ak wirtschaftspolitik 03_2016
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Nr 3 | Oktober 2016
WirtschaftspolitikStandpunkte
EDITORIAL
In der neuen Ausgabe der Standpunkte fordert die AK die Umsetzung von Kon-
sumentenrechten im Kartellrecht, z.B. die längst fällige Zweckwidmung von
Bußgeldern für den VKI und die Einführung von Gruppenklagen. Der heurige
AK-Strukturwandelbarometer – diesmal mit dem Schwerpunkt Digitalisie-
rung der Wirtschaft – zeigt: Für eine faire Arbeitswelt, sowohl im Sinne der
Beschäftigten als auch der Unternehmen, sind Mitbestimmung sowie Mitge
staltung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessensvertretungen entschei
dende Faktoren. Bei öffentlicher Auftragsvergabe hat sich mittlerweile herum
gesprochen, dass es klug ist, soziale, ökologische und qualitative Kriterien
zu berücksichtigen, da solche Entscheidungen langfristig auch volkswirtschaft
lich die günstigsten sind – auch für die SteuerzahlerInnen. Genau diese Gruppe
– sprich: wir alle – finanzieren übrigens einen Großteil der heurigen Zusatzsub-
ventionen für die österreichische Landwirtschaft, in der die Einkommensver
teilung eine sehr ungleiche ist, wie ein Artikel der Standpunkte zeigt. Ein anderer
Beitrag geht der Frage nach, ob innovierende Unternehmen auch bessere
Arbeitsbedingungen bieten. Bei Unternehmensbilanzen hingegen ist Kreativität
gar nicht gefragt. Als eine Lehre aus der Finanzkrise wurden nun strengere
Kriterien für die Abschlussprüfung eingeführt. Und schließlich veranschau
lichen ein Appell für eine sozialere Europäische Union und ein Bericht über
das Leben von Erwerbsarbeitslosen in Deutschland einmal mehr den großen
sozial, wirtschafts und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Die Redaktion
Abo und Download: wien.arbeiterkammer.at/wp-standpunkte
Inhalt
Kartellgesetznovelle 2016: AK für
stärkere Konsumentenrechte 2
AK-Strukturwandelbarometer:
Rushhour in der Arbeitswelt 6
Öffentliche Auftragsvergabe:
Nachhaltig und sozial 13
Erntedank den SteuerzahlerInnen:
Was der Agrarsektor 2016 extra
bekommt 17
Innovationsaktivitäten im Unter-
nehmen: Bringen sie auch Vorteile
für die Beschäftigten? 21
Lehren aus der Finanzkrise:
Reform der Abschlussprüfung 24
Soziales Europa: Aufbruch oder
Abbruch? 27
Hartz IV und das Hamsterrad von Erwerbsarbeitslosen und Beschäftigten 31
Seite 2 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
KARTELLGESETZNOVELLE 2016: AK FÜR STÄRKERE KONSUMENTENRECHTEDer Entwurf der Kartellgesetznovelle 2016 hat maßgeblich zum Ziel, die EU-Schadenersatzrichtlinie in Zusammenhang mit Wettbewerbsverletzungen umzusetzen sowie die Vollzugstätigkeit der Wett-bewerbsbehörden, insbesondere der Bundeswettbewerbsbehörde, zu stärken. Wesentliche Anliegen der AK wurden allerdings nicht aufgegriffen. Nachfolgend werden die Eckpunkte des Entwurfs und die Forderungen der AK dargestellt.
Eckpunkte des Entwurfs:
Hauptaugenmerk der Reform des Kartellge
setzes ist die Umsetzung der EUSchaden
ersatzrichtlinie. Ziel hierbei ist es, die private
Rechtsdurchsetzung aufgrund von Kartellver
stößen zu stärken. Nach Ansicht der AK ist
dies aber nur teilweise gelungen. Vor allem
für geschädigte KonsumentInnen bleibt der
Weg zur Schadenskompensation weiterhin
versperrt, weil wichtige konsumentenschutz
relevante Instrumente fehlen.
Weiters soll mit der Novelle die Vollzugstä
tigkeit der Wettbewerbsbehörden gestärkt
werden. Hierzu zählen etwa die Unterbre
chung der Verjährungsfristen bei Einleitung
von Ermittlungen durch die Bundeswettbe
werbsbehörde (BWB) oder die Möglichkeit,
die Verhängung von Zwangsgeldern zu bean
tragen, wenn Unternehmen im Rahmen einer
Hausdurchsuchung den Zugang zu elektro
nisch abrufbaren Daten verweigern.
Positiv zu erwähnen sind die geplanten Maß
nahmen zur Verbesserung der Transparenz
– dazu zählen die Veröffentlichung auch von
abweisenden Entscheidungen und Einstwei
ligen Verfügungen sowie die Unzulässigkeit
von verkürzten (begründungslosen) Entschei
dungen bei SettlementVerfahren. Weiters
soll die beim Kartellgericht geführte Sachver
ständigenliste in die allgemeine Sachverstän
digenliste übergeführt werden, um damit die
Mechanismen der Qualitätssicherung nach
dem Sachverständigen und Dolmetscherge
setz auch für Kartellangelegenheiten zu ge
währleisten.
Materiellrechtliche Neuerungen betreffen
die Möglichkeit des Kartellgerichts, bei Ge
meinschaftsunternehmen im Rahmen des
Fusionsverfahrens auch Aussagen über die
kartellrechtlichen Auswirkungen zu treffen
(Fusions und Kartellkontrolle in einem Ver
fahren). In Verfahrensrechtlicher Hinsicht soll
der Oberste Gerichtshof (OGH) als Kartell
obergericht nunmehr auch bestimmte qua
lifizierte Feststellungsmängel im Rekursweg
überprüfen können (2. Tatsacheninstanz).
Dem Entwurf sind zahlreiche Sitzungen der
interministeriell eingesetzten Arbeitsgruppe
„Wettbewerb“ vorausgegangen, die nach
Fertigstellung der Studie des Beirats für Wirt
schaft und Sozialfragen Nr. 871, 2014 ihre
Tätig keit aufnahm.
Wiewohl in den Begutachtungsentwurf viele
Empfehlungen der AK und des Beirats über
nommen wurden, fehlen aber wichtige Forde
rungen der AK weiterhin. Diese werden nach
folgend kurz dargestellt:
Von Ulrike Ginner und Helmut Gahleitner,
beide Arbeiterkammer Wien, Abteilung Wirtschaftspolitik
Die im Regierungsprogramm festgeschriebene Zweckwidmung von Buß geldern für Konsumentenschutz an den Verein für Konsu-menteninformation (VKI) wurde immer noch nicht realisiert.
Seite 3 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Forderungen der AK
1. Zweckwidmung von Geldbußen für Anliegen des Konsumentenschutzes
Die im Regierungsprogramm unter „Wachstum
und Beschäftigung für Österreich“ festge
schriebene Zweckwidmung von Bußgeldern
für Konsumentenschutz an den Verein für
Konsumenteninformation (VKI) wurde immer
noch nicht realisiert. Aus Sicht der AK ist
die Regierungsvereinbarung aus mehreren
Gründen umgehend umzusetzen:
n Der VKI ist eine unverzichtbare Institu
tion, die allen KonsumentInnen individu
elle Beratung und Unterstützung bei kon
sumentenrechtlichen Problemen anbietet.
Von den Tests, Publikationen, der Medien
arbeit und den Aktivitäten zur Rechts
durchsetzung profitieren alle Konsumen
tInnen, egal ob sie z.B. unselbständig
Beschäftigte, UnternehmerInnen, Beam
tInnen oder LandwirtInnen sind. Die Ange
bote sind umso wichtiger, je globaler und
komplexer Märkte werden, wie z.B. auch
das erfolgreiche VKIProjekt „Energiekos
tenstopp“ eindrücklich gezeigt hat.
n Aus der Geldbußenstatistik der Bundes
wettbewerbsbehörde ist ersichtlich, dass
überwiegend EndverbraucherInnen die
Geschädigten von wettbewerbswidrigen
Absprachen sind. Alleine im Lebensmittel
bereich wurden in den letzten drei Jahren
Geldbußen in Höhe von rund 70 Mio Euro
verhängt, weil Unternehmen des Lebens
mitteleinzelhandels sowie Lebensmittelpro
duzenten auf Kosten der Konsumentinnen
und Konsumenten verbotene Absprachen
durchführten.
n Häufig sind dies so genannte Streu
schäden, die von KonsumentInnen ange
sichts ihrer geringen Höhe nie eingeklagt
werden. Auch höhere Schadensbeträge
werden wegen des Prozesskostenrisikos
individuell in aller Regel nicht verfolgt.
Eine teilweise Zweckwidmung von Geld
bußen für den Konsumentenschutz an den
VKI ist daher sachlich gerechtfertigt und zwin
gend geboten. Die AK fordert eine Gesetzes
änderung, wonach 20% der im vergangenen
Budgetjahr eingetriebenen Geldbußen, min
destens jedoch zwei und höchstens vier Mil
lionen Euro, dem VKI zur Förderung von Kon
sumenteninteressen zugutekom men sollen.
2. Akteneinsicht für die Vorbereitung von Schadenersatzklagen:
Die AK hat sich stets dafür ausgesprochen,
dass die „vorprozessuale“ Akteneinsicht i.S.
der EuGHRechtsprechung „Donauchemie
Rs. C536/11“ ebenfalls in der Novelle umge
setzt werden soll. Anders als im Vorentwurf,
welcher der Arbeitsgruppe zur Diskussion vor
gelegt wurde, findet sich im aktuellen Entwurf
der Novelle nun doch keine Adaptierung des
§ 39 KartG (Akteneinsicht).
Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist not
wendig, um überhaupt feststellen zu können,
ob Dritte tatsächlich durch den konkreten
Wettbewerbsverstoß einen Schaden erlitten
haben. Durch das Einsichtsrecht ist es dem
Geschädigten möglich zu entscheiden, ob
eine Schadenersatzklage aussichtsreich wäre
bzw ein Offenlegungsantrag i.S. der Richtlinie
Die Einführung einer Gruppenklage ist vor allem aus konsu-mentenpolitischer Sicht dringend erforderlich.
Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist notwendig, um überhaupt feststellen zu können, ob Dritte durch den konkreten Wettbewerbsverstoß einen Schaden erlitten haben.
Seite 4 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
für bestimmte Beweismittel präziser formuliert
werden könnte.
Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist einer
seits für die Abschätzung des Prozesskos
tenrisikos wesentlich und andererseits auch
europarechtlich geboten, wie folgendes Bei
spiel zeigt: Bei einer angenommenen Scha
denshöhe von € 500 betragen die Kosten bei
Klagseinbringung rund € 300 (Gerichtsge
bühren, Rechtsanwaltshonorar). Geschädigte
ohne ausreichende Informationsbasis werden
daher zumeist ihre Ansprüche nicht geltend
machen.
Nach Ansicht der AK sollte daher die im Vor
entwurf enthaltene Regelung, die unter be
stimmten Umständen eine Akteneinsicht noch
vor Klagseinbringung erlaubt, wieder in die
Kartellgesetznovelle aufgenommen werden.
3. Gruppenklagen wichtig bei Schaden-ersatzansprüchen
Weder auf EU noch auf nationaler Ebene
wurde die Möglichkeit ergriffen, durch Ein
führung einer Gruppenklage ein wirkungs
volles Instrument zur Geltendmachung von
Schadenersatzansprüchen zur Verfügung zu
stellen. Die derzeit angewandte Verfahrens
möglichkeit („Sammelklage nach österrei
chischem Recht“) ermöglicht keine effiziente
Prozessführung bei gleichartig gelagerten
Sachverhalten. Die Einführung einer Gruppen
klage ist vor allem aus konsumenten politischer
Sicht dringend erforderlich. Gruppenklagen
reduzieren die Prozesskosten für den ein
zelnen, vermeiden divergierende Entschei
dungen und bieten somit einen verbesserten
Rechtszugang für geschädigte Konsumen
tInnen. Darüber hinaus führen Einzelverfahren
bei gleichartig gelagerten Sachverhalten zu
einer enormen Belastung der Gerichtsbarkeit
(z.B. durch mehrfache Zeugenbefragung ein
und derselben Person). Die Einführung einer
Gruppenklage ist daher auch ein wirkungs
volles Instrument zur oftmals geforderten Ver
waltungsvereinfachung.
4. Keine unrechtmäßigen Gewinne für rechtswidrig handelnde Unternehmen
Wie schon erwähnt, werden die neuen scha
denersatzrechtlichen Bestimmungen für
KonsumentInnen keinen Vorteil bringen. Das
Prozesskostenrisiko bleibt, die Streuschä
denProblematik wird gar nicht aufgegriffen,
kollektive Rechtsdurchsetzungs instrumente
werden vom Gesetzgeber nicht zur Verfügung
gestellt. Aus diesen Gründen kann nach An
sicht der AK nur ein Gewinnabschöpfungs
verfahren gewährleisten, dass unrechtmäßige
Erlöse nicht bei den rechtswidrig handelnden
Unternehmen verbleiben.
5. Stärkere Berücksichtigung der volks-wirtschaftlichen Rechtfertigung bei Zusammenschlüssen
Aus AKSicht soll der volkswirtschaftlichen
Rechtfertigung (z.B. Arbeitsplatzsicherung,
Sicherung der Nahversorgung) im Rahmen
der Zusammenschlusskontrolle größere Be
deutung zukommen.
Es ist nicht sachgemäß, dass die Berücksich
tigung der volkswirtschaftlichen Rechtferti
gung nur in Verbindung mit der internationalen
Bei Zusammenschlüssen soll der volkswirtschaftlichen Recht-fertigung (z.B. Arbeitsplatzsicherung, Sicherung der Nahver-sorgung) größere Bedeutung zukommen.
Nur ein Gewinnabschöpfungsverfahren kann gewährleisten, dass unrechtmä-ßige Erlöse nicht bei den rechtswidrig handelnden Unternehmen verbleiben.
Seite 5 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Wettbewerbsfähigkeit zum Tragen kommt.
Dies hat nämlich zur Konsequenz, dass bei
rein nationalen Sachverhalten (oftmals im Be
reich des Einzelhandels) die volkswirtschaft
liche Dimension eines Zusammenschlusses
im Rahmen des Prüfverfahrens nicht ausrei
chend berücksichtigt werden kann. Die fusi
onsrechtliche Regelung muss daher an dieses
Erfordernis angepasst werden.
Eine alternative Überlegung wäre auch die
Einführung einer sogenannten „Ministerer
laubnis“, wie sie auch in anderen Mitglied
staaten (Deutschland, Großbritannien und
Frankreich) gesetzlich verankert ist.
6. Digitalisierung der WirtschaftUm die zunehmende Digitalisierung der Wirt
schaft auch unter dem Kartellrechtsregime
zu erfassen, ist es wichtig, auf Märkten, die
unentgeltliche Leistungen anbieten, bzw. bei
mehrseitigen Märkten (Plattformen) eine um
fassende Kontrollmöglichkeit einzuführen.
Ein Beispiel dazu ist die Übernahme von
WhatsApp durch Facebook, die – mangels Er
reichen der Umsatzschwellenwerte – trotz eines
Transaktionsvolumens in der Höhe von 18 Mrd
US$ nicht der Fusionskontrolle unterlag.
In Deutschland liegt bereits ein „Referente
nentwurf“ für die neunte Novelle des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen (dGWB)
vor, der auch der zunehmenden Digitalisierung
Rechnung trägt. Die AK schlägt daher vor,
auch in Österreich gleichartige Bestimmungen
hinsichtlich Fusionskontrolle, Marktdefinition
und Kriterien zur Marktstellung eines Unter
nehmens vorzusehen.
Das Begutachtungsverfahren läuft bis 5. Okto
ber 2016. Im Anschluss daran wird eine Re
gierungsvorlage erstellt und der parlamenta
rischen Behandlung zugeleitet. Die AK wird
im Rahmen dieses Prozesses weiterhin auf
eine Erfüllung der aufgezeigten Forderungen
drängen.
1 http://www.sozialpartner.at/wpcontent/uploads/2015/08/Beirat_Nr.87_2014_WEB.pdf
Das Kartellrechtsregime sollte auch die zunehmende Digitali-sierung der Wirtschaft berücksichtigen.
Seite 6 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
AK-STRUKTURWANDELBAROMETER: RUSHHOUR IN DER ARBEITSWELTDer Strukturwandelbarometer 2016 der AK Wien zeigt, wie die BetriebsrätInnen den Wandel in ihren Unternehmen beurteilen: Haupttreiberin der betrieblichen Veränderungsprozesse ist die fortschrei-tende Digitalisierung der Arbeitswelt, die gravierende Auswirkungen für die Beschäftigten nach sich zieht.
