalien.

5) Allein im Bereich Textil lassen heute 300 spanische Fir-men ihre Produkte in Marokko herstellen.

6) 2005 sollen nach statistischen Angaben 548 300 neueArbeitsstellen geschaffen worden sein (die höchste Zifferseit 1998).

7) Genauer: einer von sieben neuen Verträgen!8) Männer: 22 196,16 Euro; Frauen: 15 767,56 Euro9) Acht von zehn Firmen haben nur zwei oder weniger

Beschäftigte. Vgl. Nationales Statistikinstitut, 200510) Seit 1985 multiplizierte sich der Umsatz um 88. In

den ersten 10 Monaten des Jahres 2004 wurden an derMadrider Börse 530 Milliarden Euro bewegt. Vgl. ElPaís-Negocios vom 2. Januar 2005

11) Zwischen Juni und Juli 2005 hätten sich 14 557 Perso-nen arbeitslos gemeldet. Mitten in der Tourismussaisonist das ein schlechtes Zeichen, da das Tourismusgeschäftmehr als 11 Prozent des BIP ausmacht. Außerdemwurden im Jahr 2005 insgesamt 304 000 wenigerKraftfahrzeuge hergestellt. In einem Sektor, der 10 Pro-zent der Erwerbstätigen und 8 Prozent des BIP aus-macht.

12) Vgl. TAIFA – Seminario de economía crítica: La situa-ción actual de la economía española. Barcelona, 2005

13) Dossier campaña de la fresa en Huelva, movilizacionesde immigrantes y encierro en la Universidad Pablo deOlavide-Sevilla, 2003

14) Fundación de Cajas de Ahorros Confederadas (FUN-CAS): Papeles de la Economía Española, 2003

15) Die sozialdemokratische Regierung verabschiedete1985 das Ausländergesetz 7/85 und unterzeichnete denSchengener Vertrag, der aber erst am 25. Juni 1991 inKraft trat.

16) El País vom 26. Oktober 200317) Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucia: El

Estrecho: la muerte de perfil. Los derechos humanos y lainmigración clandestina, Sevilla, 2003

A16 express 7-8/2006

ten. Deshalb sei manbestrebt, die Vereinbarun-gen mit dem MarburgerBund auch in den mitver.di und dbb tarifunionabgeschlossenen kranken-hausspezifischen Tarifver-trag einvernehmlich zuintegrieren. »Wir wollenVerhältnisse vermeiden, indenen sich verschiedeneGewerkschaften an denKliniken mit den Streiksabwechseln und so fürdauerhafte Einschränkun-gen bei der Versorgung derPatienten sorgen«.

(Quelle: Presseinformation derVKA, Düsseldorf,17. August 2006)

An diedes FortSlave Cubela zum

Ob unter dem Stichwort »Grundsi-cherung«, »Existenzgeld«, »Mindest-einkommen«, »soziale BürgerInnen-rechte« o.a.: Seit längerem verfolgenwir im express die Debatte, welcheAnsatzpunkte und Alternativen zurgegenwärtigen Verfasstheit der sozia-len Sicherungssysteme denkbar sind –oder gar praktiziert werden. Im Okto-ber 2003 hatten wir das Konzept dersozialen Infrastruktur1, entstandenaus Diskussionen in der Redaktiondes »links-netz«, dokumentiert undseither eine Reihe von Kommentarendazu veröffentlicht. Auf Einladungdes links-netz hatte Nadja Rakowitznun die Gelegenheit, mit der Redak-tion über die Kritik der gegenwärti-gen Verfasstheit des Gesundheitssys-tems und Schlussfolgerungen aus sel-

biger für das Konzept der sozialenInfrastruktur zu diskutieren. Das fürden express leicht überarbeitete The-senpapier, das diese Diskussion ausSicht der Autorin zusammenfasst,lässt sich auch als erster Einstieg ineine Debatte darüber verstehen, wieGesundheit jenseits der ökonomi-schen Bornierungen der derzeitigenPolitik, und das heißt auch: jenseitsder Verkürzungen, wie sie sowohl beiver.di als auch beim Marburger Bundzum Ausdruck kommen, wieder alsgesellschaftliche Aufgabe zu begreifenwäre. Wir laden ein zur Kritik undKonkretisierung:

PatientInnenDie zentrale Frage ist hier: Wie istmehr Aufklärung möglich? Denn,

und dafür gibt es genügend Beispieleund hinreichend Erfahrungen, klarist, dass mehr Transparenz über Diag-nose, Therapie etc. hergestellt werdenmuss. Dabei kann man nicht, wiedas vielfach getan wird, unmittelbarauf die bereits existierenden Patien-ten(selbsthilfe)gruppen rekurrieren,denn diese sind zum einen selbstbevorzugtes Zielobjekt der Pharmain-dustrie, und arbeiten zum anderenoftmals gerne mit der Pharmaindus-trie zusammen, weil sie von dieserfinanzielle Unterstützung erhaltenund weil sie bisweilen eben auch demGlauben aufsitzen, dass neuere teurereMedikamente immer auch die besse-ren seien. Hier wäre also sehr genauhinzuschauen, auf welche Patien-ten(selbsthilfe)gruppen man sich be-

Klassenloses Krankenhaus?Soziale Infrastruktur und Gesundheitsversorgung – ein Diskussionsbeitrag von Nadja Rakowitz*

seine Folgen«. Obgleich Kaminskis Buch ohneZweifel im Schatten der bekannteren literari-schen Auseinandersetzungen mit dem Spani-schen Bürgerkrieg durch Orwell, Hemingway,Aragon, Brandt oder Borkenau stand undsteht – so dass es nach seiner französischenErstausgabe von 1937 erst 1986 ins Deutscheübersetzt wurde und die Auflage von 2004 diezweite deutschsprachige Auflage überhaupt ist,wird beim Lesen sehr bald klar, dass KaminskisBericht aus zwei Gründen ein äußerst feinesWerk ist.

Erstens, weil es Kaminski gelingt, durchein enges, vielgestaltiges formales Geflecht ausErfahrungsberichten, Interviews, aktuellenAnalysen und historisch-politischen Exkursenein lebendiges Bild der Situation in Katalonienzwischen Juli 1936 und April 1937 zu zeich-nen, das auch dem heutigen Leser einen inten-siven und über weite Strecken vergleichsweise

ungefilterten Blick zurück ermöglicht. Zwei-tens wiederum ist Kaminskis Sympathie fürdie Republikaner und die Revolution zwar all-gegenwärtig, sie führt aber nie dazu, dass erWidersprüche und Probleme auf Seiten derRepublikaner schönredet oder gar leugnet. ImGegenteil. Das Interview mit der Gesundheits-ministerin Federica Montseny, die, obgleichAnarchistin, die Existenz der Frauenfrage inKatalonien leugnet und darüber hinaus einebesonders ausgeprägte Mütterlichkeit undMutterfreude bei den katalanischen Frauenkonstatiert, schließt Kaminski, indem er iro-nisch an all die Beschreibungen erinnert, indenen die Anarchisten als »Verfechter derImmoralität« und »Zerstörer aller menschli-

innerhalb des breiten Interpretationsspek-trums hierzu Position zu beziehen. Man könn-te auf die unheilvolle Verwicklung Deutsch-lands verweisen, die ja nicht nur darinbestand, dass das dritte Reich den Francistenentscheidend zum Sieg verhalf, sondern die inden siebziger Jahren mit besonderer Hilfe derSPD und der hauseigenen Ebert-Stiftungdafür sorgte, dass die Nelkenrevolution in Por-tugal und das Ende des Franco-Regimes kei-nen weitergehenden Linksdrall annehmenkonnte. Man könnte auf die großen individu-ellen Tragödien eingehen, die die Niederlageder Republik für so viele Spanier bedeuteteund die erst kürzlich durch die ersten Öffnun-gen der vielen Massengräber mit republikani-schen Opfern wieder in den Blickpunkt derbreiteren Öffentlichkeit gelangten. Allein: alldies verbleibt in einem klar abgesteckten, ritu-alisierten Rahmen der Erinnerungsarbeit, dennicht einmal linke Publikationen wie die»junge welt« durchbrechen (vgl. den Artikelvon Gerd Bedszent vom 15. Juli 2006) unddessen versteckte Motivation der Referent derEbert-Stiftung (!) Patrik von zur Mühlen parspro toto im »Freitag« vom 7. Juli 2006 offenlegt, wenn er schreibt: »Nach dem Zusam-menbruch des Kommunismus in Europaeinerseits und dem Ende der Diktatur in Spa-nien andererseits erlosch das Interesse am Spa-nischen Bürgerkrieg. Die Fronten des altenSpaniens haben sich aufgelöst, und mit demEnde der kommunistischen Parteien sind auchdie Ahnengalerien bedeutungslos geworden,gleiches gilt auch für die Falangisten undandere Kräfte, auf die Franco sich stützte. Siesind zu Sekten geschrumpft, ihre Ideologiengelten auch im rechten Rand als verstaubt.Politische Faszination vermag der spanischeBürgerkrieg kaum mehr zu entfalten (...).«

