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Partizipativer Journalismus in Tageszeitungen Aktuell. Studien zum Journalismus l 3 Eine empirische Analyse zur publizistischen Vielfalt im Lokalen Annika Sehl

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Partizipativer Journalismus in Tageszeitungen

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Aktuell. Studien zum Journalismus l 3

Eine empirische Analyse zur publizistischen Vielfalt im Lokalen

ISBN 978-3-8329-7820-4

Annika Sehl3

Zum Inhalt: Stellt partizipativer Journalismus eine Chance für publizistische Vielfalt dar? Die empirische Studie beantwortet diese demokratietheoretisch relevante Frage für den lokalen Printjournalismus. Neben traditionellen Formen der Leserpartizipation stehen dabei neue, online-basierte Formen im Fokus. Die Untersuchung ist theoretisch eingebettet in das Konzept der publizistischen Vielfalt und die Theorie des diskursiven Journalismus. Die empirische Studie basiert auf einem mehrstufigen Untersuchungsdesign mit einer Methodenkombination aus Chefredaktionsbefragung, Inhaltsanalyse und Leitfadeninterviews. Die Ergebnisse zeigen, dass die Leserbeiträge in den unter suchten Lokalteilen vielfältig waren und die Meinungsvielfalt des jeweiligen Lokalteils erweiterten. Auffällig ist allerdings, dass Tageszeitungen zum Erhebungszeitpunkt vor allem solche partizipativen Formate anboten, die Leser auf die Rolle eines Kommentators redaktionell erstellter Inhalte beschränken.

Zur Autorin: Annika Sehl ist Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund.

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Schriftenreihe „Aktuell. Studien zum Journalismus“

herausgegeben von

Prof. Dr. Andrea CzepekProf. Dr. Ralf HohlfeldProf. Dr. Frank LobigsPD Dr. Wiebke LoosenProf. Dr. Klaus MeierProf. Dr. Christoph Neuberger

Band 3

Der Journalismus ist Chronist des Tagesgeschehens und Seismograf der Gesellschaft. Er fokussiert die Aufmerksamkeit und moderiert den öffent-lichen Diskurs. Lange Zeit hatte der Journalismus eine unangefochtene Position. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert: Digitale Medien, der Wandel der Publikumsbedürfnisse und ein wachsender ökonomischer Druck haben zu einem Umbruch geführt. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung der Medien für die Gesellschaft zu. Der Journalismus ist treibende Kraft dieser Medialisierung.In der Reihe AKTUELL erscheinen Arbeiten, in denen die Neuorientierung des Journalismus wissenschaftlich begleitet wird. Die Reihe ist ein Forum der akademischen Debatte. Sie versammelt Untersuchungen, in denen der Journalismus in all seinen Facetten theoretisch und empirisch analysiert wird. Die Studien liefern außerdem der Praxis Denkanstöße und tragen zur öffentlichen Debatte über seine Rolle in der Mediengesellschaft bei.

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Eine empirische Analyse zur publizistischen Vielfalt im Lokalen

Partizipativer Journalismus in Tageszeitungen

Annika Sehl

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1. Auflage 2013© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2013. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugl.: Dortmund, Technische Universität, Fakultät Kulturwissenschaften, Diss., 2011

ISBN 978-3-8329-7820-4

© Titelbild: istockphoto.com

Die Erstellung und Publikation der Dissertation wurde von der Technischen Univer-sität Dortmund mit einem Promotionsstipendium im Rahmen der Bestenförderung sowie von der Stiftung Presse-Haus NRZ mit einem Druckkostenzuschuss gefördert.

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis 15

Einleitung1 17Problemstellung1.1 17Zielsetzung1.2 20Methodische Vorgehensweise1.3 21Aufbau der Arbeit1.4 22

THEORETISCHE GRUNDLAGENA 27

Publizistische Vielfalt2 27Normative Herleitung2.1 27Annäherung an ein Konzept2.2 29Modelle zur Messung publizistischer Vielfalt2.3 36Zwischenfazit und Ausblick auf die Empirie2.4 43

Öffentlichkeit als Analyserahmen für publizistische Vielfalt3 44Öffentlichkeit als normatives Postulat3.1 46Normative Ansprüche in Öffentlichkeitsmodellen3.2 46

Das Spiegelmodell von Öffentlichkeit3.2.1 47Das diskursive Modell von Öffentlichkeit3.2.2 48

Ebenen und Akteure von Öffentlichkeit3.3 55Defizite der massenmedialen Öffentlichkeit3.4 59Zwischenfazit und Ausblick auf die Empirie3.5 61

Publizistische Vielfalt im lokalen Zeitungsjournalismus4 61Lokale Öffentlichkeit4.1 62Ergebnisse und Methodendiskussion von inhaltsanalytischenStudien zur publizistischen Vielfalt im lokalenZeitungsjournalismus

4.2

65Zwischenfazit und Ausblick auf die Empirie4.3 70

Partizipativer Journalismus5 71Begriffsbestimmung5.1 71

Begriffsexplikation5.1.1 72Inhaltliche Abgrenzung gegen verwandte Formen5.1.2 74Systematisierung des Gegenstands5.1.3 90

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Zusammenführung der Ansätze und Definition5.1.4 93Diskursiver Journalismus als theoretischer Rahmen5.2 94Frühere Formen der Gegenstands5.3 101

Anfänge der Lesermitarbeit5.3.1 102Leserbriefe5.3.2 105Hörer- und Zuschauertelefon5.3.3 115Nichtkommerzielle Radios5.3.4 117Offene Kanäle5.3.5 122Alternativpresse5.3.6 124

Neuere Formen des Gegenstands5.4 130Blogging/Microblogging5.4.1 131Kollektivformate5.4.2 145Professionell-partizipative Nachrichtensites5.4.3 152Onlinekommentare5.4.4 157Leserreporter5.4.5 162

Systematisierung und Zusammenfassung5.5 168Nutzung neuerer Formen5.6 171Partizipativer Journalismus bei Tageszeitungen5.7 174Zwischenfazit und Ausblick auf die Empirie5.8 179

EMPIRISCHER TEILB 183

Von der Theorie zur Empirie6 183Erkenntnisinteresse6.1 183Untersuchungsanlage6.2 185

Teilstudie A: Chefredaktionsbefragung (Vorstudie)7 187Methodische Umsetzung7.1 187

Stichprobe7.1.1 187Entwicklung des Fragebogens7.1.2 188Zur Situation der Datenerhebung7.1.3 191Von der Datenaufbereitung zur Datenauswertung7.1.4 193

Ergebnisse7.2 194Zwischenfazit7.3 205

Teilstudie B: Inhaltsanalyse ausgewählter Tageszeitungen(Hauptstudie)

8206

Methodische Umsetzung8.1 206Vorstudie8.1.1 207Methodische Vorüberlegungen8.1.2 214

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Inhaltlich erfassbare Dimensionen der publizistischenVielfalt

8.1.3216

Hypothesen und Operationalisierung8.1.4 219Sample- und Untersuchungszeitraum8.1.5 223Analyse- und Codiereinheit8.1.6 228Kategoriensystem8.1.7 229Überlegungen zur Validität8.1.8 233Reliabilität8.1.9 235

Ergebnisse8.2 246Ergebnisse Leseraussagen8.2.1 246Ergebnisse des Vergleichs redaktionellerBerichterstattung mit Leseraussagen

8.2.2273

Zwischenfazit8.3 280

Teilstudie C: Leitfadeninterviews auf operativer Ebene(Vertiefungsstudie)

9281

Methodische Umsetzung9.1 282Kriterien der Befragtenauswahl9.1.1 282Erhebungsinstrument Leitfadeninterview9.1.2 283Zur Situation der Datenerhebung9.1.3 284Technische und methodische Aspekte derDatenauswertung

9.1.4286

Gütekriterien9.1.5 287Ergebnisse9.2 288Zwischenfazit9.3 298

Diskussion10 299Theoretisch-wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn10.1 299Erkenntnisgewinn für die redaktionelle Praxis10.2 306Methodenkritik10.3 308Ausblick auf künftige Forschung10.4 311

Literaturverzeichnis 313

Anhang 343

Fragebogen der ChefredaktionsbefragungA 343Codebuch der InhaltsanalyseB 353Zusammenfassung der Hauptthemen zu ThemengruppenC 365Leitfaden für Leitfadeninterviews auf operativer EbeneD 367

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Einleitung

Problemstellung

„In gewisser Weise ähnelt die Digitalisierung unserer Welt der Zeit nach der Er-findung des Buchdrucks“, urteilt Hubert Burda, Vorstandsvorsitzender der HubertBurda Media und Präsident des Verbandes der Deutschen Zeitschriftenverleger(o. V., 2006a, S. 30). Deutschlands vermutlich bekanntester Blogger Sascha Lobohält die Auswirkungen der digitalen Vernetzung auf die Gesellschaft und kom-mende Generationen gar für „so revolutionär, als wären Buchdruck, Telefon undFernseher gleichzeitig erfunden worden“ (Lobo, 2009, S. 143). Tatsächlich hat dietechnologische Entwicklung Medien und auch den Journalismus vor tiefgreifendeHerausforderungen gestellt. Eine wesentliche liegt darin, dass sich das Internet zumMitmachmedium entwickelt hat: Mediale Inhalte zu veröffentlichen, ist nicht län-ger in erster Linie professionellen Journalisten1 vorbehalten. Statt teurer Druck-pressen, aufwändiger Vertriebswege oder knapper Sendelizenzen benötigen Laien– oder um es mit den Worten Jay Rosens zu sagen, „the people formerly known asthe audience“ (Rosen, 2006) – heute nur noch einen Computer mit Internetverbin-dung oder gar ein Smartphone, um ihre Inhalte ohne große Spezialkenntnisse imInternet zu veröffentlichen (vgl. u. a. Simons, 2011, S. 7 f.). Der kommunikativeZugang zur Öffentlichkeit hat sich erheblich vereinfacht. „A. J. Liebling’s sardonicquip that ‘freedom of the press is guaranteed only to those who own one’ has beenturned on its head as anyone with an Internet connection and some easy-to-usesoftware can publish to the world“ (Rosenberry & St. John III, 2010, S. 1) .