Die Geschwindigkeit in der Arbeitswelt nimmt
rapide zu, das zeigt der aktuelle AKStruktur
wandelbarometer als österreichweiter Stim
mungstest1 unter 271 BetriebsrätInnen: Die
Beschäftigten sehen sich gegenwärtig mit zu
nehmenden Flexibilitätsanforderungen, stei
gendem Zeitdruck und einer Verschlechterung
des Betriebsklimas konfrontiert. Während die
Zunahme der Flexibilität zumindest aus der
betriebswirtschaftlichen Perspektive als sinn
voll erachtet wird, gilt dies für die anderen
beiden Faktoren nicht: Für 61% der befragten
BetriebsrätInnen hat die Erhöhung des Drucks
auch negative Konsequenzen auf die wirt
schaftliche Performance des Unternehmens;
sogar 90% sind der Meinung, dass schlechtes
Betriebsklima wirtschaftliche Nachteile bringt.
Zum Abkühlen des Betriebsklimas trägt vor
allem Personalabbau bei, der unter den ver
bleibenden Beschäftigten Verunsicherung
hervorruft und zur Entsolidarisierung führen
kann.2 Dabei ist ein gutes Betriebsklima so
wohl ein entscheidender Schlüssel zur Zufrie
denheit am Arbeitsplatz als auch ein wichtiger
(weil motivierender) Wettbewerbsfaktor.3 Vom
Strukturwandel insgesamt profitieren laut Be
fragung das Unternehmen und deren Eigen
tümer, während die Auswirkungen auf die
Beschäftigten (z.B. Arbeitsbedingungen, Ein
kommen) als negativ erachtet werden.
Maßgeblich getrieben wird der betriebliche
Wandel von der fortschreitenden Digitalisie
rung: So werden zwar neue Formen der Arbeit
und der Arbeitszeitgestaltung generiert, gleich
zeitig wächst aber das Risiko der Arbeitsver
dichtung und der Entgrenzung von Arbeit und
Freizeit. Der AKStrukturwandelbarometer
2016 zeigt, wie der digitale Wandel bisher in
den österreichischen Betrieben angekommen
ist: Von 43% der Unternehmen werden be
reits virtuelle Arbeitsformen eingesetzt. Zwei
Drittel der Unternehmen nutzen Softwaresys
teme zur Steuerung und Planung. Und bereits
drei Viertel verwenden mobile Endgeräte mit
Anbindung an das Firmennetzwerk. Zu be
obachten ist, dass der Einsatz von digitalen
Technologien mit zunehmender Betriebsgröße
steigt. Konzernbetriebe und dabei vor allem
jene, bei denen die Entscheidungskompe
tenz bei einer Muttergesellschaft im Ausland
liegt, weisen weitaus höhere Digitalisierungs
raten auf. Der Prozess der Digitalisierung er
folgt branchenübergreifend, unterscheidet
sich jedoch je nach Sparte in der konkreten
Einsatzform: Produktionsbetriebe mit langen
Lieferketten bis hin zu EndverbraucherInnen
benötigen beispielsweise andere Planungs,
und Produktionstechnologien oder Transport
logistiken als Dienstleistungsunternehmen.
Grundsätzlich stehen die befragten Betriebs
rätInnen der Digitalisierung positiv gegenüber:
Fast drei Viertel sind der Meinung, dass die
stärkere Verwendung digitaler Technologien in
ihren Unternehmen eher von Vorteil ist, wenn
es um die wirtschaftliche Entwicklung geht.
Der betriebliche Wandel wird von der fortschreitenden Digitalisierung getrieben.
Von Christina Wieser, Abteilung Betriebswirtschaft
und Vera Lacina, Abteilung Wirtschaftspolitik, beide Arbeiterkammer Wien
Seite 7 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Richtet sich der Blick jedoch auf die Arbeits
bedingungen, sind die BetriebsrätInnen nur
mehr knapp zur Hälfte positiv gestimmt. Für
ein Sechstel der Befragten hat die Digitalisie
rung eher nachteilige Auswirkungen auf die
Arbeitsbedingungen, da sich dadurch das Ar
beitstempo noch mehr beschleunigt und der
Druck weiter zunimmt (vgl. Abbildung 1).
Auswirkungen der Digitalisierung
Neues Arbeiten, neue Qualität? Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die
Qualität der Arbeit und insbesondere auf den
Qualifikationsbedarf stehen im Zentrum des
gegenwärtigen Diskurses rund um die Zukunft
der Arbeit. Offen ist, wie sich die Beschäfti
gungssituation weiter entwickeln wird, die
Dynamik am Arbeitsmarkt wird jedenfalls zu
nehmen und die Bedeutung von Qualifizierung
und Weiterbildung weiter wachsen.4 Fast die
Hälfte (49%) der BetriebsrätInnen vertritt die
Auffassung, dass sich die Einführung neuer
Technologien auf die Qualität und das Niveau
der Arbeitsplätze positiv ausgewirkt hat. Die
technologische Ausgangsbasis der österrei
chischen Unternehmen ist demnach aus der
Perspektive der ArbeitnehmerInnenvertretung
gut. Dies bestätigen Daten der Statistik Aus
tria, etwa zur Industrieproduktion, den Ex
porten oder der Forschungs & Entwicklungs
quote. Auch im europäischen Vergleich weist
Österreich eine positive Entwicklung auf. Um
diese Position zu festigen, Beschäftigung und
Einkommen zu generieren und eine Spitzen
position im digitalen Bereich zu erreichen, be
darf es jedoch weiterer Investitionen.
Der Strukturwandelbarometer liefert zudem
Informationen über die neuen Anforderungen
im Hinblick auf Qualifikationsstrukturen und
Kompetenzprofile der MitarbeiterInnen: Mehr
als die Hälfte (57%) der BetriebsrätInnen
meint, dass die betriebliche Weiterbildung
zur Erweiterung digitaler Kompetenzen zuge
nommen hat. Fast zwei Drittel (63%) der Be
fragten geben an, dass digitale Kompetenzen
bei Neuanstellungen zunehmend wichtiger
werden. Gleichzeitig sehen aber nur 20%,
dass die digitale Qualifikation als zusätzliches
Kriterium bei der Entlohnung neuer Kolle
gInnen berücksichtigt wird.
Flexibel, aber selbstbestimmt Durch die zunehmende Digitalisierung sind
dem flexiblen Arbeiten kaum Grenzen gesetzt.
Bereits jetzt orten 63% der Befragten, dass
die Flexibilitätsanforderungen steigen. Arbeit
ist längst nicht mehr an einen bestimmten Ort
und an fixe Zeiten gebunden: Wie beurteilt die
ArbeitnehmerInnenvertretung die neu erlangte
ABBILDUNG 1: IST DIE DIGITIALISIERUNG ALLES IN ALLEM EHER VON VORTEIL ODER EHER VON NACHTEIL? (N=271)
48
71
35
26
14
3
3
0% 50% 100%
für die Arbeitsbedingungen
für die wirtschaftliche Entwicklung
Abbildung 1: Ist die Digitalisierung alles in allem eher von Vorteil oder eher von Nachteil? (n=271)
eher positiv weder noch eher negativ k.A.
Quelle: AK-‐Strukturwandelbarometer 2016, IFESQuelle: AKStrukturwandelbarometer 2016, IFES
Seite 8 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
räumliche und zeitliche Flexibilität? Mehr
als ein Drittel (37%) der Befragten sieht bei
dieser Frage positive Auswirkungen. Für diese
Gruppe ergeben sich offenbar neue Freiräume
und interessante Alternativen zur Präsenz
kultur, die gerne genutzt werden.
Allerdings hat sich die Einführung digitaler
Technologien für jede/n Fünfte/n eher negativ
auf die Autonomie ausgewirkt, gibt doch nach
wie vor das Unternehmen den Takt an. Die
landläufige Arbeitgebererwartung der stän
digen Erreichbarkeit birgt für die Beschäftigten
die Gefahr einer höheren Arbeitsintensität und
unzureichender Erholungsphasen. Hier zeigt
sich die Ambivalenz der neuen Arbeitswelt:
Während sich für die einen mehr Freiheiten
eröffnen, sehen sich andere wegen der zeit
lichen und räumlichen Entgrenzung immer
mehr unter Druck gesetzt.
Neue Arbeitsformen, neue Bürokultur? Ein ähnlicher Widerspruch gilt für die ver
stärkte Implementierung neuer Informations
und Kommunikationstechnologien in den Ar
beitsalltag: Auf der einen Seite steht Informati
onsüberfluss, der zu Arbeitsverdichtung führt,
auf der anderen Seite der Vorteil des kurzen
Kommunikationsweges. Die Ergebnisse der
Untersuchung zeigen diesen Gegensatz deut
lich auf: Zwar sieht mehr als ein Drittel der
befragten BetriebsrätInnen einen positiven
Effekt, fast genauso viele (31%) konstatieren
aber eine Verschlechterung. Schon jetzt erlebt
mehr als ein Drittel der Befragten, dass sich
das Betriebsklima im letzten halben Jahr ver
schlechtert hat.
Neue Kommunikationsmethoden lassen sich
am besten in einer modernen Arbeitsum
gebung umsetzen. So präsentiert sich bei
spielsweise das neue Headquarter der Erste
Bank Group am Gelände des ehemaligen
Südbahnhofs nicht nur architektonisch, son
dern auch technisch am neuesten Stand. Der
neue Campus bietet seit Februar 2016 für die
rund 5.000 Beschäftigten viel Grün, Wohn
ABBILDUNG 2: WIE HAT SICH DIE EINFÜHRUNG DIGITALER TECHNOLOGIEN IM BETRIEB AUSGEWIRKT? (n=271)
Die Folge der permanenten Erreich-barkeit ist ein starker Anstieg der psychischen Belastungen.
8
12
18
36
37
49
42
28
46
31
40
37
49
59
34
31
21
13
0% 50% 100%
auf die Situation älterer Beschäftigter im Betrieb
auf die Arbeitsbelastungen
auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
auf die Kommunikation zwischen KollegInnen
auf die räumliche und zeitliche Autonomie der Beschäftigten
auf die Qualität und das Niveau der Arbeitsplätze
Abbildung 2: Wie hat sich die Einführung digitaler Technologien im Betrieb ausgewirkt? (n=271)
eher positiv weder noch eher negativ
Quelle: AK-‐Strukturwandelbarometer 2016, IFESQuelle: AKStrukturwandelbarometer 2016, IFES
Seite 9 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
zimmeratmosphäre und Open Space Office5.
Mit dem Umzug in das neue Gebäude wurde
gleichzeitig eine neue Organisationsform – das
DeskSharing6 – eingeführt. Die kolportierten
Ziele dieses Konzepts sind Kostenerspar
nisse, ideale Raumnutzung, eine produktivere
und attraktivere Arbeitsumgebung sowie zu
friedenere MitarbeiterInnen.7
Die bisherigen Erfahrungen mit dem neuen
Rahmenbedingungen werden von der zu
ständigen Betriebsratsvorsitzenden Ilse Fetik
so kommentiert: „In den schönen, modernen
Großraumbüros müssen die KollegInnen jeden
Tag aufs Neue einen Arbeitsplatz suchen, weil
sie keine eigenen Schreibtische mehr haben.
Viele kommen mit der Umstellung schwer
zurecht und vermissen ihre gewohnten Bü
ronachbarn. Nach einem Arbeitstag muss
der Tisch absolut leer geräumt werden, ‘am
Abend lösche ich mich aus‘, sagt ein Kollege
dazu. Nur noch der Vorstand hat zugeordnete
Schreibtische.“8 Der informelle Austausch
zwischen KollegInnen wird in dieser Facette
der neuen Arbeitswelt offenbar erschwert. Es
wird sich zeigen, wie sich diese Entwicklung
künftig auf das Betriebsklima auswirkt.
Die Balance finden zwischen Arbeit und Leben Deutlich negativ fällt die Beurteilung der Be
triebsrätInnen dann aus, wenn es um die
Auswirkungen der Digitalisierung auf die Ver
einbarkeit von Beruf und Privatleben geht.
Nur 18% der Befragten sind der Meinung,
dass sich die Digitalisierung positiv auf die
„WorkLifeBalance“ ausgewirkt hat, fast dop
pelt so häufig (34%) werden Nachteile festge
stellt. Bestätigt wird dies durch eine Untersu
chung der Arbeiterkammer Niederösterreich
in Kooperation mit der TU Wien vom April
20169. Bei den dabei knapp 750 Befragten
aus der Dienstleistungsbranche waren bis
zu 70% in der Freizeit permanent erreichbar,
selbst im Krankenstand waren es fast 60%.
Sogar im Urlaub und am Wochenende ist fast
jede/r Zweite/r stets erreichbar. Die dramati
sche Folge dieser permanenten Erreichbarkeit
ist ein starker Anstieg der psychischen Belas
tungen: Der Anteil der Beschäftigten mit De
ABBILDUNG 3: EINBINDUNG DES BETRIEBSRATS BEI EINFÜHRUNG NEUER TECHNOLOGIEN (n=271)
„Am Abend lösche ich mich aus“, sagt ein Kollege.
14
15
65
12
0 10 20 30 40 50 60 70
aktiv in die Entscheidung eingebunden
aktiv in die Planung eingebunden
nur informiert
gar nichts/nichts davon
Abbildung 3: Einbindung des Betriebsrats bei Einführung neuer Technologen (n=271)
Quelle: AK-‐Strukturwandelbarometer 2016, IFES
Quelle: AKStrukturwandelbarometer 2016, IFES
Seite 10 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
pressionserscheinungen liegt bei jenen, die in
ihrer Freizeit nicht oder kaum erreichbar sind,
bei 11,3%. Bei ArbeitnehmerInnen mit einem
hohen Maß an Erreichbarkeit liegt dieser Wert
bereits doppelt so hoch (24%). Besonders be
troffen sind Beschäftigte mit AllinVerträgen
und Teilzeitkräfte. Ein wichtiger Schritt für eine
bessere Abgrenzung vom Beruf wäre, dass
mobile Geräte in der Freizeit abgeschaltet
bzw. nicht synchronisiert werden.
Die digitale Kluft wird größerAber auch ältere ArbeitnehmerInnen kommen
im digitalen Zeitalter häufig unter Druck: Nur
8% der BetriebsrätInnen geben an, dass sich
die Einführung digitaler Technologien für ältere
Beschäftigte im Betrieb vorteilhaft ausgewirkt
hat. Fast die Hälfte ist jedoch der Meinung,
dass sich ihre Situation verschlechtert hat. Die
große Herausforderung besteht gegenwärtig
wohl darin, den „Digital Divide“ – also die „di
gitale Kluft“ – aufgrund von Alter, aber auch
von Geschlecht oder sozialer Zugehörigkeit
zu schließen.
Arbeitsbelastungen steigen Für eine deutliche Mehrheit (59%) der Be
triebsrätInnen geht die Einführung digitaler
Technologien mit einer Erhöhung der Ar
beitsbelastungen einher, nur 12% assoziieren
damit eine Erleichterung. Die höheren Belas
tungen sind Folgen der Entgrenzung und Ver
längerung der Arbeitszeiten, der permanenten
Erreichbarkeit und der Arbeitsverdichtung.
Schon jetzt ist der Zeitdruck, der in 62% der
Fälle im letzten halben Jahr zugenommen hat,
eine massive Belastung für die Arbeitneh
merInnen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt
auch der „GuteArbeit Index“10 des Deut
schen Gewerkschafts bundes (DGB): Von den
ArbeitnehmerInnen, die in hohem oder sehr
hohem Maß digitalisiert arbeiten, gibt fast die
Hälfte (46%) an, dass ihre Arbeitsbelastung
dadurch größer geworden ist, lediglich 9%
fühlen sich entlastet.
Mitbestimmung 4.0 Der digitale Wandel ist zumeist in weitrei
chende organisatorische Änderungen im
Betrieb bzw. im Unternehmen eingebunden
und beeinflusst so die wirtschaftliche Mitbe
stimmung. Typische Digitalisierungsthemen
sind beispielsweise Änderungen im Arbeits
ablauf bzw. der Arbeitsorganisation, Daten
schutz oder Personalplanung etc. Laut Gesetz
(§§ 91ff Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG))
ist die Unternehmensleitung eigentlich ver
pflichtet, rechtzeitig über „Planung und Ein
führung neuer Technologien“ zu informieren,
damit die ArbeitnehmerInnenvertretung die
Interessen der MitarbeiterInnen einbringen
und entsprechende Maßnahmen setzen kann.
