[email protected] impressum redaktion: ansgar ...download.taz.de/anthroposophie_april_13.pdf · taz....

4
SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 26 taz.thema www.taz.de | [email protected] | fon 030 • 25 90 23 14 | fax 030• 25 10 694 die verlagsseiten der taz.die tageszeitung Impressum Redaktion: Ansgar Warner, Lars Klaaßen | Foto-Red.: Ann-Christine Jansson | Anzeigen: Natalie Hauser ANTHROPOSOPHIE ANZEIGE nen die höhere Arbeitsbelas- tung: Waldorfschulen sind nach dem Selbstverwaltungsprinzip organisiert, sprich: ohne Rektor. Organisatorische Fragen oder pädagogische Entscheidungen trifft das Waldorfkollegium ge- meinsam. Aber: „Diese Selbst- verwaltung ist oft ineffektiv und verursacht hohe Arbeitsbelas- tungen bei den betroffenen Leh- rern“, sagt Dirk Randoll, der auch seine eigenen Kinder auf eine Waldorfschule schickte. Der Wis- senschaftler sieht deshalb Wal- dorfschulen mit dem sogenann- ten Mandatsmodell im Vorteil. Hierbei wählt das Kollegium ei- nen Beauftragten für organisato- rische Belange. Dass die Verwaltung zu auf- wändig ist, war in der Waldorf- szene bereits Thema. So hat Ran- dolls Studie auch eher „bestehen- de Eindrücke bestärkt und wis- senschaftlich untermauert“, sagt Henning Kullak-Ublick vom Bund der Freien Waldorfschulen. Der ehemalige Lehrer bestätigt Randolls Kritik an der Selbstver- waltung: „Zu viel radikale Basis- demokratie kann einen Schulbe- trieb auch lähmen.“ Auch die Besoldung nimmt die Studie kritisch in den Blick. „Waldorflehrer verdienen je nachdem, wie voll die Klassen sind – bis zu 1.500 Euro weniger als ihre Kollegen an staatlichen Schulen“, weiß Randoll, „etwa je- der Fünfte muss deshalb noch ei- nen Zweitjob außerhalb der Schule annehmen, um über die Runden zu kommen.“ Auch das deckt sich in etwa mit den Zahlen des Bundes Freier Waldorfschu- len: „Unsere Lehrer verdienen im Schnitt 20 Prozent weniger als die Kollegen an staatlichen Ein- richtungen“, sagt Henning Kul- lak-Ublick, „aber ein Riesenauf- regerthema ist das in den Lehrer- zimmern nicht.“ Allerdings: Sozialforscher Dirk Randoll beurteilt als Folge auch die Pensionsansprüche der Waldorflehrer kritisch: „Die be- kommen im Alter zu wenig raus.“ Laut der Studie will jeder siebte Waldorfpädagoge auch hen viele Junglehrer schon nach vier bis fünf Jahren weiter, und das setzt die Waldorfschulen un- ter Druck. Denn die Schülerzah- len steigen. „Unseren Schulen fehlen pro Jahr etwa 600 neue Lehrer“, bestätigt Waldorfschu- lenvertreter Hennig Kullak- Ublick. Forscher Dirk Randoll sieht die Waldorfschulen vor ei- nem Generationswechsel „hin zu jüngeren Lehrern, die offener für Neuerungen sind“, sprich weni- ger dogmatisch an alten Organi- sationsstrukturen festhalten. Be- rufsanfängern, sagt Kullak- Ublick, solle der Einstieg erleich- tert werden: Von einer speziellen Anlaufzeit über Mentorenmo- delle bis hin zu Assistenzlehrer- modellen in einzelnen Bundes- ländern. Bleibt die Frage: Warum sind Waldorflehrer trotzdem zufrie- dener als ihre staatlich beschäf- tigten Kollegen? Einerseits, so ga- ben 80 Prozent der Befragten an, trage die intensive Beschäfti- gung mit den Ideen Rudolf Stei- ners zur Motivation bei. Vor al- lem aber können „Waldorfpäda- gogen ihre Schule aktiv mitge- stalten, sie können mitbestim- men, welche Inhalte sie lehren“, sagt Randoll. Dieses Gefühl der „Selbstwirksamkeit“ beschreibt der Studienleiter als Haupt- grund für die hohe Zufrieden- heit: „Die Waldorflehrer leben für ihren Job, mit all seinen posi- tiven und negativen Seiten.“ „Ich bin Waldorflehrer“ – Ein- stellungen, Erfahrungen, Diskussi- onspunkte – Eine Befragungsstu- die“ ist im Springer VS Verlag, Wiesbaden, erschienen Drei Probleme, aber gut drauf SCHULE Eine Studie belegt, dass Waldorflehrer ihren Job besser finden, als ihre staatlichen Kollegen. Das tun sie aber nicht wegen, sondern trotz der Verhältnisse an ihren Schulen Die Waldorflehrer leben für ihren Job, mit all seinen positiven und negativen Seiten VON CHRISTOPH RASCH Es war eine Zahl, die Ende Januar große Aufmerksamkeit erregte unter Pädagogen und Erzie- hungswissenschaftlern: Neun von zehn Lehrern, die mit ihrem Beruf zufrieden sind; 90 Prozent, die sagen, dass sie sich im Unter- richt verwirklichen können. Wohlgemerkt: An Waldorfschu- len. So die Kernaussage einer groß angelegten Studie der Ala- nus Hochschule in Alfter bei Bonn in Kooperation mit der Düsseldorfer Heinrich-Heine- Universität. Zum Vergleich: An staatlichen Einrichtungen sind nur 70 Prozent der Lehrer mit ih- rem Berufsalltag zufrieden. Die Untersuchung ist die welt- weit erste repräsentative Studie zu den Arbeitsbedingungen der anthroposophischen Lehrer. „Die Waldorfpädagogik war für die Forschung lange Zeit ein Ta- buthema“, erklärt Dirk Randoll diesen Umstand. Der 55-jährige Studienleiter ist Professor für empirische Sozialforschung an der Alanus Hochschule. Er sagt: „Die Einrichtungen selbst waren vorher nicht unbedingt bereit, sich einer wissenschaftlichen Untersuchung zu öffnen.“ Umso überraschender, dass Randoll und sein Team am Ende rund ein Drittel der 8.800 deutschen Wal- dorflehrer für die Studie befra- gen konnten. Ebenfalls erstaunlich: Die ho- he Zufriedenheit der Lehrer an den 235 deutschen Waldorfschu- len gibt es offenbar nicht wegen, sondern trotz der Verhältnisse an ihren Schulen. Da ist zum ei- ORGANISCHE ARCHITEKTUR Das Goetheanum in Dornach Rudolf Steiner entwickelte Grundsätze einer „anthroposophisch- organischen Architektur“, die bis heute als Vorbild anthroposophi- scher Architekten dienen und auch weiterentwickelt wurden. Ein Klassiker ist das Goetheanum in Dornach. Dort entstand die Foto- serie für das taz.thema ANTROPOSOPHIE. Einen Artikel zum The- ma Architektur finden Sie auf Seite 29. ALLE FOTOS: STEFAN PANGRITZ nach dem Erreichen des Pensi- onsalters weiter unterrichten – viermal so viele wie an staatli- chen Schulen. „Manche Pensio- näre“, so Randoll, „haben aus fi- nanziellen Gründen auch kaum eine Alternative.“ Ein drittes Problem beschäf- tigt die Waldorfschulen: Die Nachwuchsgewinnung. Bei der Überalterung des Lehrkörpers liegen staatliche und Waldorf- schulen in etwa gleich auf, der Al- tersdurchschnitt beträgt hier wie dort rund 50 Lebensjahre. Ein Grund: Viele Waldorfschulen entstanden in den 1980er Jahren, die Pioniere von damals errei- chen heute das Pensionsalter. „Waldorfschulen“, sagt Ran- doll, „können junge, engagierte Lehrer oft nicht langfristig hal- ten.“ Laut seiner Erhebung zie-

