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ARGUMENTE 4/2010 Integration? Chancengleichheit!

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Page 1: Argumente 4/2010 Integration? Chancengleichheit! 4 ... · Islam, statt sich mehr Gedanken um Wege der Integration und Möglichkeiten gesell-schaftlicher Partizipation zu machen. Ju

Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 BerlinDezember 2010

ISSN 1439-9784Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente

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4/2010Integration? Chancengleichheit!

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Impressum

Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-ParteivorstandVerantwortlich Sascha Vogt und Jan BöningRedaktion Thilo Scholle, Simone Burger, Ralf Höschele, Robert SpönemannRedaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10911 BerlinTel: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.deVerlag EigenverlagDruck Druckhaus Dresden GmbH

Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

ARGUMENTE4/2010Integration? Chancengleichheit

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2 Inhalt Argumente 4/2010

INHALT

Intro............................................................................................................................4Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Schwerpunkt

Es geht nicht um den Islam, sondern um soziale Gerechtigkeit..............................5Von Sineb El Masrar, Herausgeberin der Frauen-Zeitschrift „Gazelle“

Zur aktuellen Integrationsdebatte............................................................................7Von Rüdiger Veit, MdB, Vorsitzender der Querschnitts-AG Migration/ Integration der SPD-Bundestagsfraktion

Chancengleichheit, Teilhabe, Anerkennung, Antidiskriminierung – Worum es in der Integrationsdebatte eigentlich gehen müsste….........................9Aufruf zur Debatte

Integrationspolitik bei den Jusos............................................................................13Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Wer gehört zum neuen Deutschland?....................................................................17Von Dr. Naika Foroutan, Leiterin des VW-Forschungsprojektes „Hybride Europäisch-muslimische Identitätsmodelle/ HEYMAT“ an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die neue kulturelle Avantgarde..............................................................................27Von Eren Güvercin, freier Journalist

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Was ist eigentlich Rassismus? .................................................................................30Von Karima Benbrahim, Referentin bei IDA e. V.

Leitkultur und antimuslimischer Rassismus: um was geht es bei Integration eigentlich? Ein Kommentar zu den aktuellen Debatten........................................33Von Ilhan Altiparmak, studiert Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der Universität Heidelberg

Integrationsmainstreaming als Konzept.................................................................38Von Günther Schultze, Leiter des Gesprächskreises Migration und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung

Gesellschaftliche Vielfalt anerkennen: Aktuelle Bücher zur Integrationsdebatte....43Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Feminismus in der Einwanderungsgesellschaft – ein Aufschlag zur Debatte.......48Von Matthias Ecke, Daniela Kaya und Elena Pieper

Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungschancen junger Menschen..................52Von Dr. Mona Granato, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn

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4 Intro Argumente 4/2010

Auch im Jahr 2010 wurde wieder vielüber „Integration“ diskutiert. Was sichgenau hinter diesem Begriff verbirgt,kann aber niemand sagen. Eine wirk -liche Begriffsklärung wird jedenfalls inden öffentlichen Diskussionen nur sel-ten vorgenommen, und wenn, danndriften viele Vorstellungen ins Absurde,wie die Diskussion über eine „deutscheLeitkultur“ als Orientierungspunkt fürdie Integration sehr eindrücklich ge-zeigt hat.

Es ist offensichtlich, dass zwar viele Dis-kussionsteilnehmerInnen von MigrantIn-nen eine „Integration“ in die Gesellschaftverlangen, selbst aber keine Vorstellung da-von haben, was „die“ Gesellschaft eigent-lich ausmacht. Anstelle der empirischenRealität von völlig unterschiedlichen Le-bensstilen und Identitäten, Wertvorstel lun -gen und politischen Einstellungen wird im -plizit immer nur von der eigenen Lebens-realität ausgegangen. Dass eventuell zweiIngenieure aus unterschiedlichen Her -kunfts ländern mit einander mehr gemein-sam haben als mit Angehörigen andererBe rufsgruppen in ihrem Herkunftsland,wird ignoriert. Von Chancengleichheit zwi -schen Menschen mit und ohne Migrations-hintergrund sind wir zudem in allen Le -bens bereichen noch weit entfernt!

Wie selbstverständlich vorausgesetztwird zudem, dass die Gesellschaft, in diesich jemand „integrieren“ soll, dies auchwill. In der Folge werden reale Ausgren-

zungen und Diskriminierungen von Men-schen mit Migrationshintergrund zum Bei -spiel im Bildungssystem und auf dem Ar-beitsmarkt ignoriert und kleingeredet,während sich die deutsche Mehrheitsge-sellschaft bequem zurücklehnen kann: „In-tegrationsverweigerer“, dass sind doch dieMigrantInnen, nicht ein Deutscher, der ausPrinzip keinem „Südländer“ eine Wohnungvermieten will... Diese Logik gilt es end-lich umzukehren!

Vor diesem Hintergrund fühlen sich vie -le gerade junge Menschen mit Migrations-hintergrund von der ständigen Forderungnach „Integration“ persönlich verletzt. Wirhaben als Jusos daher einen Aufruf mit initi-iert, der diese Verletztheit aufgreifen sollte,und der auch in diesem Heft abgedruckt ist.

Der im Herbst 2010 lancierte Aufruf„Demokratie statt Integration“ (http://www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/)nimmt noch einen weiteren wichtigenPunkt in den Blick: Ist es eigentlich demo-kratisch, wenn eine Mehrheit für eine Min -derheit definiert, was eigentlich „Integrati-on“ ist, diese aber kein Mitspracherecht beider Diskussion hat, weil sie tatsächlich(durch eine ausländische Staatsangehörig-keit) oder faktisch von öffentlichen Debat-ten ausgeschlossen ist?

Daher wollen wir im vorliegenden Heftnicht in die Falle tappen, nun diverse eige-ne Begriffe von Integration zu entwickeln.Für uns Jusos muss in dieser Frage immernoch in erster Linie gelten: Integration?Chancengleichheit! .

INTROVon Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

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Jahrzehntelang glaubte die deutschePolitik, die zweite und dritte Genera -tion der Einwanderer würde sich auto-matisch integrieren. Im Unterschied zu ihren Eltern würden sie weder mitSprachproblemen noch mit Konfliktenum Werte und Normen zu kämpfenhaben. Heute, vierzig Jahre später, ge-hören Arbeitslosigkeit, Gewalt und Kri-minalität für einen Teil der Migrantenzum Alltag. Als Ursachen dafür werdenvor allem bei jungen Muslimen auchTradition und Religion genannt.

Die Folge: Seit Jahren diskutieren sowohlMuslime als auch Nichtmuslime über denIslam, statt sich mehr Gedanken um Wegeder Integration und Möglichkeiten gesell-schaftlicher Partizipation zu machen. Ju-gendliche Gewalttäter stammen in der Re-gel aus schwierigen familiären Verhältnis-sen. Einige von ihnen sind muslimischenGlaubens und Nachkommen der ersten sogenannten Gastarbeiter und politischer

Flücht linge. Die vielfach von Arbeitslosig-keit betroffenen Eltern sind wegen ihrerbe nachteiligten Situation und ihres man-gelnden Verständnisses dafür, worauf es inDeutschland ankommt, oft kaum in derLage, ihre Kinder beim Integrationspro-zess zu unterstützen. Bereits im Vorschul-alter treten Sprachprobleme auf, die aufman gelnde und schlechte Kommunikationim Elternhaus zurückgehen – wobei dieswahrlich kein Problem ist, das nur bei Mi-granten zu beobachten wäre. Diese Defizi-te verschärfen sich in der Schule. Die El-tern vermeiden die Auseinandersetzung mitden Lehrern und sind hilflos, wenn es dar-um geht, ihre Kinder in der Schule zu un-terstützen. Eine Förderung findet zu Hau-se kaum statt. Die Hoffnung, die Kinderwürden schon in der Schule „gebildet“,wird schnell enttäuscht – das Bildungsni-veau und die soziale Lage bleiben unbefrie-digend. Die früh eintretende Frustrationund der Wunsch, einen gewissen gesell-schaftlichen und materiellen Status zu er-

ES GEHT NICHT UM DENISLAM, SONDERN UM SOZIALE GERECHTIGKEITVon Sineb El Masrar, Herausgeberin der Frauen-Zeitschrift „Gazelle“