Die gelebte Unternehmenspraxis ist davon
jedoch weit entfernt, wie der AKStrukturwan
delbarometer feststellt: Der Betriebsrat wird in
knapp zwei Drittel (65%) der Fälle überhaupt
nur informiert (vgl. Abbildung 3), lediglich 14%
der BetriebsrätInnen stellen eine aktive Ein
bindung in Entscheidungen bzw. 15% in die
Planung fest. 12% der befragten Betriebs
rätInnen wussten gar nichts von der Einfüh
rung neuer Technologien. Die Geschäftslei
tungen treiben die Digitalisierung voran, ohne
die Beschäftigten und ArbeitnehmerInnenver
tretungen aktiv einzubinden. Dabei hält die
Mitbestimmungsforschung fest, dass eine
frühzeitige Einbindung von BetriebsrätInnen
schon in der Planungsphase zur Beschleuni
gung von Entscheidungsprozessen im Unter
nehmen beiträgt, statt sie zu verlangsamen.11
Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung
der Mitbestimmungsrechte – gerade beim
Der Zug der Digitalisierung fährt zwar mit Hochgeschwindig-keit, bringt die Beschäftigten aber nicht von selbst in eine bessere Arbeitswelt.
Seite 11 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Phänomen digitaler Wandel – sind Betriebs
vereinbarungen. In diesem Zusammenhang
geben fast 60% der BetriebsrätInnen an,
dass im letzten Jahr keine Betriebsverein
barungen rund um Digitalisierungsthemen ab
geschlossen wurden. In 26% der Fälle hat es
in den letzten zwölf Monaten neue Betriebs
vereinbarungen zum Thema Datenschutz ge
geben. Weitere 18% der Befragten führen an,
dass Betriebsvereinbarungen zur Abgrenzung
von Arbeitszeit und Freizeit sowie 14% zu
neuen digitalen Technologien abgeschlossen
wurden. Auffällig ist dabei, dass in 70% der
Fälle die Initiative zum Abschluss dieser Be
triebsvereinbarungen vom Betriebsrat und
nicht von ArbeitgeberInnen ausgegangen ist.
„So muss Digitaler Wandel!“Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass
der digitale Wandel für hochwertige Arbeits
plätze notwendig ist und einen hohen Grad
an RaumZeitAutonomie ermöglichen kann.
Die Digitalisierung trägt aber bis jetzt nicht
dazu bei, eine bessere Balance zwischen Ar
beit und Freizeit zu finden und damit lebens
phasenorientiertes Arbeiten zu unterstützen.
Eher das Gegenteil ist der Fall: Durch die
permanente Erreichbarkeit steigen der Druck
und die Arbeitsbelastungen weiter an. Diese
Beschleunigung und die steigenden Anforde
rungen haben eine Zunahme von psychischen
Erkrankungen zur Folge – hier sind besonders
AllinVertragsnehmerInnen und Teilzeitkräfte
betroffen. Aber auch ältere ArbeitnehmerInnen
haben es in diesem Veränderungsprozess be
sonders schwer.
Der Zug der Digitalisierung fährt zwar mit
Hochgeschwindigkeit, bringt die Beschäf
tigten aber nicht von selbst in eine bessere
Arbeitswelt: Dafür braucht es klare Arbeits
zeitregelungen, ausreichende Erholungs
phasen, betrieblichen Gesundheitsschutz
und gerechte Entlohnung – auch im Sinne der
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Für
eine faire Gestaltung der neuen Arbeitswelt
ist die Mitbestimmung ein entscheidender
Faktor. Nur die aktive Einbindung der Arbeit
nehmerInnen und ihrer BetriebsrätInnen ge
währleistet, dass gute Arbeit nicht auf der
Strecke bleibt.
1 Vgl. Strukturwandelbarometer 2016, Digitaler Wandel – aus Sicht von BetriebsrätInnen (AKWien, durchgeführt von IFES) https://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/studien/Strukturwandelbarometer_2016.pdf (abgerufen am 22.09.2016).
2 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 85 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft2.pdf (abgerufen am 23.09.2016).
3 Vgl. http://www.tzl.de/blog/wpcontent/uploads/2014/06/Whitepaper_Wohlbefinden.pdf (abgerufen am 22.09.2016).
4 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 32 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft2.pdf (abgerufen am 28.09.2016).
5 Große Büros ohne Trennwände und ohne verschließbare Zellentüren.
6 Desksharing, auch „Shared Desk“ oder „Flexible Office“ genannt, ist eine Organisationsform, bei der innerhalb einer Organisationseinheit weniger Arbeitsplätze als MitarbeiterInnen verfügbar sind. Die MitarbeiterInnen wählen ihren Arbeitsplatz täglich aufs Neue.
7 Vgl. http://www.smartworkers.net/2014/12/desksharingklapptesmitdemteilenimbueroteil2/ (abgerufen am 22.09.2016).
8 Vgl. APAMeldung vom 18.05.2015: AK: Beschäftigte durch digitalen Wandel immer mehr unter Druck (abgerufen am 22.09.2016).
9 Vgl. https://media.arbeiterkammer.at/noe/pdfs/presse/Pressepapier_PK_Staendig_erreichbar.pdf (abgerufen am 29.09.2016).
10 Vgl. DGBIndex „Gute Arbeit“ (04/2016): Mehrbelastung durch Arbeit 4.0 – Die Auswirkungen der Digitalisierung aus Beschäftigtensicht.
11 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 105 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft2.pdf (abgerufen am 28.09.2016).
Für eine faire Gestaltung der neuen Arbeitswelt ist die Mitbestimmung ein entscheidender Faktor.
Seite 12 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
STUDIENHINWEIS STRUKTURWANDELBAROMETER 2016 – AK/IFES
Die regelmäßige Erhebung und Analyse der Inhalte, Dynamik und Auswirkungen des betrieblichen Strukturwandels aus ArbeitnehmerInnenperspektive.
Die Erhebung – durchgeführt von IFES im Auftrag der AKWien – erfolgte nun
zum vierten Mal. Fast 300 BetriebsrätInnen österreichischer Unternehmen
wurden online nach verschiedenen Indikatoren, etwa Zeitdruck, Anteil von
Leiharbeit, Outsourcing, Investitionen in Personal und betriebliche Mitbestim
mung befragt.
Diesmal mit dem Schwerpunkt: Einsatz digitaler Technologien als Indikator des Strukturwandels
StudienautorInnen: Georg Michenthaler, Nedeljko Beier, Claudia Pflügl
AK-Projektteam: Ursula Filipić, Roland Lang, Heinz Leitsmüller, Ulrich
Schönbauer, Christina Wieser, Michael Heiling, Silvia HruškaFrank
Die Studie als Download unter: https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/Arbeitsmarkt/Strukturwandelbarometer.html
GERECHTIGKEIT MUSS SEIN
EINE STUDIE DER AK WIEN DURCHGEFÜHRT VON IFES
STRUKTURWANDELBAROMETER 2016 Digitaler Wandel – Aus Sicht von BetriebsrätInnen
Seite 13 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
ÖFFENTLICHE AUFTRAGSVERGABE: NACHHALTIG UND SOZIAL In Österreich sollen bis zum Jahresende 2016 die EU-Vergaberichtlinien umgesetzt werden. Diese eröffnen unter anderem die Möglichkeit, das sog. „Bestbieterprinzip“ stärker in das österreichische Vergaberecht zu verankern sowie soziale und ökologische Kriterien bei der Auftragsvergabe vermehrt zu berücksichtigen. Vor allem aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive ist es dringend geboten, sich gegenüber diesen progressiven Möglichkeiten nicht zu verschließen.
Das Vergaberecht, eine auf europäischer
Ebene harmonisierte Rechtsmaterie, beruht
auf der Idee, dass öffentliche Aufträge EU
weit und in transparenter Form zu vergeben
sind. Die rechtlichen Rahmenbedingungen
sollen dabei einen fairen Wettbewerb sowie
die effiziente Nutzung von Steuergeldern ge
währleisten. Ließ die EUKommission aus
ebendiesen Gründen lange Zeit grundsätzlich
nur den Preis als Kriterium für die Auswahl
zu, wurde in den letzten Jahren ein deutlicher
Kurswechsel vorgenommen. Die Einsicht,
dass eine ausschließliche Fokussierung auf
den Preis sich in weiterer Folge als sehr kost
spielig für die Allgemeinheit erweisen kann,
aber auch die Lehren, die man aus der Fi
nanz und Wirtschaftskrise in Bezug auf nach
haltiges Wirtschaften gezogen hatte, führten
schließlich zu einer umfassenden Reform des
EUVergaberechts zu Beginn des Jahres 2014.
Die öffentliche Auftragsvergabe, dem eine
beträchtliche volkswirtschaftliche Relevanz
zukommt, soll nunmehr unter Beachtung von
sozial und umweltpolitischen Aspekten einen
Beitrag zu einer nachhaltigen Konjunkturan
kurbelung leisten. Die VergabeRichtlinien
eröffnen hierfür den nötigen Raum, um in der
Beschaffung wirtschafts und gesellschafts
politische Ziele strategisch zu befolgen. Die
Umsetzung der Richtlinien soll noch 2016 er
folgen.
In Österreich trat bereits im März 2016 eine
„Kleine Novelle“ zum Vergaberecht in Kraft,
welche eine Annäherung an die Vorstellungen
des Unionsgesetzgebers brachte. Die auf eu
ropäischer Ebene geschaffenen rechtlichen
Möglichkeiten, das österreichische Vergabe
gesetz für Sozial und Umweltkriterien stärker
zu öffnen, sowie unlauteren Wettbewerb durch
Lohn und Sozialdumping hintanzuhalten,
wurden bis dato allerdings unzureichend ge
nützt.
Nährboden für Sozialbetrug
In Österreich gibt es vorrangig dort Hand
lungsbedarf, wo die rechtlichen Rahmenbe
dingungen Lohnund Sozialdumping begüns
tigen. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere
lange Subunternehmerketten den idealen
Nährboden hierfür bieten. Das Problem stellt
sich in der Praxis wie folgt: Es werden Bauleis
tungen an Auftragnehmer vergeben, die bei
der Ausführung des Auftrags auf Subunter
nehmen zurückgreifen, welche ihrerseits eben
falls Teile des Auftrags an weitere SubSubun
ternehmen delegieren. Es entstehen so häufig
zum Teil unübersichtlich lange Subunterneh
merketten an deren Enden häufig Arbeitneh
merInnen stehen, deren Löhne und Sozial
versicherungsbeiträge nicht korrekt geleistet
werden. Der hohe Kostendruck in der öffentli
chen Beschaffung wird damit auf die unterste
Ebene der Subunternehmerkette überwälzt.
Beim – häufig bereits im Voraus geplanten –
Von Lena Karasz, Arbeiterkammer Wien,
Abteilung Wirtschaftspolitik
Die unionsrechtlichen Möglichkeiten, unlauteren Wettbewerb durch Lohn- und Sozialdumping hintanzuhalten, wurden bis dato unzureichend genützt.
Seite 14 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Konkurs ihrer direkten Arbeitgeber bleibt den
betroffenen Beschäftigten oft nur noch der
Weg zum InsolvenzEntgeltFonds, um ihre
Lohnansprüche durchzusetzen.
Die „kleine Novelle“ brachte in dieser Hinsicht
insofern eine Verbesserung, als die Transpa
renz in der Subauftragnehmerkette erhöht
wurde. Auftragnehmer müssen nunmehr im
Angebot alle Teile, die sie beabsichtigen an
Subauftragnehmer weiterzureichen, anführen.
Zudem bedarf nach der Zuschlagserteilung
grundsätzlich jeder Wechsel von beteiligten
Unternehmen der Zustimmung des Auftrag
gebers. Damit sollen die Kontrollmöglich
keiten der Auftraggeber zu jedem Zeitpunkt
der Vertragsausführung gesichert werden.
Von der Möglichkeit zur Kontrolle wird in der
Praxis allerdings selten Gebrauch gemacht.
Als weitaus effektivere Maßnahme im Kampf
gegen Lohn und Sozialdumping würde sich
eine gesetzliche Beschränkung der Subauf
tragnehmerkette auf maximal zwei Ebenen
erweisen.
Zielführend wäre überdies, Auftragnehmer, die
bereits in der Vergangenheit gegen bestimmte
arbeits und sozialrechtliche Vorschriften ver
stoßen und damit ihre berufliche Zuverlässig
keit in Frage gestellt haben, für festgelegte
Zeiträume von der Teilnahme an öffentlichen
Vergabeverfahren auszuschließen. Die Verga
berichtlinien bieten dazu explizit die Möglich
keit, da ein solcher Ausschluss auch unfairen
Wettbewerb verhindern soll. Die derzeitige
Rechtsprechung in Österreich erlaubt unzu
verlässigen Bietern jedoch eine sogenannte
„Reinwaschung“, noch dazu unter milden Vo
raussetzungen. Hier wäre jedoch eine striktere
Handhabung wichtig – sowohl im Sinne des
fairen Wettbewerbs als auch im Hinblick auf
die dadurch entstehenden Folgekosten für die
Allgemeinheit.
Wer billig kauft, kauft letztlich teuer
In der öffentlichen Auftragsvergabe war lange
Zeit das Billigstbieterprinzip vorherrschend.
Die öffentliche Hand, so die Idee, sollte sich
in ihrer Entscheidung ausschließlich am Preis
der vorgelegten Angebote orientieren, um
Transparenz zu gewährleisten und Diskrimi
nierungen zu vermeiden. Diese ausschließ
liche Fokussierung auf den Preis sollte dafür
sorgen, Steuergelder möglichst sparsam ein
zusetzen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt
aber, dass sich vor allem die billigsten („güns
tigsten“) Angebote im Nachhinein als die kost
spieligsten erweisen.
Es kann daher als Fortschritt gewertet werden,
dass die letzte Vergaberechtsnovelle die Krite
rien zur Zulässigkeit des Billigstbieterprinzips
weiter eingeengt hat. Als besonders positive
Neuerung ist die gesetzliche Verankerung des
Bestbieterprinzips im Bausektor hervorzu
heben: Bei öffentlichen Bauauf trägen ab einer
Million Euro muss nunmehr verpflichtend das
Bestbieterprinzip angewendet werden.
Gesamtwirtschaftlich gesehen ist es wichtig,
diesen eingeschlagenen Weg weiterzugehen
und das verpflichtende Bestbieterprinzip auch
auf andere Branchen, wie z.B. Bewachungs
leistungen, gesundheitliche Dienstleistungen,
etc. auszudehnen. Solcherart würde nicht nur
der Qualitätswettbewerb gefördert, sondern
auch Lohn und Sozialdumping ein Riegel
vorgeschoben werden, das auch jenseits der
Baubranche weit verbreitet ist. Regelmäßig
Der hohe Kostendruck in der öffentlichen Beschaffung wird auf die unterste Ebene der Subunternehmerkette überwälzt.
Eine effektive Maßnahme im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping wäre eine gesetzliche Beschränkung der Subauftragnehmerkette auf maximal zwei Ebenen.
Seite 15 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
werden bei öffentlichen Ausschreibungen
Anbieter, die Beschäftigte fair entlohnen, von
Mitbewerbern mit unseriösen Kostenkalkulati
onen aus dem Rennen gedrängt.
Ein anschauliches Beispiel von Lohndumping
bei der öffentlichen Auftragsvergabe bietet
der öffentliche Verkehrsdienst per Bus: Bus
betriebe, die im Bewusstsein ihrer sozialen
Verantwortung auch älteres und gut ausge
bildetes Personal zu angemessenen Kondi
tionen beschäftigen, werden durch Mitbe
werber, die ihr Personal nicht fair entlohnen,
sehr unter Druck gesetzt. Da bei der Preisbil
dung im Busbereich die Kosten für das Per
sonal bei etwa 50% liegen, können öffentliche
Aufträge vor allem dann lukriert werden, wenn
bei den Beschäftigten gespart wird. Der bil
ligste Preis wird so zu Lasten des Personals
erreicht und belastet zudem die Sozialkassen
und den Staat, wenn die anderen (gut quali
fizierten) Beschäftigten in die (Alters)Arbeits
losigkeit gedrängt werden. Überdies bedeutet
Lohndumping weniger Steuereinnahmen für
die öffentliche Hand.
Schutz der Beschäftigten bei Betreiberwechsel
Ein weiteres Problem, das für Beschäftigte
im Personennahverkehr aus öffentlichen Auf
tragsvergaben resultieren kann, ist der Be
treiberwechsel. Diese Problematik tritt für die
Beschäftigten von Buslinien dann ein, wenn
nicht der Betreiber, bei dem sie beschäftigt
sind, den öffentlichen Auftrag erhält, sondern
ein anderer Mitwerber. Besonders im länd
lichen Raum, wo die Einsatzorte begrenzt
sind, können Beschäftigte in einem solchen
Fall massiv unter Druck geraten. Busbetreiber
sind gesetzlich nicht verpflichtet, das Personal
des bisherigen Betreibers zu übernehmen. In
der Praxis kann dies dazu führen, dass sich
ArbeitnehmerInnen gezwungen sehen, zu
schlechteren Bedingungen zum neuen Ar
beitgeber zu wechseln, dabei Dumping löhne
in Kauf zu nehmen und auf bisher erworbene
Rechte, wie z.B. das Recht auf die 6. Urlaubs
woche, zu verzichten.