Upload: others

Post on 02-Nov-2019

8 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: anzeigen@taz.de Impressum Redaktion: Ansgar ...download.taz.de/Anthroposophie_April_13.pdf · taz. thema | ANTHROPOSOPHIE | anzeigen@taz.de SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE

SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 201326

taz.thema

www.taz.de | [email protected] | fon 030 • 25 90 23 14 | fax 030• 25 10 694

die verlagsseiten dertaz.die tageszeitung

Impressum Redaktion: Ansgar Warner, Lars Klaaßen | Foto-Red.: Ann-Christine Jansson | Anzeigen: Natalie Hauser

ANTHROPOSOPHIE

ANZEIGE

nen die höhere Arbeitsbelas-tung: Waldorfschulen sind nachdem Selbstverwaltungsprinziporganisiert, sprich: ohne Rektor.Organisatorische Fragen oderpädagogische Entscheidungentrifft das Waldorfkollegium ge-meinsam. Aber: „Diese Selbst-verwaltung ist oft ineffektiv undverursacht hohe Arbeitsbelas-tungen bei den betroffenen Leh-rern“, sagt Dirk Randoll, der auchseine eigenen Kinder auf eineWaldorfschule schickte. Der Wis-senschaftler sieht deshalb Wal-dorfschulen mit dem sogenann-ten Mandatsmodell im Vorteil.Hierbei wählt das Kollegium ei-nenBeauftragten fürorganisato-rische Belange.

Dass die Verwaltung zu auf-wändig ist, war in der Waldorf-szene bereits Thema. So hat Ran-dollsStudieaucheher„bestehen-de Eindrücke bestärkt und wis-senschaftlich untermauert“, sagtHenning Kullak-Ublick vomBundder FreienWaldorfschulen.Der ehemalige Lehrer bestätigtRandolls Kritik an der Selbstver-waltung: „Zu viel radikale Basis-demokratie kann einen Schulbe-trieb auch lähmen.“

Auch die Besoldung nimmtdie Studie kritisch in den Blick.„Waldorflehrer verdienen – jenachdem, wie voll die Klassensind – bis zu 1.500 Euro wenigerals ihre Kollegen an staatlichenSchulen“, weiß Randoll, „etwa je-der Fünftemussdeshalbnochei-nen Zweitjob außerhalb derSchule annehmen, um über dieRunden zu kommen.“ Auch dasdeckt sich inetwamitdenZahlendes Bundes Freier Waldorfschu-

len: „UnsereLehrerverdienen imSchnitt 20 Prozent weniger alsdie Kollegen an staatlichen Ein-richtungen“, sagt Henning Kul-lak-Ublick, „aber ein Riesenauf-regerthema istdas indenLehrer-zimmern nicht.“