Schwerpunkt

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6 Es geht nicht um den Islam, sondern um soziale Gerechtigkeit Argumente 4/2010

reichen, ist gerade für männliche Jugend -liche ein Anreiz, sich kriminellen Bandenan zuschließen. Dort erhoffen sie sich An-erkennung und das schnelle Geld. Dass siekriminell handeln, ist ihnen bewusst. Dochaus ihrer Sicht bieten sich kaum Alternati-ven – und ob das nun mit der eigenen Re-ligion vereinbar ist oder nicht, spielt für siezunächst keine Rolle. Dabei ist es ohneZwei fel so, dass vor allem junge Muslimeeinem Wertekonflikt ausgesetzt sind. Aufder einen Seite steht ein meist konservati-ves Elternhaus, auf der anderen eine deut-sche Gesellschaft, die ihnen oftmals unmo-ralisch und diskriminierend erscheint. Fürsie sind alle Deutschen gleich, egal ob armoder reich, ob gebildet oder nicht. Deswe-gen sehen sich viele junge Muslime vor ei-ner Wahl: Sie müssen sich für oder gegendie deutsche Gesellschaft entscheiden. EineZusammenführung beider Kulturen kommtihnen gar nicht erst in den Sinn. Und sofällt die Entscheidung oft für die Her -kunfts kultur ihrer Eltern, mit deren Regelnsie vertrauter sind – was in manchen Fällenauch bedeutet, dass sie archaischen Bräu-chen Verständnis entgegen bringen. In ih-rem abgeschotteten Umfeld gibt es kaumjemanden, der solchen Sichtweisen wider-sprechen würde. Vor diesem Hintergrundsind es dann oft religiöse Vereine, die Ju-gendlichen eine Alternative anbieten undihnen versprechen, dass der Islam die Lö-sung für alle persönlichen Probleme sei.Tat sächlich werden unter der Obhut vonImamen aus Jugendlichen, die mit Klein-kriminalität und Drogen Ärger hatten, oftüberzeugte, konservative Muslime. Dochan ihrer Arbeitslosigkeit und ihrer man-gelnden Bildung ändert dies nichts. Der Is-lam kann bestenfalls eine Brücke sein, aberer ist selten die Ursache und sicher nochseltener eine Lösung für die bestehenden

Probleme. Es geht also – und das muss dieMehrheitsgesellschaft verstehen lernen –nicht um den Islam, sondern um Integrati-on und soziale Gerechtigkeit! Schließlichhaben die Mehmets und die Petras inDeutsch land die gleichen Wünsche für ihrLeben. Und so wie auf der einen Seite eineSonderbehandlung von Muslimen der fal-sche Weg wäre, so ist es auf der anderen fürdie Migranten an der Zeit, hier anzukom-men und in dieser Gesellschaft aktiv zuwerden. Zuhause in der Küche kann jadann wieder jeder – egal ob Deutsch, Ko-reanisch oder Türkisch – sein eigenesSüppchen kochen. .

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Es ist an der Zeit, dem aktuell in deröffentlichen Integrationsdebatte ge-zeichneten katastrophalen Bild derEinwanderungsgesellschaft in Deutsch -land und dem häufig beschworenenvollkommenen Scheitern der Integra -tion ein anderes Bild entgegenzusetzen.Denn die Debatte wird von einer dop-pelten Schuldzuschreibung dominiert.Auf der einen Seite sind da die „inte-grationsunwilligen“, häufig sogar „in-tegrationsunfähigen“ Migranten, aufder anderen Seite ist die latent oderoffen fremdenfeindlich eingestellteMehrheitsgesellschaft. Integration gelingt oder misslingt jedoch nichtinsgesamt und abstrakt, sondern inder jeweils konkret erfahrenen Nach-barschaft, am Arbeitsplatz, in derSchule, im Verein, um nur einige Bei-spiele zu nennen.

Im Rahmen der Evaluierungen für das Jahresgutachten des Sachverständigenratesdeut scher Stiftungen für Integration undMigration wurde die Zuwanderer- als auchdie Mehrheitsbevölkerung genau nach ih-rer Zufriedenheit in diesen zentralen Le-bensbereichen befragt. Wie ist das Ver-ständnis von Integration eigentlich im ge-lebten Alltag? Natürlich wird dies von denEinzelpersonen unterschiedlich bewertetund ich will keinesfalls verharmlosen odergar negieren, dass es gerade hier auch star-ke Defizite gibt – gerade z. B. im BereichSchule, wo sich immer wieder deutlich zeigt,dass besonders bildungsorientierte Men-schen mit und ohne Migrationshintergrundund höherem Sozialniveau ihre Kindernicht auf Schulen mit einem hohen Aus-länderanteil schicken wollen. Die Studiekommt jedoch zu dem Ergebnis, dass derIntegrationsalltag in den sozialen Lebens-bereichen sowohl von der Zuwanderer- alsauch der Mehrheitsgesellschaft im Durch-schnitt durchaus als positiv wahrgenom-men wird!

ZUR AKTUELLEN INTEGRATIONSDEBATTEVon Rüdiger Veit, MdB, Vorsitzender der Querschnitts-AG Migration/ Integration derSPD-Bundestagsfraktion

Schwerpunkt

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8 Zur aktuellen Integrationsdebatte Argumente 4/2010

Beide Seiten haben demnach im Um-gang mit Integration und gesellschaftlicherHeterogenität meistens gute Erfahrungengemacht. Kulturelle Vielfalt wird in der Re -gel als Gewinn wahrgenommen und Ab-schottung abgelehnt.

„Integration“ ist für mich ganz prak-tisch die gleichberechtigte Teilhabe am ge-sellschaftlichen und politischen Leben, undwie aus dem Jahresgutachten des Sachver-ständigenrates hervorgeht, deckt sich diesmit der Vorstellung von Integration derMenschen, die in diesem Land mit undohne Migrationshintergrund zusammen -leben: Beide Seiten denken dabei an Wir-kungen im sozialen Nahbereich.

Beide Seiten wünschen und hoffen aufmehr soziale Gerechtigkeit, auf mehr indi-viduelle und gesellschaftliche Chancendurch Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,gerechtere und bessere Bildungschancen,Sprachkurse und die Bekämpfung von Dis -kriminierung.

Integration ist damit vor allem aucheine soziale Frage. Darum sollte es in deröffentlichen Diskussion eigentlich darumgehen, wie wir soziale Gerechtigkeit wiederherstellen, die immer größer werdendeSche re zwischen Arm und Reich bekämp-fen und ein Schulsystem schaffen, dass esnicht nur der Bildungselite ermöglicht,pro blemlos bis zum Abitur zu gelangen. Sowar die Arbeitslosenquote bei Ausländern2007 mit 20,3 Prozent beispielsweise etwadoppelt so hoch wie in der Gesamtbevöl-kerung, sie haben mit knapp 27 Prozent eindoppelt so hohes Risiko zu verarmen undsie sind mit 21 Prozent doppelt so häufigauf Mindestsicherungsleistungen angewie-sen. Das muss sich ändern und dabei willich mithelfen. .

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Aufruf zur Debatte

Die Kakophonie an Wortmeldungen in der„Integrationsdebatte“ der letzten Wochenist kaum noch zu überblicken. Auffällig istvor allem eins: Ein Großteil derjenigen, diesich jetzt ausgiebig zu Fragen der Integra-tionspolitik äußern, haben in der Vergan-genheit stets negiert, dass Deutschland über -haupt ein Einwanderungsland ist. Schlimmernoch: Immer wieder melden sich Stimmenzu Wort, die diese Behauptung auch heutenoch aufrechterhalten, und unverhohlendavon sprechen, dass in Deutschland ei gent -lich schon zu viele „AusländerInnen“ – unddarüber hinaus auch die falschen – lebenwürden.

Verbunden damit gefallen sich viele inpauschalen Urteilen und Einschätzungenzur „Integrationsfähigkeit“ von Menschen

aus bestimmen Herkunftsregionen odermit bestimmten Religionszugehörigkeiten(unabhängig davon, ob diese Menschen sichselbst überhaupt über eine Religion oderüber ihre Herkunft definieren).

An den tatsächlichen gesellschaftlichenHerausforderungen geht diese Art von De-batte auf dramatische Art und Weise vor-bei. Sie befördert Stereotype und Klischees,und ist in Teilen schlicht rassistisch. Indivi-duelle Erfolgsgeschichten und die ganz ba-nale Tatsache, dass das Zusammenleben un -terschiedlichster Menschen in Deutschlandin der Regel funktioniert, werden ignoriert,oder als Einzelfälle abgetan. Gerade jungeMenschen werden auf ihren (als problema-tisch dargestellten) Migrationshintergrundreduziert, die Normalität ihrer Wünsche,Träume und Pläne, ihr Anspruch, hier gleich -berechtigt ihr Leben zu gestalten, wird ab-

CHANCENGLEICHHEIT,TEILHABE, ANERKEN-NUNG, ANTIDISKRIMI-NIERUNG – WORUM ESIN DER INTEGRATIONS-DEBATTE EIGENTLICHGEHEN MÜSSTE...

Schwerpunkt

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10 Chancengleichheit, Teilhabe, Anerkennung, Antidiskriminierung Argumente 4/2010

getan, obgleich sie meist gar kein anderesLand als die Bundesrepublik als Heimatkennen.

WortwahlundPauschalisierungenderAr -gumentation sind zudem enorm verletzend.Sie führen bei vielen – gerade jungen – Men -schen mit Migrationshintergrund jetzt zuResignation und zu einem Gefühl der Aus-geschlossenheit, da ihnen durch eine breiteÖffentlichkeit vermittelt wird, in Deutsch-land nicht erwünscht zu sein und nicht ge-braucht zu werden.