Quellen statt Dürftigkeit

Dürftige Zeiten, dürftige Erinnerungen, somüsste man jetzt schließen – bestünde danicht die stete Möglichkeit, sich jenseitsgegenwärtiger Abnutzungen und Ermüdungendurch zeitnahe Quellen selbst mit der Vergan-genheit in Beziehung zu setzen. Tatsächlichfindet sich hierfür in der edition tranvia desWalter Frey-Verlages erneut eine besondersinteressante Gelegenheit durch die Wiederauf-lage des Augenzeugenberichts von Hanns-Erich Kaminski »Barcelona – Ein Tag und

Dies vor Augen wäre die erstarrte Erinne-rung an den spanischen Bürgerkrieg und insbe-sondere die Leugnung seiner Aktualität zweier-lei: einerseits die Unfähigkeit, gegenwärtigeDemütigungs- und Gewalterfahrungen derBeherrschten zu denen vergangener Zeiten inBeziehung zu setzen und andererseits das Be-mühen, diese sozialen Klassen als passive undformbare Masse festzuschreiben. Doch diesoziale Leidenschaft mag viele überflüssigeWege gehen, Verzweiflung, Trotz und emanzi-pative Hoffnung mögen sich immer wiederausschließen, aber wenn sie zueinander finden,wenn sie auf einmal Reflexion, Aktion undPhantasie der Beherrschten befüttern, dann,und nur dann, entsteht die Bedingung derMöglichkeit echten Fortschritts. Dies am Bei-spiel des spanischen Bürgerkriegs verdeutlichtzu haben, darin besteht die Leistung Kamins-kis. Hierfür ein großes historisches Beispiel ge-geben zu haben, ist der Grund, warum die spa-nischen Arbeiter und Bauern über ihre unmit-telbare Niederlage hinaus gesiegt haben und eine andere Form der Erinnerung verdient haben.

chen Werte« dargestellt wurden. Beim Besuchder republikanischen Justiz und politischenPolizei verschweigt er nicht die teilweise drako-nischen Urteile für vergleichsweise geringeVergehen, wie etwa den Fall eines Republika-ners, der für einen einfachen Diebstahl dieTodesstrafe erhielt. Auch die massiven Versor-gungsprobleme aller Art sowie die Unterschie-de zwischen Stadt und Land sind mehr als ein-mal Gegenstand seiner Ausführungen. In dervielleicht wichtigsten Passage seines Buchesnutzt Kaminski schließlich den Besuch an derBürgerkriegsfront, um abseits jeder Kampfro-mantik mit einiger Skepsis die weitreichendenFolgen der notwendigen Militarisierung derspanischen Revolution – nämlich Hierarchisie-rung und Disziplinierung – für die Zukunftderselben zu reflektieren.

Soziale Leidenschaft

Mindestens ebenso wichtig wie diese beidenAspekte ist jedoch folgendes: Je länger manKaminski durch das revolutionäre Katalonienfolgt, desto deutlicher beginnt man zu verste-hen, dass der spanische Bürgerkrieg in denheute so einfach scheinenden politischen undsozialen Positionierungen keineswegs aufgeht.Denn, wie Kaminski feststellt: »Nein, das istkein politischer Kampf, in dem verführte undhalbblinde Massen irgendwelchen Befehlengehorchen, und ebensowenig ein Bauernauf-stand, der sich nur gegen Aufseher und Zins-eintreiber richtet. Dies ist eine Revolution ausdem tiefsten Inneren des Volkes. In ihr kommtheute zum Ausbruch, was seit den Scheiter-haufen der Inquisition im Herzen Spaniensruhte.« (S. 74) Mit anderen Worten: Republi-kanismus, Kommunismus, Anarchismus etc.sind nur das reflektierte, ideell überformteEnde eines lange währenden Prozesses vonDemütigungs- und Gewalterfahrungen derspanischen Arbeiter und Bauern durch dieherrschenden Verhältnisse und Klassen. Diepolitischen und sozialen Ideen sind also auchhier keine Leidenschaft des Kopfes, sie sindder Kopf der sozialen Leidenschaft, derenBedeutung sich dem unaufmerksamen, an denpolitischen Phänomenen hängenden Betrach-ter eben deshalb häufig verschließt, da die All-täglichkeit des Leidens dieses zum einen ver-steckt und zum anderen über lange Phasen aufSeiten der Leidtragenden nur Demut undResignation zu produzieren scheint.

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ziehen oder mit welchen man zusam-menarbeiten könnte.

Die Aufhebung des patriarchalenArzt-Patienten-Verhältnisses kannnicht in einem Kundenverhältnis zusuchen sein, da dieses das wesentlicheMoment von Krankheit unterschlägt,nämlich die Ungleichheit und dieUnfreiheit des Patienten. Vielmehrmüsste es um Aneignung von Kompe-tenzen gehen auf der einen Seite undauf der anderen Seite um die Herstel-lung von gesellschaftlichen Bedin-gungen, innerhalb derer es möglichist, schwach und auf Hilfe angewie-sen zu sein, ohne zusätzliche Nachtei-le zu erfahren und bloß Objekt zusein. Dieses Problem ist über dasArzt/Patient-Verhältnis hinaus auchund schon bei der Mediziner-Ausbil-dung zu thematisieren – dazu untenmehr.

In diesen Kontext gehören m.E.auch Diskussionen über die Möglich-keit einer »Bedarfsmittlung vonunten«. Als Beispiel für eine solcheBedarfsermittlung im Betrieb bzw.

allgemeiner an den Arbeitsplätzenkönnte man auf die Erfahrungen ausder italienischen Arbeitermedizin der70er Jahre und deren Fortentwick-lung u.a. in kanadischen und brasilia-nischen Gewerkschaften verweisen.Auch in der Bundesrepublik gibt eshier in jüngster Zeit Versuche, mitbetrieblichem Gesundheitsmappingdie Beschäftigten aus ihrer Objektrol-le herauszuholen, so dass sie sichselbst wieder zu den »Experten«machen, die sie jenseits der naturwis-senschaftlich-medizinischen Verkür-zungen des Blicks oft schon sind.Dies heißt immer auch, dass Auf-klärung sich nicht nur auf die Krank-heit als Phänomen, sondern auf derenbetriebliche und gesellschaftliche Ver-ursachungszusammenhänge bezieht.

Organisation der FinanzierungVor- und Nachteile einer Steuerfinan-zierung des Gesundheitswesens sindabzuwägen. Über eine Steuerfinanzie-rung könnte mehr Gleichheit herge-stellt werden, allerdings hängen die

Finanzen unmittelbarer von den poli-tisch Herrschenden ab. Grundsätzlichstellt sich hier natürlich die Frage,warum man diese nicht unter Kon-trolle haben sollte, wenn solchumwälzende Konzepte wie das der»Sozialen Infrastruktur« schon durch-gesetzt sein sollten – aber dies verweisteher auf die gesellschaftlichen Voraus-setzungen von Reformkonzepten, diehier diskutiert werden müssten.

In Bezug auf die Steuer-Finanzie-rung stellt sich natürlich auch dieFrage nach der Art der Steuern: Wentrifft welche Steuer wie, welcherZweckbindung unterliegen Steuernetc.? Die Rezeption von Erfahrungenmit dem National Health System inGroßbritannien könnte hier dienlichsein. Spätestens hier spielt dann daszugrunde liegende Staatsverständniseine Rolle, wobei vor allem die in vie-len linken Konzepten zum Ausdruckkommende Illusion des neutralenStaats diskutiert werden müsste.