Allerdings: SozialforscherDirk Randoll beurteilt als Folgeauch die Pensionsansprüche derWaldorflehrer kritisch: „Die be-kommen im Alter zu wenigraus.“ Laut der Studie will jedersiebte Waldorfpädagoge auch

hen viele Junglehrer schon nachvier bis fünf Jahren weiter, unddas setzt die Waldorfschulen un-ter Druck. Denn die Schülerzah-len steigen. „Unseren Schulenfehlen pro Jahr etwa 600 neueLehrer“, bestätigt Waldorfschu-lenvertreter Hennig Kullak-Ublick. Forscher Dirk Randollsieht die Waldorfschulen vor ei-nemGenerationswechsel „hinzujüngerenLehrern,dieoffener fürNeuerungen sind“, sprich weni-ger dogmatisch an alten Organi-sationsstrukturen festhalten. Be-rufsanfängern, sagt Kullak-Ublick, solle der Einstieg erleich-tertwerden:Voneiner speziellenAnlaufzeit über Mentorenmo-delle bis hin zu Assistenzlehrer-modellen in einzelnen Bundes-ländern.

Bleibt die Frage: Warum sindWaldorflehrer trotzdem zufrie-dener als ihre staatlich beschäf-tigtenKollegen?Einerseits, soga-ben 80 Prozent der Befragten an,trage die intensive Beschäfti-gung mit den Ideen Rudolf Stei-ners zur Motivation bei. Vor al-lem aber können „Waldorfpäda-gogen ihre Schule aktiv mitge-stalten, sie können mitbestim-men, welche Inhalte sie lehren“,sagt Randoll. Dieses Gefühl der„Selbstwirksamkeit“ beschreibtder Studienleiter als Haupt-grund für die hohe Zufrieden-heit: „Die Waldorflehrer lebenfür ihren Job,mit all seinen posi-tiven und negativen Seiten.“■ „Ich bin Waldorflehrer“ – Ein-stellungen, Erfahrungen, Diskussi-onspunkte – Eine Befragungsstu-die“ ist im Springer VS Verlag,Wiesbaden, erschienen

Drei Probleme, aber gut draufSCHULE Eine Studie belegt, dass Waldorflehrer ihren Job besser finden, als ihre staatlichenKollegen. Das tun sie aber nicht wegen, sondern trotz der Verhältnisse an ihren Schulen

Die Waldorflehrerleben für ihren Job,mitall seinen positivenund negativen Seiten

VON CHRISTOPH RASCH

Es war eine Zahl, die Ende Januargroße Aufmerksamkeit erregteunter Pädagogen und Erzie-hungswissenschaftlern: Neunvon zehn Lehrern, die mit ihremBerufzufriedensind;90Prozent,die sagen, dass sie sich imUnter-richt verwirklichen können.Wohlgemerkt: An Waldorfschu-len. So die Kernaussage einergroß angelegten Studie der Ala-nus Hochschule in Alfter beiBonn in Kooperation mit derDüsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. Zum Vergleich: Anstaatlichen Einrichtungen sindnur 70 Prozent der Lehrermit ih-rem Berufsalltag zufrieden.

DieUntersuchung ist diewelt-weit erste repräsentative Studiezu den Arbeitsbedingungen deranthroposophischen Lehrer.„Die Waldorfpädagogik war fürdie Forschung lange Zeit ein Ta-buthema“, erklärt Dirk Randolldiesen Umstand. Der 55-jährigeStudienleiter ist Professor fürempirische Sozialforschung ander Alanus Hochschule. Er sagt:„Die Einrichtungen selbst warenvorher nicht unbedingt bereit,sich einer wissenschaftlichenUntersuchung zu öffnen.“ Umsoüberraschender, dass Randollund sein TeamamEnde rund einDrittel der 8.800 deutschenWal-dorflehrer für die Studie befra-gen konnten.

Ebenfalls erstaunlich: Die ho-he Zufriedenheit der Lehrer anden 235 deutschen Waldorfschu-len gibt es offenbar nicht wegen,sondern trotz der Verhältnissean ihren Schulen. Da ist zum ei-

ORGANISCHE ARCHITEKTUR

Das Goetheanum in Dornach

Rudolf Steiner entwickelte Grundsätze einer „anthroposophisch-organischenArchitektur“,diebisheutealsVorbildanthroposophi-scher Architekten dienen und auch weiterentwickelt wurden. Ein

Klassiker ist das Goetheanum inDornach. Dort entstand die Foto-serie für das taz.thema ANTROPOSOPHIE. Einen Artikel zum The-ma Architektur finden Sie auf Seite 29. ALLE FOTOS: STEFAN PANGRITZ

nach dem Erreichen des Pensi-onsalters weiter unterrichten –viermal so viele wie an staatli-chen Schulen. „Manche Pensio-näre“, so Randoll, „haben aus fi-nanziellen Gründen auch kaumeine Alternative.“

Ein drittes Problem beschäf-tigt die Waldorfschulen: DieNachwuchsgewinnung. Bei derÜberalterung des Lehrkörpersliegen staatliche und Waldorf-schulen inetwagleichauf,derAl-tersdurchschnitt beträgt hierwie dort rund 50 Lebensjahre.Ein Grund: VieleWaldorfschulenentstanden inden1980er Jahren,die Pioniere von damals errei-chen heute das Pensionsalter.