Es geht in dieser Debatte eben nichtdarum, „Probleme“, die zu lange ignoriertworden seien, endlich auszusprechen. Werdie Debatten um Integration in den letztenJahrzehnten verfolgt hat, findet nahezu injedem Jahr ein Beispiel dafür, wie Einwan-derung problematisiert und diskreditiertwurde – von der rassistischen Doppelpass-kampagne des Roland Koch bis zur Krimi-nalitätsdebatte bei der hessischen Land tags -wahl 2008. Von einem Ignorieren solcherThemen, geschweige denn von einer Zen-sur der Meinungsfreiheit, kann also keineRede sein.

Daher geht auch der Versuch einer „dif-ferenzierten“ Auseinandersetzung – das An -sprechen von Problemen bei gleichzeitigerPropagierung des Zieles der Chancen gleich -heit – oft ins Leere: Menschen mit Migra-tionshintergrund sind viel zu lange mit of-fener oder verdeckter, individueller oderstruktureller Diskriminierung konfrontiertworden, als dass sich Fragen von Krimina li -tät oder Bildungsbeteiligung in einem Atem - zug mit Fragen der Chancengleichheit undder gesellschaftlichen Teilhabe ansprechenlassen, ohne wiederum den Bei geschmackder Diskriminierung zu erzeugen.

Was ist also das Problem von und mit„Integration“? Zunächst einmal, dass nie-mand sagen kann, was „Integration“ eigent-

lich ist beziehungsweise sein sollte. Sichdie ser Tatsache bewusst sind aber nichtvie le derjenigen, die jetzt wortgewaltig dieTalkshows bevölkern. Die meisten Debat-tenteilnehmerInnen treten so auf, als gäbees allseits akzeptierte Maßstäbe oder „Leit-kulturen“ für „Integration“, die dann schlichtvon den MigrantInnen zu beachten seien.Dies ignoriert völlig, wie viele unterschied-lichen Lebensstile, Milieus und Alltagskul-turen in Deutschland vorhanden sind – beiMenschen mit oder ohne Migrationshin-tergrund.

Erzeugt wird damit bei vielen Mehr-heitsdeutschen die permanente Illusion, je-mand sei erst dann „integriert“ wenn er odersie so ist wie er oder sie selbst. Dies kannaber nicht gelingen: Genauso wie ein Athe -ist Schwierigkeiten bei der „Integration“ ineiner katholischen Pfarrgemeinde habendürfte, genauso dürfte auch die „Integra -tion“ einer strikten Antialkoholikerin aneinem Stammtisch in einer Kneipe miss-lingen. Nur: Ist dies gesellschaftlich pro-blematisch? Unterschwellig kommt hinzu:Bei nicht wenigen wird jemand, der schonnicht so aussieht, als wäre er „von hier“ nieintegriert sein.

Überhaupt keine Rolle spielt aktuellzu dem die „Integrationsverweigerung“ derMehrheitsgesellschaft – bei der Woh nungs -vermietung, auf dem Arbeitsmarkt, bei Dis -kriminierungen im Alltag. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat erst kürzlich in einerrepräsentativen Studie menschenfeindlicheVerhaltensweisen in der Mehrheitsgesell-schaft nachgewiesen. Demnach stimmen58,4 Prozent der Aussage zu, dass die Reli-gionsausübung von Muslimen in Deutsch-land stark eingeschränkt werden soll, etwa30 Prozent der Aussage, bei knappen Ar-beitsplätzen solle man Ausländer wiederzurück in ihre Heimat schicken.

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Zu diesen Erkenntnissen passt auch diederzeitige Debatte über die sogenannte„Deutschfeindlichkeit“. Demnach sollenDeutsche Opfer von „rassistischen Diskri-minierungen“ sein. Diese auf diskriminie-rende Einzelfälle abzielende Debatte gehtan den tatsächlichen Problemen vorbei.Angehörige der deutschen Mehrheits ge sell -schaft sind keinem strukturellen Rassismusausgesetzt – im Gegenteil sind es Migran-tInnen, denen der Zugang zum Bildungs-system und dem Arbeitsmarkt strukturellerschwert wird.

Genau diese „Integrationsverweige-rung“, sprich die Bereitschaft, sich tatsäch-lich aufeinander einzulassen, voneinanderzu lernen und auf Augenhöhe miteinanderzu leben, müsste viel häufiger problemati-siert werden. Jeder Mensch trägt Ressenti-ments in sich. Es kommt darauf an sichdessen bewusst zu werden und über eigeneVerhaltensweisen zu reflektieren.

Worum es daher geht

Realität ist, dass viele Menschen mit Mi-grationshintergrund größeren Belastungendurch Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, oftschlechtere Bildungsabschlüsse erhalten, undvon gesellschaftlicher Teilhabe und Partizi-pation ausgeschlossen sind. Es gehört zurScheinheiligkeit der aktuellen Debatte, dassgerade diejenigen, die die angeblich feh -lende „Integration“ am meisten beklagen,gleich zeitig alles dransetzen, Kindern mitZuwanderungsgeschichte den Zugang zuhochwertiger Bildung zu verwehren – be-sonders auffällig zeigt sich dies beim Fest-halten am sozial segregierenden und unge-rechten gegliederten Schulsystem.

Außerdem gibt es einen weit verbreite-ten Rassismus auch in der sogenanntenMitte und bei den Eliten in der Gesell-

schaft. Es waren ein Bundesbanker, Politi-kerInnen und Boulevardmedien, die einerassistische Debatte über „Integration“ aus-gelöst haben, um angeblich „endlich malauszusprechen, was alle denken.“

Worum es also eigentlich gehen müss-te, wäre die gleichberechtigte Teilhabe vonMenschen auf dem Arbeitsmarkt, im Bil-dungssystem und in der Politik herzustel-len. Dass es in einer Demokratie erklä -rungs pflichtig sein sollte, warum jemandnicht das Wahlrecht besitzt, und nicht,warum er oder sie es besitzen sollte, scheintvielen Menschen nicht in den Sinn zukom men. Das einzige Allheilmittel in derDebatte scheint hingegen der Erwerb derdeutschen Sprache zu sein. Doch Migran-tInnen haben immer wieder die Erfahrun-gen gemacht, dass sie – obwohl sie perfektdie deutsche Sprache beherrschen – weiter-hin von Diskriminierungen betroffen sind.Ein inklusives Schulsystem sowie die Er-leichterung der Einbürgerung und die Ein-führung des Wahlrechts auch ohne Erwerbder deutschen Staatsangehörigkeit wärenhier erste Schritte hin zu einem Miteinan-der, das auf Respekt und eine Willkom -mens kultur setzt.

Auch wenn der Begriff der „Integration“im politischen Diskurs gesetzt ist und nichteinfach durch andere Begriffe ersetzt wer-den kann: Für uns ist klar – wenn wir über„Integration“ reden, dann sprechen wir vonAntidiskriminierung, Anerkennung, Chan -cengleichheit und Teilhabe!

Worum es auch gehen müsste ist derRas sismus in der sogenannten Mitte derdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Wir brau -chen ein Verständnis in der Gesellschaftda für, dass alle Menschen frei und gleich-berechtigt zusammenleben können, egalwelcher Religion, welchem Geschlecht undwelcher Nationalität sie angehören.

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12 Chancengleichheit, Teilhabe, Anerkennung, Antidiskriminierung Argumente 4/2010

Wir wollen weg von abstrakten Inte gra -tionsdebatten und hin zu der Debatte, wiewir alle in diesem Land gemeinsam die Ge -sellschaft emanzipatorisch, gleichberechtigtund solidarisch gestalten können! .

Unterzeichnet von

Gesine Agena, Bundessprecherin Grüne JugendNatalya Bilgic, Vorsitzende des Assyrischen Jugend-

verbands in MitteleuropaBjörn Böhning (SPD), Mitglied im ParteivorstandElke Breitenbach (LINKE), Mitglied des Abgeord-

netenhauses von BerlinEmily May Büning, Bundessprecherin Grüne JugendKatja Dörner (Bündnis 90/Die Grünen), MdB Ario Ebrahimpour Mirzaie (Bündnis 90/Die Grü-

nen) Sprecher der BAG Flucht und MigrationDr. Cornelia Ernst (LINKE), MdEPIsmail Ertug (SPD), MdEPStefan Hartmann (LINKE), Mitglied des Parteivor-

standes, BrandenburgProf. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff (LINKE),

Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Ver-braucherschutz Berlin

Michael Höntsch (LINKE), NiedersachsenSka Keller (Bündnis 90/Die Grünen), MdEP Memet Kilic (Bündnis 90/Die Grünen), MdB Sven-Christian Kindler (Bündnis 90/Die Grünen),

MdB Freya-Maria Klinger (LINKE), MdLDr. Heidi Knake-Werner (LINKE), Senatorin a. D.,

BerlinDaniela Kolbe (SPD), MdBStefan Liebich (LINKE), MdBAgnieszka Malczak (Bündnis 90/Die Grünen), MdB Sineb EL Masrar, Herausgeberin des Frauenmaga-

zins GazelleHilde Mattheis (SPD), MdB und Mitglied im Par-

teivorstandAnja Mayer (LINKE), BayernMelanie Müller (Bündnis 90/Die Grünen) Spreche-

rin der BAG Nord-Süd Petra Pau (LINKE), MdB, Vizepräsidentin des

Deutschen BundestagesMaximilian Pichl, Grüne JugendSönke Rix (SPD), MdBAstrid Rothe-Beinlich (Bündnis 90/Die Grünen),

Mitglied im Bundesvorstand Thilo Scholle (SPD), Mitglied im Juso-Bundesvor-

standKatina Schubert (LINKE), Mitglied des Parteivor-

standes, SachsenFrank Schwabe (SPD), MdBHetav Tek, Vorsitzende Komciwan e. V.Sascha Vogt, Juso-BundesvorsitzenderJuliane Witt (LINKE), Leiterin des Büros des Wirt-

schaftssenators BerlinGerry Woop (LINKE), Mitglied des ParteivorstandesSerdar Yüksel (SPD), MdL

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Wovon sprechen wir eigentlich, wennes um das Thema „Integration“ geht?Über das Zusammenleben von „denen,die zu uns gekommen sind“ und „uns“?Aber wer ist „zu uns gekommen“, undwer sind „wir“?