Unionsrechtlich besteht allerdings die Mög
lichkeit, in solchen Fällen den Bestbietenden
dazu zu verpflichten, die bisherigen Beschäf
tigten unter Anerkennung ihrer erworbenen
Rechte zu übernehmen. Unter den EUMit
gliedstaaten hat bislang Schweden von dieser
Möglichkeit Gebrauch gemacht. Eine ver
pflichtende Personalübernahme beim Betrei
berwechsel ist dort gängige Praxis. Dies wäre
auch für Österreich erstrebenswert, um Be
schäftigungsverhältnisse langfristig zu sichern
und der Beschneidung von ArbeitnehmerIn
nenrechten entgegenzuwirken.
Berücksichtigung von sozialen, ökologischen und qualitativen Mindestanforderungen
In der Vergangenheit spielten in Österreich vor
allem soziale und umweltbezogene Aspekte
in der öffentlichen Auftragsvergabe eine eher
untergeordnete Rolle. Argumentiert wurde,
dass das Bundesvergabegesetz kein sozi
alpolitisches Instrument sei, sondern aus
schließlich die „effizienteste“ Beschaffung
durch die öffentliche Hand sicherstellen sollte.
Andere Kriterien als der Preis wurden als „ver
gabefremd“ qualifiziert. Mittlerweile hat sich
jedoch die Einsicht durchgesetzt, dass es vor
allem volkswirtschaftlich vernünftig ist, so
ziale, ökologische und qualitative Kriterien bei
der Bewertung zu berücksichtigen. Die neue
allgemeine VergabeRichtlinie sieht daher
ausdrückliche Möglichkeiten für öffentliche
Auftraggeber vor, im Zuge der Beschaffung
Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es vor allem volks-wirtschaftlich klug ist, soziale, ökolo-gische und qualitative Kriterien bei der Bewertung zu berücksichtigen.
Seite 16 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
wirtschafts und gesellschaftspolitische Ziele
zu verfolgen. Nicht zuletzt vor diesem Hinter
grund wäre eine Stärkung des Bestbieterprin
zips erforderlich.
Um diese strategische Beschaffung noch zu
sätzlich zu stärken, müssten beim Bestbie
terprinzip neben dem Preis weitere soziale,
ökologische oder qualitative Kriterien als ver
pflichtend miteinbezogen werden. Als soziale
Kriterien könnten beispielsweise das Vorhan
densein spezieller Ausbildungsprogramme
für Lehrlinge oder der Anteil von ehemaligen
Langzeitarbeitslosen am Gesamtbeschäfti
gungsstand herangezogen werden. Damit
würden wichtige beschäftigungspolitische
Impulse gesetzt. 2015 machte die Vergabe
der öffentlichen Hand in Österreich insgesamt
13,2% der Wirtschaftsleistung (BIP) aus. Sie
ist damit ein besonders starker Hebel, um
Beschäftigung zu sichern. Aus einer gesamt
wirtschaftlichen Perspektive ist es daher drin
gend geboten, dass öffentliche Auftraggeber
über kurzfristige Aufträge hinausdenken und
einer nachhaltigen Ökonomie, die mit fairer
Beschäftigung und sozialer Sicherheit einher
geht, den Vorzug geben.
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Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer fü
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Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Ir
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Lukas Oberndorfer (lukas.oberndorfer@akwien.at) L
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
• Kostenlose Bestellung unter: h
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bemüht, die internationalen Brenn-
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Raum für grundlegende Analysen.
Damit starten Markus Marterbauer
und Lukas Oberndorfer. Ersterer
zeigt auf, dass simultanes Kon-
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Abschwung führen könnte. Zweiterer
setzt sich mit dem Monti-B
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dem Versuch eines neuen Konsenses
für eine angebotseitige Binnen-
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spielen Bücher eine wichtige Rolle.
Daher eröffnen wir mit zw
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politik (EU – Kanada) und HIV/Aids.
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Ihr AK Redaktionsteam
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Die weitere Konjunkturentwicklung
hängt davon ab, ob die von Asien
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Zusammenbruchs.
■ Dadurch wurde von Mitte 2008
bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch
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real um 4,2% zurück, die saison-
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2008 bis Mai 2010 von 16 Mio auf
23 Mio.
■ Als Folge des durch den finanz-
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sich ab dem Frühjahr 2010 eine
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Entscheidungsprozesse, vor allem
aber geprägt durch ein neoliberales
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Aus dem Inhalt
Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20-22 •
Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Iris Strutzmann Norbert Templ, Valentin Wedl • Kontakt:
Lukas Oberndorfer (lukas.oberndorfer@akwien.at) Layout und Satz: Julia Stern • Verlags- und Herstellungsort: Wien •
Erscheinungsweise: zweimonatlich • Kostenlose Bestellung unter: http://wien.arbeiterkammer.at/euinfobrief
Editorial
Liebe Leserin! Lieber Leser!
Vor Ihnen liegt doppelt Neues.
Durch professionelles Layout
erscheinen wir in neuem Gewand.
Auch inhaltlich haben wir uns
bemüht, die internationalen Brenn-
punkte durch neue Formate besser
zu fokussieren: Langbeiträge als
Raum für grundlegende Analysen.
Damit starten Markus Marterbauer
und Lukas Oberndorfer. Ersterer
zeigt auf, dass simultanes Kon-
solidieren die EU in den nächsten
Abschwung führen könnte. Zweiterer
setzt sich mit dem Monti-Bericht –
dem Versuch eines neuen Konsenses
für eine angebotseitige Binnen-
marktpolitik – auseinander. Produk-
tion von Konsens und Dissens darin
spielen Bücher eine wichtige Rolle.
Daher eröffnen wir mit zwei Rezensi-
onen eine neue Rubrik: Die Buchbe-
sprechung. Die bekannten Stärken
unserer Zeitschrift bleiben erhal-
ten: aktuelle Themen informativ &
prägnant aufbereitet. Das zeigen
Elisabeth Beer, Norbert Templ, Iris
Strutzmann, Walter Sauer & Susan
Leather mit ihren Beiträgen zu
Investitionsschutzabkommen,
Wachstumshindernissen, Handels-
politik (EU – Kanada) und HIV/Aids.
Ebenso setzt Claudia Schürz unseren
China-Schwerpunkt fort. Diesmal:
WanderarbeiterInnen.
Ihr AK Redaktionsteam
Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es
der EU gelungen, durch pragmatische Notfallmaßnahmen das
Banken system, die Konjunktur und den Markt für Staatsschuld-
verschreibungen zu stabilisieren, jedoch sind die grundlegenden
Probleme nicht bewältigt.
Europas Wirtschaft
An einer entscheidenden
Weggabelung
Die weitere Konjunkturentwicklung
hängt davon ab, ob die von Asien
ausgehenden Auftriebskräfte oder
die Dämpfung durch die simultane
Budgetkonsolidierung in der EU stär-
ker wirken. Die Bewältigung der ho-
hen Staatsschulden bleibt ein zent-
rales Thema, für dessen Bewältigung
unkonventionelle Ansätze notwendig
sind.
EU-Wirtschaftspolitik schafft
Stabilisierung ■ Die wirtschaftliche
Krise hat in der Europäischen Uni-
on in den letzten Wochen ihr drittes
Stadium erreicht:
■ Die Krise ging zunächst in den
Jahren 2007 und 2008 von den
Finanzmärkten und Banken aus,
das weltweite Finanzsystem ge-
riet mehrmals an den Rand des
Zusammenbruchs.
■ Dadurch wurde von Mitte 2008
bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch
der Realwirtschaft ausgelöst. Das
Bruttoinlandsprodukt ging 2009
real um 4,2% zurück, die saison-
bereinigte Zahl der Arbeitslosen
stieg vom Tiefstand im Frühjahr
2008 bis Mai 2010 von 16 Mio auf
23 Mio.
■ Als Folge des durch den finanz-
und realwirtschaftlichen Einbruch
entstandenen Ausfalls an Steu-
ereinnahmen und der zusätzli-
chen Staatsausgaben entwickelte
sich ab dem Frühjahr 2010 eine
Staatsschuldenkrise.
Die EU-Politik hat die Krisenzeichen
in allen drei Stadien spät erkannt,
sie hat – bedingt durch langwierige
Entscheidungsprozesse, vor allem
aber geprägt durch ein neoliberales
Weltbild, das den Märkten Effizienz
zuspricht und staatliche Eingriffe für
falsch hält – mit Zögern und Zaudern
reagiert. Dennoch ist es schließlich
in jedem Stadium der Krise gelun-
gen, durch Notfallmaßnahmen eine
Stabilisierung zu erreichen:
Europas Wirtschaft 1
Die faktische Macht
multinationaler Unternehmen 6
Wachstumshemmnisse 9
Analyse des Monti-Berichts 10
EU-Kanada Abkommen 15
China – Illegale im eigenen Land 17
HIV/Aids
18
Kritik des Kapitalismus 20
Die europäische Chance 21
eu& international
infobrief
Ausgabe 3 | Juni 2010
Aus dem Inhalt
Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20-22 • Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Iris Strutzmann Norbert Templ, Valentin Wedl • Kontakt: Lukas Oberndorfer (lukas.oberndorfer@akwien.at) Layout und Satz: Julia Stern • Verlags- und Herstellungsort: Wien • Erscheinungsweise: zweimonatlich • Kostenlose Bestellung unter: http://wien.arbeiterkammer.at/euinfobrief
Editorial
Liebe Leserin! Lieber Leser!
Vor Ihnen liegt doppelt Neues. Durch professionelles Layout
erscheinen wir in neuem Gewand. Auch inhaltlich haben wir uns
bemüht, die internationalen Brenn-punkte durch neue Formate besser
zu fokussieren: Langbeiträge als Raum für grundlegende Analysen. Damit starten Markus Marterbauer
und Lukas Oberndorfer. Ersterer zeigt auf, dass simultanes Kon-
solidieren die EU in den nächsten Abschwung führen könnte. Zweiterer
setzt sich mit dem Monti-Bericht – dem Versuch eines neuen Konsenses
für eine angebotseitige Binnen-marktpolitik – auseinander. Produk-tion von Konsens und Dissens darin spielen Bücher eine wichtige Rolle.
Daher eröffnen wir mit zwei Rezensi-onen eine neue Rubrik: Die Buchbe-
sprechung. Die bekannten Stärken unserer Zeitschrift bleiben erhal-
ten: aktuelle Themen informativ & prägnant aufbereitet. Das zeigen
Elisabeth Beer, Norbert Templ, Iris Strutzmann, Walter Sauer & Susan
Leather mit ihren Beiträgen zu Investitionsschutzabkommen,
Wachstumshindernissen, Handels-politik (EU – Kanada) und HIV/Aids.
Ebenso setzt Claudia Schürz unseren China-Schwerpunkt fort. Diesmal:
WanderarbeiterInnen.
Ihr AK Redaktionsteam
Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es der EU gelungen, durch pragmatische Notfallmaßnahmen das Banken system, die Konjunktur und den Markt für Staatsschuld-verschreibungen zu stabilisieren, jedoch sind die grundlegenden Probleme nicht bewältigt.
Europas Wirtschaft
An einer entscheidenden Weggabelung
Die weitere Konjunkturentwicklung hängt davon ab, ob die von Asien ausgehenden Auftriebskräfte oder die Dämpfung durch die simultane Budgetkonsolidierung in der EU stär-ker wirken. Die Bewältigung der ho-hen Staatsschulden bleibt ein zent-rales Thema, für dessen Bewältigung unkonventionelle Ansätze notwendig sind.
EU-Wirtschaftspolitik schafft Stabilisierung ■ Die wirtschaftliche Krise hat in der Europäischen Uni-on in den letzten Wochen ihr drittes Stadium erreicht: ■ Die Krise ging zunächst in den
Jahren 2007 und 2008 von den Finanzmärkten und Banken aus, das weltweite Finanzsystem ge-riet mehrmals an den Rand des Zusammenbruchs.
■ Dadurch wurde von Mitte 2008 bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch der Realwirtschaft ausgelöst. Das
Bruttoinlandsprodukt ging 2009 real um 4,2% zurück, die saison-bereinigte Zahl der Arbeitslosen stieg vom Tiefstand im Frühjahr 2008 bis Mai 2010 von 16 Mio auf 23 Mio.
■ Als Folge des durch den finanz- und realwirtschaftlichen Einbruch entstandenen Ausfalls an Steu-ereinnahmen und der zusätzli-chen Staatsausgaben entwickelte sich ab dem Frühjahr 2010 eine Staatsschuldenkrise.
Die EU-Politik hat die Krisenzeichen in allen drei Stadien spät erkannt, sie hat – bedingt durch langwierige Entscheidungsprozesse, vor allem aber geprägt durch ein neoliberales Weltbild, das den Märkten Effizienz zuspricht und staatliche Eingriffe für falsch hält – mit Zögern und Zaudern reagiert. Dennoch ist es schließlich in jedem Stadium der Krise gelun-gen, durch Notfallmaßnahmen eine Stabilisierung zu erreichen:
Europas Wirtschaft 1Die faktische Macht multinationaler Unternehmen 6 Wachstumshemmnisse 9Analyse des Monti-Berichts 10EU-Kanada Abkommen 15China – Illegale im eigenen Land 17HIV/Aids 18Kritik des Kapitalismus 20Die europäische Chance 21
eu& internationalinfobrief
Ausgabe 3 | Juni 2010
Aus dem Inhalt
Der EU-Infobrief erscheint 5x jährlich im digitalen Format und liefert eine kritische Analyse der Entwicklungen auf europäischer und internationaler Ebene. Die Zeitschrift der Abteilung EU & Internationales der AK-Wien fokussiert dabei Themen an der Schnittstelle von Politik, Recht und Ökonomie. Anspruch ist nicht nur die Prozesse in den europäischen Institutionen zu beschreiben, sondern auch Alternativen zur Hegemonie des Neoliberalismus zu entwickeln. Kurze Artikel informieren in prägnanter Form über aktuelle Themen. Langbeiträge geben den Raum für grundlegende Analysen, Buchbesprechungen bieten eine kritische Übersicht einschlägiger Publikationen.
Seite 17 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
ERNTEDANK DEN STEUERZAHLERiNNEN: WAS DER AGRARSEKTOR 2016 EXTRA BEKOMMTIn gewöhnlichen Jahren betragen die Agrarsubventionen an die österreichische Landwirtschaft mehr als 2 Milliarden Euro. Wenn aufgrund hoher Erntemengen die Preise verfallen und gleichzeitig ein Teil der Betriebe wegen Dürre und/oder Frost geringe Mengen erntet, steigen die Begehrlichkeiten nach mehr öffentlichen Geldern. Für 2016 sind es einige Hundert Millionen mehr an Zuschüssen. Von Steuer mitteln für die Ernteversicherung über Zahlungen für Frostschäden, Hilfspaketen für Schweine- und Milchbauern bis hin zum Entfall der Sozialversicherungsbeiträge reicht die Palette. Egal wie hoch die Agrarsubventionen sind, der Eindruck bleibt, es gehe allen immer schlechter. Ist das tatsächlich so? Oder liegt es daran, dass die Mittel nicht zielgerichtet eingesetzt werden?
Bemerkenswert ist, dass der Großteil dieser
zusätzlichen Subventionen nicht aus dem
Agrarbudget kommt, sondern aus anderen
Steuertöpfen. Das bewirkt, dass die tatsäch
lichen Agrarausgaben nicht im vollen Ausmaß
sichtbar sind. Auch für die statistische Ein
kommensberechnung zählen manche Sub
ventionen nicht. Daher wird weiterhin ein
Durchschnittseinkommen berechnet werden,
das als Begründung für weitere zukünftige
Unterstützungsmaßnahmen herhalten muss.
Nichtzahlung der Sozialversicherung für ALLE LandwirtInnen
Die Nichtzahlung des 4. Quartalsbeitrags
an die Sozialversicherung der Bauern (SVB)
kostet 167 Mio €. Noch keine Einigung gibt
es bisher, ob es sich dabei um eine Stundung
oder eine Streichung des Beitrages handelt.
Diese sehr außergewöhnliche Maßnahme, die
bisher keine Branche gefordert hatte, wurde
mit der schlechten Marktsituation für die
MilchproduzentInnen begründet. Profitieren
werden jedoch alle LandwirtInnen – und zwar
unabhängig von ihrer tatsächlichen Einkom
menssituation.