„Waldorfschulen“, sagt Ran-doll, „können junge, engagierteLehrer oft nicht langfristig hal-ten.“ Laut seiner Erhebung zie-

Page 2: anzeigen@taz.de Impressum Redaktion: Ansgar ...download.taz.de/Anthroposophie_April_13.pdf · taz. thema | ANTHROPOSOPHIE | anzeigen@taz.de SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE

www.taz.de | [email protected] SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE TAGESZEITUNG 27taz.thema | ANTHROPOSOPHIE

VON CONSTANZE NAUHAUS

Martha hat Klauenschmerzen.Die Kuh humpelt über die Wieseund gibt kaumMilch. Solltemansie homöopathisch oder dochlieber allopathisch behandeln?Eine alltägliche Frage für den an-gehenden Biobauern WalterBuchholz. Er ist schon seit sechsUhr auf. Kühemelken, Tiere ver-sorgen–biorhythmischkanneinTag kaum geeigneter beginnen.Walter lernt im dritten Jahr. Seitdrei Wochen lebt der 20-Jährigeauf Gut Adolphshof in der Nähevon Hannover, wo er den prakti-schen Teil seiner biologisch-dy-namischen Landwirtschaftsaus-bildung absolviert.

Die vom Ökoverband Deme-ter ins Leben gerufene freie Aus-bildung ist deutschlandweit ver-schiedenaufgebaut,da jedeRegi-onalgruppederKultushoheitdesjeweiligen Bundeslandes unter-worfen ist. „Es handelt sich nichtum eine Berufsausbildung, son-dernumeineGrundausbildung“,betont Jan-Uwe Klee. Er ist Ge-schäftsführer der BäuerlichenGesellschaft, die für die freieAusbildung im Norden zustän-dig ist. Für eine staatliche Gesel-lenprüfung muss man sich zu-sätzlich anmelden. EinigeDeme-ter-Betriebe, die bestimmte Kri-

terien der Landwirtschaftskam-mer erfüllen, haben deshalbauch eine staatliche Ausbil-dungsberechtigung. Hier kannman als Lehrling gleich einenstaatlichen Abschluss als Land-wirt machen, muss dafür jedochneben der praktischen ArbeitnocheinekonventionelleBerufs-schule besuchen. „Unproduktiv“,findet Martin von Mackensen,Ausbildungs-Landwirt auf demDottenfelder Hof in Hessen,„weil man lauter Dinge lernt, dieman nicht braucht und die Din-ge, dieman braucht, nicht lernt.“

Doch was braucht man als bi-

nem Betrieb um einen Ausbil-dungsplatz, hört man meist:„Toll, deine Bewerbung, aberkomm mal lieber drei Tage vor-bei.“ SchließlichmussmandanneinigeMonateoder Jahremitein-ander leben. Die Abbruchquoteliegt deutschlandweit bei etwaeinem Drittel. „Fast alle Auszu-bildenden hatten vorher nochnie eine Harke in der Hand“,meint Jan-UweKlee von der Bäu-erlichenGesellschaft. „Vielemer-ken erstmit der Zeit, dass sie denAnforderungen des Bauernle-bens psychisch und physischnicht gewachsen sind. Oder dasssie auf der Sinnsuche, die sie zuuns geführt hat, auch hier nichtfündig werden.“

Walter hingegen hatte schonöfter eineHarke in der Hand, be-vor er einen Tag nach seinem 18.Geburtstag als Azubi auf demSiebengiebelhof imSüdenMeck-lenburg-Vorpommerns einzog.NachseinemRealschulabschlussauf der Waldorfschule und ei-nem Praktikum in dem kleinen,familiären Betrieb verbrachteder gebürtige Wuppertaler hier,in der Nähe von Schwerin, seineersten zwei Lehrjahre. Mehrma-liges Wechseln des Betriebes istwährend der Ausbildung vorge-sehen. So lerntmanunterschied-liche Bewirtschaftungsweisen

Mach mir den HofLANDWIRTSCHAFTDemeter-Betriebewirtschaftennachhaltig – auchbeimNachwuchs: eigeneAusbildungsgänge sollen ihn sichern. Die Theorie nimmt nur ein Fünftel der Zeit ein

Die Ausbildung stehtjedem offen, dieAbbruchquote liegtbeietwa einem Drittel

odynamischer Landwirt in spe?Zunächst einmal Energie. „Land-wirtschaftliche Arbeit ist hart“,weiß Markus Knösel von derLandbauschule Bodensee. „Mansollte es nicht tun, nur weil mangerade keine andere Idee hat.“Die Ausbildung steht jedem of-fen. Dem Schulabgänger ebensowie dem langjährigen BWL-Stu-denten. Bewirbt man sich bei ei-

kennen.Nette Leutehabeerwäh-rend seiner Lehrjahre getroffen,so Walter.

Begleitet wird die praktischeAusbildung auf demHof von Se-minarblöcken an Schulen odernach dem Rotationsprinzip anumliegendenHöfen.DieseTheo-rieblöcke findenmeist imWinterstatt, wenn es auf den Höfen ru-higer zugeht. Der Unterricht iststark anthroposophisch geprägt.Neben den Grundlagen des bio-logisch-dynamischen Landbausgehören auch künstlerisches Ar-beiten dazu. Zum einen dienendieseElementezurAuflockerungdes Unterrichts, zum anderenschulen sie aber Fähigkeiten, dieein Landwirt haben sollte. Dazuzählen etwa Wachsamkeit undSensibilität für natürliche Vor-gänge.

Doch der theoretische Teil be-läuft sich nur auf etwa ein Fünf-tel der Zeit. Letztendlich ist dieAusbildungso,wieWaltersiesichvorgestellt hat. Praxisnah, mitGummistiefeln in Kuhstall undGemüseacker. Seine Zukunfts-pläne? „Mal sehen, irgendwannso ein eigener Hof, das ist schonein entferntes Ziel.“ Eine ersteHürde dafür hat er geschafft.Martha ist wieder gesund. DankMercurius solubilis, einem ho-möopathischen Präparat.