Eine andere Variante der Finan-zierung und Organisation wäre die

eines Ambulatorien-Modells vonKrankenkassen, wie es in den 20erJahren von den Sozialistischen Ärztendiskutiert wurde. Wenn, wie aktuelleVorschläge in der Gesundheitspolitikdies nahelegen, ohnehin davon ausge-hen ist, dass die Arbeitgeberbeiträgeentweder »eingefroren« oder – diekonsequentere Variante – ausbezahltund in Zukunft per Tarifauseinander-setzungen verhandelt werden sollen,wäre zu überlegen, ob die Versicher-ten bzw. die Arbeitnehmer (undArbeitslosen – eben alle, die bislanggezwungen sind, ihre Arbeitskraft zuverkaufen) nicht gleich ihr Gesund-heitswesen selbst organisieren. Daswürde bedeuten, zu den Ursprüngender Krankenkassen zurückzugehenund sie als Selbsthilfeverein derArbeiterklasse (d.h. einbezogen sindalle, die potentiell ihre Arbeitkraftzum Verkauf anbieten, Arbeitsloseetc.) zu organisieren. Diese Selbsthil-fekassen wären dann regional organi-siert (mit Risikostrukturausgleich)und könnten vor allem ihre eigenen

Ärzte anstellen. Zu diskutieren wärehierbei natürlich auch die Illusionbzw. der Wunsch nach einer Arbeiter-bewegung, die so im Moment nichtexistiert. Innerhalb des Modells dersozialen Infrastruktur, das – wenn iches richtig verstanden habe – nicht aneiner Arbeiterbewegung orientiert ist,müsste dies dann anders diskutiertwerden: zivilgesellschaftlich, multitu-disch oder wie auch immer...

Pharma- und GroßgeräteindustrieDamit wäre man sofort beim nächs-ten Terrain. Eine Diskussion über einalternatives Gesundheitssystem müss-te sich um die Pharma- und medizi-nische Geräteindustrie kümmern.Forderungen und Ideen sind dabeiauf ganz unterschiedlichen politi-schen Ebenen angesiedelt. Die Phar-maforschung mindestens muss staat-lich organisiert und darf nicht abhän-gig von wirtschaftlichen Interessensein, sie muss entsprechend vonunabhängigen Instanzen kontrolliertwerden. Die längst überfällige »Posi-

Aus der BiographieKaminskis:

Hanns-Erich Kaminski, als Sohn jüdischer Kaufleute1899 in Labiau (Ostpreußen) geboren, hatte Volks-wirtschaft, Sozialwissenschaft, Philosophie und Lite-ratur studiert und 1922 in Heidelberg eine Disserta-tion »Zur Theorie des Dumping« vorgelegt. 1925erschien sein erstes Buch »Fascismus in Italien.Grundlagen, Aufstieg, Niedergang«, dem längereItalienaufenthalte vorausgegangen waren. Kamins-ki sprach u.a. italienisch, französisch und spanisch.Bereits seit Anfang der 20er Jahre und bis zu seinerEmigration aus Deutschland Anfang 1933 war eraußerdem als Journalist für Zeitschriften unter-schiedlicher politischer Provenienz tätig, u.a. für dieVolkszeitung, die Vossische Zeitung, die Berliner Il-lustrierte Zeitung, die Volksstimme und vor allem dieWeltbühne, und stand in engem Kontakt mit derenHerausgebern Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky,Fritz Sternberg und Hellmuth von Gerlach, die als»unproletarische Literaten« galten. Von seinem Pari-ser Exil aus, wo er sich an Volksfrontbündnissenbeteiligte und im »Lutetia-Kreis«, einem antifaschisti-schem Bündnis unter Vorsitz von Heinrich Mann,mitarbeitete, war Kaminski 1936 nach Barcelonagereist. In den 20er Jahren noch skeptisch gegen-über der anarchistischen Bewegung in Deutschland(»Kinder, die, selbst wenn sie eine Märtyrerkronetragen, noch lange keine Erwachsenen werden«)und vor allem gegen Ende der Weimarer Republikein klarer Verfechter einer Einheitsfront von SPDund KPD, änderte sich dies mit seiner wohlwollen-den Studie über die Rolle der Anarchisten im spani-schen Bürgerkrieg, ohne dass Kaminski seine Sym-pathien für eine »sozialistische Revolution« aufgege-ben hätte. 1937 erschien sein »Bericht Ceux deBarcelona« in Paris. 1941 emigrierte er über Portu-gal nach Argentinien, wo er 1963 starb. Ausführli-che Angaben zur Biographie Hanns-Erich Kamins-kis enthalten zwei Texte von Sabine Bétoulaud undWolfgang Haug auf der Homepage der editiontranvía. K.H.

»Quellen« schrittsErinnern an den spanischen Bürgerkrieg

Hanns-Erich Kaminski: »Barcelo-na: Ein Tag und seine Folgen«,

mit einem Vorwort von WaltherL. Bernecker, aus dem Französi-schen von Gudrun Hunsche, 2.

Auflage, Berlin 2004 (1. Auflage1986), 202 Seiten, ca. 18 Euro,

ISBN 3-925867-74-0

venezolanische ArbeiterInnen sich von einerüberwiegend exportorientierten Wirtschafts-politik ab- und einer »endogenen« Entwick-lung zuwenden. Letzteres bedeutet die Ent-wicklung von regionalen Potenzialen rund umdie jeweiligen Betriebe herum. Was zunächstwie – auch hierzulande propagierte – Wachs-tumskonzepte der »Regionalisierung« klingt,geht doch über diese hinaus: Auf der ökono-mischen Ebene fördern die Betriebe die Pro-duktion von Rohstoffen, deren Verarbeitungim regionalen Umfeld durch entsprechendeKooperationsbeziehungen sowie Vertriebsnet-ze. So werden z.B. stillgelegte Flächen neubepflanzt und Nahrungsmittelrohstoffe pro-duziert, die als Lebensmittel für die lokaleVersorgung dienen, regionale und überregio-nale Kooperationsbeziehungen werden nichtnur für die Verarbeitung, sondern auch fürden Vertrieb genutzt, und es entstehen neueArbeitsplätze.

Den im Film vorgestellten Betrieben gehtes jedoch um mehr: Sie wollen Teil einer»sozialen Produktion« werden. Die Gewinnesollen nicht einfach zur Akkumulation undEffektivierung der Produktion genutzt werden,sondern zur Entwicklung der Gemeindenrund um die jeweiligen Betriebe. So finanzie-ren die Betriebe die kostenlose Gesundheits-versorgung, die Bildung und Ausbildung, siekümmern sich um die Versorgung für die Kin-der der ärmeren Gemeindemitglieder, und sieleisten solidarische Hilfestellung für neubesetzte Betriebe und deren Belegschaften.

Die neue Ökonomie beginnt mit derBesetzung von stillgelegten Unternehmen, dieinzwischen von ihren Belegschaften betriebenwerden. Und was dort vor sich geht, soll imFolgenden vorgestellt werden:

»Politische Unternehmenskul-tur« in der Aluminiumhütte

Die Aluminiumhütte Alcasa, die der Corpora-ción Venecolana de Guayana (CVG) Holding,einem Konglomerat von 16 Unternehmenangehört, ist dem neuen Ministerium fürBergbau unterstellt und beschäftigt etwa 2 700ArbeiterInnen. 2004 forderte Chavéz die Mit-verwaltung der Unternehmen und bestellteCarlos Lanz zum Präsidenten von Alcasa. Mit-verwaltete Unternehmen sollen mit der jahr-zehntelang zwischen Sozialdemokraten undGewerkschaften praktizierten Klassenkollabo-ration brechen und andere Produktionsver-hältnisse entwickeln. Ausdruck dessen sind dieneu gewählte Leitung, die gemeinsame Ent-scheidung über die Produkte und die gemein-

Entlang eines neuen Dokumentarfilmsvon Dario Azzellini und Oliver Resslerstellt Alle Allex fünf von Arbeitern kon-trollierte Fabriken in Venezuela vor.