Blogs, Facebook-Einträge oder YouTube-Videos – natürlich ist vieles, was dortgepostet wird, nicht von gesellschaftlicher Relevanz. Dennoch bieten die partizi-pativen Möglichkeiten auch Chancen für den gesellschaftlichen Diskurs. JürgenHabermas befasst sich in einem Text in seiner Aufsatzsammlung „Ach, Europa“u. a. mit der Frage, wie sich mediale Rahmenbedingungen auf den politischen Dis-kurs auswirken. Dazu arbeitet er zunächst die Defizite des traditionellen Journa-lismus im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation heraus. Als solche machter die abstrakte und asymmetrische Struktur und die ungleiche Machtverteilung inder Massenmedienkommunikation aus (vgl. Habermas, 2008, S. 155 ff.). An-schließend geht Habermas auf die Kommunikation im Internet ein:

„Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwäche des anony-men und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es denWiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einen unregelmäßigen Austausch zwi-schen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren.

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1.1

1 Selbstverständlich sind auch Journalistinnen gemeint. Der besseren Lesbarkeit wegen wird indieser Arbeit durchgängig aber nur ein Geschlecht genannt.

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Tatsächlich hat das Internet ja nicht nur neugierige Surfer hervorgebracht, sondern auch die his-torisch versunkene Gestalt eines egalitären Publikums von schreibenden und lesenden Kommu-nikationsteilnehmern und Briefpartnern wiederbelebt“ (Habermas, 2008, S. 161).

Obwohl Habermas also konstatiert, dass die interaktive Kommunikation im Inter-net Defizite der Öffentlichkeit ausgleicht, fällt sein Urteil mit Blick auf Folgepro-bleme verhalten aus. Demokratische Verdienste dieser Entwicklung macht er vorallem für Länder mit mangelnder Pressefreiheit aus: „Sie unterminiert die Zensurautoritärer Regime, die versuchen, spontane öffentliche Meinungen zu kontrollie-ren und zu unterdrücken“ (Habermas, 2008, S. 161). In liberalen Gesellschaftensieht er hingegen den Gewinn vom Risiko der Fragmentarisierung politischer Dis-kurse überlagert:

„Hier fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten chat rooms und weltweitvernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeitenjedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. Dieses Publikumzerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zu-sammengehaltenen Zufallsgruppen. Auf diese Weise scheinen die bestehenden nationalen Öf-fentlichkeiten eher unterminiert zu werden“ (Habermas, 2008, S. 162).

Im Gegensatz zu Habermas, der im Internet die „funktionalen Äquivalente für dieÖffentlichkeitsstrukturen“ (Habermas, 2008, S. 162) noch vermisst, vertritt Neu-berger die These, dass sich Journalismus in neuen Strukturen längst auch im In-ternet herausgebildet hat. Im DFG-Forschungsprojekt „Journalismus im Internet“weist er den Wandel vermittelnder Strukturen nach. Demnach ergänzt die Laien-kommunikation im Internet die Leistungen von Presse und Rundfunk. Sie ersetztsie aber nicht. Teilweise kommt es auch zu einer Annäherung zwischen Professionund Partizipation, indem professionelle Redaktionen bürgerjournalistische Inhalteintegrieren oder ihr eigenes Publikum verstärkt zur Mitarbeit aufrufen (vgl. Neu-berger, Nuernbergk & Rischke, 2009f).

In dieser Arbeit interessiert vor allem letzteres, also wie der professionelle Jour-nalismus sein Publikum in redaktionelle Prozesse und die Produktion von Inhalteneinbindet, insbesondere online und über tradierte Formen hinaus. Das wird im Fol-genden als partizipativer Journalismus bezeichnet. Tatsächlich kann es sich heutekaum eine Redaktion mehr leisten, nicht verstärkt die Nähe zu ihrem Publikum zusuchen und es beispielsweise über Onlinekommentare, Blogs oder als Leserreportereinzubinden. Gleichwohl war zunächst eine gute Portion Skepsis vorhanden: „Oneof the less admirable things that professionals do is exercise their social control toresist the development of new and threatening technologies and value systems“(Meyer, P., 2004, S. 233) . Doch dem professionellen Journalismus blieb kaum eineandere Wahl, den Druck des Bürgerjournalismus im Rücken. Dan Gillmor, Gründerdes Center for Citizen Media, bringt es metaphorisch auf den Punkt:

„We need to recognize and, in the best sense of the word, use their [readers, viewers, listeners;A.S.] knowledge. If we don’t, our former audience will boot when they realize they don’t have to

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settle for half-baked coverage; they can come into the kitchen themselves“ (Gillmor, 2004,S. 110) .

Durch die Einbettung des partizipativen Journalismus in die vermittelnde Strukturdes Journalismus wird Habermas’ oben genannte These der Fragmentarisierung fürdiesen Teilbereich entkräftet. Gleichzeitig sind jedoch auch Einschränkungen beimemanzipatorischen Potenzial zu verzeichnen, da die Entscheidungsmacht im par-tizipativen Journalismus weiterhin bei den professionellen Journalisten liegt.

Trotzdem geht diese Arbeit von der These aus, dass die verstärkte Publikums-einbindung im partizipativen Journalismus der mangelnden Offenheit für Themen,Meinungen und Akteure in der Massenmedienöffentlichkeit entgegenwirken kann.Sie begründet sich darin, dass im partizipativen Journalismus – anders als im reinprofessionellen Journalismus – ein Wechsel von Publikums- und Leistungsrollenzumindest im von den Medien2 dafür vorgesehenen Rahmen für das gesamte Pu-blikum möglich ist und nicht nur Vertretern einiger gesellschaftlicher Gruppenvorbehalten bleibt. Damit ergeben sich Chancen für publizistische Vielfalt, einezentrale Anforderung an Mediensysteme in pluralistischen Demokratien. DiesenAspekt betont auch Helen Boaden, damals Leiterin der BBC News und heute Di-rector of Radio bei derselbigen Rundfunkanstalt:

„It’s not just a ‘nice to have’ – it can really enrich our journalism and provide our audiences witha wider diversity of voices than we could otherwise deliver. As well as voices we might nototherwise hear from, there are stories about which we would never have known. […] For many ofour audiences, this has opened their eyes to something very simple: that their lives can be news-worthy – that news organizations have an appetite for stories they simply couldn’t get to themselvesand they value information and eye witness accounts from the public – as they always have done“(Boaden, 2008) .

Obwohl partizipativer Journalismus derzeit Konjunktur in der Praxis wie in derJournalistik und Kommunikationswissenschaft hat, bestehen noch viele For-schungslücken. Diese sind in erster Linie darauf zurückzuführen, dass es sich umein noch junges Themengebiet handelt, das sich zudem noch ständig weiterentwi-ckelt. Studien beschäftigen sich vorwiegend mit dem Status quo der Publikums-beteiligung am Journalismus, den Einstellungen der Journalisten sowie den Moti-ven des partizipierenden Publikums. Die demokratietheoretisch relevante Frage derKorrelation zwischen partizipativem Journalismus und publizistischer Vielfalt istdagegen noch ein Desiderat der Forschung, das diese Dissertation ein Stück weitaufarbeitet. Daneben kommt diese Abhandlung einem praktischen Bedarf nach.Indem sie auch Zusammenhänge zwischen redaktioneller Steuerung der Publi-

2 Unter Medien werden in dieser Arbeit „Institutionen der journalistischen Massenmedien undihre Produkte verstanden, basierend auf unterschiedlichen technischen Verbreitungskanälen“(Kretzschmar, Möhring & Timmermann, 2009, S. 70).

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kumsmitarbeit und dem jeweiligen Ergebnis diskutiert, können Handlungsemp-fehlungen abgeleitet werden.