Was, so die berechtigte Frage, hat die Sozial
versicherung mit dem Milchpreis zu tun? Und
warum sollen auch kuhlose LandwirtInnen
ihren Eigenbeitrag zum Solidarsystem nicht
leisten? Klar ist, diese Maßnahme löst keine
Marktprobleme. Es wird damit kein Liter we
niger produziert oder mehr verkauft. Denn das
Dilemma am Milchmarkt ist durch die stei
gende Milchproduktion in Kombination mit der
weniger wachsenden Nachfrage verursacht.
MilchproduzentInnen, die aufgrund der nied
rigen Preise Verluste schreiben, haben keine
Steuern abzuführen. Viele landwirtschaftliche
Betriebe zahlen systemimmanent keine Ein
kommenssteuern. Aber ein gewisser Eigen
beitrag aller LandwirtInnen an die SVB wurde
bisher außer Streit gestellt. Zahlt doch die öf
fentliche Hand ohnehin annähernd 80% der
Beiträge an das Pensionssystem der SVB1,
da es aufgrund der Differenzen zwischen Bei
trägen und Pensionszahlungen sonst nicht
finanzierbar wäre. So gesehen stellt jede Bei
tragskürzung eine Erhöhung der öffentlichen
Mittel dar, die außerhalb des Agrarbudgets
aufzubringen ist.
Streichung des Sozialversicherungsbeitrags begünstigt höhere Einkommen am stärksten
Größere Betriebe mit höherem Einkommen
zahlen für gewöhnlich höhere SVBBeiträge
und profitieren dadurch am meisten von der
Nichtzahlung des Beitrags an die SVB. Kon
kret würde ein Kleinbetrieb mit 933 € und ein
größerer Betrieb mit 3.313 € davon profitieren.
Von Maria Burgstaller, Arbeiterkammer Wien,
Abteilung Wirtschaftspolitik
Der Großteil der zusätzlichen Subventionen kommt nicht aus dem Agrarbudget, sondern aus anderen Steuertöpfen.
Seite 18 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
In der Abbildung ist das extrem unterschied
liche Einkommen in der Landwirtschaft abge
bildet.
Laut offiziellen Daten des Bundesministe
riums für Land und Forstwirtschaft, Umwelt
und Wasserwirtschaft verdienen 25% der
LandwirtInnen im Durchschnitt zumindest
mehr als 42.000 €. Spitzeneinkommen und
Großbetriebe sind bei dieser Erhebung kaum
berücksichtigt, da die Ergebnisse aus freiwil
ligen Buchführungsdaten berechnet werden.
Für das unterste Viertel der LandwirtInnen,
das in der Berechnung überrepräsentiert ist,
wird ein deutlicher Verlust ausgewiesen. Auf
die großen Einkommensunterschiede weist
auch die Differenz zwischen dem Medianein
kommen von 11.429 € und dem Durchschnitt
seinkommen in der Höhe von 15.847 € hin.
Einkommen, die nicht aus landwirtschaftlicher
Tätigkeit stammen, bleiben bei dieser Statistik
vollkommen unberücksichtigt.
Steuergeld für die Ernteversicherung
Im Mai dieses Jahres wurden 76 Mio € an
Budgetmitteln für die Erweiterung der sub
ventionierten Ernteversicherung beschlossen.
Obwohl diese Maßnahme eine eindeutige
Subventionierung an den Agrar sektor be
deutet, werden die öffentlichen Zuschüsse
aus dem Katastrophenfonds des Bundes
und aus Ländermitteln kommen. Das ohnehin
reichlich dotierte Agrarbudget wird dadurch
geschont und kann für andere Agra rausgaben
verwendet werden. Auch mögliche EUBud
getmittel werden dafür nicht herangezogen.2
Steuergeld für Frostschäden
Obwohl schon bisher Frostschäden für be
stimmte Kulturen versicherbar waren, werden
heuer extra Steuergelder für die Entschädi
gung von Frostschäden bezahlt. Denn nicht
alle LandwirtInnen sind gegen Frost versi
ABBILDUNG: VIERTELGRUPPIERUNG: PRO-KOPF-EINKOMMEN IN DER LANDWIRTSCHAFT 2015E
uro
pro
Jahr
-10.000
0
10.000
20.000
30.000
40.000
50.000
Durchschnittseinkommen = 15.847
Erstes Viertel
-8.612
-6.123 -17.041 42.386
Zweites Viertel
Drittes Viertel
ViertesViertel
Medianeinkommen = 11.429
Quelle: Grüner Bericht 2016; Tab. 4.8.4: Viertelgruppierung; Darstellung: ProKopfEinkommen (je Familienarbeitskraft) im Median, im Durchschnitt und im Durchschnitt nach Viertelgruppierung.
Klar ist, dass z.B. der Entfall oder die Stundung der Sozialver-sicherungsbeiträge keine Marktprobleme löst.
Seite 19 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
chert, obwohl auch bereits bisher die Hälfte
der Prämie subventioniert war. 100 Mio €
werden unter diesem Titel bezahlt3. Auch
dafür kommen die Budgetmittel nicht aus dem
„eigenen“ Agrarbudget, sondern aus dem Ka
tastrophenfonds und aus zusätzlichen Län
dermitteln. Die geplanten Entschädigungs
leistungen der öffentlichen Hand sind zum
Teil höher als die von der Versicherung ausbe
zahlten Beträge. Versicherten Land wirtInnen
wird in diesem Fall der Differenzbetrag zwi
schen Versicherungsleistung und öffentlicher
Frostentschädigungszahlung ausgeglichen.
Außerdem ist zu bedenken, dass die „Beloh
nung“ für NichtVersicherte nicht gerade zur
Versicherungsmoral der LandwirtInnen bei
trägt. Weil, so der bleibende Eindruck: Wenn
wieder was passiert, springt ohnehin der
Staat ein.
Erstes EU-Hilfspaket – 500 Mio Euro
Davon wurden in Österreich sieben Mio € als
„besondere Marktstützungsmaßnahme für
Erzeuger“ der Sektoren Schweinefleisch und
Milch als direkte Beihilfe ausbezahlt. Diese
Zuschüsse haben die Marktlage nicht ver
bessert. Zusätzlich gab es Preisstützungs
maßnahmen in Form von Beihilfen für die
private Lagerhaltung von Schweinefleisch,
die den Markt entlasten sollten. Der Preis für
Schweine fleisch hat sich tatsächlich inzwi
schen erholt, wobei vor allem die Grillsaison
und der Appetit im Asiatischen Raum dafür
gesorgt haben, dass für heuer wahrschein
lich keine zusätzlichen Subventionen in diese
Branche fließen.
Zweites Milch-Hilfspaket zum Jahresende 2016Die Milchmenge am Europäischen Markt ist
weiterhin zu hoch – darüber herrscht Einigkeit
zwischen den Mitgliedstaaten. Während über
legt wurde, wie Angebot und Nachfrage am
Markt einander angenähert werden könnten,
haben einige MilchproduzentInnen trotz Preis
tiefs ihre Produktionsmengen ausgeweitet.
Ihre betriebswirtschaftliche Sicht der Dinge
war, den Umsatz zu steigern in der Hoffnung,
zumindest die Kosten zu decken. 2015 be
trug der Anstieg der Milchproduktion in der
gesamten EU 2,1%. Nach monatelanger
Diskussion auf Brüsseler Ebene kamen die
AgrarministerInnen mit einem weiteren 500
Mio €Milchpaket erfolgreich nach Hause.
Österreichs LandwirtInnen werden davon
5,863 Mio € als „außergewöhnliche Anpas
sungsmaßnahme“ fix bekommen und einen
noch nicht bekannten Teil, der für die EUweite
Milchreduktionsmaßnahme beantragt werden
kann. MilcherzeugerInnen erhalten eine Bei
hilfe4, wenn sie ihre Lieferung reduzieren.
Damit soll EUweit eine Produktionsmenge
von etwas mehr als 1 Mio Tonnen „herausge
kauft“ werden. Ob die gesamte Milchmenge
am Markt tatsächlich um diesen Betrag verrin
gert wird, hängt nicht nur von der freiwilligen
Teilnahme ab. Falls sich der Milchpreis erholt
– und das zeichnet sich bereits jetzt, vor dem
Beginn dieser Aktion, ab – könnten jene, die
nicht am Programm teilnehmen, ihre Produk
tion ankurbeln, was letztlich ein mengenmä
ßiges Nullsummenspiel mit hohem Einsatz
bedeuten könnte. Es gibt ein beachtliches
Produktionspotenzial, und sobald der Milch
preis wieder steigt, könnten auch die Mengen
weiter in die Höhe gehen. Ein Teufelskreis, der
auch mit dieser Maßnahme nicht in den Griff
zu bekommen ist. Privatrechtliche Verträge
zwischen MilcherzeugerInnen und Milchver
arbeiterInnen, die das Marktgleichgewicht an
streben, sind bisher gescheitert. Eine andere
Möglichkeit, die Ausweitung der Produktions
mengen zumindest nicht mehr zu subventio
nieren wäre, Steuergelder für die Investitions
förderungen in Stallbauten nur bis zu einer
Die öffentliche Hand begleicht annähernd 80% der Zahlungen an das Pensionssystem der Sozialversicherung der Bauern.
Seite 20 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
bestimmten Größe bereitzustellen. Dadurch
sollten Betriebe, die ihre Produktionskapazität
deutlich erhöhen wollen, ihre Kosten selbst
tragen. Diese Idee stößt allerdings in Öster
reich auf heftigen Widerstand. Denn es gab
und gibt großes Interesse die Milchproduk
tion weiter auszubauen. Seit dem EUBeitritt
ist in Österreich die Milchproduktion enorm
gestiegen. Der Selbstversorgungsgrad von
Milch liegt bei 150%. Auf den Exportmärkten
konnten diese Mengen nicht in ausreichendem
Maße abgesetzt werden. Mehr Milchprodukte
können die europäischen KonsumentInnen
nicht verdauen. Am niedrigen Milchpreis, den
die MilcherzeugerInnen von ihren Molkereien
ausbezahlt bekommen, sind nicht die Steuer
zahlerInnen schuld.
Einkommensversicherung mit Steuergeld für die Zukunft?
Schätzungen für die Zukunft bringen gute
und schlechte Nachrichten: Einerseits gibt
es positive Signale für die Welternährung.
So schätzt das U.S. Department of Agricul
ture (USDA) die kommende WeltMaisernte
auf annähernd 1 Milliarde Tonnen und die
WeltWeizenernte auf 740 Mio Tonnen, was
eine Steigerung im Zehnjahresmittel um 16%
bzw. 8% bedeutet. Die wachsende Weltbe
völkerung könnte ausreichend ernährt werden
– aber: Es ist und bleibt eine Verteilungsfrage.
Hohe Erntemengen bringen jedoch auch
Preisschwankungen und Einkommensun
sicherheiten für die LandwirtInnen mit sich.
Daher wird in letzter Zeit immer lauter über
Einkommensversicherungen nachgedacht.
Damit sollen nicht nur durch wetterbedingte
Risiken verursachte geringere Erntemengen
versicherbar werden, sondern auch Einkom
mensverluste bedingt durch niedrige Preise.
Die schlechte Nachricht dabei: Würde diese
neue Versicherung nicht zu einem kompletten
Umbau des Agrarsubventionssystems führen,
wäre mit enormen zusätzlichen Budgetmitteln
zu rechnen. Ideal wäre ein Modell, das sich
aus dem Agrarsektor selbst finanziert, sodass
zusätzliche Steuermittel nicht mehr aufge
bracht werden müssen. Denn die Frage ist
naheliegend, ob z.B. Steuer zahlerInnen mit
niedrigen Einkommen, wie VerkäuferInnen
oder LandarbeiterInnen, tatsächlich auch
Einkommen von großen Landwirtschaftsbe
trieben auf unbestimmte Zeit finanziell ab
sichern sollen.
1 Vgl. www.gruenerbericht.at S. 217, Tabelle 5.5.112 Vgl. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/ernteausfall-eu-mittel-bleiben-liegen-kosten-werden-sozialisiert/3 Vgl. https://bgld.lko.at/?+Details-zur-Abwicklung-der-Frostentschaedigung-bei-Obst-und-Wein+&id=2500,24577644 Vgl. https://www.ama.at/Allgemein/Presse/2016/Zwei-Beihilfemassnahmen-zur-Milchmengenreduktion
Auf die großen Einkommensunterschiede weist auch die Differenz zwischen dem Medianeinkommen und dem Durch-schnittseinkommen hin.
Seite 21 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
INNOVATIONSAKTIVITÄTEN IM UNTERNEHMEN: BRINGEN SIE AUCH VORTEILE FÜR DIE BESCHÄFTIGTEN?Die Chancen der österreichischen Wirtschaft – und damit auch die für die Zukunft der heimischen Arbeitsplätze – liegen im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung und zunehmenden Digitalisierung (Industrie 4.0) im Angebot innovativer und qualitativ hochwertiger Produkte und Dienst leistungen und nicht in einer kostenorientierten Strategie, die auf billige Massenprodukte, Lohndruck und niedri-ge Umweltstandards abzielt. Ein Land wie Österreich kann im globalen Wettbewerb nur über Qualität und technologischen Vorsprung bestehen. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie Innovati-onsaktivitäten sind daher auch in Zeiten eines relativ schwachen wirtschaftlichen Aufschwungs ohne Alternative.
Dass Innovation ein Schlüssel für die Schaffung
und Erhaltung von Arbeitsplätzen ist, konnte
bereits durch frühere Studien nachgewiesen
werden, wie z.B. durch die im Auftrag der
AK Wien 2013 veröffentlichten WIFOStudie
„Innovation und Beschäftigung“1, die nach
weisen konnte, dass insgesamt in Österreich
jährlich 19.000 neue Arbeitsplätze durch Inno
vation geschaffen werden.
Die ebenfalls im Auftrag der AK Wien und des
Bundesministeriums für Verkehr, Innovation
und Technologie vom Österreichischen Ins
titut für Wirtschaftsforschung (WIFO) durchge
führte Studie mit dem Titel „Die Wirkung von
Innovationsaktivitäten geförderter österrei
chischer Unternehmen auf die Belegschaft“2
geht noch einen Schritt weiter und untersucht
die Auswirkungen von Innovationsaktivitäten
eines Unternehmens für die gesamte Beleg
schaft hinsichtlich Arbeitsplatzstabilität und
Arbeitskräfteumschlag, Entlohnung und Be
legschaftsstruktur.
Um sich diesen Fragestellungen widmen
zu können, musste zwischen innovierenden
und nicht innovierenden Unternehmen (Ver
gleichsgruppe) unterschieden werden. Unter
der Annahme, dass innovierende Unter
nehmen i.d.R. auch Innovationsförderungen
in Anspruch nehmen, konnte mithilfe der
Daten der Forschungsförderungsgesellschaft
(FFG) zwischen innovationsgeförderten und
nichtinnovationsgeförderten Unternehmen
unterschieden werden. Dabei wurde erstmalig
für Österreich ein Datensatz erstellt, der Infor
mationen zu den Förderaktivitäten der Unter
nehmen sowie zu ihren unternehmens und
belegschaftsspezifischen Merkmalen ver
knüpft. Neben den Daten der FFG zu den ge
förderten Innovationsaktivitäten wurden auch
Daten der „AURELIADatenbank“ (Informati
onen zu Umsatzzahlen) und Daten des Haupt
verbandes der österreichischen Sozialversi
cherungsträger (HV) miteinander verknüpft.
Die Analysen beruhen auf einem Datensatz
von 224.781 Unternehmen (darin enthalten
sind 3.646 Unternehmen, die substanzielle4
Förderungen erhalten haben), die in den
Jahren 2000 bis 2014 tätig und jedenfalls im
Jahr 2014 aktiv waren. EinPersonenUnter
nehmen, Forschungsinstitute, Universitäten,
etc. wurden dabei nicht in den Datensatz auf
genommen.
Die Studie zeigt, dass von (geförderten) In
novationsaktivitäten nicht nur die innovie
renden Unternehmen selbst profitieren (hö
Von Miron Passweg, Arbeiterkammer Wien,
Abteilung Wirtschaftspolitik
Innovierende Unternehmen bieten ihren Beschäftigten vielfach bessere Arbeits-bedingungen.
Seite 22 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
heres Wachstum), sondern auch die Beleg
schaft. Darüber hinaus konnte nachgewiesen
werden, dass sogar Arbeitskräfte, die vormals
arbeitslos waren, bessere Chancen im Job
haben, wenn sie eine Beschäftigung in einem
innovierenden Unternehmen aufnehmen.
Konkret zeigt sich, dass …
n … Innovationen Wachstum bringen: Innovationstätigkeiten ziehen Veränderun
gen in der Belegschaftsstruktur nach sich.