Anders als in Argentinien werdendiese sozialen Experimente von derRegierung (noch) unterstützt.

Seit 2003 hält die so genannte »bolivarischeRevolution« langsam auch Einzug in die Fabri-ken. Venezuela gehört nicht zu den hochin-dustrialisierten Ländern, es besitzt zwar Roh-stoffe, verfügt aber nicht über eine entwickeltemateriell-technische Basis, um diese selbst zuveredeln. Entsprechend muss z.B. Rohöl billigexportiert werden, da hinreichende Raffinerie-kapazitäten zur Weiterverarbeitung fehlen. Dieneoliberale Wirtschaftspolitik hat die venezola-nische Ökonomie in einen Torso verwandelt,entsprechend ungeschützt ist das Land Welt-marktschwankungen ausgesetzt. Rund 80 Pro-zent der Bevölkerung galten vor 2003 als arm,doch 72 Prozent der im Lande hergestelltenLebensmittel wurden exportiert.

Diesen Weg will Venezuela nicht mehr wei-tergehen und versucht eine unabhängige eige-ne Ökonomie aufzubauen. Der venezolanischeStaatspräsident Hugo Chávez Frias rief 2003dazu auf, die Produktion per Arbeiterkontrolleselbst in die Hand zu nehmen, stillgelegteBetriebe zu besetzen, Missmanagement aufzu-decken und zu beenden, sowie kapitalistischeUnternehmer zu enteignen.

Dies sei die einzige Möglichkeit, aus dem,was die VenezolanerInnen haben, mehr zumachen, meint der Filmemacher Dario Azzel-lini. Er hatte seinen Film über besetzte Fabri-ken in Venezuela am »Roten Abend« der»Internationalen KommunistInnen« im tradi-tionsbehafteten Versammlungslokal der Auto-nomen »Zielona Gora« vorgestellt. Zur Film-präsentation im Berliner Arbeiterbezirk Frie-drichshain waren am 5. Juli mehr als 60 vorallem jüngere Leute gekommen, darunter vieleFrauen. Trotz 36 Grad Hitze und in Konkur-renz zum WM-Halbfinale galt ihre bemer-kenswerte Aufmerksamkeit der Arbeiterkon-trolle in Venezuela. Ein gutes Zeichen.

Der Film zeigt den neuen ökonomischenWeg der venezolanischen Gesellschaft. AmBeispiel der Reaktivierung so unterschiedli-cher Betriebe wie einer Aluminiumhütte,eines Textilunternehmens, einer Tomatenfa-brik, eines Kakaoprojektes und eines Papier-betriebes, die unter Arbeiterkontrolle inSelbstverwaltung bzw. unter »Mitverwaltung«geführt werden, wird deutlich, dass und wie

dustrien im eigenen Land sollen mit ihren Pro-dukten unterstützt werden. Das Aluminiumsoll vor allem in randständige Regionen wei-tergeleitet werden, um dort die aluminiumver-arbeitenden Kooperativen, z.B. zur Produktionvon Kleinbussen oder im Energiesektor zu för-dern. Alcasa versteht sich als »soziales Unter-nehmen«. Vor den Toren der Fabrik wurde einAusbildungszentrum für arbeitslose Bauarbei-ter geschaffen. Die Arbeitslosen, die frühermitgekämpft haben, auch in den Gewerkschaf-ten, haben sich in Folge ihrer Armut und dersozialen Ausgrenzung teilweise mafiaartig orga-nisiert. Das Ausbildungszentrum soll ihnenneue Perspektiven bieten.

»Eigene Beziehungen entwickeln« in der Textilproduktion

Das Textilunternehmen Textileros del Táchirein San Christobal produziert mittlerweile wie-der auf altem Niveau. Dulfo Guerrero, einKoordinator des Werkes, stellt klar, dass dasUnternehmen 1997 nicht etwa wegen wirt-schaftlicher Ursachen, schlecht funktionieren-der Produktion oder Rohstoffmangelsgeschlossen wurde, sondern in Folge der Ver-nachlässigung durch seinen Besitzer. Der hattedas Unternehmen als Pfand benutzt, umDarlehen aufzunehmen. Das Geld kam jedochim Unternehmen nie an, sondern wurde solan-ge umgelenkt, bis die Betriebsschulden dasUnternehmenskapital weit überstiegen undunbezahlbar wurden. Anschließend wurde dasUnternehmen geschlossen und alle ArbeiterIn-nen entlassen, ausstehende Löhne wurdennicht gezahlt.

Deshalb, so José del Carmen, Koordinatorfür Bildung und soziale Entwicklung, sei dasUnternehmen als eines von (damals, d.V.) 75Unternehmen von den ArbeiterInnen selbstwieder in Gang gesetzt worden. Der Betriebhatte vier Jahre lang stillgelegen, aber Chávez’Aufruf, dass sich die ArbeiterInnen in Koope-rativen organisieren sollten, ermutigte diese,damit vor Ort zu beginnen. Nun ist das Textil-unternehmen ein selbstverwalteter Betrieb. Erläuft, nicht zuletzt auch deshalb, weil dieRegierung einen Kredit bewilligt hat. Er sollzwar erst in acht Jahren abbezahlt sein, dochhoffnungsvoll schätzt der VerwaltungsleiterLuís Álvarez, dass dies wohl schon in vier Jah-ren der Fall sein wird.

Fragen und Probleme werden in der Arbei-terversammlung geklärt. ArbeiterInnen, dieauch früher schon im Betrieb tätig waren,betonen einhellig, dass das Arbeiten in der

same Organisation der Produktion. Auf dieseWeise entsteht eine neue, politische Unterneh-menskultur.

Drei gewählte Personen stellen dieBetriebsleitung. Sie arbeiten mit »offener Tür«zu den ArbeiterInnen, nehmen Vorschlägeetwa zum Produktionsgeschehen auf und stel-len damit Entscheidungen auf eine breitereBasis. Das ›Triumvirat‹ wird von unabhängi-gen Komitees kontrolliert und ist jederzeitabwählbar. In der Aluminiumhütte gibt es 300gewählte Kollektivsprecher, die gemeinsamarbeiten, forschen, entwickeln und Vorschlägeaus den Kollektiven vorstellen. Sie sind dasBindeglied zwischen der Arbeiterversamm-lung, den Komitees und der Leitung. Leslie E.Turmero aus der Betriebsleitung berichtet, dasssie nach der Wahl zunächst zu einer Situati-onsanalyse des Werkes aufgerufen hätten. Mitden daraus entstandenen Entscheidungen unddieser Form der Selbstverwaltung habe dasWerk bisher hohe Produktionserfolge erzielt.

Gonzales Maestre, erster Sprecher undSupervisor, berichtet über die Verbesserung desArbeitsumfeldes: Seit der Selbstverwaltungwerde weniger Chlor verwendet, die Produk-tion sei umweltfreundlicher geworden, neueMaschinen, z.B. Kühltürme, wurden gekauft.Auf Grund der Bildungsmöglichkeiten fürArbeiterInnen habe sich auch die Arbeitsqua-lität selbst verbessert. Arbeiterinnen schließendie Mittelschule ab, besuchen Ingenieursschu-len oder schreiben sich für anspruchsvollereStudiengänge ein. Maestre meint, dass siedadurch in der Lage seien, die VerfassungVenezuelas hinsichtlich der Mitbestimmungder Arbeiter an der Produktion zu konkretisie-ren. Die Beschäftigten sähen sich zwar oft mitUmweltproblemen, technologischen, organisa-torischen sowie bürokratischen Schwierigkei-ten konfrontiert, doch bei allen überwiege daspolitische Interesse an der Sache.

Die Aufgabe des Präsidenten von Alcasasbesteht darin, die »endogene Entwicklung«und die »Mitverwaltung« zu unterstützen. Ob-wohl Carlos Lanz staatlicherseits in sein Amtbestellt ist, unterstützt ihn die neue Betriebs-leitung. Zwar hätte er auch selbst die Befugnis,die Betriebsleitung zu benennen, dochGebrauch machen wolle er davon nicht, weilfür ihn die Entwicklung der Arbeiterkontrolleund der Mitverwaltung vorrangig sei. Mitver-waltung beinhaltet Mitbestimmung und Mit-verantwortung – und das muss gelernt werden.