Zielsetzung

Anschließend an die theoretischen Vorüberlegungen prüft die Arbeit empirisch dieThese, dass partizipativer Journalismus eine Chance für publizistische Vielfaltdarstellt. Die Untersuchung konzentriert sich auf Tageszeitungen3 und hier die Lo-kalberichterstattung, da angenommen wird, dass sich Leser4 vor allem bei denThemen einbringen, die in ihrer Nahwelt stattfinden und der Forschungsstand imLokalen besondere Defizite zeigt. Zudem beschränkt sie sich auf die Leserbeiträge,die auch in der Printausgabe erschienen sind. Dies liegt inhaltlich darin begründet,dass hier – zurückkommend auf Habermas’ Fragmentarisierungsthese – zugrundegelegt wird, dass die Leserbeiträge in ein journalistisches Produkt und damit einevermittelnde Struktur mit entsprechender Reichweite eingebunden sind. Eine re-präsentative Befragung des Instituts für Demoskopie in Allensbach von Mai 2008zeigt außerdem, dass sich der Leserbrief bei Zeitungslesern großer Beliebtheit er-freut. 38 Prozent der Befragten lesen ihn in der Regel, damit wird der Leserbriefnoch öfter gelesen als beispielsweise der Kultur- und Wirtschaftsteil (vgl. Institutfür Demoskopie Allensbach, 2009, S. 439). Das soll nicht darüber hinwegtäuschen,dass auch die Websites von Tageszeitungen mittlerweile hohe Zugriffszahlen ha-ben. Außerdem kann auf diese Weise im Sinne einer Crossmedia-Strategie unter-sucht werden, wie Redaktionen die Onlinemitarbeit ihrer Leser für das Printproduktnutzen und wie es dessen Vielfalt beeinflusst. Das kann gerade in einer Zeit hilf-reich sein, in der Reichweiten vor allem bei Lokal- und Regionalzeitungen ebensorückläufig sind (vgl. ag.ma, BDZV & ZMG, 2010) wie Werbeaufwendungen (vgl.BDZV & ZAW, 2011) und in der Folge die klassische Tageszeitung auf Papier umsÜberleben kämpft (vgl. u. a. Meyer, P., 2004). Denn der crossmediale Ansatz strebtan, Entwicklungen im Internet auch für die Tageszeitung fruchtbar zu machen. Diesgilt insbesondere, da erste Studien nahelegen, dass Leser Online- und Printausga-ben von Zeitungen ergänzend nutzen (vgl. u. a. Chmielewski, 2011; Mögerle,

1.2

3 Gleichwohl binden natürlich auch die anderen Medien ihre Rezipienten ein, sowohl in tra-dierten Formen wie beispielsweise Call In-Shows bei Radio oder Fernsehen, aber auch onlineund crossmedial, indem Moderatoren Nutzerstimmen beispielsweise aus Onlineforen zitieren.In dieser Arbeit liegt der Fokus jedoch vor allem auf Tageszeitungen.

4 In dieser Arbeit wird der besseren Lesbarkeit halber immer nur der Begriff Leser oder auchLeserbeitrag und Leseraussage gewählt, auch wenn auf den Onlineauftritt der jeweiligen Ta-geszeitung und dortige partizipative Formate verwiesen wird. Damit ist selbstverständlichnicht gemeint, dass jeder Nutzer des Online-Auftritts auch ein Leser der Printausgabe einerTageszeitung ist. Gleichwohl zeigen Studien große Schnittmengen (vgl. u. a. Chmielewski,2011; Mögerle, 2009).

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2009). Auch wenn sich viele aktuelle Untersuchungen zu partizipativem Journa-lismus lediglich dem Internet widmen, sollte also auch die Tageszeitung nicht ver-früht aufgegeben werden.

Die zentralen Forschungsfragen der Arbeit heißen damit: Wie vielfältig sind dieLeserbeiträge innerhalb einer Tageszeitung? Wie unterscheiden sich die Leserbei-träge innerhalb einer Tageszeitung von der vorherigen redaktionellen Berichter-stattung zu einem Thema? Die Fragen beziehen sich dabei auf die interne publi-zistische Vielfalt, d. h., sie beziehen auf die Vielzahl an Themen, Handlungsträgern,Lob oder Kritik sowie partizipativen Formaten, die innerhalb einer Zeitung abge-druckt werden. Ausdrücklich nicht geprüft wird die externe publizistische Vielfalt.

Über die Frage der publizistischen Vielfalt hinaus soll ferner geprüft werden,ob die Themen, die durch Partizipation entstehen, das journalistische Qualitätskri-terium der Relevanz erfüllen. Denn es ist denkbar, dass Leser zwar die Themen-palette erweitern, allerdings mit solchen Themen, die nicht das journalistischeQualitätskriterium der Relevanz erfüllen. Dies wird hier operationalisiert als Reich-weite und Folgenschwere eines Ereignisses. Dann könnte nicht mehr zwingend derSchluss gezogen werden, dass partizipativer Journalismus einen wesentlichen Bei-trag zur umfassenden Meinungsbildung in der demokratischen Gesellschaft leistet.

Schließlich soll erforscht werden, nach welchen Kriterien Redakteure Laien-beiträge auswählen, wenn nur einige in der gedruckten Zeitung veröffentlicht wer-den können. Wie gestaltet sich ihre Rolle als Gatekeeper? Diese Frage ist wichtigzu stellen, denn die Antwort darauf beeinflusst, welche Vielfalt letztendlich imProdukt erscheint und damit von den Lesern wahrgenommen werden kann. DieBetonung liegt hierbei auf dem Wort kann. Nicht untersucht wird in der empiri-schen Studie, welche Vielfalt tatsächlich von den Lesern wahrgenommen wird.

Methodische Vorgehensweise

Das Untersuchungsdesign der empirischen Studie umfasst drei Teilstudien. Umfundiert die Stichprobe für die Inhaltsanalyse ziehen zu können, muss zunächst dieGrundgesamtheit der Zeitungen bestimmt werden, die Leserbeiträge im Lokalteilder Zeitung abdrucken. Dazu liegen bis dato keine Daten aus anderen Erhebungenvor. Daher werden in einer Vorstudie die Chefredaktionen aller Tageszeitungenmit Vollredaktion mittels Fragebogen befragt. Ferner dient die Vorstudie dazu,erste Erkenntnisse über Ziele und Umgang der Tageszeitungen mit partizipativemJournalismus zu sammeln.

Auf dieser Basis wird anschließend eine Stichprobe für die Inhaltsanalyse ge-zogen. Dazu werden zunächst zehn Tageszeitungen ausgewählt, die besondersvielfältig partizipative Formate im Lokalteil abdrucken. In einer weiteren inhalts-

1.3

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analytischen Vorstudie werden schließlich die Tageszeitungen ermittelt, die zudeman 24 per Zufallsauswahl gezogenen Erscheinungstagen zwischen Oktober 2008und September 2009 die höchste Anzahl an partizipativen Beiträgen im Lokalteilam Haupterscheinungsort abdruckten. Zwei dieser Zeitungen werden für dieHauptstudie ausgewählt (Rheinische Post, Westdeutsche Allgemeine Zeitung) so-wie eine weitere, die aufgrund einer renommierten Auszeichnung,5 die sie für ihrKonzept einer Bürgerzeitung erhielt, das Sample vervollständigt (BraunschweigerZeitung). Die Hauptstudie besteht aus einer Analyse der Vielfalt aller Leseraussa-gen anhand bestimmter aus der Literatur hergeleiteter Indikatoren. Die Ergebnissewerden in verschiedenen, ergänzenden Darstellungsweisen präsentiert, u. a. inForm eines Indizes. Darüber hinaus umfasst die Hauptuntersuchung einen Ver-gleich der Leseraussagen zur redaktionellen Berichterstattung anhand von zwölfausgewählten Themen, die nach den Kriterien „Bezug zur redaktionellen Bericht-erstattung“, „Resonanz“ und „Kontroverse“ ausgewählt werden.

Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse werden vertieft und extern validiert durchabschließende Leitfadeninterviews mit den operativ Verantwortlichen für den Le-serdialog in den jeweiligen Lokalredaktionen. Schwerpunkt der Leitfadengesprä-che bildet die Selektion der Leserbeiträge für die gedruckte Zeitung.

Das mehrstufige Untersuchungsdesign ermöglicht, dass sich die Untersuchungs-schritte inhaltlich und methodisch sinnvoll ergänzen.

Aufbau der Arbeit

Die nachfolgenden Kapitel stellen die theoretischen Grundlagen der Abhandlungvor und referieren den Forschungsstand. Die Kapitel 2 bis 4 beschäftigen sich mitpublizistischer Vielfalt, Kapitel 5 mit partizipativem Journalismus. Beide Blöckewerden in Kapitel 6, dem Erkenntnisinteresse der Arbeit, zusammengeführt undanschließend in der Empirie umgesetzt.

Bevor publizistische Vielfalt untersucht werden kann, ist in Kapitel 2 zunächsteinmal zu klären, was darunter überhaupt verstanden wird. Dazu wird das Konzeptnormativ hergeleitet und anschließend näher bestimmt. Überlegungen zur Opera-tionalisierung publizistischer Vielfalt verfeinern die Begriffsbestimmung und be-reiten auf die empirische Untersuchung vor.