Fair ist nicht gleich fair: Immermehr Konsumenten finden eswichtig, dass nicht nur der Kaf-feebauer in Costa Rica „fair“ be-handelt und bezahlt wird, son-dern auch der Mitarbeiter, derdie Bohnen in hiesige Regaleräumt. Gleiches gilt für andereProdukte – vomPullover bis zumGirokonto.

Für viele anthroposophischinspirierte Unternehmen ist dasnichts Neues, für sie war die Le-bensqualität der Mitarbeiterschon immer ein gleichwertigerFaktor neben Gewinn undWachstum. Mittlerweile wirktdieses Prinzip sogar als veritab-ler Jobmotor – Betriebe wie dm,Alnatura oder die GLS Bank bie-ten rund 75.000 Arbeitsplätze inDeutschland. „Wirtschaft ist fürden Menschen da und ohne denMenschen gibt es keine Wirt-schaft. Insofern sollte derMensch beim Wirtschaften im-mer im Mittelpunkt stehen“,

Geist als KapitalWERTEObBauer, Banker oder Fabrikant: AlternativwirtschaftendeUnternehmer zeigen, dass es sich lohnt,den Menschen in denMittelpunkt zu stellen. Mit Nachhaltigkeit rechnet sich auch die Rendite

stellt Theo Stepp fest. Er ist Pres-sesprecher bei Weleda, Herstel-ler von Naturkosmetik und Arz-neimitteln. Offenheit und Ver-trauenbeimKundenundbei denMitarbeitern haben Priorität.

Nicht nur in diesem Punkt er-greifen anthroposophischorien-tierte Unternehmen die Initiati-ve. Arbeits- und Lebensziele derMitarbeiter möchte man in Ein-klang bringen, „indem wir mitvielen Maßnahmen die Verein-barkeitundFamilieundBerufer-möglichen“, so Stepp. Dazu ge-hört auch das hauseigene Pro-gramm„Wecare“, das aufdieNot-wendigkeiten der häuslichenPflege für ältere, hilfsbedürftigeFamilienmitglieder antwortet.BeiderGestaltungdesArbeitsall-tags wird darauf geachtet, dasseine Atmosphäre von Respektund Wertschätzung geschaffenwird. In der Ausbildung werdenbeispielsweise in Theater-Work-shops Team- und Kommunikati-

onsfähigkeiten vermittelt, sowiesituationsangemessenes undflexibles Handeln gefördert.

Wer dabei nur an Ausdrucks-tanzdenkt, verkenntdieeigentli-che Intention.Esgehtdarum,sei-ner Individualität Ausdruck zuverleihen und Konflikte zu the-matisieren. „Wir verstehen unsals lernende Arbeitsgemein-schaft. In diesem Sinne versu-chen wir dem Einzelnen mög-lichst vielfältige Entwicklungs-möglichkeiten bei gleichzeitigerÜbertragung von Verantwor-tung im Unternehmen zu er-möglichen“, betont Götz E. Rehn,geschäftsführender Gesellschaf-ter der Bio-Supermarktkette Al-natura. Der Dialog auf Augenhö-he wird großgeschrieben, Hier-archien werden dagegen flach-gehalten.

Alternative Wirtschaftskon-zepte brauchen aber auch über-zeugte Initiatoren. Dazu gehörtGötz W. Werner, einstiger Grün-

der und heute Aufsichtsratsmit-glied von dm. Den Erfolg von an-throposophisch inspiriertenUn-ternehmen erklärt er sich mitder Kombination aus Erkenntnisund Handeln: „Denn es brauchtEinsichten und Können, Initiati-ve und Geistesgegenwart. Mitden Erkenntnissen kann ich mirWissen über die Gesetzmäßig-keiten in der Entwicklung vonMenschen und Gemeinschaftenerarbeiten“, erklärt er.

Das Konzept scheint aufzuge-hen: dm kommt nicht nur in ak-tuellen Mitarbeiterbefragungengut weg, laut KundenmonitorDeutschland 2012 steht manauch in der Gunst der Konsu-menten ganz oben. Alnaturakonnte seinen Gewinn 2012 imVergleich zum Vorjahr um elfProzent steigern. Die Bilanzsum-me der sozial-ökologischen GLS-Bankist imvergangenenJahrum20 Prozent gewachsen.

VIVIEN BERGELT

Das heute bestehende Goetheanum wurde 1925 bis 1928 errichtet

Page 3: anzeigen@taz.de Impressum Redaktion: Ansgar ...download.taz.de/Anthroposophie_April_13.pdf · taz. thema | ANTHROPOSOPHIE | anzeigen@taz.de SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE

28 SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE TAGESZEITUNG taz.thema | ANTHROPOSOPHIEwww.taz.de | [email protected]

und Geburtshilfe im Gemein-schaftskrankenhaus Havelhöhe.„Vieledenken,dass es sichbeideranthroposophischen Medizinum eine Alternativmedizin han-delt. Aber das stimmt nicht“, er-gänzt die Hebamme MarionBrüssel. „Wir nutzen die ganznormale Schulmedizin und ha-ben dabei die anthroposophi-scheMedizin auf unserer Seite.“