Marivit López ist verantwortlich für dieUmsetzung der »endogenen Entwicklung«.Das Staatsunternehmen produzierte bis zu 80Prozent für den Export – diese Entwicklunggelte es umzukehren. Unternehmen und In-

A18 express 7-8/2006

tivliste« für Arzneimittel muss umge-setzt werden, Pharmavertreter werdenabgeschafft, ärztliche Fortbildungdarf nicht durch die Pharmaindustriefinanziert und organisiert werden.Stattdessen müssen für den Bereichder Arzneimittelversorgung politischePreise festgesetzt werden, währendgarantierte Apothekergewinne eben-falls abgeschafft werden müssen.Medikamente müssen generell aufeine andere Art und nach anderenKriterien verteilt werden als durchPharmagroßhandel, Apotheken etc.

Für die Großgeräte müsste es wie-der eine Großgeräteplanung geben,die nach medizinischen, und nichtnach betriebswirtschaftlichen Erfor-dernissen plant.

Am Beispiel Brasiliens, wo es zueiner Aushebelung des Patentrechtsbei HIV-Medikamenten kam, ließesich zeigen, dass Gesundheit durch-aus als übergeordnetes Interessebegriffen werden kann. Hier stelltsich die Frage, wie man es mit denPatentrechten hält. In diesem Zusam-

menhang ist auch über die Produk-tion von Generika im Rahmen staat-licher Betriebe nachzudenken. Lässtsich die Arzneimittel-Industrie verge-sellschaften oder zumindest demokra-tisch kontrollieren?

VersorgungsstrukturenZunächst müsste man über Möglich-keiten der Integration der Versorgungnachdenken – und zwar umfassend.

So müsste sowohl die Trennungvon ambulanter und stationärer Ver-sorgung aufgehoben werden als auch– ein Blick über den deutschen Teller-rand wäre hier hilfreich – die standes-politisch begründete Arbeitsteilungzwischen Ärzten und Pflegern, Thera-peuten, Schwestern etc. Dabei gältees, darauf zu achten, dass dies nichtzum Vorwand für Dequalifizierung,Liberalisierung und Verbilligunggenommen wird, sondern zu einersinnvollen Verzahnung der verschie-denen Versorgungsebenen führt. Zudiskutieren wären Poliklinikmodelle,Medizinische Versorgungszentren,

Ambulatorien etc., und es wärejeweils darauf zu achten, dass dieZwecksetzung und entsprechendenOrganisationsprinzipien nach medi-zinischen und demokratischen Krite-rien gestaltet sind. Denn all’ solcheModelle werden im Moment auchunter dem Aspekt des Wettbewerbs-drucks, der Liberalisierung des Ver-tragsarztrechts, der Verbilligung etc.diskutiert.

Zugleich müsste man diskutierenüber Möglichkeiten der Trennungvon Leistungserbringung und medizi-nischem Interesse einerseits und dendazu passenden Vergütungsstruktu-ren für Ärzte und medizinisches Per-sonal andererseits. Die Qualität derBehandlung darf nicht abhängig seinvon ökonomischen Anreizen für dieBehandelnden. Für Ansätze zur Tren-nung dieses Zusammenhangs kannauf Erfahrungen mit Gesundheits-systemen anderer Länder zurückge-griffen werden.

Hinsichtlich der Organisierungdes Krankenhausbereichs wäre an die

Diskussionen über das »klassenloseKrankenhaus« und entsprechendeErfahrungen damit zurückzugreifen.Dabei geht es um die Aufhebung derHierarchie unter den Beschäftigtenebenso wie unter den Patienten sowieum einen nicht entmündigendenUmgang mit den Patienten.Grundsätzlich müssten die Arbeitsbe-dingungen aller Beschäftigten einerschonungslosen Analyse unterzogenund mit ihnen zusammen neue Orga-nisationsformen und Arbeitsbedin-gungen entworfen werden.

Die Enthierarchisierung setztauch eine andere Ausrichtung derMediziner-Ausbildung voraus. Diepsychosozialen Fächer müssten aus-gebaut und die sehr naturwissen-schaftlich verkürzte und beschränkteVorstellung des Zusammenhangs vonKrankheit, Gesundheit, Individuumund Medizin gründlich verändertwerden. Das Selbstverständnis medi-zinischer Berufe und die medizini-sche Versorgung ist bislang wesent-lich an der Fragestellung orientiert,

wie Krankheit zu behandeln ist –erforderlich wäre eine »salutogeneti-sche« Perspektive, d.h. die Frage, wieMenschen gesund bleiben. Generellmüsste bei der Diskussion über dieVerfasstheit und Organisation desGesundheitssystems gesundheitlicheund soziale Ungleichheit, Verhältnis-,und nicht bloß Verhaltenspräventionzum Thema gemacht werden.

* Nadja Rakowitz ist wissenschaftliche Mitar-beitern am Institut für medizinische Soziologieder Goethe-Universität Frankfurt a.M., Mit-glied der express-Redaktion und im Vereindemokratischer Ärztinnen und Ärzte tätig.

Anmerkung:1) Der Volltext des Konzepts »Sozialpolitik als

Infrastruktur« findet sich unter: www.links-netz.de In Kürze sollen dort auch Ergän-zungen des Infrastrukturkonzepts umgesundheitspolitische Überlegungen doku-mentiert werden.

»Parallelgesellschaft« – aber anders Mehr als eine Filmbesprechung – Anne Allex über besetzte Fabriken in Venezuela

Dringliches

8. bundesweiter Kongress der Initiativezur Vernetzung derGewerkschaftslinken

Gegen Entlassungen – für den Erhalttariflicher und sozialer Standards! Perspektiven und Kampfformen

Die Gewerkschaftsbewegung hat indiesem Jahr wichtige Erfahrungengemacht:Es gab einige lang andauerndeAbwehrkämpfe in Metallbetriebenund hartnäckige Streiks im Öffentli-chen Dienst – sowohl gegen Verlage-rungen und Arbeitsplatzvernichtung,als auch gegen Arbeitszeitverlänge-rung und für den Erhalt von tarifli-chen und sozialen Standards.Trotz vielfach beispielhafter Aktions-und Streikführung und starker Betei-ligung der jeweiligen Belegschaftensowohl im Metall- als auch im ver.di-Bereich konnten weder die Kämpfeum Sozialtarifverträge Betriebsverla-

gerungen und Arbeitsplatzabbau ver-hindern, noch konnten Arbeitszeit-verlängerungen und Aufweichung derFlächentarifverträge vollständig abge-wehrt werden.Gleichzeitig hat der vom Kapital dik-tierte neoliberale Sozialstaatsabbauneue Dimensionen erreicht:Die Mehrwertsteuer wurde von 16auf 19 Prozent erhöht, das Hartz IV-Optimierungsgesetz bringt erheblichenegative Auswirkungen und Verschär-fungen für die Arbeitslosengeld II-BezieherInnen. Weitere eingreifendeVeränderungen stehen in diesemHerbst in der Gesundheits- und Ren-tenpolitik bevor.Die gesellschaftliche Diskussion umeinen Mindestlohn ist in Ganggekommen, die Vorstellungen hierzusind jedoch sehr unterschiedlich. DieRegierung könnte sich einen Min-destlohn um 3,50 bzw. fünf Euro vor-stellen! Die Gewerkschaftsspitzenbringen es auf 7,50 Euro, die sozialeBewegung und die Gewerkschaftslin-ken fordern mindestens zehn Euro.