Anschließend werden in Kapitel 3 Öffentlichkeitstheorien als Analyserahmenfür publizistische Vielfalt eingeführt. Dazu wird zuerst die Bedeutung von Öffent-lichkeit für die Demokratie erörtert. Je nach Demokratietheorie lassen sich unter-schiedliche normative Anforderungen an Öffentlichkeit und damit auch verschie-

1.4

5 Dabei handelte es sich um den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stif-tung im Jahr 2009.

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dene Öffentlichkeitskonzepte differenzieren. Ziel der Ausführungen ist, die Spann-weite normativer Ansprüche aufzuzeigen und dabei die konsensfähigen Minimal-bedingungen öffentlicher Kommunikation herauszuarbeiten. Auf dieser Basis sollgeklärt werden, welche Bedingungen für die Herstellung publizistischer Vielfaltkonstitutiv sind. Ferner werden Ebenen von Öffentlichkeit und Akteure identifi-ziert, um Publikums- und Leistungsrollen in der massenmedialen Öffentlichkeitherauszuarbeiten. Daran schließt sich eine Erörterung der (Vielfalts)defizite dermassenmedialen Öffentlichkeit an, die wieder den Bogen zur publizistischen Viel-falt spannt.

Um Annahmen für die empirische Studie entwickeln zu können, diese messbarzu machen und die Ergebnisse später einordnen zu können, wird in Kapitel 4 aufden Forschungsstand zur publizistischen Vielfalt im lokalen Zeitungsjournalismuseingegangen. Der Schwerpunkt liegt neben zentralen Ergebnissen auf der metho-dischen Umsetzung der Studien.

Kapitel 5 befasst sich schließlich mit der zweiten Säule der theoretischen Grund-lagen, dem partizipativen Journalismus. Auch hier ist zuerst zu definieren, wasunter diesem Begriff in dieser Arbeit verstanden wird. Dies gilt umso mehr, dabeim Thema Publikumsbeteiligung im Journalismus wenig Konsens über Begriff-lichkeiten und ihre Bedeutung besteht. Es wird ein mehrstufiges Verfahren ausBegriffsexplikation, inhaltlicher Abgrenzung gegen verwandte Formen und einerSystematisierung des Gegenstands genutzt, bevor diese Ansätze zusammengeführtwerden und in einer Definition des partizipativen Journalismus münden. Nachdemdie Begrifflichkeiten für diese Ausarbeitung geklärt sind, wird partizipativer Jour-nalismus in der Theorie des diskursiven Journalismus verortet. Dazu wird derTheorieentwurf von Brosda (2008) um den Aspekt der Partizipation am Journalis-mus ergänzt und somit erweitert. Ein Überblick über frühere Formen der Publi-kumsbeteiligung am Journalismus, von den Anfängen der Lesermitarbeit im17. Jahrhundert, bis zu heutigen Formen wie Blogs, Twitter oder Onlinekommen-taren arbeitet über die Zeit gleichbleibende Parameter ebenso heraus wie Entwick-lungen. Er dient dazu, die empirischen Ergebnisse später in den Forschungsstandeinordnen zu können. Ein Abschnitt zum Stellenwert des partizipativen Journalis-mus bei deutschen Tageszeitungen bereitet auf die empirische Studie vor.

Die Brücke von der Theorie zur Empirie schlägt Kapitel 6. Es setzt die beidenBereiche publizistische Vielfalt und partizipativer Journalismus in Beziehung zu-einander, um daraus Leitfragen für die empirische Untersuchung zu entwickeln.

Die Kapitel 7 bis 9 widmen sich in drei Teilstudien der empirischen Untersu-chung. Kapitel 7 stellt Methodik und Ergebnisse der Chefredaktionsbefragung dar.Auf dieser Basis sowie einer weiteren inhaltsanalytischen Vorstudie werden inKapitel 8 die Zeitungen für die Inhaltsanalyse ausgewählt, die im Zentrum dieserArbeit steht. Nach einer umfassenden Beschreibung der Methodik, die u. a. die

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Indikatoren für Vielfalt herleitet und operationalisiert, das Forschungsinstrumentdetailliert beschreibt und auf die Gütekriterien testet, werden die Ergebnisse ent-lang der verschiedenen Vielfaltsindikatoren dargestellt. Ein Vergleich der redak-tionellen Berichterstattung mit den Leserbeiträgen zu ausgewählten Themen rundetdas Kapitel ab. Vertieft werden die bisherigen Ergebnisse in Kapitel 9. In Leitfa-deninterviews auf operativer Ebene der jeweiligen Lokalredaktionen wird insbe-sondere der Aspekt der Selektion der Leserbeiträge für die gedruckte Zeitung er-gründet.

Die Diskussion in Kapitel 10 fasst die Ergebnisse der drei Teilstudien zusammenund interpretiert sie vor dem Hintergrund der zuvor eingeführten theoretischenGrundlagen. Neben dem theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn werdenImplikationen für die redaktionelle Praxis abgeleitet. Darüber hinaus übt die Ab-schlussdiskussion Methodenkritik. Ein Ausblick auf künftige Forschung rundet dieArbeit ab.

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Abbildung 1 verdeutlicht den Aufbau der Abhandlung grafisch:

Abbildung 1: Wegweiser durch die Arbeit

Quelle: eigene Darstellung

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THEORETISCHE GRUNDLAGEN

Publizistische Vielfalt

Die nächsten Kapitel legen die theoretischen Grundlagen für die anschließendeempirische Untersuchung. Kapitel 2 behandelt dazu das Konzept der publizis-tischen Vielfalt. Um die hohe Relevanz des Konzepts publizistischer Vielfalt fürdie Demokratie zu begründen, wird es zunächst normativ hergeleitet (Ab-schnitt 2.1). Eine Verständigung über die Ausgangsfrage, ob partizipativer Jour-nalismus eine Chance für publizistische Vielfalt ist, erfordert, dass das Konzeptanschließend näher bestimmt wird (Abschnitt 2.2). Die Überlegungen zur Opera-tionalisierung von publizistischer Vielfalt (Abschnitt 2.3) verfeinern die Begriffs-bestimmung und bereiten die empirische Untersuchung vor.

Normative Herleitung

Ihren geschichtlichen Ursprung hat die Forderung nach publizistischer Vielfalt imliberal-demokratischen und pluralistischen Staat (vgl. u. a. McQuail & van Cui-lenburg, 1982, S. 682; Saxer, 1992, S. 693 f.). Das theoretische Konzept, das derpublizistischen Vielfalt also zugrunde liegt, ist die pluralistische Demokratietheo-rie (vgl. u. a. Fraenkel, 1991).6 Die pluralistische Demokratietheorie basiert auf derAnnahme, dass es in der Gesellschaft sehr verschiedene, häufig gegensätzlicheMeinungen und Interessen gibt, die organisiert und artikuliert werden können undso ein Ausgleich zwischen ihnen geschaffen werden kann. Dies geschieht, indemsie sich die verschiedenen Meinungen und Interessen in Interessengruppen orga-nisieren und sich in der Öffentlichkeit bewegen, streiten und verständigen sollen(vgl. Rager & Weber, 1992, S. 8; siehe auch Kapitel 3 über Öffentlichkeit in dieserArbeit).

Aufgabe der Massenmedien ist es dabei, die pluralen Interessen zu vermitteln(vgl. Rager & Weber, 1992, S. 8):

„Der Vermittlerdienst wird erfüllt, indem sich der Journalist den Austausch der Gedanken, Ziel-vorstellungen und Meinungen zwischen den einzelnen und Gruppen zur Aufgabe macht, die amGespräch teilnehmen, ihren Beiträgen Zugang zu den technischen Apparaturen der Massenkom-munikation verschafft und, wenn nötig, die Stimme derer verstärkt, die sonst nicht in angemessener

A

2

2.1

6 Für eine überblicksartige Darstellung der Demokratietheorie der Pluralisten siehe auch Man-fred G. Schmidt (2008, S. 210-235).

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Weise zu Wort kämen, weil sie nicht genügend ‚konfliktfähig‘ sind“ (Roegele, 1977, S. 214,Hervorhebung im Original).

Rager und Weber betonen bereits 1992, dass diese Vermittlung immer wichtigerwerde angesichts der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft und der Plu-ralisierung von Interessen und Lebensstilen – wenngleich diese Aufgabe in uni-versalen Medien immer schwieriger umzusetzen sei, denn „Frauen sind nicht mitden gleichen Zeitungsinhalten und ‑formen zu erreichen wie Männer, Jugendlichenicht mit den gleichen wie Senioren, Ostdeutsche nicht mit den gleichen wie West-deutsche, Städter nicht mit den gleichen wie Dorfbewohner“ (Rager & Weber,1992, S. 8).

Gleichzeitig sollen eben diese Massenmedien zur gesellschaftlichen Integrationbeitragen (vgl. Rager & Weber, 1992, S. 9; Rössler, 2007, S. 470):

„Integration durch Massenkommunikation widerspricht ebensowenig der Struktur und den Struk-turbedingungen eines pluralen Gesellschaftssystems wie eines vielgestaltigen Mediensystems. Sievollzieht sich auf die vielfältigste Weise. Ihr Vorzug besteht darin, daß sie im Sinne der Existenz-bedingungen medialer Kommunikation gesellschaftliche Bedürfnisse und ihren Wandel artikuliertund damit die Voraussetzungen für ihre je spezifische Befriedigung innerhalb der Gesellschaftwie durch das politische System schafft“ (Ronneberger, 1985, S. 15).„Ohne Massenkommunikation keine kommunikative Integration evoluierender Gesellschaften“(Rühl, 1985, S. 23).7

Integration heißt allerdings weder, dass Journalismus stets einen Ausgleich vonInteressengruppen herbeiführen muss, noch dass alle Bürger mit gleichen Beteili-gungschancen ausgestattet wären (vgl. Rager & Weber, 1992, S. 9). Die Zugang-schancen der einzelnen Gruppen zu den Medien sind durchaus unterschiedlich (vgl.Geissler, 1979, S. 178; Gerhards, Neidhardt & Rucht, 1998, S. 42 f.; siehe auchAbschnitt 3.4 dieser Arbeit). Die Konsensbildung zwischen den Bürgern und zwi-schen Bürgern und Politik soll gelingen mittels publizistischer Vielfalt (Rager &Weber, 1992, S. 9).