Die Diskussion um das Thema „Integra -tion“ gehört aktuell zu den heikelsten poli-tischen Debatten. Mehr als 15 MillionenMenschen in der Bundesrepublik haben einen „Migrationshintergrund“, sind alsoselbst im Ausland geboren oder haben nä-here Verwandte, die dort geboren wordensind. In ihren Biographien, ihren Lebens-stilen und Lebensträumen ist diese Gruppegenauso unterschiedlich, wie die Gruppeder Menschen, die keinen Migrationshin-tergrund hat. Vor diesem Hintergrund von„uns“ und „den Zugewanderten“ zu sprechen,ist abwegig! Gesellschaftliche Realität ist,dass in Deutschland Menschen mit ganz un -terschiedlicher Herkunft und unterschied-lichem Geburtsort zusammenleben.

Schwerpunkte des öffentlichen Diskurses

Trotzdem stellen wir fest, dass sich derSchwerpunkt der Debatte in den letztenJahren verschoben hat. Für eine kurze Zeitsah es so aus, als könnte sich tatsächlicheine Diskussion entwickeln, die eine Per-spektive für die Gestaltung der Bundes -republik als pluraler Einwanderungsgesell-schaft erarbeiten könnte. Bestandteile einessolchen Programms wie beispielsweise einenachhaltige Modernisierung des Staats -angehörigkeitsrechts unter anderem durchHin nahme von Doppelstaatsangehörigkei-ten oder auch Maßnahmen zum Abbau so-zialer Benachteiligungen von Migrantinnenund Migranten wurden jedoch nie voll-ständig in die Tat umgesetzt.

Stattdessen wird der Diskurs vor allemvon der Angst vor „islamistischem“ Funda-mentalismus und Terrorismus, vor ( Ju-gend-) Kriminalität und „Parallelgesell-schaften“ beherrscht.

INTEGRATIONSPOLITIKBEI DEN JUSOSVon Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Schwerpunkt

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14 Integrationspolitik bei den Jusos Argumente 4/2010

Unabhängig von der starken Fokussie-rung auf den Islam bleibt die Diskussionüber Integration dabei im Kern eine aufden türkisch- oder arabisch-stämmigen Teilder Migrantinnen und Migranten bezoge-ne Debatte. Vorurteile und Diffamierun-gen, die aktuell den Islam treffen wie bei-spielsweise der Vorwurf der kulturellenRückständigkeit und der angeblichen Un-vereinbarkeit mit „westlich-abendländi-schen Werten“ – was auch immer das seinmag – wurden früher bereits auf Türkinnenund Türken abgeladen. Inhaltlich bietet dieDiskussion um eine „Integrationsfähigkeit“des Islam daher alt bekanntes in neuemGewand.

Der Begriff der „Leitkultur“

Die Schieflage der Diskussion wird aucham Stichwort „Leitkultur“ deutlich. Meistbleibt unklar, was der Verwender unter demBegriff „Leitkultur“ überhaupt meint. „Die“eine Kultur gibt es in Deutschland schließ-lich nicht.

Der schwerreiche Steuerhinterzieheraus dem Nobelvorort wird wohl wenigekulturelle oder sonstige Vorlieben mit demArbeitslosen aus einer anderen Gegend derStadt teilen. Was hier die Leitkultur seinsoll, weiß niemand. Offensichtlich ist, dasssoziale Stellung die persönlichen Einstel-lungen und kulturellen Praktiken einesMen schen wesentlich stärker beeinflusst,als die ethnische Herkunft oder die Religi-onszugehörigkeit.

Hinzu kommt: Definiert man die „Leit -kultur“ schlicht mit der durch das Grund-gesetz beschriebene Verfassungsordnung,so wird es wirklich banal. Die fast absoluteMehrzahl der Menschen in diesem Landrespektiert die Verfassung und hält sich andie allgemeinen Gesetze – unabhängig vom

ethnischen Hintergrund. Das ständige Her-umreiten auf der Frage nach der Gesetzes-und Verfassungstreue von MigrantInnenwirkt hier ausgrenzend und verletzend.

Zudem scheint es vielen gerade konser-vativen PolitikerInnen nicht in den Kopfzu gehen, dass Menschen durchaus eine,zwei, oder mehrere Identitäten zugleichhaben können – sei es als Facharbeiter,Liebhaber und Fußballfan, oder als Mos-lem, Deutscher, Heimwerker und noch alsvieles mehr. Niemand muss sich zwangs-läufig entweder als „Deutscher“ oder „Tür-ke“ fühlen. Und selbst wenn, so sagt diesnoch überhaupt nichts darüber aus, welchekonkreten gesellschaftlichen Einstellungensich daraus ergeben.

Der Begriff „Parallelgesellschaft“

Ähnlich fragwürdig sind auch die Diskus-sionen über sogenannte „Parallelgesellschaf-ten“.

Dass in manchen Stadtteilen mehr Men -schen mit Migrationshintergrund leben alsin anderen, ist eine Banalität. Eine „Paral-lelgesellschaft“ soll dann bestehen, wennMenschen mit einem bestimmten ethni-schen Hintergrund sich nur noch in Zu-sammenhängen aufhalten, in denen allean deren denselben ethnischen Hintergrundhaben. Nur – auch dies ist banal – entschei-dend dafür, wo jemand wohnt und mitwem jemand den Alltag verbringt ist in er-ster Linie, zu welcher sozialen Schicht je-mand gehört. Probleme in Stadtteilen ent-stehen in erster Linie aus Armut undsozialer Ausgrenzung, und das betrifft dieMenschen dort unabhängig von ihrer eth-nischen Herkunft.

Die Diskussion über „Parallelgesell-schaften“ ist daher scheinheilig. Sucht manden Kern der Argumentation vieler War-

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ner vor der „Parallelgesellschaft“, so redu-ziert sich die Argumentation oft schlichtauf die Feststellung, in einer bestimmtenGegend wohnten zu viele „Ausländer“. Dieshat aber mit soziologischen Betrachtungenund tatsächlichen Problemen nichts mehrzu tun.

Diese Scheinheiligkeit zeigt sich aucham Umgang mit dem Bau von Moscheen.Eigentlich ein Zeichen dafür, dass sichMenschen dauerhaft einrichten wollen,wird der Bau von Moscheen oft bekämpft.Auch hier geht es meist weniger um dieFrage, ob Muslime in Deutschland leben.Entscheidend scheint für viele Moschee-baugegnerInnen, das Muslime auch sicht-bar ihren Glauben leben wollen, und sichnicht mehr mit Hinterhofmoscheen be-gnügen wollen.

Tatsächlich bestehende gesellschaftlicheInteressenkonflikte und völlig unterschied-liche politische Ziele verschwimmen vordiesem Hintergrund. Auf diese Weise ent-steht ein unreflektiertes „Wir“ – verbundendurch die ethnische Herkunft sowie be-stimmte, angeblich „von Allen geteilte Wer -te“, und ein „die anderen“. Spaltungslinienzwischen Milieus und politischen Richtun-gen werden so verdeckt. In dieser Art desIntegrationsdiskurses können dann CDU-FamilienpolitikerInnen Seite an Seite mittraditionellen FeministInnen für die Rech-te „der“ muslimischen Frau streiten, ohnedas jemandem auffällt, dass die Vorstellun-gen dieser beiden Gruppen in Sachen Rol-le der Frau mindestens so unterschiedlichsein können, wie zwischen Frauen, die sichdem muslimischen Glauben zurechnen.

Die Rolle der Mehrheitsgesellschaft

Die eigentliche gesellschaftliche Heraus-forderung gerät durch diese Debatten voll-

ends in den Hintergrund: Die Rolle derMehrheitsgesellschaft – also jener gesell-schaftlichen Mehrheit ohne Migrations-hintergrund – wird nicht in den Blick ge-nommen.