All dies zeigt, dass trotz verstärkterGegenwehr in den Betrieben und aufder Straße das allgemeine Kräftever-hältnis zwischen Lohnarbeit undKapital/Regierung bisher noch zuungünstig ist, um den sozialen Kahl-schlag zu stoppen, geschweige dennwesentliche Verbesserungen fürArbeitnehmerInnen durchzusetzen.Alles deutet darauf hin, dass die sozia-len Auseinandersetzungen im Rah-men der Globalisierung weiter anSchärfe zunehmen werden. Denn tag-täglich werden von Regierung undKapital neue Angriffe vorbereitet!Der Kongress setzt sich zum Ziel,einen Beitrag zur Stärkung dergewerkschaftlichen Gegenwehr zuleisten.Am Samstag stehen die Erfahrungen,Widersprüche und Schwierigkeitenaus den jüngsten betrieblichen undtariflichen Auseinandersetzungen unddie Bedeutung dieser Kämpfe für dieGewerkschaftsbewegung im Mittel-punkt des Kongresses. Dazu sind KollegInnen aus folgenden

Betrieben eingeladen und werden vonihren Kämpfen berichten:Infineon München, AEG Nürnberg,CNH und JVC Berlin, Uni-KlinikEssen/Duisburg, Alstom-PowerMannheim, Gate Gourmet Düssel-dorf, DaimlerChrysler Mettingen,LTG Mailänder Stuttgart, Hambur-ger Hafenbetriebe, ver.di Stuttgart.Am Sonntagmorgen wollen wir versu-chen die Menschen, die aus der glei-chen Stadt oder der gleichen Regionauf der Konferenz vertreten sind, zuvernetzen. Sie sollen Gelegenheitbekommen, sich kennen zu lernen,um sich über eine gemeinsame Arbeitvor Ort zu beraten. In einer Reihevon Städten sind örtliche Foren derGewerkschaftslinken aktiv. Wir wol-len Beispiele und Anregungen gebenfür die Arbeit von Foren der Gewerk-schaftslinken. Im Anschluss daran soll der Kampfgegen den sozialen Kahlschlag imVordergrund stehen: Der DGB hatAktionen »zur Begleitung« der»Reform«vorhaben der Regierung in

diesem Herbst angekündigt. In meh-reren Großstädten sollen Demosstattfinden. Wir wollen diskutieren,wie unser Beitrag aussehen kann,damit der DGB eben nicht nur die»Reformen« begleitet und die Kolle-gen mal Dampf ablassen können. Wirwollen diskutieren, wie Sozialabbauverhindert werden kann.Mit welchen Zielen und Forderungenkönnen wir eine breite einheitlichesoziale und gewerkschaftliche Bewe-gung herstellen?Was brauchen wir für Aktionen undKampfformen, um diese Ziele durch-zusetzen?

Zeit/Ort: 30. September von 11 bis 20Uhr und 1. Oktober von 9 bis 13 Uhr,Frankfurt/Main, DGB-Haus, WilhelmLeuschnerstr. 69-77Information & Anmeldung: HansKroha, Tel. (069) 2569-1400, Fax(069) 2569-1419, email: [email protected] Infos unter: www.labour-net.de/GewLinke/

Kooperative freier geworden sei und dass siemitbestimmen könnten. Sie schätzen es auch,dass sich nun alle ArbeiterInnen darüberGedanken machen, wie sie der Kommune aufdie Beine helfen können: ob sie die kostenlosegesundheitliche Versorgung unterstützen oderBildungsprogramme auflegen und wie sie beiall dem vorankommen. Die Arbeit für ein kol-lektives Interesse sei deutlich etwas anderes, alsSklave eines kapitalistischen Unternehmens zusein, so eine Arbeiterin.

Die Kooperative Textileros del Táchire küm-mert sich auch um den regionalen Baum-wollanbau, damit genügend Baumwolle fürdie Verarbeitung zur Verfügung steht. Um dieUmsatzerlöse aus der Baumwollproduktion zuerhöhen, will das Unternehmen künftig direktmit den weiterverarbeitenden Produzentenverhandeln – kapitalistische Sektoren der Öko-nomie sollen ausgeschaltet und eigene Koope-rationsbeziehungen entwickelt werden.

»Harmonischer arbeiten« bei der Ketchupherstellung

Caigua stellt Salsa de Tomate Guarico Ketchupher. Im Juli 2005 besetzten 58 ArbeiterInnendrei Monate lang die Fabrik, berichtet dieArbeiterin Carmen Ortíz. Alle ArbeiterInnenübernachteten und aßen während dieser Zeitmit ihren Familien in der Fabrik. Im Jahr2000 war der Betrieb wegen fehlender Roh-stoffe – Tomaten – geschlossen worden, 2004erhielt der Unternehmer Salomon Garciaeinen Regierungskredit, um die Fabrik wiederzu eröffnen. Der Kredit wurde von Garciajedoch nicht für die Sanierung des Unterneh-mens und für notwendige Investitionen ver-wendet, sondern zweckentfremdet.

Gegenüber Hugo Chavéz prahlte Garcia,dass er 220 Angestellte und 1 500 Arbeiter inLohn und Brot gebracht hätte. Im gesamtenBetrieb gab es aber nur 60 ArbeiterInnen –und die waren Repressalien ausgesetzt. Nach-dem der Lohn der ArbeiterInnen einen Monatausblieb, besetzten sie den Betrieb und reich-ten Beschwerde beim Arbeitsministeriumwegen des Missmanagements ein. Zur »boliva-rischen Revolution« gehört auch, dass schlechtverwaltete Betriebe an die Arbeiter übergehen.Nun betreut das Arbeitsministerium dieTomatenfabrik und unterstützt ihre Betreiber.Ein spezieller Aufsichtsrat wurde gegründet,der die Arbeiter des Unternehmens vertritt.Ziel der neuen Betreiber ist es, einen Kreditvom Arbeitsministerium zu erhalten.

Ein wichtiges Motiv für die Fabrikbeset-zung war auch die nur zehnprozentige Aus-lastung des Betriebs. Da die ArbeiterInnen dievolle Auslastung der Produktionskapazitäterreichen wollen, setzen sie mittlerweileMaschinen ein, sowohl bei der Aussaat alsauch beim Transport der Tomaten zur Fabrik,wo die Tomaten verarbeitet werden. Das End-produkt Ketchup wird an die Konsumenten

Die Eigentumsstruktur des Kakaomasse-herstellers sieht wie folgt aus: Die ArbeiterIn-nen sind zusammen mit acht Produzentenko-operativen und der VerarbeitungskooperativeEigentümer des Kapitals und der Infrastruktur,also der Agroindustrial Cacao, ebenso wie derBohnen und Plantagen. Als Eigentümer habensie die Verantwortung für mehr als 18 000Kakaobauern im Bundesstaat Sucre und müs-sen Antworten finden für mehr als 45 Prozentder Kakaoproduktion in Venezuela. In diesemKontext stellt es sich als großes Problem dar,dass der Kakaopreis an den Börsen in NewYork und London festgelegt wird.

Die Kakaofabrik ist das erste »Unternehmensozialer Produktion« im gesamten Land. Siehat einen Rahmenvertrag mit dem Ministe-rium für Basisökonomie und dem venezolani-schen Staat unterzeichnet und damit Verant-wortung gegenüber der venezolanischenBevölkerung übernommen. Konkret betreutsie drei Gemeinden in der Nähe mit jeweilseinem Projekt. Um die Nahrungs- undErnährungskette zu verbessern, haben sie eineHydrokultur für grünes Viehfutter geschaffen,die mit diversen landwirtschaftlichen Koopera-tiven verknüpft wurde. Auf diese Weise willdas Unternehmen die Zucker- und Milchpro-duktion fördern und für die Leute aus denGemeinden Arbeitsplätze schaffen.

Der Maschinenarbeiter Alexander Patinosieht den Unterschied der Arbeit im Werkdamals und heute so: »Noch vor acht Jahrenkamen wir montags zur Arbeit und warteteneigentlich nur auf den Freitag wegen desLohns. Im Prinzip waren wir Arbeiter Teil desMaschinenparks. Der Unternehmer befahl zuarbeiten, und wir legten los; er sagte ›Stop‹,und wir hörten auf. Jetzt ist das ganz anders.Wir haben unsere Augen, unsere Köpfe undunsere Herzen geöffnet. Das Unternehmengehört nicht mehr nur einem Einzigen, son-dern uns und den Gemeinden. In unsererMensa essen täglich 40 Kinder aus der nahegelegenen Gemeinde, die Ärmsten derArmen.«

Arbeiterkontrolle und glei-che Gehälter für ›Papiertiger‹

Im Jahr 2003 erkannten die Beschäftigten desdamaligen Papierbetriebs Ex-Venepal, dass dieSchließung kurz bevorstand, berichtet der Pro-duktionskoordinator und Angestellte desStaatsanteils Manrique Gonzales. Die Arbeiterbegannen sich zu organisieren und zu kämp-fen. Sie schlugen der Regierung vor, ohneUnternehmensleitung selbst Betreiber undTeilhaber von Venepal zu sein, hielten eineganze Reihe von Versammlungen ab und orga-nisierten Demonstrationen, um ihr Ziel zuerreichen. Schließlich unterstützte das Arbeits-ministerium sie in ihrem Ansinnen und halfihnen, sich in einer Kooperative zu organisie-

Unión Cooperativa Agroindustrial del CacaoCumana in Sucre vor. Nach einem Stillstandvon acht Jahren entsteht hier die Kakaopro-duktion und -verarbeitung auf Initiative desGouverneurs Ramón Martinez und des Präsi-denten der Republik neu. Das damaligeLebensmittelunternehmen La Universal Peru-gina war aufgrund von Missmanagement indie Hände einer Bank übergegangen. DieBank verkaufte es der Regierung mit einemKredit des Ministeriums für Basisökonomie(MINEB).