Van Cuilenburg (2002) hat eine „Diversity Chain“ entworfen, die illustriert, wieder wechselseitige Austausch von Vielfaltskonzepten auf verschiedenen Ebenenzur Demokratie beiträgt: Während die publizistische Vielfalt („media diversity“)im besten Fall die Vielfalt in der Gesellschaft widerspiegelt („social diversity“),kann sie so zur Meinungsvielfalt („opinion diversity“) beitragen. Diese ist wiede-

7 Siehe dazu auch BVerfGE 12, 205 ff. und BVerfGE 31, 314 ff.

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rum Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie („democracy“) (vgl. vanCuilenberg, 2002, S. 2).

Abbildung 2: Diversity Chain nach van Cuilenburg (2002)

Quelle: van Cuilenburg, 2002, S. 3

Annäherung an ein Konzept

Als normative Anforderung an das Mediensystem ist Vielfalt, wie im vorherigenAbschnitt gezeigt, unumstritten, da sie für den politischen Meinungsbildungspro-zess in demokratischen Staaten als unverzichtbar angesehen wird. Auch in der me-dienpolitischen Debatte und dem wissenschaftlichen Diskurs ist Vielfalt ein zen-traler Themenbereich. Dabei hat sich der Diskurs in Zyklen verändert, wieStark (2008) überblicksartig erläutert: Die fortschreitende Pressekonzentrationführte Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre zu inhaltsanalytischen Un-tersuchungen, die sich mit der Gefährdung publizistischer Vielfalt in lokalen und

2.2

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regionalen Kommunikationsräumen befassten. Auch die Einführung des privatenRundfunks ließ die Diskussion wieder aufleben und brachte eine Reihe von Studienzur Programmqualität hervor. Mitte der 1990er-Jahre wurde das Vielfaltskonzeptim Zuge der Digitalisierung erneut diskutiert. Dabei wurden zwei Aspekte thema-tisiert, die Gefahr der Desintegration vor dem Hintergrund der Programmverviel-fachung und der ökonomische Druck auf Medienunternehmen. Letzteres führte zueinem medienökonomischen Diskurs, der insbesondere die Eigentümervielfalt be-trachtete, aber auch die Folgen für die Qualität von Medienprodukten (vgl. Stark,2008, S. 196 f.).

Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung der Vielfalt stellt Woldt (1992,S. 186) erstaunt fest, „wie dünn bisher die konzeptionelle und empirische Basis desBegriffs ‚Vielfalt‘ selbst geblieben ist“. Als Hauptgrund macht er dafür aus, dassder Begriff jenseits des Konsenses über Vielfalt als normative Anforderungen andas Mediensystem „in hohem Maße politisiert“ sei. Folglich gibt es bis heute keinekonsensfähige Definition – und wird sie vermutlich auch so bald nicht geben. Daherkann dieser Abschnitt keine allgemeingültige Begriffsbestimmung bieten. Ziel istes dagegen, sich dem Begriff oder besser dem Konzept (vgl. Rager & Weber, 1992,S. 9) von verschiedenen Ebenen und Perspektiven zu nähern, um abschließend diefür diese Arbeit relevanten einzugrenzen und in der Operationalisierung weiter zupräzisieren.

Die Bandbreite der Aspekte des Begriffs Vielfalt ist groß:

„[Sie] reicht dabei von der klassischen ‚Meinungsvielfalt‘ über die ‚inhaltliche‘, ‚thematische‘,‚räumliche‘, ‚personen- und gruppenbezogene‘, ‚publizistische‘ und ‚strukturelle‘ Vielfalt bis zusprachlichen Neuschöpfungen wie der ‚Zulieferervielfalt‘“ (Hallenberger, 1997, S. 11).

Und selbst diese Aufzählung scheint längst nicht umfassend. Knoche (1980,S. 131) unterscheidet zwischen drei Bedeutungsdimensionen von Vielfalt:

– wirtschaftliche Vielfalt (Zahl der Medienunternehmen)– redaktionelle Vielfalt (Zahl der eigenständigen Redaktionen) und– publizistische Vielfalt (unterschiedliche inhaltliche Angebote).

Napoli (1997) ergänzt darüber hinaus „exposure diversity“, d. h. Vielfalt im Hin-blick auf die Publikumsreichweite.8 Auch McQuail (1992, S. 157 ff.) trifft eineUnterscheidung nach „content as sent“ und „content as received“ sowie ferner „re-ceiver/audience diversity“. Für diese Arbeit ist die publizistische Vielfalt relevantund soll im Folgenden detaillierter betrachtet werden.

8 Diese Betrachtungsweise wird auch in der Medienökonomie favorisiert, die eine objektiveMessung von inhaltlicher Vielfalt für nicht leistbar hält. Daher operationalisieren Medien-ökonomen publizistische Vielfalt mit Hilfe der Analyse von Rezipientenmarktanteilen. Diesedienen dabei als Indikator für publizistische Vielfalt durch individuelle Selektionsprozesse ineinem Marktumfeld (vgl. Heinrich, 1992).

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Publizistische Vielfalt

Als kleinsten gemeinsamen Nenner drückt der Begriff nach McQuail und van Cui-lenburg (1982, S. 683) den „Grad von Verschiedenheit“ aus als Ausmaß, „in demMedien in sich differieren, bezogen auf einige Merkmale und deren Verteilung inder Gesamtgesellschaft, die bekannt bzw. erkennbar sind“. Diese Definition setztvoraus, dass man die Verknüpfung von Medienaussagen mit Merkmalen der Um-welt überhaupt für möglich hält (vgl. Woldt, 1992, S. 187). Rager und Weber (1992,S. 10) verstehen unter publizistischer Vielfalt „ein Angebot, das in unterschiedli-chen Marktsegmenten der Massenmedien größtmögliche Vielzahl und Unter-schiedlichkeit von Informationen und Meinungen repräsentiert“. Mit „größtmög-lich“ schränken Rager und Weber ihre Forderung ein und begründen dies mit zweiArgumenten: Erstens könne das Mediensystem nicht alle Meinungen und Infor-mationen innerhalb einer Gesellschaft vermitteln.

„Das ist unseres Erachtens auch nicht nötig: Journalismus hat, systemtheoretisch gesprochen, dieAufgabe, für die Gesellschaft Komplexität zu reduzieren, also aus der potentiell unendlichen Zahlder Themen und Positionen jene zu selektieren, die öffentlich bearbeitet werden sollen“ (Rager& Weber, 1992, S. 10).

Hier trete also die Selektionsfunktion der Medien in Widerspruch zur Forderungnach immer mehr Vielfalt. Zweitens setze auch der Markt der Vielfalt eine Grenze.Denn Informationen, die nicht nachgefragt würden, setzten sich auch nicht durch(vgl. Rager & Weber, 1992, S. 10). Rager und Weber ergänzen, dass

„getreu dem Motto, ‚das Ganze ist mehr als die Summe der Teile‘ […] hier aber gefragt werden[muss], ob der gesamtgesellschaftliche Bedarf an pluraler Öffentlichkeit nicht mehr ist als dasInformationsbedürfnis der je einzelnen Konsumenten“ (Rager & Weber, 1992, S. 10 f.).

Beide Definitionen machen eines deutlich: Vielfalt ist nicht zwingend gleichzu-setzen mit Vielzahl. Denn dazu reicht es nicht, nur möglichst viele Informationenund Meinungen zu veröffentlichen, unabhängig von ihrem Inhalt, sondern sie müs-sen vor allem unterschiedlich sein (vgl. Ronnenberger, 1978, S. 228).

Ab welchem Wert genau Vielfalt erreicht ist, lässt sich nicht bestimmen. Es„existiert kein Maß an ‚optimaler Vielfalt‘, ebenso wenig lässt sich eine Unter-oder sogar Überversorgung mit ‚Vielfalt‘ festlegen“ (Trappel & Meier, 2002,S. 58). Rössler beschreibt das Dilemma als eine „Balance zwischen einer ausrei-chenden Vielfalt bei akzeptabler Fokussierung“ (Rössler, 2001, S. 163). Sowohleine Unter- als auch eine Überversorgung wären dabei dysfunktional für die Ge-sellschaft:

„Focusing too closely on particular issues, the danger of control and censorship, or an ‘over-integration’ (Maletzke, 1980, S. 205) cannot be ruled out; an extremely diversified coverage maylead to fragmentation of audiences“ (Rössler, 2007, S. 472) .