Damit ist eine ganzheitlicheMedizin gemeint, die nicht nurmessbare Befunde berücksich-tigt, sondernauchdie individuel-le Lebenssituation eines Men-schen. Körper, Seele und Geistwerden als eine Einheit verstan-den. „Rudolf Steiner hat einmalgesagt, es gibt so viele Gesund-heiten,wieesMenschengibt.Aufdie Geburtshilfe übertragenkann man sagen, es gibt so vieleGeburten, wie es Schwangeregibt“, sagt Marion Brüssel. KeineFrauwerde in eine Schablone ge-

macht mich sicherer, dass ichhier eine PDA [Periduralanästhe-sie, die Red.] bekommen kann,wenn ich die Schmerzen nichtaushalte.“Zuerst sei sie skeptischgewesen, ob eine anthroposo-phische Klinik für sie das Richti-ge sei. „Aber alle Freunde habenunglaublich geschwärmt überihre tollen Entbindungen hier.Dann haben uns die Besichti-gung und der Infoabend auchüberzeugt“, so die 38-Jährige, diemit ihrem ersten Kind schwan-ger ist und gemeinsam mit ih-remMann, Andreas Leupold, ge-rade das einstündige und inten-siveAufnahmegesprächwahrge-nommen hat.

„Hier glaubt man an die Kraftder Frauen und dass sie wissen,

was sie selbst machen müssen“,berichtet Sabrina Kleinenham-mans. Sie hat vor kurzem ihrzweites Kind hier entbunden,„Knöpfchen“. Ganz leicht hatteihr Sohn es nicht: Unter der Ge-burt wurden seine Herztöneschlechter, und als er geborenwar, konnte er zuerst nichtselbstständig atmen. „Selbst indieser kritischen Situation blie-ben alle ruhig und besonnen“,schildert die 36-Jährige. „Knöpf-chen“ erholte sich schnell undam dritten Lebenstag durfte ernach Hause. „Mich hat die guteTeamarbeit sehr beeindruckt.Ich habe mich nie alleine gelas-sen gefühlt, aber auch nicht ent-mündigt“, lobt Sabrina Kleinen-hammans.

„Wir sind hier ein großes Or-chester“, beschreibt Herbstreitdas Miteinander auf der Station.„Alle Berufsgruppen arbeiten in-terprofessionell und in flachenHierarchien auf gleicher Augen-höhe zusammen.“ Von Vorteilsei, dass die Geburtshilfe mit 23Beleghebammen zusammenar-beitet. „So könnenwir sehr flexi-bel reagieren, wenn viel los istoder eine Geburt problematischverläuft“, schildert Marion Brüs-sel. Zwei haben immer ihren 12-Stunden-Dienst vor Ort, zwei ha-ben Rufbereitschaft zu Hause,tagsüber hält eineHebammedieAufnahmegespräche ab, eine dieVisite. Auch bei normalen Ge-burten kommt immer ein Arztoder eine Ärztin hinzu.

Besonders spezialisiert sinddie anthroposophischen Ge-burtshelfer auf spontane, vagi-nale Geburten trotz Beckenend-lage,wennalsodasKindstattmitdem Kopf nach unten mit demKopf nach oben in der Gebär-mutter liegt. Anderenorts wirdden Schwangeren dann zumeistein Kaiserschnitt empfohlen.Hier nicht, nur wenn die Geburtwirklich zu risikoreich ist. Nichtverwunderlich ist es, dass die an-throposophischenGeburtsabtei-lungen sehr viel niedrigere Kai-serschnittraten haben als imBundesdurchschnitt üblich.Auch äußere Anwendungenwer-den angeboten, etwa rhythmi-sche Massagen oder Einreibun-gen. Für viele Schwangere auchwichtig: Das Stillen wird unter-stützt.

Alles auf AnfangGEBURT Während der Schwangerschaft kümmern sich anthroposophisch inspirierteGeburtshelferinnen ganz besonders um seelische Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung

300 Babys kamen1998 in der KlinikHavelhöhe zur Welt,2012 waren es 1.268

VON VERENA MÖRATH

Wenn es einen Trend bei den Ge-burten gibt, dann lautet der inDeutschland schon seit Jahren:Stagnation. Nicht so inmanchenanthroposophischenGeburtsab-teilungen, denn sie können aufsteigende Zahlen verweisen. Vie-le Schwangere nehmen sogarsehr lange Anfahrten in Kauf,um in den Geburtsstationen derdrei großen anthroposophi-schen Akutkliniken in Deutsch-land zu entbinden: im Gemein-schaftskrankenhaus Havelhöhein Berlin, im Gemeinschafts-krankenhaus Herdecke in Wit-ten-Herdecke oder in der Filder-klinik bei Stuttgart. Sie entschei-den sich ganz bewusst für eineAlternative – doch warum ei-gentlich?

„Das mag daran liegen, dasswir immer eine natürliche Ge-burtunterstützenundbefürwor-ten, aber gleichzeitig allemedizi-nischen Möglichkeiten haben,um bei Komplikationen einzu-greifen. Wir liegen mit dieserdoppelten Ausrichtung zwi-schen einem Geburtshaus undeinem normalen Krankenhaus“,erklärt Cornelia Herbstreit, lei-tende Ärztin der Gynäkologie

Der Begriff „organische Architektur“ bezeichnet Strömungen der modernen Architektur, definiert jedoch keinen klar beschriebenen Baustil

presst, sondernmit ihrer Biogra-fie, ihren Erfahrungen, Ängstenund Wünschen ernst genom-men. Es werde großer Wert dar-auf gelegt, die Frauen zu beglei-tenund ihnennichtsüberzustül-pen. „Wir holen die Frauen im-mer mit ins Boot. Es wird nichtseinfach gemacht“, betont dieHebamme.Esgelte, dieEigenver-antwortung und Selbstbestim-mung der Frauen zu stärken.