Innovative Unternehmen wachsen stärker
(rund plus 2,5% gegenüber der Vergleichs
gruppe).
n … junge ArbeitnehmerInnen profitie-ren: Der Anteil junger Arbeitskräfte (15 bis
24 Jahre) steigt (plus 2,5%Punkte gegen
über der Vergleichsgruppe), während der
Anteil älterer Arbeitskräfte (ab 50 Jahre)
tendenziell abnimmt (minus 2,9%Punkte).
n … Männer bevorzugt werden: Es werden
mehr Männer als Frauen eingestellt, infol
gedessen sinkt der Frauenanteil an den
Beschäftigten (minus 2,3%Punkte gegen
über der Vergleichsgruppe).
n … höhere Qualifikation sich auszahlt: Die Anteile der Arbeitskräfte, vor allem mit
mittlerem und tendenziell auch mit gerin
gem Ausbildungsniveau gehen zurück –
zugunsten von höher qualifizierten Arbeits
kräften.
n … die Arbeitsplätze stabiler sind: Beschäftigte in innovativen Unternehmen
wechseln nicht so oft den Arbeitsplatz wie
jene in der Vergleichsgruppe.
n … ehemals arbeitslose Personen profi-tieren: Betrachtet man etwa die Beschäf
tigungsaufnahmen vormals Arbeitsloser in
innovierenden Betrieben, so wiesen diese
eine um rund neun Prozent längere Job
dauer auf.
n … innovative Unternehmen besser zah-len: Wer in einem innovierenden Unterneh
men aufgenommen wird, erzielt im Rah
men dieser Tätigkeit im Durchschnitt einen
um etwa 2% höheren Monatslohn als ver
gleichbare Personen in einem vergleich
baren nichtinnovierenden Betrieb.
Die Studie zeigt daher auf, dass innovie
rende Unternehmen ihren Beschäftigten viel
fach bessere Arbeitsbedingungen bieten als
nichtinnovierende. Gleichzeitig wird aber
durch die Studie auch deutlich, dass nicht
alle Beschäftigten gleichermaßen profitieren
und dass daher neben wirtschaftspolitischen
Maßnahmen, die die Innovationskraft von
Unternehmen unterstützen bzw. mehr Unter
nehmen dazu anregen Innovationsaktivitäten
zu setzen, insbesondere auch bildungs und
gesellschaftspolitische Maßnahmen not
wendig sind, damit in Zukunft auch Ältere,
weniger Qualifizierte und Frauen stärker profi
tieren können. Schritte in die richtige Richtung
wären beispielsweise die Einführung eines ge
setzlichen Rechtsanspruchs auf eine Woche
Weiterbildung pro Jahr in der bezahlten Ar
beitszeit, Qualifizierungsstipendien für Arbeit
nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ver
stärkte Maßnahmen zur Frauenförderung in
technischen und nichttraditionellen Berufen.
Nicht alle Beschäftigten profitieren jedoch gleichermaßen.
Bildungs- und gesellschaftspolitische Maßnahmen sind notwendig, damit in Zukunft auch Ältere, weniger Qualifi-zierte und Frauen stärker profitieren.
Seite 23 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
1 Vgl. https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/WirtschaftundPolitik/studien/Innovation_und_Beschaeftigung.html2 Julia BockSchappelwein, Rainer Eppel, Ulrike FamiraMühlberger, Agnes Kügler, Helmut Mahringer, Fabian Unterlass, Christine
Zulehner, „Die Wirkung von Innovationsaktivitäten geförderter österreichischer Unternehmen auf die Belegschaft“, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Mai 2016; im Internet unter: https://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/Innov___Arbeit_Studie_WIFO_Endbericht_201605_V2.pdf
3 Das heißt, Unternehmen, die nur Beratungsleistungen oder nur geringfügige finanzielle Förderungen erhalten haben, wurden aus der Analyse ausgeschlossen.
Studien, Kurzfassungen, Analysen und Hintergründe auf:
Genug vom Fischen im Trüben?
www.arbeit-wirtschaft.atHerausgegeben von AK und ÖGB
AW-Blog-Inserat-FISCHEN--Falter-A5quer-V01.indd 2 22.09.16 15:13
Seite 24 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
LEHREN AUS DER FINANZKRISE: REFORM DER ABSCHLUSSPRÜFUNG Die Finanzkrise 2008 hat das Vertrauen in die Qualität der Rechnungslegung und der Abschlussprü-fung massiv erschüttert. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurde auf europäischer Ebene eine Re-form der Abschlussprüfung mit dem Ziel beschlossen, einerseits die Unabhängigkeit der Abschluss-prüfer zu stärken, und andererseits die Qualität der Abschlussprüfung zu erhöhen. Die Änderungen betreffen vor allem kapitalmarktorientierte Unternehmen, das sind Banken, Versicherungen und börsennotierte Unternehmen. Im Rahmen der nationalen Umsetzung wurden zwei Gesetze beschlos-sen – das Abschlussprüfungsrechts-Änderungsgesetz (APRÄG) und das Abschlussprüferaufsichtsge-setz (APAG). Nachstehend die wichtigsten Neuerungen, die für Geschäftsjahre gilt, die nach dem 17.06.2016 beginnen.
Erstmals externe Rotation der Abschlussprüfer
Banken, Versicherungen und börsennotierte
Unternehmen sind erstmals verpflichtet, in
bestimmten Abständen den Abschlussprüfer
und Prüfungsgesellschaft zu wechseln. Es
gilt der Grundsatz, dass diese nicht länger als
über zehn Jahre hindurch mit dieser Tätigkeit
für die betroffenen Unternehmen beauftragt
werden sollen. Nach Ablauf der Übergangs
fristen kommt die externe Rotation erstmals
ab Juni 2020 (d.h. für Jahresabschlüsse mit
Abschlussjahr 2021) zur Anwendung. Be
troffen sind zunächst jene Unternehmen, die
zum 16. Juni 2014 mehr als 20 Jahre von der
selben Prüfungsgesellschaft geprüft wurden.
Nach vier Jahren „Abkühlphase“ kann die
Prüfungsgesellschaft wieder bestellt werden.
Der Wechsel des Abschlussprüfers inner
halb der Prüfungsgesellschaft ist bereits jetzt
geltendes Recht und betrifft neben den ka
pitalmarktorientierten auch die nicht börsen
notierten, sogenannten „XLUnternehmen“
(Umsätze >200 Mio Euro, Bilanzsumme >100
Mio Euro, ArbeitnehmerInnen >250). Die gel
tende Regelung, wonach ein interner Prüfer
wechsel nach fünf Jahren stattzufinden hat,
wurde um zwei Jahre auf sieben Jahre verlän
gert. Die „Abkühlphase“ wurde von zwei auf
drei Jahre verlängert.
Stärkung des Prüfungsausschusses durch zusätzlichen schriftlichen Bericht
Der Prüfungsausschuss (auch von nicht bör
sennotierten XLUnternehmen) wird stark auf
gewertet. Dieser bekommt einen zusätzlichen
schriftlichen Bericht zum Abschlussprüfbe
richt. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen
Abschlussprüfer und Prüfungsausschuss zu
verbessern. Der Zusatzbericht hat u.a. zu ent
halten:
n Umfang und Zeitplan der Prüfung,
n Kommunikation mit dem Prüfungs
auschuss,
n Prüfungsmethoden,
n Bewertungsmethoden,
n Mängel im internen Finanzkontroll oder
Rechnungslegungssystem,
n Schwierigkeiten, die während der
Abschlussprüfung aufgetreten sind,
n Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften
sowie
Von Helmut Gahleitner, Abteilung Wirtschaftspolitik
und Markus Oberrauter, Abteilung Betriebswirtschaft, beide Arbeiterkammer Wien
Banken, Versicherungen und börsen-notierte Unternehmen sind erstmals verpflichtet, Abschlussprüfer und Prü-fungsgesellschaft zu wechseln.
Seite 25 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
n sonstige Sachverhalte, die für die Auf
sicht über den Rechnungslegungsprozess
bedeutsam sind.
Der schriftliche Zusatzbericht wird damit eine wichtige Ergänzung zum Abschlussprüfbericht darstellen und ist die wichtigste inhaltliche Neuerung.
Nichtprüfungsleistungen nur mit Zustimmung des Prüfungsausschusses
Um die Unabhängigkeit des Abschlussprü
fers zu verbessern, wurde die Erbringung
von zusätzlichen Nichtprüfungsleistungen
(z.B. Steuerberatungs oder Bewertungsleis
tungen) durch den Abschlussprüfer weitge
hend eingeschränkt. Darüber hinaus bedürfen
die noch erlaubten Beratungsleistungen der
vorherigen Zustimmung durch den Prüfungs
ausschuss. Der Prüfungsausschuss muss
hierbei die europäischen Unabhängigkeits
bestimmungen beachten, dazu zählen etwa
bestimmte Obergrenzen für das Gesamt
honorar (max. 70% des Durchschnitts der
Prüfungshonorare der letzten drei Jahre). Die
Bestimmungen zu den Nichtprüfungsleis
tungen gelten nur für Banken, Versicherungen
und börsennotierte Unternehmen. Für die
genannten kapitalmarktorientierten Unter
nehmen sind noch weitere neue Regelungen
vorgesehen: So muss der Prüfungsausschuss
insgesamt mit dem Unternehmenssektor ver
traut sein und ist künftig verpflichtet, Empfeh
lungen zur Überwachung des Rechnungsle
gungsprozesses abzugeben. Erweitert wurde
auch der Bestätigungsvermerk für Banken,
Versicherungen und börsennotierte Unter
nehmen. Hierbei geht es vor allem um die Be
urteilung von Risiken aufgrund wesentlicher
Falschdarstellungen.
Befreiungsbestimmungen für XL-Unternehmen
Hält das Mutterunternehmen unmittelbar oder
mittelbar mehr als 75% der Anteile (bislang
100%), und werden die Pflichten des Prü
fungsausschusses auf Konzernebene erfüllt,
ist bei großen, nicht börsennotierten XLUn
ternehmen (Größenkriterien siehe oben) kein
Prüfungsausschuss einzurichten. Wird die Be
freiung in Anspruch genommen, dann ist der
Zusatzbericht des Abschlussprüfers sowohl
dem Mutterunternehmen als auch dem Auf
sichtsrat des Tochterunternehmens zu über
mitteln. Besteht der Aufsichtsrat eines XLUn
ternehmens aus weniger als vier Mitgliedern
(Kapitalvertreter), ist kein Prüfungsausschuss
einzurichten. In diesem Fall nimmt der Ge
samtaufsichtsrat die Agenden des Prüfungs
ausschusses wahr.
Neue unabhängige Abschlussprüfer-Aufsichtsbehörde
Neben diesen umfangreichen inhaltlichen
Änderungen wurde auch das System der Ab
schlussprüferaufsicht grundlegend auf neue
Beine gestellt. Die Aufsicht und das Quali
tätssicherungssystem für Abschlussprüfer
wurden im Rahmen des neu geschaffenen Ab
Erweitert wurde auch der Bestätigungs-vermerk für Banken, Versicherungen und börsennotierte Unternehmen in Bezug auf die Beurteilung von Risiken aufgrund wesentlicher Falschdarstellungen.
Die neue Abschlussprüfer-Aufsichtsbe-hörde unterliegt verschärften Unabhän-gigkeitserfordernissen und verfügt über mehr Kompetenzen.
Ein Zusatzbericht zum Abschlussprüferbericht soll zur Ver-besserung der Kommunikation zwischen Abschlussprüfer und Prüfungsausschuss beitragen.
Seite 26 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
schlussprüferAufsichtsgesetzes (APAG) um
organisiert, welches das bisherige Abschluss
prüfungsQualitätssicherungsgesetz (AQSG)
ersetzt. Im Mittelpunkt steht die Schaffung
einer eigenen, letztverantwortlichen und un
abhängigen Behörde. Diese neue „Abschluss
prüferAufsichtsbehörde (ABAB) übernimmt
die Aufgaben der bisherigen Behörden und
unterliegt verschärften Unabhängigkeitserfor
dernissen im Verhältnis zum Berufsstand und
verfügt über mehr Kompetenzen.
Angesichts der erheblichen öffentlichen und
volkswirtschaftlichen Bedeutung, die Unter
nehmen von öffentlichem Interesse (PIEs oder
Public Interest Entities) aufgrund des Umfangs,
der Komplexität und der Art ihrer Geschäftstä
tigkeit zukommt, werden an Abschlussprüfer
und Prüfungsgesellschaften, die PIEs prüfen,
strengere Maßstäbe als bisher angelegt.
Regelmäßige Inspektionsprüfungen bei PIEsZusätzlich zu den geltenden Qualitäts siche
rungsprüfungen unterliegen die PIEs auch
regelmäßigen Inspektionsprüfungen. Diese
werden durch berufsunabhängige, bei der Be
hörde angestellte, Inspektoren durchgeführt.
Darüber hinaus können auch Berufsangehö
rige, insbesondere Qualitätssicherungsprüfer,
bei den Inspektionen als Sachverständige
mitwirken.
Fazit
Nach langjähriger Debatte wurden nun mit
den beiden Gesetzen auch im Bereich der
Abschlussprüfung erste Lehren aus der
Finanzkrise gezogen. Die Neuregelungen
(insbesondere die externe Rotation) stärken
die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers
und erweitern die Aufgaben des Aufsichtsrats
bzw. des Prüfungsausschusses. Als neues
wertvolles Instrument für AufsichtsrätInnen
wird sich der neue schriftliche Zusatzbericht
im Prüfungsausschuss erweisen.
WIRTSCHAFTSPOLITIK – STANDPUNKTE
Meinung, Position, Überzeugung. Der digitale Newsletter der Abteilung
Wirtschaftspolitik in der Wiener Arbeiterkammer behandelt Aspekte der
Standort politik, des Wirtschaftsrechts, der Regulierung diverser Branchen
und allgemeine wirtschaftspolitische Fragestellungen aus der Perspektive
von ArbeitnehmerInnen.
Kostenlose Bestellung und alle Ausgaben unter:wien.arbeiterkammer.at/wp-standpunkte
Nr X | Monat 0000
WirtschaftspolitikStandpunkte
EDITORIAL
Ciatiam quatem quis ut porecti commolupit dem qui aut aut aut la ipsam aut
acipsunt a voloriame il eum voluptat doluptaquame eos estiis sed utetur?
Quiant vellacc uptatum voleni aut labores tiorepu daessim invent.
Bisquam sin repedic te est estis dolendam, ut evellup taquam ditiasp erisinvel
illorrum quam esed maximi, qui resectes dolupidunt magnis sit, alicabo. Ut
facepta vernam quia doluptus autent.
Molut hilit quam nisquos pratem quodiatiis enitecta etus plis aspis doluptae
sam quia nem ullanient alitia nissequam is peribustrum cuptatet aperspe lla-
bor aborit volenim illoribus modi dollupta num vendisque non non comnitatur
ari omniendus, assitae dem reror sunt ped quam, sit maximax imaximi, se-
quae cusam nimi, veremol orempor aperit aliquatur si omnis et eossinveliti
id ulpa si odios alias modions erspell aborro etur acidel iligenihit que dolore,
sum as veles endigendel excepere, venia veni quunt eum lab ius mi, non cor-
pore porumquo blab iur, que neseces citatur am, tem voluptatur sam fugitios
imperum renis nost faccation porum hitas modignam ipsam, tectaer uptam,
audi officil eaquis sinctist late eumquassimi, officiur mintur molumque illes
quamusda et, erum venimol uptatiume pa nullati onsersped ma doluptatur
sequo id es exerovi tempore pudament rerum a con estrumquas core sit etur
ani utatio consendi temquo estoris doluptaspe quas aut et liquo ipsunti non-
sequam adigenima non cuscipsamus quo ex et molorec tectota tquunt.
Onsequam et evenda quia dist, utat.
Cus aut etusae voluptio. Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt liquo
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cit ped moditiorem dolo volorepe nobis sit omnihicium reribus discillitat
Abo und Download wien.arbeiterkammer.at/wp-standpunkte
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Onsequam et evenda: Nam aciae por assimusdam rem quunt 6
Molut hilit quam: Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt 10
Onsequam et evenda? Nam por assimusdam rerum rem quunt 15
Assimusdam: Nam aciae assimusdam rerum rem quunt 19
Assimusdam Molut: Unternehmenszusammen- schlüsse 2015 27
Molut hilit quam: Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt 31
Onsequam et evenda: Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt 35
Assimusdam: Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt 38
Onsequam et evenda: Nam aciae por assimusdam rerum rem quunt? 43
WirtschaftspolitikStandpunkte erscheint 4mal jährlich und wird per Email versandt.