Im Augenblick wird lediglich der Rohstoff,also die Kakaobohnen, von den Bauern zuKakaomasse verarbeitet. Künftig soll die Ka-

kaomasse auch veredelt,und es sollen Fertigpro-dukte wie Kekse, Waf-feln, Schokopralinenu.ä. hergestellt werden.Den Produktionsablaufund die Unternehmens-struktur erklärt die Qua-litätskoordinatorinEdith Mendoza:»Zunächst kommen dieKakaosäcke ins Lager.Dort wird jeweils eineProbe genommen unddie Qualität der Bohnenanalysiert. Anschließendwerden die Bohnengeröstet, geschält undgemahlen, daraus wirdspäter die Kakaomassegewonnen. Mit einerPresse wird die Kakao-butter von der Kakao-masse getrennt.«

Das Projekt bestehtaus den Kakaoproduzen-ten der Uproca mit3 600 Teilhabern undder Verarbeitungskoope-rative Chocomar mit 96Teilhabern. Gemeinsam

haben sie eine Gesellschafterversammlung mit32 Mitgliedern, jeweils 16 von Uproca und 16von Chocomar. Die Gesellschafter werden vonden jeweiligen Kooperativen gewählt. Die Lei-tung besteht aus vier Genossenschaftern vonUrpoca, vier von Chocomar und dem Direktor.In diesem Gremium werden Vorschläge bezüg-lich der Kakaoproduktion diskutiert und Ent-scheidungen getroffen. Alle erhalten dieselbenEinkommen bzw. dieselben Gesellschafterbe-züge.

Juana Ruíz, Verantwortliche für den Ver-kauf, sieht die Sache so: »Wir werden momen-tan durch den Staat geschützt. Die Regierunghat den kapitalistischen Unternehmen bedeu-tet: ›Beeilt Euch, denn wenn Ihr nicht produ-ziert, dann setze ich andere Leute zum Produ-zieren ein.‹ Es gibt unter den Arbeitslosen einehohe Bereitschaft zu arbeiten und genügendstaatliches Kapital, um zu handeln.«

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über das staatliche Vertriebsnetzwerk CASAweitergeleitet. Wenn es gelinge, die Produk-tion auszuweiten, wolle man die Fabrik auchzum »sozialen Unternehmen« machen, so dasZiel der ArbeiterInnen.

Ein Unternehmen auf dem Weg zur Mitver-waltung wolle zum Wohl der Gesellschaft bei-tragen und sich nicht dem kulturellen, sozialenund wirtschaftlichen Fortschritt verschließen,erklärt Domingo Meléndez, Berater für Qua-lität, Forschung und Entwicklung. Die Labor-analystin Aury Arocha erläutert weiter: »Wirversuchen für die Gemeinschaft zu arbeiten,alle sollen etwas davon haben. Was und wie

etwas gemacht wird, entscheiden die Arbeite-rInnen auf der Arbeiterversammlung mit einerdefinierten Mehrheit von 50 Prozent plus 1.Es wird großer Wert darauf gelegt, dass alleentscheiden; die Meinung eines jeden zählt.Vorher haben wir in einer Diktatur gearbeitet,nun sind wir frei, aber nicht um zu tun, waswir wollen, sondern um im Sinne der Gemein-schaft tätig zu sein. Wir sind zwar völlig spon-tan in unseren Ansichten, arbeiten aber vielharmonischer miteinander.«

Vom »Teil des Maschinenparks« zum»sozialen Unternehmen« in der Kakaoindustrie

Der Produktionskoordinator José GregorioMoy stellt das agroindustrielle Großprojekt

mit Namen OXI zu übernehmen. Die Arbeitervon Invepal unterstützen sie mit Lebensmit-teln, Geld und den Produkten, die sie selbstproduzieren. Die Solidarität aller ist erforder-lich, um die Unternehmen zurückzugewinnenund Arbeitsplätze zu schaffen – am Anfangwaren es 300 Arbeiter, zur Zeit sind 630beschäftigt. Der Papierbetrieb versteht sichebenfalls als »Unternehmen sozialer Produk-tion«. Er hat zur Unterstützung der Bildungs-aufgabe verschiedene Missionen engagiert, dieder vorherige kapitalistische Unternehmernicht zugelassen hatte, mit dem Effekt, dassnach wenigen Monaten einhundert Arbei-terInnen ihre Ausbildung abschließen undein Studium an der Universität aufneh-men konnten. Die ArbeiterInnen wün-schen sich darüber hinaus sozialpolitischeBildungsmaßnahmen, um ihren Weg kla-rer erkennen zu können, und sie wollendie Verwaltung genauer kennen lernen,um die Arbeiterkontrolle gewährleisten zukönnen.

In dem Papierbetrieb erhalten alle dasgleiche Einkommen, und alle Ämter wer-den von der Arbeiterversammlunggewählt, berichtet Eleuerio Córdova, einGruppenkoordinator. Auch diejenigen, dieim Papierbetrieb eine Arbeit aufnehmenwollen, werden von der Arbeiterversamm-lung gewählt. Überhaupt werden alle Ent-scheidungen, die getroffen werden, in derArbeiterversammlung abgestimmt.

1100 offene Experimentierfelder

Mit den selbst- und mitverwalteten Fabriken –z. Zt. etwa 100 an der Zahl – soll ein Sozialis-mus »von unten« entstehen. Den fünf Fabrik-Modellen ist gemeinsam, dass sie ihrenGewinn in die umliegenden Orte, in die sozia-le, gesundheits- und bildungsfördernde Ent-wicklung investieren. Aus dem Wirken derFabrikarbeiterInnen heraus sollen neue sozio-kulturelle und politische Verhältnisse ange-stoßen werden. Die staatlichen Institutionenund die Verwaltungen von früher gelten alsüberholt, jetzt gilt es deshalb, »Parallelstruktu-ren« aufzubauen.

Den Kooperativen geht es bei ihrer Arbeitnicht um die finanzielle Bereicherung derMenschen. Gleichwohl soll aber auch genugGeld für eine gute Lebensqualität verdientwerden, und niemand soll ausgebeutet werden.Deshalb verdient in jedem Betrieb jeder sovielwie der andere. Ziel ist ein würdevolles Lebenund gesellschaftliche Teilhabe für alle, insbe-sondere aber die Möglichkeit für Kinder, einebessere Ausbildung zu erreichen. »Regiert«werden die Kooperativen durch die jeweiligenArbeiterversammlungen.

Im Kampf der SelbstverwalterInnen spielt dieKritik an den Gewerkschaften eine bedeutendeRolle. Wie unter Nestor Kirchner in Argenti-nien hatte auch die vorherige venezolanischeRegierung darauf gesetzt, die Gewerkschaften

ren. Dies war die Voraussetzung, um den Kre-dit zu bekommen, den sie zur Sanierung desUnternehmens verlangt hatten. 2004 trat diealte Unternehmensleitung endgültig zurück,und die Regierung begann, den Prozess zurRettung des Betriebes zu beschleunigen. Fürdas Vorprojekt, das von Ingenieuren und Ver-waltungspersonal vorgelegt wurde, bewilligtedie Regierung einen Kredit. Nach Eintreffendes Geldes und der Betriebsgenehmigungdurch den Staat wurde sofort Material geor-dert und mit der Produktion losgelegt. DerKredit ist außerordentlich günstig. Er ist nurmit vier Prozent verzinst und läuft auf 20Jahre. Aktuell gehört das Unternehmen zu 51Prozent dem Staat und zu 49 Prozent denArbeiterInnen, die in der Kooperative Covim-pa organisiert sind. Bei sukzessiver Kreditab-zahlung übergibt die Regierung Stück fürStück ihre Anteile an die Kooperative undbehält sozusagen eine goldene Aktie. Ab 2007wollen die ArbeiterInnen ihre Abzahlungenbeschleunigen und den anderen Teil desGewinnes für soziale Aufgaben und für dieErneuerung der Technologie verwenden.