Dabei wäre es an der Zeit, über institu-tionelle Diskriminierungen, beispielsweiseim Aufenthaltsrecht und bei Familienzu-sammenführungen nachzudenken. Das deut -sche Schulsystem gibt Kindern mit Migra-tionshintergrund weniger Chancen. DieArbeitslosigkeit ist unter Migrantinnen undMigranten deutlich höher. Der Umgangvon Behörden und Polizei mit Migrantenist oft grob und von oben herab.

Trotz der Erkenntnis, dass die Einbür-gerung ein deutliches Zeichen eines Men-schen dafür ist, hier in Deutschland aufDauer seinen Lebensmittelpunkt zu sehen,bleiben die Einbürgerungsbedingungen hart.

Hinzu kommt der öffentliche, nur auftatsächliche oder vermeintliche Defizite derZuwanderer fokussierende Diskurs, der dieRolle der Mehrheitsgesellschaft konsequentausblendet.

Nach wie vor wird der ThemenkomplexIntegration gerne zu Wahlkampfzweckenbenutzt. Dabei geht es mitnichten darum,um die besten Möglichkeiten zur Herstel-lung von Chancengleichheit zu streiten,sondern um die schlichte Bedienung rassi-stischer Vorbehalte.

Sicherheitsbedürfnis von MigrantInnen

Überhaupt keine Rolle spielt das Sicher-heitsbedürfnis der MigrantInnen. Die Me-dien regierten verwundert über die hefti-gen Reaktionen und Spekulationen vielertürkischer Medien nach dem Hausbrand inLudwigshafen im Februar 2008. Völlig au-ßer acht blieb dabei, dass in Deutschlandseit Anfang der 1990er Jahre über 130

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16 Integrationspolitik bei den Jusos Argumente 4/2010

Men schen durch rechtsextreme Angriffegetötet wurden, unter anderem auch durchBrandanschläge auf Häuser. Die öffentli-che Diskussion kreist um vermeintlich kri-minelle Jugendliche mit Migrationshinter-grund. Tatsächlich als Gruppe von Gewaltbedroht sind in Deutschland aber nach wievor Menschen, die eben nicht zur gesell-schaftlichen Mehrheit gehören. Dem Si-cherheitsbedürfnis vieler MigrantInnen istdurch ein konsequentes auch polizeilichesVorgehen gegen Rechtsextremisten Rech-nung zu tragen.

Integration neu diskutieren!

Wir wollen uns deshalb bewusst von einerDiskussion abgrenzen, die nur die Migran-tinnen und Migranten als Adressaten von„Maßnahmen zur Integration“ versteht.

Für uns ist vielmehr klar: In erster Liniemuss die Mehrheitsgesellschaft ihre Haus-aufgaben machen. Wer von Integration spre -chen will, darf von Rassismus und Diskri-minierung nicht schweigen! Integration wirdnur dann gelingen, wenn die gesellschaftli-chen Voraussetzungen für ein gutes Lebenfür alle Menschen in diesem Land geschaf-fen sind.

Dies betrifft auch die SPD selbst. DerJuso-Bundesvorstand hat bereits 1972 ein „Schwarzbuch: Ausländische Arbeiter“heraus gegeben, dass sich vor allem den ar-beitsmarktpolitischen und sozialen Impli-kationen der Anwerbung von „Gastarbei-tern“, aber auch Fragen der gesellschaftli-chen Diskriminierung widmete. Mit HeinzKühn stellte die SPD zudem von 1978 bis1980 den ersten „Ausländerbeauftragten“des Bundes, der bereits viele der heute dis-kutieren Fragestellungen ansprach.

In der Breite der Partei ist das Thematrotzdem bis heute kaum angekommen. Zu

oft wird das Thema zudem auch auf denhöheren Ebenen ängstlich und verzagt an-gegangen. Vermeintlich notwendige Rück-sichtnahmen auf bestimmte Wählergrup-pen führen dazu, dass eine klare sozial-demokratische Integrationspolitik nichterkennbar ist.

Der Anteil von Menschen mit Migrati-onshintergrund in politischen Führungs-ämtern ist nach wie vor viel zu gering, oftwird die Thematik Integrationspolitik zu-dem der Person im einem Vorstand zuge-schoben, die selbst einen Migrationshin-tergrund hat – zu einem Querschnitts-anliegen der Partei wird das Thema damitnicht.

Für Jusos und die SPD wird entschei-dend sein, MigrantInnen nicht mit ihrenvermeintlichen Defiziten als Objekte so -zialdemokratischer Fürsorge, sondern alsgleichberechtigte Akteure für sozialdemo-kratische Politik anzusprechen. Die SPDwird ihren Anspruch, linke Volkspartei zubleiben, nur erfüllen können, wenn es ge-lingt, wieder breiter in der Gesellschaft –und gerade auch in den weiterhin wachsen-den Milieus von Menschen mit Migrati-onshintergrund – verankert zu sein. .

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Jeder fünfte Einwohner Deutschlands,darunter jedes dritte Kind unter sechsJahren, hat einen Migrationshinter-grund. In Ballungsräumen wie Frankfurtoder Berlin trifft dies bereits auf über60 Prozent der Kinder zu, die diesesJahr eingeschult wurden, einen Migra-tionshintergrund. Wenn Pluralität fürKinder und Jugendliche zur Normalitätwird,1 ist es unzeitgemäß, über einenMigrantenschlüssel für Schulklassennachzudenken – wie auch Forderungennach einem Zuwanderungsstopp für„fremde Kulturkreise“ in Zeiten derGlobalisierung anachronistisch sind.Vielmehr wäre es angebracht, in einerZukunftsdebatte über einen veränder-ten Blick auf die hier lebenden Men-schen mit Migrationshintergrundnachzudenken und zu fragen, ob esnicht an der Zeit ist, diese im Sinne ei-ner fraglosen Zugehörigkeit2 als deut-sche Bürger anzusehen, gar als „NeueDeutsche“? Interessanterweise wirdmit dem Gedanken der Globalisierungvorrangig die Öffnung der weltweitenMärkte verbunden. Dagegen ist nochnicht verinnerlicht, dass mit einer Ent-grenzung der Märkte nicht nur Güter

freier beweglich sind, sondern auchMenschen. Transnationale Migration,im Rahmen derer Menschen in andereLänder ein- und auswandern, ist einselbstverständliches Zeichen der glo-balisierten Gegenwart.3

Wo Migration auch mit Settlement ver-bunden wird, wandelt sich die Bevölke-rungsstruktur – nicht nur demographischund soziostrukturell, sondern auch identi-tär und ideell. Spätestens in der zweitenGeneration der Einwanderung stellt sichein Moment ein, in dem identitäre Veror-tung nicht mehr eindimensional zu einemHerkunftsland vorgenommen werden kann.Während für die meisten Migranten derersten Generation ein Herkunftsbezugdurch eine aktive Migrationserfahrung be-stehen bleibt und in vielen Fällen mit einerzumindest emotionalen Rückkehroption ge -

WER GEHÖRT ZUM NEUEN DEUTSCHLAND?Von Dr. Naika Foroutan, Leiterin des VW-Forschungsprojektes „Hybride Europäisch-muslimische Identitätsmodelle/ HEYMAT“ an der Humboldt-Universität zu Berlin

Schwerpunkt

1 Vgl. Bundesjugendkuratorium, Pluralität ist Nor-malität für Kinder und Jugendliche, Stellungnah-me, April 2008.

2 Vgl. Kai-Uwe Hunger, Junge Migranten online:Suche nach sozialer Anerkennung und Vergewis-serung von Zugehörigkeit, Wiesbaden 2009, S. 251.

3 Vgl. hierzu den Beitrag von Isabel Sievers undHartmut M. Griese in dieser Ausgabe.

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18 Wer gehört zum neuen Deutschland? Argumente 4/2010

koppelt wird, beinhaltet im Falle der Nach-folgegenerationen der Herkunftsbezug undder Gedanke der „Rückkehr“ bereits einenMoment von invented tradition.4 Dazukom men noch identitäre Irritationen beijenen Einwanderern, die als Kind oder alsJugendliche nach Deutschland gekommensind und ihre Primärsozialisation zwar ineinem anderen Herkunftskontext erlebthaben, Pubertät oder Adoleszenz jedochdurch eine Lebensrealität in Deutschlandbestimmt wurde. Bei einem Drittel derMenschen mit Migrationshintergrund istMigration gar keine selbsterlebte Erfah-rungsgrundlage mehr. Sie bleibt jedoch alsElement der biographischen Kernnarrati-on bestehen – entweder durch die Famili-enlegende oder durch außerfamiliäre Zu-schreibungen, bedingt durch phänotypischeMerkmale wie Aussehen, Akzent, Kleidungoder Namen.