Genau diesen Umgang wün-schen sich anscheinend immermehr Schwangere. 300Babys ka-men im Gründungsjahr der Ge-burtshilfe im Gemeinschafts-krankenhaus Havelhöhe 1998zurWelt, 2012warenes 1.268.Nurwenige Schwangere leben in dernahen Umgebung, ein Drittelreist aus Brandenburg an, vielekommen aus den innerstädti-schen Berliner Bezirken, wo esgenügend und viel nähere Ange-bote gibt.

„Für eine Entbindung im Ge-burtshausbin ichnichtmutigge-nug“, erzählt beispielsweiseAbakLeupold aus Berlin-Mitte. „Es

ANZEIGE

...............................................................................................................................

...............................................................................................................................Wegweiser

■ Eine Übersicht über anthropo-sophische Geburtshilfen findenInteressierte unter www.anthro-med.de/de/kliniknetzwerk oderwww.anthro-kliniken.de/d.html■ Die „Hotline Anthroposophi-sche Medizin“, ein gemeinsamesAngebot des Dachverbands für An-throposophische Medizin inDeutschland (DAMiD), der Gesell-schaft Anthroposophischer Ärztein Deutschland (GAÄD) und vongesundheit aktiv, berät und infor-miert Mo. bis Fr. 9 bis 12 Uhr, Mo.bis Do. auch 14 bis 16 Uhr unter (018 03) 30 50 55. (vm)

Page 4: anzeigen@taz.de Impressum Redaktion: Ansgar ...download.taz.de/Anthroposophie_April_13.pdf · taz. thema | ANTHROPOSOPHIE | anzeigen@taz.de SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE

www.taz.de | [email protected] SONNABEND/SONNTAG, 6./7. APRIL 2013 TAZ.DIE TAGESZEITUNG 29taz.thema | ANTHROPOSOPHIE

alltäglichen Lebensräume ist eswichtig, mit verschiedenstenElementen Vertrautheit, Über-schaubarkeit und Kontrollier-barkeit der Umgebung zu ver-mitteln“, erklärt Uwe Scharf. VielLicht hilft dabei, so ist der Ge-meinschaftsraum nach Südenausgerichtet und besitzt einegroße Fensterfront. Lange, unbe-lichtete Flure gibt es nicht. DieFußböden der Zimmer, derKoch- und Essecke sowie des ge-meinsamen Wohnbereichs ha-ben jeweils unterschiedliche Far-ben. So sollen die Bewohner bes-ser erkennen, wo sie sich geradebefinden.

Organische Architekturent-würfe aus dem Umfeld der An-throposophie bevorzugen poly-gone Winkel, also Drei-, Vier- undSechsecke. Gute Beispiele fürdiesen Baustil sind neben demHaus Aja-Textor Goethe die Fil-derklinik in Stuttgart und das Ge-meinschaftskrankenhaus Her-decke. Sie heben sich wenigervon ihrer Umgebung ab als ande-re Funktionsbauten. Vor allemdie langgestreckten Gebäudeund das leicht geschwungeneDach der Filderklinik erinnernan Hügelrücken in einer Land-schaft. Die Häuser wirken einla-dend und warm, aber mit ihrenpolygon gerundeten Formenauch etwas unübersichtlich.Könnte denn das strahlend gelbeund kubistisch anmutende Badin Aja’s Gartenhaus demenz-kranke Menschen nicht auchdurcheinanderbringen? „Das istein Raum für herausgehobeneZeiten, in denen es eine in derprofessionellen Pflege so selteneEins-zu-eins-Beziehung gibt,und das etwa 30 bis 45 Minutenlang“, beruhigt Scharf. „UnsereBewohner und die Mitarbeiterfühlen sich hier sehr geborgen.“

Optische Ankerim Hier und JetztARCHITEKTUR Bei der Betreuung von alten Menschen kommt Farbeund Form große Bedeutung zu: „demenzfreundliche“ Architektursoll sinnlich erfahrbare Referenzpunkte im Raum schaffen

Die Fußböden derZimmer, der Koch-und Essecke sowiedes gemeinsamenWohnbereichs habenjeweils unterschied-liche Farben. So sollendie Bewohner bessererkennen, wo sie sichgerade befinden

VON ANGELIKA SYLVIA FRIEDL

In der sachlichen Architektur derModerne ist klare Kante gefragt.Doch das ist nicht in allen Le-bensbereichen wirklich hilf-reich: der organische Architek-turimpuls der Anthroposophieerlebt deswegen gerade im sozia-len und therapeutischen Bereicheine Renaissance. Besonders beider Betreuung von alten Men-schen kommt dem intuitiven Zu-sammenwirken von Farbe undForm besondere Bedeutung zu:eine „demenzfreundliche“ Ar-chitektur soll sinnlich erfahrba-re Referenzpunkte im Raumschaffen.