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Ferner kann aus theoretischer Perspektive unterschieden werden, ob publizistischeVielfalt gemäß dem systemtheoretischen Spiegelmodell von Öffentlichkeit ledig-lich eine proportionale Abbildung der Gesellschaft sein soll oder ob ein gleicherZugang zu den Medien angestrebt wird (vgl. McQuail, 1992, S. 147 ff.). Das ersteModell weist deutlich konservative Züge auf, da Minderheiten und Randgruppenentsprechend ihrem gesellschaftlichen Status kaum repräsentiert würden. Diesführt nach McQuail und van Cuilenburg zu Verzerrungen zu Lasten alles Neuen,die „selffulfilling“ (McQuail & van Cuilenberg, 1982, S. 686) sind, da Wandelgewöhnlich von Minderheiten und ihren Meinungen ausgehe (vgl. McQuail & vanCuilenberg, 1982, S. 685 f.). Für diese theoretische Diskussion und ihre Konse-quenzen sei auf Kapitel 3 zur Öffentlichkeitstheorie verwiesen.

Bezugsebenen der Vielfalt: Mikro-, Meso-, Makroebene des Mediensystems

Vielfalt kann nach einer Typologie von Knoche (1980), McQuail und van Cuilen-burg (1982) oder Rössler (2007) auf mehrere Ebenen des Mediensystems bezogenwerden. Rager und Weber (1992) beziehen sich mit der Beurteilung nach Markt-segmenten wie z. B. Fernsehen oder Tageszeitungen auf die Mesoebene. Zur Frage,ob in jedem dieser Marktsegmente publizistische Vielfalt herrschen muss, schrei-ben Rager und Weber (1992, S. 11):

„Unter politischen Gesichtspunkten halten wir es für besonders wichtig, daß innerhalb der geo-graphisch bestimmten Marktsegmente Vielfalt herrscht. Denn was nützt es dem Bewohner einesEin-Zeitungs-Kreises, daß er sich über alle Dinge in der Welt aus Zeitungen, Zeitschriften undRundfunk informieren kann – nur nicht über die für die politische Partizipation wichtigen gesell-schaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen in seiner Nahwelt?“

Auf der Mesoebene wird in der Regel die strukturelle Vielfalt der Marktsegmenteund Programmformen erfasst. Dabei können Einzel- von Längsschnittstudien un-terschieden werden. Mit Längsschnittstudien wird vor allem das Programm derRundfunkanstalten evaluiert, meist unter der Frage der Programmqualität.9

Neben der Mesoebene kann Vielfalt auf der Makro- und Mikroebene gemessenwerden. Die Makroebene bezieht sich auf das gesamte Mediensystem einer Ge-sellschaft, die Mikroebene dagegen fokussiert eine Medieneinheit, d. h. eine be-stimmte Zeitung, Zeitschrift, Onlinepublikation oder einen Sender (vgl. McQuail& van Cuilenberg, 1982, S. 684). Die Messung von Vielfalt auf der Mikroebeneentspricht nach Schatz und Schulz (1992) der inhaltlichen Vielfalt von Informa-tionen und Meinungen und bezieht sich damit mehrheitlich auf Themen, Akteure

9 Die drei wesentlichen Studien hierbei sind die ARD/ZDF-Programmanalyse im Auftrag derARD/ZDF-Medienkommission, die AGF-Programmanalyse der GfK-Zuschauerforschungund die ALM-Programmanalyse für die privaten Sender (vgl. Krüger, 2001).

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und Quellen. Auf der Mikroebene überschneidet sich die Vielfaltsforschung starkmit der Qualitätsforschung, da Vielfalt in den einschlägigen Katalogen zur Bewer-tung von journalistischer Qualität als ein Kriterium genannt wird (vgl. u. a. Hagen,1995; Schatz & Schulz, 1992).

Zudem kann unterschieden werden, ob Vielfalt innerhalb einer ausgewähltenMedieneinheit zu finden ist oder sich auf einen gesamten Mediensektor bezieht.Interne Vielfalt ist folglich nach den vorangegangenen Ausführungen ein Maßstabfür Analysen auf der Mikroebene, externe Vielfalt dagegen ist mit der Mesoebeneverknüpft (vgl. McQuail & van Cuilenberg, 1982, S. 685). Dahinter stehen gegen-sätzliche Annahmen über die beste Form der Medienvielfalt: viele einseitige Me-dieneinheiten, die zusammen ein vielfältiges Bild ergeben, versus vielfältige In-formationen und Meinungen im selben Medium. Theoretisch verortet wird externeVielfalt dabei in der Konflikttheorie und mit ideologisch sauberer Trennung, in-terne Vielfalt geht einher mit politischem Pluralismus und gesellschaftlicher Kon-senstheorie (vgl. McQuail & van Cuilenberg, 1982, S. 685). Für welche Form derVielfalt man sich in wissenschaftlichen Arbeiten und vor allem in der Medienpo-litik entscheidet, hat entsprechend weitreichende Folgen. Die empirische Untersu-chung der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf die interne Vielfalt. Denn es ist Zielherauszufinden, wie vielfältig die Leserbeiträge innerhalb einer Zeitung sind undob und wie sie die redaktionelle Berichterstattung der jeweiligen Zeitung ergänzen.

Die verschiedenen Ebenen können, aber müssen nicht notwendigerweise zu-sammenhängen, wie Rössler (2007, S. 500 f.) feststellt:

„Decreases in diversity at the macro-level should lead to decreases at the meso-level; subsequently,decreases in diversity at the meso-level should lead to decreases at the micro-level, resulting inoverall lower content diversity. However, evidence so far suggests that observable decreases indiversity at the macro-level did not necessarily create decreasing diversity on the meso-level.Concentration in ownership does not inevitably reduce the range of genre, formats, or outletsavailable. Moreover, even if an increase on the meso-level is recorded, this change did not auto-matically prompt an increase in diversity on the micro-level.“

Während zu Vielfaltsuntersuchungen auf der Makroebene kaum Arbeiten vorlie-gen, gibt es sowohl auf der Meso- als auch auf der Mikroebene eine Vielzahl vonVeröffentlichungen. Da in der vorliegenden Untersuchung hauptsächlich interes-siert, wie vielfältig die Leserbeiträge innerhalb einer Zeitung sind und ob sie zurVielfalt der redaktionellen Berichterstattung beitragen, konzentriert sich die wei-tere Diskussion auf die Produkt- und damit auf die Mikroebene.

Perspektiven der Vielfalt: Angebotsvielfalt versus Rezipientensicht

Unterschieden werden kann auch, aus welcher Perspektive inhaltliche Vielfalt ge-messen wird. Während in der Regel das Modell der Angebotsvielfalt angewandt

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wird, äußern einige Autoren massive Zweifel an dessen Validität (vgl. Napoli,1997). Sie fordern, auch das Publikum einzubeziehen.

„Another crucial shortcoming in the conventional diversity assessment approach is that it com-pletely ignores the centrality of the audience to the democratic ideal of diversity in media. Specif-ically, implicit within the ‚marketplace of ideas’ model is the assumption that audiences providedwith a diversity of content options will consume a diversity of content. Obviously this assumptiontakes us beyond the diversity of content ideal discussed previously. The key point here is that themarketplace ideal is not satisfied simply by the provision of a diversity of content. Diversity ofconsumption must exist as well“ (Napoli, 1997, S. 63).

Dem Vergleich von Häufigkeiten bestimmter Informationen oder Meinungen kannalso mit dem Einwand begegnet werden, der Rezipient nehme ganz anders wahr,die Inhaltsanalyse habe keine Aussagekraft. Ob publizistische Vielfalt von Rezi-pienten wahrgenommen wird, kann mit der Inhaltsanalyse als Methode selbstver-ständlich nicht beantwortet werden. Die Vielfaltsforschung ist allerdings bislangin erster Linie eine angebotsorientierte Forschung mit dem Ziel, Leistungen einesMediensystems, eines Mediensektors oder einer Medieneinheit zu erfassen undnicht, ob und wie Rezipienten diese Medienleistungen wahrnehmen und welcheWirkungen diese haben (vgl. Rager, 1982, S. 13). Insofern ist die Inhaltsanalyseals Hauptinstrument, um publizistische Vielfalt zu messen, valide. Zudem kannangenommen werden, dass ein vielfältiges Medienangebot überhaupt erst Voraus-setzung dafür ist, dass Rezipienten publizistische Vielfalt wahrnehmen können(vgl. Rager, 1982, S. 13). Auch diese Arbeit prüft, ob sich auf der Angebotsseitepublizistische Vielfalt verändert, wenn Leser an der Produktion journalistischerInhalte beteiligt werden. Es geht nicht darum, festzustellen, ob die gemesseneVielfalt und gegebenenfalls ihre Veränderung vom Rezipienten auch wahrgenom-men werden. Dieser zweifelsohne interessanten Frage müssten sich Folgestudienwidmen.