Vom Ausländer zur Person mit Migra -tionshintergrund

Deutschlands „Gesicht“ wandelt sich stetig,was zu Verunsicherungen in der Bezeich-nungspraxis führt. Die herkunftsdeutscheBevölkerung weiß häufig nicht, wie sie sichselbst oder jene bezeichnen soll, die langeJahre als „Ausländer“ oder „Fremde“ galtenund nun offensichtlich zu Deutschland ge-hören wollen und sollen. Immer häufigerhört man zur Selbstbeschreibung ironisie-rend den Begriff „Bio-Deutsche“, da „au-tochthone Deutsche“ zu wissenschaftlichund „Deutsch-Deutsche“ zu redundantklingt. Hingegen erzeugt der Begriff „ech-ter Deutscher“ einen zu ausgrenzenden Ef-fekt, da er die Menschen mit Migrations-hintergrund offensichtlich als „nicht echte“Deutsche kennzeichnet. Immer mehr Men -schen nehmen mittlerweile für sich in An-

spruch, deutsch zu sein, auch wenn sie „an-ders“ aussehen, „fremd“ klingende Namenoder eine andere Religionszugehörigkeit ha -ben. Trotzdem gehören die Menschen mitMigrationshintergrund im öffentlichen Be -wusstsein eines Großteils der Bevölkerungnoch immer „nicht richtig“ dazu.

Mit dem Wort Migration ist eine Neu-zuwanderung verbunden, der Migrations-hintergrund markiert daher seine Träger alstendenziell „neuer“ als jene ohne und in deröffentlichen Wahrnehmung auch als ten-denziell fremd, auch wenn sie die deutscheStaatsangehörigkeit in dritter und vierterGeneration besitzen. „Wer irgendwo neuist, sollte sich erst mal mit weniger zufrie-den geben“, sagen 53,7 Prozent der Bevöl-kerung laut der Studienreihe „DeutscheZustände“ vom Bielefelder Institut für Kon -flikt und Gewaltforschung (IKG).5 Dabeibleibt offen, wie lange dieses „Neu-Sein“eigentlich Bestand hat und welche Effektees für das Selbstverständnis als deutscherStaatsbürger mit sich bringt. Tatsächlich be -schreibt das Wort Migrationshintergrundin seinem analytischen Kontext die Le bens -realität der Angesprochenen korrekter alsnationale Kategorien wie etwa „Türke“,„Spanier“, „Chinesen“, die nur eine einsei-tige Herkunftsverortung vornehmen. Es istauch exakter als das Wort „Migrant“ oder„Ausländer“, da ersteres auf jene nicht zu-trifft, die nicht aktiv zugewandert sind undletzteres jene falsch bezeichnet, die eine

4 Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Inven-tion of Tradition, New York 1983.

5 Die neuesten Forschungsergebnisse des IKG er-scheinen im Dezember 2010. Die hier genannteFrage ist nach Aussagen des IKG nicht in derDruckausgabe enthalten. Konkrete Fragen dazukönnen an das IKG direkt gerichtet werden:[email protected]. Für eine weitergehendeAnalyse Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände,Folge 8, Frankfurt/M. 2010.

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deutsche Staatsangehörigkeit haben.6 Al-lerdings, so neutral der Begriff auch im Ent -stehungsmoment definiert wurde, verbindetsich mit ihm durch den öffentlichen Dis-kurs eine Bezeichnungspraxis, der eine so-ziale Praxis folgt, die vorwiegend Diffe-renz-Momente hervorhebt und die in deröffentlichen Wahrnehmung vor Allem mitDefiziten und Problemen verbunden wird.

Postmigranten

Es fehlt derzeit an einer etablierten Be-zeichnung, die die nationale und kulturelleMehrfachzugehörigkeit und -identifikationvon Individuen wertneutral beschreibt. Wäh -rend Mehrfachzugehörigkeit im identitärenKontext als postmoderne Normalität aner-kannt wird, gilt für die nationalen, ethni-schen und kulturellen Zugehörigkeiten zu-mindest in Deutschland noch immer dasKriterium der einseitigen Entscheidung, diemit dem Gedanken der Assimilation alsVision einer gelungenen Integration ein-hergeht. Versuche, Ersatzdefinitionen zufinden, hat es bereits 1994 mit dem Begriff„Andere Deutsche“ gegeben, um zu ver-deutlichen dass „die Gültigkeit des An-spruchs, deutsch zu sein, sich nicht an derErfüllung bestimmter Kriterien der Phy-siognomie, der Abstammung oder auch der ‚kulturellen‘ Praxis bemisst“.7 MichaelWolff sohn spricht von „Paradigma-Neu-deutschen“8 und der Kabarettist AlparslanMarx richtete sogar eine Webseite unterdem Namen „D-Länder“ ein, um nach ei-nem gemeinsamen Namen zu suchen.9

Die Verbundenheit mit Deutschland alsHeimat findet auf mehreren Ebenen statt.Die kognitive und pragmatische Bezeich-nung von Deutschland als Heimat, als „dortwo mein Haus steht und dort wo meineFamilie wohnt“, kann dabei teilweise die

emotionale Bindung an einen Sehnsuchts-ort in der Ferne, der ebenfalls mit Heimatassoziiert wird, nicht ersetzen. Dies liegtzum Einen an dem der Migration inhären-ten Moment, der immer mit dem Verlasseneines Zuhauses oder einer Heimat einher-geht. Diese teilweise nur tradierte Vergan-genheit wird im Kontext der familiären Erzählstruktur und der nicht erfahrenenAlltagsentzauberung zu einem Wunschortstilisiert, der in jedem Moment der Unzu-friedenheit eine virtuelle Rückzugsoptionanbietet – auch wenn diese realiter nichtgegeben ist. Zusätzlich wird von Seiten derersten Generation der Einwanderer, derFamilie oder Community teilweise Druckauf die Folgegenerationen aufgebaut, sichden ursprünglichen Herkunftsländern nichtzu entfremden.

Die zum Teil fehlende emotionale Ver-bundenheit mit Deutschland liegt aller-dings auch an Diskriminierungserfahrun-gen und mangelnder Aufnahmebereitschaftund mangelnden Signalen der Zugehörig-keit von Seiten der autochthonen Gesell-schaft, welche noch immer teils bewusst,teils unterbewusst das „Deutschsein“ aufphänotypische Merkmale reduziert.10 Esliegt aber auch an den spezifischen Krite-rien der deutschen nationalen Identität, die

6 Von den 15,6 Millionen Menschen mit Migrati-onshintergrund sind mehr als die Hälfte deutscheStaatsbürger (8,3 Millionen) und bei zwei Drittelnist die Migration aktiv erlebt.

7 Ders./Thomas Teo, Andere Deutsche, Berlin1994, S. 10.

8 So seine Bezeichnung für Professor Bassam Tibi,der in Syrien geboren, jedoch seit Jahrzehntendeutscher Staatsbürger ist, zit. nach: Karl FriedrichUlrichs, Islam-Wissenschaftler Bassam Tibi ver-lässt Uni, in: Göttinger Tageblatt vom 29.10.2009.Wissenschaftler-Bassam-Tibi-verlaesst-Uni.

9 Vgl. www.d-laender.de/ (20.10.2010).10 Vgl. Iman Attia, Die „westliche Kultur“ und ihr

Anderes, Bielefeld 2009.

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es auch Herkunftsdeutschen nicht leichtmacht, affirmativ die Nationalitätszugehö-rigkeit zu artikulieren. Eine Zugehörigkeitzu Deutschland wird als etwas suggeriert,das sich die „Migranten“ erst erarbeitenmüs sen. Gleichzeitig ist festzustellen, dasstrotz erheblicher Fortschritte in der struk-turellen Integration eine kulturelle Integra-tion über den Verfassungspatriotismus hin-aus erwartet wird, die an diffuse Anpas-sungen an eine nicht definierbare deutscheLeitkultur gekoppelt wird.

Gerade für jenes Drittel der Postmi-granten, die vom Mikrozensus als „Men-schen ohne eigene Migrationserfahrung“erfasst werden, ist Integration ohnehin keinDiskussionskriterium ihrer Selbstbeschrei-bung mehr. Migrationshintergrund undMehrsprachigkeit werden vor allem als Be-reicherung für sich selbst und für die Ge-sellschaft wahrgenommen. Für diese Post-migranten sind Deutsch- oder Integra-tionskurse etwas, das bestenfalls noch ihreEltern betreffen könnte, eher ihre Groß -eltern und eben neu Zugewanderte. Bei ih-nen ist stattdessen verstärkt ein mehrkultu-relles Selbstbewusstsein zu beobachten,ohne ihre „Wurzeln“ vergessen zu wollen,samt einer für sich selbst angenommenenpostintegrativen Perspektive: Sie sindlängst in dieser Gesellschaft angekommen,zumindest aus ihrer Sicht und aus der Sichtjenes Teils der Bevölkerung, der in Deutsch -land ein plurales, heterogenes und postmo-dernes Land sieht.