Wie gut diese Idee in der Pra-xis funktioniert, zeigt etwa dasProjekt „Aja’s Gartenhaus“ inFrankfurt am Main. Das 2007 er-richtete Wohnheim ist dem Sozi-alpädagogischen Zentrum fürLebensgestaltung im Alter, demHaus Aja Textor-Goethe, ange-schlossen. Im Gartenhaus lebenjeweils acht demenzkranke Men-schen in vier großen Wohnun-gen zusammen. Zentrum undKraftquelle jeder Wohnung stelltder etwa hundert Quadratmetergroße Gemeinschaftsraum dar.Hier gibt es reichlich Platz für ei-ne Küche mit Kochinsel, einenEssplatz für zehn Personen sowieabgetrennt durch flexible Raum-teiler, ein Wohnzimmer mit So-fas, Sesseln und einer Ofenbank.Vom Kochplatz aus haben dieMitarbeiter, „Lebensbegleiter“genannt, einen guten Überblickauf den Raum und auf die acht L-förmig angeordneten Einzelzim-mer, die sich jeweils rechts undlinks um den Raum herum grup-pieren. „Es gibt also nur drei Ele-mente, rechts, Mitte und links.Das können die Bewohner leichtüberschauen, ohne herumzuir-

Die Proportionen des menschlichen Körpers dienen bei der Innengestaltung als Maßstab

ren“, erläutert Uwe Scharf, derLeiter des Zentrums. Auch dieFarbgebung des Hauses und derWohnungen sollen die Sinne an-regen. Das ganze Wohnumfeld istdaher in warme Farbtönen ge-taucht, vom rötlichen Ocker übersandfarbene Töne bis hin zu ei-nem sonnigen Gelb.

Geborgenheit und Sicherheitwerden so vermittelt, genausowie durch die Form des großenBaderaum, in dem kaum einrechter Winkel zu finden ist. De-cken- und Wandflächen hat einfantasievoller Künstler kanten-los miteinander verbunden – dasGemeinschaftsbad sieht wie eineHöhle aus und kommt der Ideedes Organischen sehr nahe. „Ins-besondere bei der Gestaltung der

wicklungen klar wird und sichweiterentwickelt.

Ganz deutlich sichtbar wer-den diese Entwicklungsstufenimmer dann, wenn der MenschProbleme hat oder in eine Krisegerät. Wenn es dem Betroffenenbeispielsweise schwerfällt, Ver-antwortung für sein eigenes Le-ben zu übernehmen oder er anseinem Arbeitsplatz immer wie-der in Konflikte gerät. „Da stecktetwas hinter. Nichts passiert zu-fällig“, sagt Seyffer.

Gespür für das eigene Thema,die eigene Mission zu bekom-men, ist Sinn und Zweck seinerArbeit mit Menschen. Und diese„eigene Mission“ hat jeder, sagtSeyffer und verweist dabei aufJoseph Campell und sein Buch„Die zwölf Stadien der Helden-reise“. Campells Ansatz bezieht

Seyffer in seine Arbeit mit ein.Der amerikanische Professor Jo-seph Campell war bekannt fürseine Forschungen auf dem Ge-biet der Mythologie und klassifi-zierte die Taten eines „typischenHelden“ bis zur Erlösung in ver-schieden Stufen. „So hat auch je-der Mensch eine Art Aufgabe,Dinge in sich selbst zu erlösen“,erklärt Seyffer.

Seyffer bittet seine Klienten,ihr Leben als einen Fluss auf einzwei Meter langes Papier zu ma-len. Einfach so aus der Intuitionheraus. Am Ende der Biografiear-beit bittet er seine Klienten, ihrLeben erneut als Fluss zu malen.„Die Veränderung zu vorher istimmer sehr erstaunlich. Oft sindweniger dunkle Stellen – wenigerRegenwolken zu sehen“, berich-tet der Biografieberater.

Inzwischen haben sich die zu-nächst einzeln und verstreut tä-tigen Biografiearbeiter in der Be-rufsvereinigung Biografiearbeitauf Grundlage der Anthroposo-phie e. V. zusammengeschlossenund ihre Aufgabenfelder undHerangehensweisen schriftlichniedergelegt.

CONSTANZE BROELEMANN

www.biographie-arbeit.com

biographiearbeit.de

„Leben im Rückspiegel“ORIENTIERUNG Unser Leben ist mehr als nur eine Summe von Anekdoten:Biografiearbeit möchte dabei helfen, den „Lebensfaden“ zu entdecken

Warum passieren mir immerwieder das Gleiche? Wie konnteich nur in diese Krise geraten?Wohin führt mein Weg? „GeradeMenschen im Alter zwischenMitte dreißig und Mitte vierzigstehen auf einmal an einemPunkt, an dem sie sich fragen, woist eigentlich der rote Faden inmeinem Leben?“, weiß WalterSeyffer. Der erfahrene Biografie-berater begleitet Menschen,wenn sie in Zuständen innererUnsicherheit und Zerrissenheitsind. Einige dieser Situationenkönnte man neudeutsch auch alsMidlife-Crisis bezeichnen.

Der 63-Jährige unterstütztFrauen und Männer dabei, ihreneigenen Lebensweg zu verste-hen. Innerhalb von bis zu zwan-zig Sitzungen erzählen seine Kli-enten ihre ganze Biografie. Undzwar komplett – von vorne bishinten. „Bereits während diesesdurchgehenden Erzählens ent-wickelt sich eine Eigendynamik.Ereignisse rücken in das Be-wusstsein, die möglicherweisejahrelang weggeschoben wor-den sind“, sagt er. Doch beim blo-ßen Erzählen der Lebensge-schichte bleibt es nicht. Ziel derBiografiearbeit ist, dass derMensch sich der eigenen Ent-

ANZEIGE