Rowan Jiménez, Wartungsarbeiter derKooperative, erzählt, dass Ex-Venepal das ersteUnternehmen war, das enteignet wurde. Nachdrei Jahren Kampf hatten die ArbeiterInnen inMorón im Bundesstaat Cacabobo den Betrieb›zurückerobert‹. Die Regierung gab ihnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wer Betriebs-direktor werden sollte, und die ArbeiterInnenbeschlossen, dass diese Aufgabe der Generalse-kretär der Gewerkschaft übernehmen solle,damit die Kontrolle über den Betrieb gewähr-leistet bleibe. Willys Lago, ein Laborarbeiter,meint, dass er persönlich gelernt habe, »mehrMensch zu sein«. Vor der Enteignung war erAngestellter und verstand sich als Untergebe-ner, so wie ihm dies im Rahmen kapitalisti-scher Sozialisation vertraut war. Jetzt sähen sichalle als Gleiche an und teilten, was sie haben.Die Beschäftigten seien solidarisch auch mitanderen und hätten von ihren ersten Produk-tionsergebnissen vielen Schulen in der GegendUnterrichtsmaterial für die Kinder zur Verfü-gung gestellt. Sie öffneten eine Schule am Ort,die bis dahin lediglich gegen Bezahlung Kinderunterrichtet hatte, für die Allgemeinheit. Jetztgibt es eine »bolivarische Schule«, und jeder,der will, kann sich einschreiben und studieren.Die betriebsärztliche Versorgung steht auchden Anwohnern der Gemeinde zur Verfügung.

Aktuell versucht eine Gruppe von Arbeite-rInnen aus Covimba, eine Fabrik in Valencia

Alexander Patino aus dem Kakaoprojektsagt: »Für mich heißt Sozialismus in wenigenWorten: ›Liebe, Glücklichsein und sozialeGerechtigkeit‹. Früher hatten wir so etwasnicht, ja wir wussten nicht einmal etwasdavon. Seit Kolumbus hier ankam, habenandere, die uns alles – unser Land, unser Den-ken – weggenommen haben, über uns dieGeschichte geschrieben. Jetzt haben wir imRahmen unserer Verfassung erstmals dieChance, unsere Geschichte selbst zu schrei-ben.«

Die ArbeiterInnen, die in dem Film zuWort kommen, sind sich bewusst, dass dieEntwicklung eines Sozialismus im 21. Jahr-hundert sehr schwer ist. Viele von ihnenunterstützen deshalb mit all ihrer Kraft dieRegierung, die wegen ihres Weges Angriffender Rechten ausgesetzt ist. Zugleich ist für dieVerkaufsleiterin des Kakaoprojektes Juana Ruízklar: »Der Weg zum Sozialismus des 21. Jahr-hunderts kann nur gelingen, wenn das Volkglaubt, es kann den Sozialismus wirklich errei-chen. Wenn das Volk das nicht glaubt, nützt esauch nichts, wenn 10 000 Chavéz kommen.«

Gerade die Beschäftigten in den mit- undselbstverwalteten Betrieben sehen den Wegzum Sozialismus als eine der größten Heraus-forderungen der »bolivarischen Revolution«an. Sie meinen: »Wenn das Alte noch nichtgestorben und das Neue noch nicht geborenist, dann müssen wir gemeinsam die neuenProduktionsverhältnisse voranbringen, stärken,begleiten.« Wesentlich ist für sie die Erlangungvon Wissen – und eine Wissensgesellschaft imwahrsten Sinn des Wortes.

Die Präsidentschaft von Chavez wird alseine Garantie gesehen, die sie auf ihrem Wegzum Sozialismus begleiten wird, oder, wie eseiner der Arbeiter aus der Ketchupfabrik sagt:»Wir denken nicht wie Hugo Chavez. AberHugo Chavez denkt wie wir. Deshalb ist erdort, wo er ist. Und dass er da bleibt, dafürwerden wir sorgen!« Dies ist eine sehr deutlichKampfansage an alle Bestrebungen, die vene-zolanischen ArbeiterInnen auf ihrem Weg auf-zuhalten.

Der Dokumentarfilm ist ein wichtiger Bei-trag dazu, den arbeitenden Menschen zu zei-gen, dass sie genügend Potenziale haben, dasEigentum, die Produktion, die Verteilung unddie sozialen Verhältnisse selbst in die Hand zunehmen. Der Kapitalismus ist nicht das Endeder Geschichte. Der Film gibt den Mut zurückund unterstützt das Selbstvertrauen, dass derGedanke von einer anderen als der kapitalisti-schen Gesellschaft in Venezuela und in ande-ren Ländern nicht ausgeträumt ist, sondern dieMenschen überall in der Welt sich zu unter-schiedlichen Zeiten auf den Weg machen, weilsie vom menschenfeindlichen System desKapitalismus einfach genug haben.

Bestellung über: [email protected]

einzubinden, und eine von ihnen getragene»Partizipation« zu fördern. Auch jetzt nocherhalten die Gewerkschaften staatliche Kontin-gente an Produktionsbetrieben. Doch bei die-sen Betrieben bleiben die pyramidalen Struk-turen, der autoritäre Führungsstil und dieUnterdrückung der ArbeiterInnen oft genausowie früher erhalten, und die Arbeitsplätze wer-den verschachert. Die »bolivarischen Revolu-tionäre« verlangen von den Gewerkschafts-führungen, ihre einseitige Forderungshaltungaufzugeben und anzuerkennen, dass die Arbei-terInnen die ProtagonistInnen sind, die es zu

unterstützen gilt. Ziel ist es, eine neue statt derkorrupten alten Arbeiterbewegung herauszu-bilden. Die Gewerkschaften müssen überzeugtwerden, dass die neue Form der Mit- undSelbstverwaltung die Chance in sich trägt, eineneue Gesellschaft aufzubauen und die venezo-lanischen ArbeiterInnen begonnen haben, ihr eigenes Schicksal zu definieren und zu gestalten.

All das, was jetzt durch die Übernahme derBetriebe in Arbeiterhand passiert, ist neu – dieWahl eigener Führungs-, Verwaltungs- undKontrollgremien, die selbstorganisiertenBesprechungen und Entscheidungen in denArbeiterversammlungen der Kooperativen, dieForm der gleichen Bezahlung bzw. Gewinnbe-teiligung für alle. Alle selbst- und mitverwalte-ten Fabriken wollen so genannte »Unterneh-men sozialer Produktion« werden. Insgesamtstehen noch zirka 1100 Betriebe leer für diesessoziale Experiment.

10 000 Chavez nutzennichts...

In Venezuela gibt es keinen Sozialismus. Dassagen alle Protagonisten im Film. Allerdingswird in den Kooperativen und ihrer Umge-bung – ja im gesamten Land und sogar in denMedien – eine rege Debatte darüber geführt,was Sozialismus sein soll, wie man sich Sozia-lismus vorstellt und wie man dazu kommt ineiner kapitalistisch-globalisierten Welt.

a20 express 7-8/2006

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■■ Jens Huhn: »Anders arbeiten – bei vollem Gehalt«, Mannheim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 2001

■■ Yvette Bödecker / Heinz-Günter Lang:»Der längste und letzte Tanz bei Nanz«,Mannheim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 1999

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Nächster Redaktionsschluss:18. September 2006

Film: »5 Fabriken. Arbeiterkon-trolle in Venezuela« von DarioAzzellini und Oliver Ressler,

81 Min., 2006, DVD mit allen dreiVersionen (Original Spanisch,mit englischen, deutschen und

katalanischen UT) 35 Euro privat /

70 Euro für Institutionen