Zugehörigkeit, Angehörigkeit und Authentizität

Die Zugehörigkeit zu Deutschland defi-niert sich jedoch nicht nur über die eigeneFähigkeit zur Identifikation mit dem Mehr -heitskollektiv, sondern auch über den Grad

und die Häufigkeit der Anerkennung durcheben jenes. Erst diese erlaubt eine Identifi-kation im Sinne der Angehörigkeit. Underst der Dreiklang von Anerkennung, frag-loser Zugehörigkeit und Angehörigkeit lässteinen glaubwürdigen, authentischen Mo-ment von „Deutschsein“ entstehen.11

Dabei stellen gerade in Einwande rungs -gesellschaften statische Ansichten auf iden -ti täre Kernnarrationen wie Kultur oder Na -tion Exklusionsmechanismen her, derenÜberwindung für die soziale Kohäsion sol-cher Patchwork-Gesellschaften notwendigist. Gerade im Falle Deutschland stellensich hierbei multiple Überwindungshürdenauf. Während die deutsche Identität als et-was Exklusives angeboten wird, dessen Er-langung mit Hürden wie Sprachkompe-tenz, Landeskunde und Absage an ehema-lige Herkunftsländer verbunden wird, istnach Erlangung dieses „Ritterschlags“ we-der die Anerkennung durch die autochtho-ne Gesellschaft, noch eine authentischeVerbundenheit mit dieser nationalen Iden-tität gewährleistet. Dies ist auch eine Er-klärung dafür, warum viele der Menschenmit Migrationshintergrund bei der Fragenach ihrer Zugehörigkeit problemlos dieStadt nennen, aus der sie kommen. IhreSelbstbezeichnung als Berliner, Hambur-ger oder Schwabe sehen sie als faktisch undauthentisch an, während sie die Selbstbe-zeichnung als „Deutsche“ eher als Kon-struktion oder künstlich empfinden, da siediese immer erklären müssen.

Die Selbstbezeichnung muss mit derFremdzuschreibung korrespondieren, sonstentstehen Unschlüssigkeiten in der perso-nalen Identität. Wenn eine Person, die phä-

11 Vgl Heiner Keupp, Identitätskonstruktionen: DasPatchwork der Identitäten in der Spätmoderne,Reinbek 2008.

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notypisch als asiatisch, arabisch oder afri-kanisch markiert wird, in ihrer eigenenWahrnehmung deutsch ist, gelingt ihr dieSelbstbezeichnung als „Deutsche“ gegen-über der Mehrheitsgesellschaft immer nurmit einer anhängenden Erklärung: „Ich bindeutsch, aber mein Großvater kam aus Ma -rokko.“ Es ist die fraglose Zugehörigkeitund somit die Authentizität – im Sinne vonEchtheit und Glaubwürdigkeit, die jenemTeil der Menschen mit Migrationshinter-grund verwehrt wird, die durch äußere Zu-schreibung zunächst als nicht-deutsch ge-sehen werden – was immer „Deutschsein“heutzutage auch sein mag – und die zu un-terschiedlichen Reaktionsmechanismen beidiesen Menschen führt, die von Rückzugund Apathie über Wut und Aggression bishin zu Trotz und selbstbewusster Einforde-rung von Teilhabe reichen.

Zumindest das Bezeichnungsdilemmakönnte in Anlehnung an die im angloame-rikanischen Raum etablierte Bezeich nungs -praxis der hyphenated identities12 (Binde-strich-Identitäten) aufgefangen werden,indem durch eine affirmative Nennung dermultiple Herkunftskontext benannt wird:Diese können auch als Bindungs-Identitä-ten bezeichnet werden, da sie eine wie auchimmer geartete emotionale oder staatsbür-gerliche Bindung an bestimmte Her kunfts -kontexte signalisieren. Bindungs-Identitä-ten von Deutsch-Türken, oder Türkei-Deutschen, Deutsch-Russen oder Russland-Deutschen, würden den Deutsch-Deutschendie Möglichkeit geben, Unsicherheiten inder Nennung zu umgehen, aber auch demNenner den deskriptiven Zugang zu seinenmultiplen Erfahrungskontexten in derSelbst bezeichnung erleichtern und die ste-

te Erklärung ersparen. Dabei kann die Po-sitionierung der Herkunftsländer verdeut-lichen, welcher Zustand der Herkunfts-bezogenheit vorliegt. Da die Wortbil dungs -regeln der deutschen Sprache besagen, dassbei Zusammensetzungen von Wörtern dasam Ende stehende Wort die wesentlicheBedeutung trägt, würde die BezeichnungTürkei-Deutsche eine Person beschreiben,die sich als deutsch sieht und die deutscheStaatsangehörigkeit besitzt, aber gleichzei-tig einen türkischen Migrationshintergrundhat. Umgekehrt würde der Begriff Deutsch-Türke signalisieren, dass die Person sich alstürkisch, aber in Deutschland lebend be-zeichnet. Das Gleiche würde dann auf denBegriff Russland-Deutscher oder Deutsch-Russe zutreffen. Schwieriger wird es bei nichterprobten Bindestrich-Identitäten: Wäh renddie Bezeichnung Deutsch-Iranerin nochrecht flüssig klingt, hört sich Iran-Deut-sche etwas holprig an, desgleichen gilt fürDeutsch-Spanier und Spanien-Deutscher.

In Zeiten sich ständig bereichernderWortschätze darf man die Fähigkeit derEtablierung von Bezeichnungen nicht un-terschätzen. Auch das Wort Migrations-hintergrund war vor fünf Jahren noch neu,obwohl es wesentlich sperriger als Türkei-Deutscher oder Libanon-Deutsche klingt.Hier liegt es auch an Signalen aus der au-tochthonen Gesellschaft, die Öffnung derBegrifflichkeit für ein „Deutschsein“ zu er-möglichen, dass multiple Zuschreibungs-momente normalisiert. Vor allem muss derMoment der Bindung zur (neuen) Heimaterleichtert und beidseitig internalisiert wer -den – er muss irgendwann authentischwerden können. Es ist an der Zeit, eine Be-zeichnungspraxis zu etablieren, welche diehybride Alltagsrealität nicht nur von Men-schen mit Migrationshintergrund, sondernauch eines immer größer werdenden Teils

12 Vgl. Michael Walzer, Über Toleranz: Über die Zi-vilisierung der Differenz, Hamburg 1998, S. 131 ff.

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der globalisierten deutsch-deutschen Be-völkerung erfasst.

Wer sind die Neuen Deutschen?

Die Bezeichnung „Neue Deutsche“ könntein diesem Kontext zunächst einmal als Be-schreibungsangebot dienen für jene Men-schen, die über eine deutsche Staatsbürger-schaft und einen Migrationshintergrundverfügen.13 So liest man immer wieder inInterviews mit postmigrantischen Künst-lern diese lapidar formulierte Selbstbe schrei -bung: „Wir sind nicht mehr die Türken, dieAraber, die Afrikaner, die unsere Eltern viel -leicht waren. Wir sind die neuen Deut-schen“14. Songs von postmigrantischen deut -schen Rappern und die in diesen teils pro-blematisch verarbeiteten Fragen zur Inte-gration, Anerkennung und Zugehörigkeitverweisen auf die Dilemmata. Sie zeigenaber auch die Ressourcen der mehrkulturellorientierten Jugendlichen und ihr innova-tives Potenzial für die kulturelle Entwick-lung der Gesellschaft.15 Sie heben damit dasemanzipatorische Moment der hybridenLebensführung einer Generation hervor,die mit ihren eigenen Selbstentwürfen derGesellschaft längst vorlebt, was die Öffent-lichkeit noch diskutiert. Aber auch für denFußball scheint die Bezeichnung „NeueDeutsche“ zu greifen. Ebenso ist er bereitsInhalt einiger Blogs.16

Das zentrale Dilemma des Begriffes istjedoch, dass er, wenn er nur für Menschenmit Migrationshintergrund etabliert odermit Zuwanderung assoziiert wird, selbstwiederum eine Differenzmarkierung vor-nimmt, weil er die diskursive Trennungsli-nie zwischen multiethnischen und mono-ethnischen Bürgern Deutschlands reprodu-ziert. Weiterhin macht er einen Unterschiedzwischen jenen Einwohnern mit Migrati-

onshintergrund, die einen deutschen Passhaben und jenen, die die deutsche Staats-bürgerschaft nicht besitzen.

Unvermeidlich ist bei der Nennung desBegriffs „Neue Deutsche“ auch die Fragedanach, wer wohl die „alten“ Deutschensind? In Anlehnung an die Untersuchun-gen des IKG könnte hier der Begriff der„alteingesessenen Deutschen“, die für sichEtabliertenvorrechte reklamieren, aufge grif -fen werden: „Etabliertenvorrechte umfas-sen die von Alteingesessenen gleich wel-cher Herkunft beanspruchten Vorrang-stellungen, die gleiche Rechte vorenthaltenund somit die Gleichwertigkeit unter-schiedlicher Gruppen verletzen.“17.

Trotzdem erscheint die Trennung in„neue“ versus „alte“ Deutsche entlang eth-nischer oder kultureller Markierungen oderdem Kriterium der Zuwanderung kultura-lisierend.

Man könnte die ethnische Differenz -mar kierung des Begriffes entschärfen, indemman die Bezeichnung „Neue Deutsche“ für

13 Vgl. Tanja Wunderlich, Die neuen Deutschen –Subjektive Dimensionen des Einbürgerungspro-zesses, Stuttgart 2005.

14 Der Rapper Harris in: http://www.stern.de/kultur/musik/deutschland-vs-tuerkei-integration-ist-rund-und-hat-einen-beat-1611942.html. .