Die gesetzlichen Neuregelungen stärken die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und erweitern die Aufgaben des Auf-sichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses.
Seite 27 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
SOZIALES EUROPA: AUFBRUCH ODER ABBRUCH?1
Europa – oder richtiger die Europäische Union – ist in keiner guten Verfassung. Seit Jahren befindet sie sich im Krisenmodus. Und nicht nur das, es werden immer mehr statt weniger Krisen – und sie vertiefen sich.
Verantwortlich dafür sind auch die falschen
Krisenrezepte einer rigiden Austeritätspolitik.
Für alle Mitgliedstaaten gilt, dass die Schere
zwischen Arm und Reich seit dem Krisen
ausbruch im September 2008 weiter ausei
nander klafft. Seitdem nimmt die Armut im
weltweit reichsten Kontinent zu. Es gibt mehr
als 22 Millionen Arbeitslose – davon 4,5 Milli
onen Jugendliche. Die Regionen Europas ent
wickeln sich auseinander statt weiter zusam
menzuwachsen. Seit gut zehn Jahren wächst
die wirtschaftliche und soziale Divergenz in
und zwischen den Mitgliedstaaten der Union.
Mit ihr bröckelt die Solidarität zwischen den
Mitgliedstaaten der Union. Stattdessen er
leben wir die Renaissance einer Politik der
Kleinstaaterei, die nationale Stereotypen und
Egoismen befeuert. Das Ergebnis: Das Ver
trauen der Bürger in das großartige Integra
tionsprojekt Europa und in die Institutionen
der EU schwindet unablässig. Die Europä
ische Union befindet sich in der schwersten
Vertrauens und Legitimationskrise ihrer Ge
schichte.
Die Flucht von Hunderttausenden Menschen
vor Krieg und Armut, oft und zu Unrecht als
„Flüchtlingskrise“ betitelt, trägt ihrerseits dazu
bei, die Spannungen in den Ländern Europas
und zwischen den Ländern zu verstärken.
Wie ein Flächenbrand tobt das Nebeneinander
von Wirtschafts, Sozial, Vertrauens und po
litischer Legitimationskrise durch Europa und
droht in eine schwere Integrationskrise zu es
kalieren, die Europas Zusammenhalt in Frage
stellt. Die Ausschluss bzw AusstiegsDe
batte zieht immer weitere Kreise. Erst war es
der Grexit, der Ausschluss Griechenlands,
der bis heute diskutiert wird. Hinzu kam der
Brexit, der Ausstieg Großbritanniens aus der
Europäischen Union, den eine Mehrheit der
britischen Bevölkerung am 23. Juni 2016 be
fürwortet hat.
In den multiplen Krisen Europas sehen heute
viele die Überlebensfähigkeit der EU ge
fährdet. Debattiert wird über die Form des
möglichen Scheiterns.
Dabei ist die notwendige Debatte eine völlig
andere: Wie wird Europa wieder handlungs
fähig? Wie schafft man wieder Vertrauen in
dieses großartige Projekt? Was ist notwendig,
um die großen Herausforderungen unserer
Zeit zu bewältigen, wie die Folgen der be
schleunigten Globalisierung, oder die Digita
lisierung, die schon lange die Arbeitsplätze
erreicht haben und zu einem rasanten Wandel
in der Arbeitswelt führen? Die Antwort liegt in
einem der Gründungsversprechen Europas,
das seit Jahren immer weniger realisiert wird:
Ein sozialeres Europa mit mehr Zusammen
halt.
Trotz weiterhin bestehender Unterschiede
zwischen den Wohlfahrtssystemen der Mit
gliedstaaten ist es über die Jahre gelungen,
die Konturen eines europäischen Sozialmo
dells zu schärfen, das zahlreiche gemein
same Merkmale aufweist: soziale Siche
rungssysteme, gesetzlich und tarifvertraglich
geregelte Arbeitsbedingungen zum Schutz
der Beschäftigten, Beteiligungs und Mit
bestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen
Von Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen
Gewerkschaftsbundes
Die Regionen Europas entwickeln sich auseinander, statt weiter zusammenzuwachsen.
Seite 28 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
und Arbeitnehmer und ihrer Interessens
vertreterInnen, der soziale Dialog zum Aus
gleich der Interessen zwischen Kapital und
Arbeit und die Bereitstellung gemeinwohlo
rientierter öffentlicher Dienstleistungen von
allgemeinem Interesse. Gerade deshalb galt
Europa lange Zeit für viele als „soziales Re
ferenzmodell“ für eine faire Globalisierung,
die wirtschaftlich und sozial erfolgreich war.
Europa war mehr als eine „Freihandelszone“
und daher für viele andere Wirtschaftsregi
onen attraktiv.
Seit den Erweiterungsrunden der letzten Jahre
um die Staaten Mittelost und Südosteuropas
haben aber die Unterschiede in der ökonomi
schen Integrationsfähigkeit und politischen
Integrationswilligkeit zugenommen. Hinzu
kamen die Webfehler der Europäischen Wäh
rungsunion, die ausschließlich auf Geldpolitik
fixiert ist und die dringend notwendige Koor
dinierung der Wirtschafts und Fiskalpolitik
ausblendet. Zusammen mit der verfehlten Kri
senpolitik hat Europa seine sozialpolitischen
Handlungs und Gestaltungsmacht fahrlässig
verspielt. Und schließlich führt eine weitge
hende Fokussierung der Kommission auf die
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dazu,
dass die Konkurrenzfähigkeit der Mitglied
staaten heute vor allem an Lohn und Lohn
stückkosten festgemacht wird. Nachdem die
Möglichkeiten der Wechselkursanpassungen
innerhalb der Europäischen Währungsunion
entfallen waren, wurde der interne Abwer
tungsdruck auf die Arbeits und Sozialkosten
drastisch erhöht.
Das hat in den letzten Jahren dazu beige
tragen, dass die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten sich mehr und mehr von
ihrem gemeinsamen Anspruch verabschiedet
haben, den sozialen Zusammenhalt zu för
dern und zugleich Gestalter einer fairen Glo
balisierung zu sein. Das ist die wesentliche
Krise des politischen Europa: Der fehlende
Mut, entgegen dem weltweiten neoliberalen
Mainstream den Anspruch einer sozialen Ge
staltung konsequent zu verfolgen.
Dabei zeigt sich längst empirisch, dass das
neoliberale Modell gescheitert ist. OECD und
IWF wiesen jüngst erneut darauf hin, dass
sich der Grad der Ungleichheit zu einem nicht
nur gesellschaftlichen und sozialen, sondern
einem enormen wirtschaftlichen Problem ent
wickelt hat. Nur mit einem klaren Kurswechsel
können wir aus der Krise eine Chance machen
und das europäische Einigungswerk weiter
entwickeln.
Wenn Europa das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger zurückgewinnen will, muss Brüssel
endlich dem Primat der Politik Vorrang vor dem
Primat des Marktes einräumen und den sozi
alen Zusammenhalt und die soziale Demokratie
in das Zentrum der Politik rücken. Nur durch
eine nachhaltige Verbesserung der Lebens
und Arbeitssituation der Menschen sowie eine
Stärkung demokratischer Prozesse in der EU,
wird es gelingen, das Vertrauen der Menschen
in die Europäische Union wiederzugewinnen.
„Gute Rechtsetzung“ muss aber die inten
dierten Zielsetzungen z.B. zum Schutz der
Beschäftigten, der VerbraucherInnen oder der
Umwelt auch wirksam erfüllen können und
darf nicht einseitig der Wettbewerbsfähigkeit
geopfert werden. Ein gemeinsamer Markt
braucht zwingend europäische Regeln. Eine
einseitige Entlastung der Unternehmen führt
zwangsläufig zur Belastung von Arbeitneh
merinnen und Arbeitnehmern. Europäisches
Recht im Bereich des Arbeits und Gesund
heitsschutzes, die europäische Arbeits
zeitrichtlinie oder europäische Richtlinien im
Es gibt mehr als 22 Millionen Arbeitslose – davon 4,5 Millionen Jugendliche.
Seite 29 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
Bereich der Informations, Konsultations und
Mitbestimmungsrechte sind keine bürokrati
schen Hemmnisse sondern ein Wettbewerbs
vorteil; auch weil sie die Unternehmen vor un
lauterem Wettbewerb schützen. Sie sind aber
vor allem soziale Schutzrechte, die angesichts
des Wandels in der Arbeitswelt dringend wei
terentwickelt werden müssen.
Dazu gehört ein soziales Fortschrittsproto
koll, wie es die Gewerkschaften seit Jahren
fordern. Mit diesem Protokoll muss dafür ge
sorgt werden, dass die sozialen Grundrechte
Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten
haben.
Vor dem Hintergrund der sozialen Verwer
fungen und zunehmender Ungleichheit hat
die JunckerKommission Anfang März diesen
Jahres eine breite StakeholderKonsultation
über eine europäische Säule sozialer Rechte
gestartet und damit vorsichtig, aber immerhin
einen neuen Kurs vorgeschlagen. Vom Euro
päischen Gewerkschaftsbund wurde die In
itiative begrüßt, die sozialpolitisch einerseits
ambitioniert, aber auch widersprüchlich ist.
Positiv zu bewerten ist, dass die europäische
und nationale Sozialpolitik als produktiver
Faktor anerkannt wird, die in Krisenzeiten zur
makroökonomischen Stabilisierung beitragen
kann. Folgerichtig wird hervorgehoben, dass
die sozialpolitischen Ziele der EU nicht den
fiskalpolitischen Zielen untergeordnet werden
sollen.
Das aber würde im Ergebnis bedeuten, dass
sich die EUKommission endlich von der Aus
teritätspolitik verabschiedet, die so viele Men
schen ins ökonomische und soziale Elend ge
stürzt hat. Es wird auch festgestellt, dass sich
die Vermögens und Einkommensungleich
heit langfristig negativ auf das potentielle
Wachstum auswirkt, und sich damit Chance
nungleichheit weiter verfestigt.
Gerade in der digitalen Arbeitswelt der Zu
kunft brauchen wir europäische Spielregeln,
wenn die Chancen, die mit der Digitalisierung
verbunden sind, genutzt werden sollen und
der Gefahr einer digitalen Prekarisierung ent
gegengewirkt werden sollen. Flexible Arbeits
welten der Zukunft erfordern unter anderem
eine Bildungsoffensive, mehr Mitbestimmung
und einen besseren Arbeits und Gesund
heitsschutz, um die Risiken, die mit der Digi
talisierung verbunden sind, zu begrenzen und
um die Chancen, beispielsweise für mehr
Zeitsouveränität der Beschäftigten, zu nutzen.
Aber auch hier zeichnet sich ab, dass die
Kommission an vielen Stellen mehrdeutig ist
und keinen klaren Kurs verfolgt. So wird bei
spielsweise naiv und unkritisch das „Flexicu
rity“Konzept gepriesen, wonach die Arbeits
märkte flexibler werden sollen, dafür aber bei
Erwerbslosigkeit eine bessere Absicherung
gelten soll. Wohin das führt, zeigt die Massen
arbeitslosigkeit und die wachsende Armut in
vielen südeuropäischen Ländern. Dieses Kon
zept hat sich nicht erst seit der Finanzmarkt
krise als Deregulierungskonzept in vielen Mit
gliedsländern entpuppt und die wachsende
Ungleichheit massiv befördert.
Ein weiterer Vorschlag ist, das gesetzliche
Rentenalter an die Lebenserwartung zu
binden. Wie aber Menschen bis ins hohe Alter
gesund arbeiten sollen, wie sie überhaupt
Arbeit finden sollen in einem Europa, das in
vielen Ländern keine Arbeit bietet, steht dort
nicht.
Zugespitzt geht es darum, ob sich unsere Ar
beits und Sozialrechte der Globalisierung un
Die wesentliche Krise des politischen Europa ist der fehlende Mut, entgegen dem welt-weiten neoliberalen Mainstream den Anspruch einer sozialen Gestaltung konsequent zu verfolgen.
Seite 30 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016
terordnen, oder ob es gelingt, faire Spielregeln
für einen europäischen Arbeitsmarkt durchzu
setzen.
Die dringend notwendige Debatte über ein so
ziales Europa darf nicht auf die Arbeits und
Sozialpolitik begrenzt werden. Dazu gehört
auch die Handelspolitik der EU. Handelsab
kommen haben neben der ökonomischen
Bedeutung eine immense gesellschaftspoli
tische Dimension, und Handel ist seit vielen
Jahrzehnten der zentrale Treiber der Globali
sierung. Mit der Globalisierung sind durchaus
beachtliche Wohlfahrtsgewinne realisiert
worden. Zugleich sind die Gewinne immer
ungleicher verteilt. Lediglich drei Prozent der
Weltbevölkerung verfügen über 90 Prozent
der Vermögen – so sieht Gerechtigkeit nicht
aus. Internationale Handelsabkommen haben
den Druck auf Sozial und Umweltstandards
erhöht. Notwendig ist eine Abkehr von der
neoliberalen Handelspolitik, damit Umwelt,
Verbraucher sowie Arbeits und Sozialstan
dards auf hohem Niveau global weiterentwi
ckelt werden können.
Gerade die EU – wenn sie denn wieder ein
„soziales Referenzmodell“ für andere Wirt
schaftsregionen werden will – muss ihre Han
delsbeziehungen aus dem kolonialistischen,
feudalistischen Gedanken lösen. In den öffent
liche Debatten und dem zivilgesellschaftlichen
Protest gegen die von der EU verhandelten
Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und
Kanada (CETA) haben die Gewerkschaften
klare Anforderungen an einen gerechten
Welthandel gestellt. Dazu gehört zwingend,
dass es keine weitere neoliberale Privatisie
rung der öffentlichen Daseinsvorsorge gibt,
und dass mindestens die Kernarbeitsnormen
der ILO in den beteiligten Ländern ratifiziert
werden müssen.
Ob ein sozialer Aufbruch gelingt, hängt nicht
lediglich von einem Kurswechsel in der euro
pä ischen Arbeits und Sozialpolitik ab. Er muss
mit einer anderen Wirtschaftspolitik unterfüt
tert werden, die auf nachhaltiges Wachstum
und ökologische Modernisierung setzt. Der
europäische Investitionspakt, verbunden mit
einer innovativen Industrie und Klimapolitik,
ist ein weiterer wichtiger Baustein. Ebenso be
darf es einer europäischen Steuerpolitik, die
Steuerdumping und Steuer flucht wirksam be
kämpft. Mit einem intelligenten Policymix, der
den sozialen Zusammenhalt, die wirksame
Bekämpfung von Arbeits losigkeit und Armut
in den Mittelpunkt stellt, kann das Vertrauen
der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu
rückgewonnen werden. Mit einem Europa der
Weltoffenheit und Toleranz können wir die eu
ropafeindlichen und nationalistischen Bewe
gungen in ihre Schranken zurückweisen.
1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte (und aktualisierte) Fassung des Artikels „Für eine soziale Zukunft Europas“ (erschienen in der FAZ am 10.06.2016; der ungekürzte Text ist abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/zerfaellteuropa/zerfaellteuropa9fuereinesozialezukunfteuropas14270880.html)
Es geht darum, ob sich unsere Arbeits- und Sozialrechte der Globalisierung unterordnen, oder ob es gelingt, faire Spielre-geln für einen europäischen Arbeitsmarkt durchzusetzen.
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HARTZ IV UND DAS HAMSTERRAD VON ERWERBSARBEITSLOSEN UND BESCHÄFTIGTENFür marktliberale ÖkonomInnen ist die Sache klar. Der gründliche Umbau der Arbeitslosen- und So-zialhilfe, wie ihn die deutsche Regierung unter dem Kanzler Schröder zum Beginn der Nullerjahre betrieben hat, sei ein Erfolgsmodell. Die sogenannten „Hartz-Reformen“ haben den „Anspruchslohn“ gesenkt und dadurch Stellen geschaffen. Tatsächlich sinkt die Erwerbslosigkeit in Deutschland seit Jahren kontinuierlich und die Zahl der Erwerbstätigen ist mit über 43 Millionen auf ein Rekordniveau gestiegen. Doch es gibt einen hohen Preis des vermeintlichen „deutschen Jobwunders“.
Prekäre Vollerwerbsgesellschaft
Zunächst gilt es mit einer Legende aufzu
räumen: Immer wieder hört man, Hartz IV
habe Arbeit geschaffen. Hartz IV, das ist
die Bezeichnung für ein Gesetz, das nicht
nur die Absenkung des Regelsatzes für
Langzeit erwerbslose auf Sozialhilfeniveau
regelt, sondern auch ein soziales Recht (Ar
beitslosenhilfe) in einen Fürsorgestatus mit
strengen Zumut barkeitsregeln verwandelt
hat. Leistungen erhalten Bedürftige nur für
Gegen leistungen („Fordern und Fördern“); sie
müssen durch Eigen aktivität – etwa Bewer
bungen auf nahe zu jede Art von Erwerbsarbeit
– nachweisen, dass sie der Sozialtransfers
würdig sind. Geschieht das nach Ansicht der
Arbeitsverwaltung nicht ausreichend, können
Sanktionen verhängt und Leistungen verwei
gert oder gekürzt werden.