Rechtsgrundlagen zur Vielfalt

Für die Bundesrepublik Deutschland sind verbindliche Regeln zur Vielfalt in denRechtsgrundlagen für den Rundfunk festgelegt. Auf sie wird an dieser Stelle breitereingegangen, da eine ähnlich umfassende Rechtsprechung für Printmedien nichtvorliegt. Von Relevanz sind vor allem die in den Gesetzen und Staatsverträgenausgeführten „Programmgrundsätze“ und die in den Urteilen des Bundesverfas-sungsgerichts angesprochenen Leistungs- und Qualitätsanforderungen. Darin wirdVielfalt definiert im Sinne der Informations- und Meinungsvielfalt. Das Bundes-verfassungsgericht leitet Vielfalt aus der „Freiheit der Berichterstattung durchRundfunk“ ab, die im Grundgesetzartikel 5 verankert ist. Dabei geht es davon aus,dass sich Bürger in der „funktional hochgradig differenzierte[n] Gesellschaft“ In-

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formationen zu allen relevanten Fragen des öffentlichen Lebens nicht mehr selbstbeschaffen können, sondern auf die Informationen aus Massenmedien angewiesensind. Auch ist es Aufgabe der Medien, dass Öffentlichkeit „hergestellt“ wird undso eine „freie, umfassende und chancengleiche Meinungsbildung“ zu ermöglichen.Diese sei Voraussetzung dafür, dass sich die Gesellschaft als „demokratisch ver-fasstes Gemeinwesen erkennen“ könne (Rossen, 1992, S. 45 f.).

Die öffentliche Aufgabe der Massenmedien, insbesondere die Funktion der In-formation und Mitwirkung an der Meinungsbildung, hat das Bundesverfassungs-gericht in seiner ständigen Rechtsprechung immer wieder betont (Rundfunk als„Medium“ und „Faktor“ der öffentlichen Meinungsbildung, BVerfGE 23, 260).Dabei sieht es die Funktion nur dann als erfüllt an, wenn im Rundfunk „die Vielfaltder bestehenden Meinungen […] in möglichster Breite und Vollständigkeit Aus-druck finde[n] und […] auf diese Weise umfassende Information geboten wird“(BVerfGE 57, 295).

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist aufgrund seiner früheren Monopolstel-lung zur „inneren Vielfalt“ verpflichtet (BVerfGE 12, 262 f.). Das heißt, in ein unddemselben Medium sollen möglichst vielfältige Informationen und Meinungenabgebildet werden. Der private Rundfunk hingegen muss nicht für Vielfalt in jedemeinzelnen Programm sorgen. Hier hat der Gesetzgeber lediglich verlangt, ein„möglichst hohes Maß gleichgewichtiger Vielfalt“ im privaten Rundfunk insge-samt zu sichern (BVerfGE 73, 118).

Obwohl eine ähnlich dezidierte Rechtsprechung wie zum Rundfunk für Print-medien nicht vorhanden ist, kann angesichts der Aufgaben und Funktionen derPrintmedien davon ausgegangen werden, dass das Vielfaltsgebot auch für sie gilt.Hier scheint das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen zu sein, dass die„geistige und wirtschaftliche Konkurrenz“, in der die privatwirtschaftlich organi-sierten Presseprodukte zueinander stehen, zumindest eine „äußere Vielfalt“ aufdem Pressemark gewährleistet (BVerfGE 20, 175).

Die Rechtsgrundlagen haben beispielsweise Schatz und Schulz (1992) bei ihrenÜberlegungen geleitet, Kriterien und Methoden zu entwickeln, mit Hilfe derer dieProgrammqualität im dualen Fernsehsystem beurteilt werden kann. Eine der vonihnen genannten Dimensionen der Programmqualität ist das Gebot der Vielfalt.Auf die von ihnen erarbeiteten Aspekte der Vielfalt und deren Operationalisierungwird in Abschnitt 2.3 näher eingegangen.

Partizipation als fördernder Faktor publizistischer Vielfalt

In der wissenschaftlichen Literatur werden zahlreiche beschränkende und fördern-de Faktoren für publizistische Vielfalt ausgemacht. Diese sollen hier nicht in Gänze

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referiert werden (für einen Überblick siehe Rager und Weber (1992, S. 15 ff.),jedoch auf für diese Arbeit relevante Faktoren soll kurz eingegangen werden. Soschlagen Rager und Weber (1992, S. 16) vor, zur Schaffung und Erhaltung publi-zistischer Vielfalt Leserbriefe abzudrucken oder gesellschaftlich relevanten Grup-pen einen gewissen redaktionellen Umfang einzuräumen, den sie selbst gestaltenkönnen. Darüber hinaus regen sie an, dass ein Ombudsmann dem Publikum alsAnsprechpartner dienen könne bei Anfragen und Beschwerden und auch das Rechthaben sollte, über seine Tätigkeit in der Zeitung zu berichten. Auch Leser- oderZeitungsbeiräte aus gesellschaftlich relevanten Gruppen zu gründen, halten sie fürdenkbar. Diese Optionen haben zwei Dinge gemeinsam: Sie haben eine partizipa-tive Komponente und sie sind heute keine Zukunftsvisionen mehr. Eine Reihe vonZeitungen hat sie bereits realisiert. Diese Arbeit kann daher prüfen, ob Leserbriefeoder Themenvorschläge von Lesern tatsächlich zu einer größeren publizistischenVielfalt führen. Der Gedanke des Dialogs mit dem Leser wird zudem weitergedachtund auch die Korrelation zwischen neuen technischen Möglichkeiten, Leser in dieProduktion von Inhalten einzubinden, z. B. mittels Foreneinträgen, und publizis-tischer Vielfalt in der Tageszeitung untersucht.

Modelle zur Messung publizistischer Vielfalt

Um publizistische Vielfalt empirisch untersuchen zu können, ist es notwendig, sieweiter zu konkretisieren und der Messung zugänglich zu machen. Dieser Abschnittgibt daher einen Überblick über wesentliche Vorschläge zur Operationalisierungpublizistischer Vielfalt.10 Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht gleichwohlnicht.

Die Publikationen befassen sich mit der grundsätzlichen Frage, wie Medien-leistungen bewertet werden können. Daher wird zunächst kurz der jeweilige Rah-men skizziert, bevor detailliert auf die enthaltenen Ausführungen zur Vielfalt ein-gegangen wird.

Der demokratietheoretische Ansatz: Media Performance (McQuail, 1992)

Denis McQuail (1992) entwickelt in seiner Monografie „Media Performance“ ei-nen normativen Bezugsrahmen für die Bewertung von Medienleistungen. Dabeierörtert er auch die Dimension der Vielfalt, weshalb seinem Vorschlag hier nähereBeachtung geschenkt wird.

2.3

10 Auf die folgenden drei Publikationen bezieht sich auch Schwarb (2007, S. 81-88).

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McQuail gründet seine Überlegungen auf eine soziale Verantwortlichkeit derMedien und knüpft an die „Four Theories of the Press“ von Siebert, Peterson undSchramm (1956) an. Die „Four Theories of the Press“ beziehen sich auf das Ver-hältnis der Medien zur Gesellschaft in unterschiedlichen ideologischen Gesell-schaftssystemen („The Authoritarian Theory“, „The Libertarian Theory“, „TheSocial Responsible Theory“, „The Soviet Communist Theory“). Nach Lektüre derStudie liegt der Schluss nahe, dass je nach ideologischem Gesellschaftssystem dieLeistungsbewertung unterschiedlich ausfallen kann.

McQuail wählt die Perspektive der pluralistischen, kapitalistischen, westlichenDemokratie für seinen Vorschlag für einen normativen Bezugsrahmen für die Be-wertung von Medienleistungen (vgl. McQuail, 1992, S. 67). Analog zu den dreifundamentalen Menschenrechten fordert er von den Medien, zur Freiheit, Gleich-heit sowie Ordnung und Solidarität beizutragen (vgl. McQuail, 1992, S. 66 ff.). Vondiesen Dimensionen aus leitet er Unterdimensionen ab. Sowohl unter Freiheit alsauch unter Gleichheit fasst er die Unterdimension der Vielfalt. Im Folgenden wirddarauf verzichtet, den Gesamtvorschlag McQuails zur Bewertung von Medien-leistungen vorzustellen, und stattdessen nur näher auf den Vorschlag zur Opera-tionalisierung der Vielfalt eingegangen.

McQuail unterscheidet in einem ersten Schritt drei Konzepte, Vielfalt herzu-stellen:

– „Diversity of reflection“,– „Diversity of access“ und– „Diversity as more channels and choice for the audience“ (McQuail, 1992,

S. 144 f.).

Unter „Diversity of reflection“ versteht er, dass sich die politischen, ökonomischenund kulturellen Verteilungen auch in Struktur und Inhalt der Medien widerspiegelnsollten. „Diversity of access“ zielt auf einen freien und gleichen Zugang verschie-dener Stimmen zur massenmedialen Kommunikation. „Diversity as more channelsand choice for the audience“ bedeutet schließlich relevante Wahlmöglichkeitenzwischen Medienangeboten für den Rezipienten. McQuail betont, dass diese dreiKonzepte unabhängig voneinander stehen, sich aber auch überschneiden können(McQuail, 1992, S. 144 f.).

In einem zweiten Schritt definiert McQuail „Sub-concepts of media diversity“und begibt sich damit auf die Ebene, auf der die verschiedenen Konzepte ange-wendet werden. Dabei unterscheidet McQuail folgende Ebenen der Vielfalt:

– „according to a chosen dimension of differentiation (e.g. politics, geography,social-cultural)“ (McQuail, 1992, S. 150).