Dieses Regime strenger Zumutbarkeit, das
einen Qualifikationsschutz nicht mehr kennt,
Maximalgrößen von Wohnraum vorschreibt
und Leistungen nur für Bedarfsgemein
schaften gewährt, greift tief in die Lebensfüh
rung der Betroffenen ein. Es fordert die Eige
ninitiative, maximiert aber zugleich die büro
kratische Kontrolle der Leistungsempfänge
rInnen. Zusätzliche Erwerbsarbeit geschaffen
hat Hartz IV jedoch nicht.
Betrachten wir die Fakten: Arbeitete eine
durchschnittliche lohnabhängige Person 1991
im Jahr 1.473 Stunden, so waren es 2013 nur
noch 1.313 Stunden. Zwar hat das Arbeits
volumen nach 2005 wieder zugelegt; die Zahl
der Erwerbstätigen ist jedoch in den meisten
Jahren deutlich rascher gestiegen. Beschäf
tigungsaufbau erfolgt in hohem Maße über
eine Integration insbesondere weiblicher Ar
beitskräfte in prekäre DienstleistungsJobs.
Nicht nur die offiziell registrierte Erwerbs
losigkeit sinkt, auch die geschützte Vollzeit
beschäftigung ist seit den 1990erJahren auf
dem Rückzug. Von 1991 knapp 29 Mio. ist
sie 2014 auf ca. 23,5 Mio. Vollzeitbeschäf
tigte zurückgegangen. Zugenommen haben
hingegen Leiharbeit, Soloselbstständigkeit,
Teilzeit arbeit, geringfügige Beschäftigung und
Werkvertragsvergaben. Der Niedriglohnsektor,
dessen Frauenanteil über 62% liegt, umfasst
kontinuierlich zwischen 22% und 24% der
Beschäftigten (2013: 8,1 Mio.).
Weil der Lohn im Hauptberuf zur Sicherung
des Lebensstandards nicht ausreicht, nimmt
das Phänomen der „MultiJobber“ zu. Mit
anderen Worten: Ein in Relation zur Zahl der
Erwerbstätigen schrumpfendes Volumen an
bezahlter Erwerbsarbeit wird asymmetrisch
auf eine größere Zahl von Beschäftigten ver
teilt. Das deutsche Jobwunder besitzt somit
eine dunkle Seite. Entstanden ist keine
Vollbeschäftigungs, sondern eine prekäre
Von Klaus Dörre, Professor für Arbeits,
Industrie und Wirtschaftssoziologie an
der Friedrich SchillerUniversität Jena
Hartz IV fordert Eigeninitiative, maximiert aber zugleich die bürokratische Kontrolle der LeistungsempfängerInnen – zusätzliche Erwerbsarbeit geschaffen hat das Modell jedoch nicht.
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Vollerwerbsgesellschaft, die Erwerbslosigkeit
auf Kosten geschützter Vollzeitbeschäftigung
und mittels Expansion unsicherer, gering ent
lohnter, wenig anerkannter Erwerbsarbeit zum
Verschwinden bringt.
Der Leistungsbezug als permanente Bewährungsprobe
Doch warum funktioniert die Mobilisierung
für prekäre Arbeit? Eine Antwort ergibt sich
aus der Funktionsweise des aktivierenden Ar
beitsmarktregimes. In ihm wird der Leistungs
bezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zur
permanenten Bewährungsprobe, bei der sich
entscheidet, ob der Sprung in die Gesellschaft
der respektierten Bürgerinnen und Bürger ge
lingt. Der Leistungsbezug wird als Wettkampf
inszeniert, bei dem die jeweils Erfolgreichen
die Norm vorgeben, an der sich auch dieje
nigen zu orientieren haben, die den Sprung in
bessere Verhältnisse vorerst nicht geschafft
haben.
Je schwieriger die Arbeit mit den Erwerbs
losen wird, desto eher neigen Arbeitsverwal
tungen dazu, die Verantwortung bei den Leis
tungsbezieherInnen zu suchen. Selbst nach
Zielvereinbarungen geführt, konzentrieren
sich viele Sachbearbeiter zunächst auf jene
„KundInnen“, die leicht zu vermitteln sind. Ist
diese Gruppe in Erwerbsarbeit, verbleiben nur
noch die schwierigeren Fälle. Zugleich steigt
die Neigung der Sachbearbeiter, den ver
bliebenen „KundInnen“ Vertragsverletzungen
vorzuhalten. Wer lange im Leistungsbezug
verharrt, der verhält sich in den Augen von
Sachbearbeitern geradezu antiemanzipato
risch, weil er sich mit einem unwürdigen Für
sorgestatus arrangiert.
Zirkulare Mobilität anstelle von Aufwärtsmobilität
Die LeistungsbezieherInnen sehen das völlig
anders: In ihrer großen Mehrzahl arbeiten sie
aktiv daran, aus dem Leistungsbezug heraus
zukommen. Das Bild von der passiven Unter
schicht, der das Aufstiegsstreben abhan
den gekommen ist, entspricht nach unseren
Forschungen nicht der Realität. Eine große
Mehrzahl der Befragten hält selbst dann an
Erwerbsarbeit als normativer Orientierung
fest, wenn dieses Ziel gänzlich unrealistisch
geworden ist. Trotz aller Anstrengungen ge
lingt den meisten Befragten der Sprung in
regu läre Beschäftigung aber nicht.
Stattdessen zeichnet sich eine zirkulare Mobi
lität ab. Tatsächlich signalisieren Eintritte und
Austritte beim Leistungsbezug eine erheb
liche Fluktuation. Die Daten sprechen jedoch
nicht für eine funktionierende Aufwärtsmo
bilität, wohl aber für eine Verstetigung von
Lebenslagen, in denen sich soziale Mobilität
auf Bewegung zwischen prekärem Job, so
zial geförderter Tätigkeit und Erwerbslosigkeit
beschränkt. Es kommt fortwährend zu Positi
onsveränderungen, aber die soziale Mobilität
bleibt eine zirkulare, weil sie in der Regel nicht
aus dem Sektor prekärer Lebenslagen hinaus
führt.
Nur wenige der von uns befragten Leistungs
bezieher haben nach sieben Jahren den
Sprung in Verhältnisse geschafft, die sie vom
Leistungsbezug dauerhaft befreien. Die an
deren durchlaufen mitunter zwei, vier, sechs
und mehr berufliche Stationen. Sie springen
von der Erwerbslosigkeit in den EinEuroJob,
von dort in die Aushilfstätigkeit, dann in eine
Qualifizierungsmaßnahme und so fort, um
am Ende doch wieder im Leistungsbezug zu
enden.
Das Bild von der passiven Unterschicht entspricht nicht der Realität. Eine große Mehrzahl der Befragten hält selbst dann an Erwerbsarbeit als normativer Orien-tierung fest, wenn dieses Ziel gänzlich unrealistisch geworden ist.
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Überlebenshabitus
Je länger die Menschen im Leistungsbezug
verbleiben, desto stärker wird der Druck,
einen Habitus zu verinnerlichen, der ihnen
das soziale Überleben ermöglicht. Dieser
„Überlebenshabitus“ bedingt, dass sich Leis
tungsbezieher vom Rest der Gesellschaft un
terscheiden. Dabei geht es nur selten um das
physische Überleben. Doch mit zunehmender
Dauer des Leistungsbezugs sind die Befragten
gezwungen, sich mit materieller Knappheit,
geringer gesellschaftlicher Anerkennung und
einer engmaschigen bürokratischen Kontrolle
ihres Alltagslebens zu arrangieren. Wenn sie
sich arrangieren, separiert sie das vom Rest
der Gesellschaft. Separieren sie sich, eignen
sich ihre Lebensentwürfe als Objekt für kol
lektive Abwertungen durch die Gesellschaft
respektierter Bürgerinnen und Bürger. Gerade
weil sich die LeistungsbezieherInnen an wid
rige Bedingungen anpassen, werden sie zur
Zielscheibe negativer Klassifikationen durch
die „Mehrheitsgesellschaft“.
Die Hartz IV Stigmatisierung
Aus diesem Grund begreifen sich die befragten
LeistungsbezieherInnen als Angehörige einer
„stigmatisierten Minderheit“, die alles dafür tun
muss, um Anschluss an gesellschaftliche Nor
malität zu finden. Hartz IV konstituiert einen
Status, der für die LeistungsbezieherInnen eine
ähnliche Wirkung entfaltet wie die Hautfarbe
im Falle rassistischer oder das Geschlecht bei
sexistischen Diskriminierungen.
Die Erwerbslosen und prekär Beschäftigten
sind diskreditierbar. Haftet es einmal an der
Person, können sich die Betroffenen des
Stigmas Hartz IV nur noch schwer entledigen.
Die HartzIVLogik („Jede Arbeit ist besser
als keine!“) verlangt von ihnen, gerade jene
qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben
aufzugeben, die besonderes Engagement zur
Verbesserung der eigenen Lage überhaupt
erst motivieren. Wenn sich wegen zirkularer
Mobilität Verschleiß einstellt, setzt hingegen
Anspruchsreduktion ein – und genau das
macht krank oder erzeugt Resignation und
Passivität.
Insofern bewirkt Hartz IV in vielen Fällen das
Gegenteil dessen, was die Regelung eigent
lich zu leisten beansprucht. Länger im Leis
tungsbezug zu verweilen bedeutet, eine Po
sition unterhalb einer unsichtbaren „Schwelle
der Respektabilität“ einzunehmen. Deshalb
schreckt „Hartz IV“ ab. Die Bereitschaft –
auch der NochBeschäftigten – unterwertige,
prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status
gesellschaftlicher Missachtung zu vermeiden,
nimmt zu. Die Zunahme der „Konzessionsbe
reitschaft“, wie es im Jargon aktivierender Ar
beitsmarktpolitik einigermaßen zynisch heißt,
gilt Befürwortern denn auch als eigentlicher
Erfolg des Forderns und Förderns.
Exklusive Solidarität
Dabei wird jedoch Entscheidendes über
sehen: Die Angst, auf eine Position unterhalb
der Schwelle gesellschaftlicher Respektabi
lität abzurutschen, diszipliniert auch die Noch
Beschäftigten und Festangestellten. Sie sind
im wahrsten Sinne des Wortes bereit, (fast)
alles zu tun, um die Festanstellung zu erhalten,
die sie zunehmend als Privileg betrachten. Die
Angst, auf einen Status abzurutschen, der
gesellschaftlich nicht respektiert ist, fördert
den Trend zu einer exklusiven Solidarität von
Stammbeschäftigten, die sich nicht nur ge
genüber „oben“, sondern auch von „anders“
und „unten“ abgrenzen will.
Die Bereitschaft auch der Noch-Beschäftigten, unterwertige, prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status gesellschaftlicher Missachtung zu vermeiden, nimmt zu.
Festanstellung wird zunehmend als Privileg betrachtet.
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Erwerbslosen, denen es in den Augen der
Stammbeschäftigten nicht gelingt, sich aus
der Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge zu
befreien, lösen offenbar Distinktionsbedürf
nisse und Entsolidarisierung aus. Selbst von
Abstiegsängsten geplagt, tendieren sogar
gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen
dazu, Konkurrenzen mit dem Mittel des Res
sentiments auszutragen. Auch für Stamm
beschäftigte markiert Hartz IV einen Status
unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Re
spektabilität. Es handelt sich um einen Status
der Würdelosigkeit, den man nach Möglichkeit
zu vermeiden sucht oder den man, so ein Sta
tuswechsel nicht realisierbar ist, kaschieren
und umdeuten muss, um ihn einigermaßen
lebbar zu machen. Unterhalb dieser Schwelle
befinden sich allenfalls informelle Gelegen
heitsarbeiterInnen, illegale MigrantInnen, Ob
dachlose und andere sozial „unsichtbare“
Gruppen außerhalb des Leistungsbezugs.
Versagen des Marktliberalismus
Fassen wir zusammen: Die Erwerbstätigkeit ist
in Deutschland nicht gestiegen, weil das Ab
senken des „Anspruchslohns“ zuvor unsicht
bare Arbeitsplätze sichtbar gemacht hätte,
wie marktliberale ÖkonomInnen behaupten.
Das Gegenteil ist der Fall: Die Aufwertung pre
kärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit
den HartzReformen verbunden war, schafft
auf Seiten der Wirtschaft Anreize, Stellen mit
Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Exis
tenz der Beschäftigten absichern. Faktisch
werden Betriebe mittels Aufstockung durch
Hartz IV staatlich subventioniert, die Löhne
anbieten, welche teilweise nicht einmal die
Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken.
Die Einführung eines allgemeinen gesetzli
chen Mindestlohns hat nur die schlimmsten
Auswüchse dieser Politik korrigiert. Der Min
destlohn von 8,50 pro Stunde führt nicht aus
der Prekarität heraus.
Langer Verbleib in prekären Verhältnissen und
die Stigmatisierung durch „Hartz IV“ haben
jedoch Folgen: Die Betreffenden brennen re
gelrecht aus, sie geraten in einen Ohnmachts
zirkel aus erzwungener Anpassung und
Stigmatisierung, aus dem es für sie nur sehr
schwer ein Entrinnen gibt. Viele Leistungsbe
zieherInnen fühlen sich deshalb wie in einem
Hamsterrad. Sie laufen und laufen, nur um
schließlich feststellen zu müssen, dass sie be
ständig auf der Stelle treten.
Nimmt man die Gleichwertigkeit aller Men
schen als Maßstab, an dem sich das akti
vierende Arbeitsmarktregime messen lassen
muss, so ist das Ergebnis der Reformen be
schämend. Die Arbeitsmarktstatistik mag
glänzen, der Preis dafür ist eine Verwilderung
des Arbeitsmarktes. Die Würde der Hilfebe
dürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit
geraten zunehmend unter die Räder eines
außer Kontrolle geratenen Wettkampfprin
zips. Eine solche Praxis ist kein Erfolgsmodell.
Nicht für Deutschland, nicht für Europa und
auch nicht für Österreich.
Dieser Beitrag ist am 1. September im blog „Arbeit und Wirtschaft“ erschienen, unter http://blog.arbeitwirtschaft.at/hamsterradhartziv/
Viele LeistungsbezieherInnen fühlen sich wie in einem Hamsterrad. Sie laufen und laufen, nur um schließlich feststellen zu müssen, dass sie bestän-dig auf der Stelle treten.
Die Aufwertung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit den Hartz-Reformen verbunden war, schafft auf Seiten der Wirt-schaft Anreize, Stellen mit Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Existenz der Beschäftigten absichern.
Die Würde der Hilfebedürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit geraten zunehmend unter die Räder eines außer Kontrolle geratenen Wettkampfprinzips.
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WEITERLESEN BEWÄHRUNGSPROBEN FÜR DIE UNTERSCHICHT?
Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik
von Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth,
Tine Haubner, Kai Marquardsen, Karen Schierhorn.
Pressestimmen: Die Tageszeitung: Das Leben eine einzige Prüfung
„... bricht mit Grundannahmen der Forschung über
(Langzeit)Arbeitslosigkeit, die seit dem Klassiker ‚Die
Arbeitslosen von Marienthal‘ als unantastbar galten. Das
macht dieses Buch eigens empfehlenswert.“
Über das Buch: Die neuere Arbeitsmarktpolitik will Erwerbslose akti
vieren, indem sie ihnen Bewährungsproben auferlegt.
Die empirische Studie untersucht Erwerbsorientierungen
und Handlungsstrategien der Betroffenen in Ost und
Westdeutschland. Dabei zeigt sich, dass von fehlendem
Aufstiegswillen und mangelnder Arbeitsmoral keine
Rede sein kann. Stattdessen erzeugt Hartz IV ein Wett
bewerbssystem, das diszipliniert und zugleich stigmati
siert. Auf Seiten der Leistungsempfänger provoziert das
eigenwillige Überlebensstrategien.
Zu bestellen bei: http://www.campus.de/buechercampusverlag/
IMPRESSUM: Herausgeberin und Medieninhaberin Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 2022 · Redaktion Lena Karasz, Vera Lacina · Verlags- und Herstellungsort Wien Erscheinungsweise 4 mal jährlich · DVR 0063673 AK Wien · Offenlegung gem § 25 des Mediengesetzes siehe wien.arbeiterkammer.at/offenlegung · Blattlinie: Die Meinungen der AutorInnen
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