– „at the level of structure, according to criteria of ‘external’ and ‘internal’ di-versity or range and channel choice“ (McQuail, 1992, S. 150, Hervorhebung

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im Original): Diese Subdimension bezieht sich darauf, ob Vielfalt auf der Ebenedes Mediensystems durch unterschiedliche Kanäle angestrebt wird oder auf derEbene der einzelnen Organisationen mit ihrem Gesamtangebot. Eventuell kanndie Forderung nach Vielfalt bis auf die Ebene der einzelnen Produkte Geltungbesitzen (vgl. McQuail, 1992, S. 145 ff.).

– „at the level of performance (content and audience), according to criteria equa-lity or proportionality“ (McQuail, 1992, S. 150, Hervorhebungen im Original):„Equality“ geht davon aus, dass Medien verschiedensten Stimmen – vor allemauch den Minderheiten – einen mehr oder weniger gleichen Zugang zur öf-fentlichen Kommunikation gewähren. „Proportionality“ gründet sich dagegendarauf, dass Medien in Zugang und Inhalt die Bandbreite an sozialen, politi-schen, ökonomischen und kulturellen Realitäten der Gesellschaft mehr oderminder proportional abbilden sollten (vgl. McQuail, 1992, S. 147 ff.). DieseDiskussion wird in Kapitel 3 weiter aufgenommen, wenn verschiedene Öffent-lichkeitstheorien erörtert werden.

– „applied to the amount and the kind of representation and access“ (McQuail,1992, S. 150, Hervorhebungen im Original): Die Subdimension weist daraufhin, dass nicht nur die Verteilung, in der über einzelne Akteure oder Interessenberichtet wird, sondern auch die Ausgewogenheit der Medienberichterstattungselbst relevant für die Frage nach Vielfalt ist (vgl. McQuail, 1992, S. 149).

– „taking account of the horizontal or vertical dimension of time“ (McQuail,1992, S. 150, Hervorhebungen im Original): Diese Subdimension berücksich-tigt schließlich, ob Medien den Rezipienten zu einem bestimmten Zeitpunktrelevante Wahlmöglichkeiten in Bezug auf den Inhalt offerieren oder über einenlängeren Zeitraum Abwechslung anbieten (vgl. McQuail, 1992, S. 149 f.).

Die genannten Dimensionen und Subdimensionen berücksichtigen vor allem dieVielfalt des Mediensystems und der Medieninhalte. McQuail setzt sich auch damitauseinander, ob und wie die Rezipienten diese Vielfalt wahrnehmen (vgl. McQuail,1992, S. 157 f.). Dieser Aspekt wird hier jedoch ausgespart, da sich die vorzube-reitende Untersuchung nur auf die Kommunikatorseite bezieht.

Rechtliche Grundlagen zur Beurteilung von Qualität in Fernsehprogrammen(Schatz & Schulz, 1992)

Schatz und Schulz (1992) gehen noch einen Schritt über McQuails Ausführungenhinaus. In ihrem Aufsatz „Qualität von Fernsehprogrammen. Kriterien und Me-thoden zur Beurteilung von Programmqualität im dualen Fernsehsystem“ entwi-ckeln sie ein Analyseinstrument für einen Vergleich öffentlich-rechtlicher und pri-

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vater Fernsehprogramme. Ihre Ausführungen sind dabei als Vorstufe zu einer em-pirischen Untersuchung konzipiert.

Normativ beziehen sich Schatz und Schulz auf die Rechtsgrundlagen für dendeutschen Rundfunk. „Eine empirische Untersuchung von Programmleistung und‑qualität der Rundfunkprogramme hat sich naturgemäß an den Rechtsvorschriftenfür den öffentlichen und den privaten Rundfunk zu orientieren“ (Schatz & Schulz,1992, S. 692). Konkret entwickeln sie ihr Analyseinstrument aus folgenden Nor-menquellen: der Rundfunkfreiheit, der öffentliche Aufgabe des Rundfunks (Mei-nungsbildung, Vielfalt), der journalistische Professionalität und dem Gebot derRechtmäßigkeit (vgl. Schatz & Schulz, 1992, S. 691 f.). Daraus leiten Schatz undSchulz drei Gebote ab: das Gebot der Vielfalt, das Gebot der Relevanz und dasGebot der Professionalität. Darüber hinaus ergänzen sie zwei Aspekte der Pro-grammqualität, die in den Rechtsgrundlagen nicht explizit dargestellt werden: dasGebot der Akzeptanz und das Gebot der Rechtmäßigkeit. Folglich ergeben sichfolgende Dimensionen der Programmqualität: Vielfalt, Relevanz, Professionalität,Akzeptanz und Rechtmäßigkeit (vgl. Schatz & Schulz, 1992, S. 692).11

Schatz und Schulz unterteilen Vielfalt in strukturelle und inhaltliche Aspekte.Unter struktureller Vielfalt verstehen sie die Vielfalt der Programmsparten wie z. B.Information, Unterhaltung, Bildung, Beratung. Die Programmsparten differenzie-ren sie weiter aus in Vielfalt der Programmformen (vgl. Schatz & Schulz, 1992,S. 693 f.). Da sich strukturelle Vielfalt vor allem auf die Mesoebene bezieht, dieseArbeit jedoch die Mikroebene untersucht, ist sie für die empirische Untersuchungnicht weiter relevant. Von Bedeutung sind hingegen die Operationalisierungen zurinhaltlichen Vielfalt.

Inhaltliche Vielfalt beziehen Schatz und Schulz auf Merkmale der Informatio-nen und Meinungen, der Interessen-, Themen- und Personendarstellungen. Sie un-terteilen dabei inhaltliche Vielfalt vierfach: in Vielfalt der Lebensbereiche, Vielfaltgeografischer/regionaler Räume, Vielfalt kultureller/ethnischer Gruppen und Viel-falt gesellschaftlicher/politischer Interessen. Die Interessen finden Ausdruck in derVielfalt der Themen und Akteure in der Berichterstattung (vgl. Schatz & Schulz,1992, S. 694).

Auf der Ebene der Akteure unterscheiden Schatz und Schulz weiter, ob es sichum Individuen oder soziale Einheiten oder genauer gesagt deren Vertreter handelt.Soziale Einheiten teilen sie auf in soziale Kategorien (z. B. Frauen, Jugendliche,Arbeitslose) und andere soziale Systeme (Gruppen, Organisationen, Netzwerke).Darüber hinaus unterscheiden sie Individuen wie auch Vertreter sozialer Einheiten

11 Dass Rechtmäßigkeit nicht Grundvoraussetzung, sondern eine explizit aufgeführte Pro-grammqualität ist, kann hinterfragt werden. Da hier jedoch nur die Dimension der Vielfaltrelevant ist, wird auf eine weitere Diskussion der Frage verzichtet und dazu auf Rager (1994,S. 194 f.) verwiesen.

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nach Eigenschaften wie soziodemographischen Merkmalen, kontextuellen Merk-malen (Zugehörigkeit zu sozialen Einheiten), Verhaltensmerkmalen (z. B. han-delndes Subjekt oder Objekt des Geschehens) sowie Situations- und Darstellungs-merkmalen (z. B. allein oder in einer sozialen Gruppe) (vgl. Schatz & Schulz, 1992,S. 695).

Auf der Ebene der Themen differenzieren Schatz und Schulz nach Sach- undLebensbereichen (z. B. internationale Politik, Innenpolitik, Wirtschaft und Arbeit).Innerhalb dieser Sach- und Lebensbereiche regen sie an, die Vielfalt der Einzel-themen zu messen (vgl. Schatz & Schulz, 1992, S. 695). Zusätzlich unterscheidensie zwischen inhaltlichen, strukturellen und kontextuellen Themenmerkmalen.Während sich inhaltliche Themenmerkmale auf den semantischen Gehalt von Ar-gumenten, Urteilen, Bewertungen und Perspektiven beziehen, zeigen sich struk-turelle Themenmerkmale in der Anzahl und den syntaktischen Verbindungen ver-schiedener inhaltlicher Themenbereiche, z. B. der Differenziertheit und Elabora-tion der Argumente. Kontextuelle Merkmale schließlich bestimmen, mit welcherBedeutung ein Thema behandelt wird, z. B. als Einzelfall oder Beispiel eines all-gemeinen Problems (vgl. Schatz & Schulz, 1992, S. 695).

Vielfalt kann nach Schatz und Schulz für jeden dieser Aspekte bestimmt werdenoder es kann ein Indize für die Vielfalt aller Aspekte zusammen konstruiert werden(vgl. Schatz & Schulz, 1992, S. 695). Welche statistischen Verfahren sich anbieten,um Vielfaltsaspekte zu aggregieren und in Kennwerte umzurechnen, wird in Ab-schnitt 8.1.4 diskutiert.

Die Überlegungen von Schatz und Schulz zur Operationalisierung von Vielfaltwerden in der folgenden Abbildung zusammengefasst. Der für diese Abhandlungrelevante Pfad ist wie erläutert jener der inhaltlichen Vielfalt.

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