15 Die Rapper Kaveh/Maddog/Gigoflow problema-tisieren in ihrem Song „Sarrazynismus“ kritisch-emanzipatorisch die „Sarrazin-Debatte-2010“.Harris kritisiert dagegen scharf diejenigen, diesich seiner Meinung nach verweigern. Fler undBushido erarbeiten mit dem Titel „Das alles istDeutschland“ einen inklusiven Entwurf nationalerIdentität, ebenso wie Sammy de Luxe mit „Dis woich herkomm“ oder Blumio mit „Hey Mr. Nazi“.

16 http://dieneuendeutschen.wordpress.com/ 17 www.uni-bielefeld.de/ikg/gmf/einstellungen.html

Diese Bezeichnung trifft auf ca. 53 % der „altenDeutschen“ zumindest hinsichtlich der Einstellungzu, dass bei der Verteilung von Gütern – finanziel lerund ideeller Natur – den Neuhinzugezogenen we-niger zustünde, als jenen, die schon länger hier sind.

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jene Generation heranzieht, die vorrangignach dem Mauerfall im wiedervereintenDeutschland sozialisiert wurde. Die neuenDeutschen wären demnach eine neue Gene-ration von Deutschen.18 Dann jedoch würdeeine Grenzmarkierung zwischen jung und altgesetzt, was wiederum eine Verkürzung wä re.

Denkbar wäre es daher, die „NeuenDeutschen“ einer Ideenwelt zuzuordnen –einer Betrachtungsweise, die mit einemneuen Blickwinkel einhergeht: Deutsch-land als Einwanderungsland, global player,politisch normativer Friedensakteur. Daspostmoderne Deutschland als plurales,multiethnisches, vielfältiges Bürgerland. Indiesem Sinne wären die „Neuen Deutschen“die Bürger eines hybriden, neuen Deutsch-land, das es in seiner heterogenen Kompo-sition schon längst gibt. Die Trennliniewürde demnach entlang einer Haltung undEinstellung verlaufen. Hier wäre der Be-griff in einer gesellschaftspolitischen Arenaeingebettet und könne als ein postmodernesKonstrukt verstanden werden, um Iden ti -täts bildungsprozesse als prinzipielle In klu -sionsprozesse zu verstehen. Er könnte ver-deutlichen, dass die ehedem ethno-kultu-rellen Zuschreibungskriterien für „deutsch“nicht die reale Bevölkerungsstruktur und Zu -sammensetzung des Landes widerspiegeln,sondern auf essentialisierenden Konstruk tio -nen von Kultur, Nation und Ethnie beruhen.

Damit wären noch immer nicht diestrukturellen Probleme eines postmodernenEinwanderungslandes gelöst. Es wird wei-terhin Bildungsproblematik, Sozialtransfersund Kriminalität in Deutschland geben.Nur, wenn die Zugehörigkeit nicht mehr inFrage steht, dann können diese Problemein Abhängigkeit von Sozialstrukturen dis-kutiert werden und nicht in Verbindung mitder ethnisierenden oder kulturalisierendenFrage nach deutsch oder nicht-deutsch?„Wenn jemand ,dazugehört‘, kann dieserJemand übrigens durchaus Probleme berei-ten. Auch die Insassen der Strafanstalten,jedweder Konfession, gehören zu Deutsch-land, die Junkies gehören zu Deutschland,die Bettler, die Buddhisten, die Millionäreund die Stripperinnen. Angela Merkel istauch die Kanzlerin der Alkoholiker, derExhi bitionisten und der Bettnässer, oderwollen wir die alle ausbürgern? Will allenErnstes irgendwer Leute mit deutschemPass zu Deutschen zweiter Klasse erklärennur weil sie die falsche Religion haben?“19

Die Idee, Deutschland neu zu denken,ist weder häretisch, noch führt sie dazu,dass das Land sich abschafft. Vielmehrreiht sich dieser Gedanke in vielfältige Vi-sionen ein, die mit der Idee Deutschlandseinhergehen: Deutschland war im kühn-sten Moment seiner Entstehung eine poli-tische Vision, eine politisch weltoffene Idee,die nicht an ethnische Herkunft und Ex-klusivität gebunden war. In der Grund-rechte-Charta der Frankfurter Paulskirchehieß es: „Jeder ist ein Deutscher, der aufdem deutschen Gebiet wohnt (...) die Na-tionalität ist nicht mehr bestimmt durchdie Abstammung und die Sprache, sondernganz einfach bestimmt durch den politi-schen Organismus, durch den Staat. dasWort ,Deutschland‘ wird fortan ein politi-scher Begriff.“20

18 Vgl. Smoltczyk. Alexander: Moral: Die neuenDeutschen. . Spiegel online vom 23.8.2010, online:www.spiegel.de/spiegel/a-713293.html(20.10.2010).

19 Ironisch, aber treffend: Martenstein, Harald: Länder verändern sich. In: Tagesspiegel vom17.10.2010. http://www.tagesspiegel.de/meinung/laender-veraendern-sich/1959378.html

20 Franz Wigard, Stenographischer Bericht über dieVerhandlungen der deutschen constituierendenNationalversammlung zu Frankfurt am Main,Frankfurt/.M 1848/1849, S. 737.

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Die nationale Identität basierte nichtauf ethnische oder kulturelle Merkmale.Wie in Preußen galt ein territorialer Be-zugsrahmen: Die legitimen EinwohnerPreußens waren deutsch-, polnisch-, litau-isch-, sorbisch- oder französischsprechend.Es gab weder eine ethnische Konstruktionvon Zugehörigkeit noch eine sprachlicheEinheit, obwohl August Wilhelm vonSchlegel und Johann Gottlieb Fichte zuvorden Versuch unternommen hatten, dieSprache als Kategorie natürlicher geistigerVergemeinschaftung zu etablieren.21 AuchJohann Gottfried Herder sah in der ge-meinsamen Sprache die Möglichkeit, eineGemeinschaft zu konstituieren, die derdeut schen Nation eine Existenz jenseitsder Schaffung eines staatlichen Rahmensermöglichen sollte. Die deutsche Gemein-schaftsbildung sollte über eine gemeinsameKultur erfolgen. Dieser Gedanke war zwarkulturell exklusiv, erlaubte aber eine überdie Staatengrenze hinausgehende identitä-re Verbundenheit mit späteren deutsch-sprachigen Nationen. Dennoch: Die Suchenach dem, was letztlich das Deutschseindefinierte, kulminierte in rassischen und ge -netischen Definitionen und erschwerte so-mit den Zugang zu dieser Frage nachhaltig.

Die nicht zu greifende „deutsche Leit-kultur wird in Zeiten der gesellschaftlichenVerunsicherung durch Finanzkrise, Ar beits -platzverlust und demographischen Wandelimmer häufiger als etwas herbeigesehnt, daswe nigstens eine identitären Konstante dar-stellen könnte – Werte der Vergangenheitals letzte „stabile“ Ressource. Leider lässtsie sich in ihrer „fundamentalen Luftigkeit“nur greifen anhand der Markierung jener,die scheinbar nicht dazugehören. Nach demMotto: Wenn heutzutage schon Homo-Ehe, Patchwork-Familien, und Alleiner-ziehende Mütter in die deutsche Leitkultur

integriert werden müssen, dann reicht dasschon alle Mal – dann bitte nicht noch denIslam... .

Neues Deutschland

Der längst eingetretene identitäre Wandelist eine alltägliche Banalität, in Zahlenmessbar und für die Zukunft prognosti-zierbar. Auch wenn sich im Moment einGroßteil der Deutschen die Zeit vor demAnwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr1961 herbeisehnt, so wird das nicht passie-ren. Abgesehen davon, dass für den ande-ren Großteil diese Zeit nicht das „goldeneZeitalter“ (Thilo Sarrazin) darstellt, son-dern ein vermieftes, biederes, geschlossenes,schlechtgelauntes und getrenntes Deutsch-land. Im heutigen Deutschland umarmensich sogar die Männer zur Begrüßung, wäh -rend sie ihren eigenen Vätern immer nochnur steif die Hand reichen, man sitzt abendsdraußen auf der Straße, trinkt und ist laut –gerne auch bis in den November hinein.Die herkunftsdeutschen Kinder heißen nichtnur Sophie, Karl und Heinrich, sondernauch Mandy, Kevin, Ramona und Guido,ab und zu auch Leila, Tarek oder Minou.22

Dennoch richtet sich das Orientie-rungswissen in einigen Teilen der Gesell-schaft weniger an dieser Realität als an ei-ner homogenen Fiktionalität aus, die wederdas gegenwärtige noch das vergangeneDeutschland widerspiegelt, welches immerheterogen war – abgesehen von einer kur-zen Periode homogener Struktur, die fürdie Kernverfasstheit des politischen Dis-

21 Vgl. Stefan Reiss, Fichtes „Reden an die deutscheNa tion“ oder „Vom Ich zum Wir“, Berlin 2006, S. 124.

22 Vgl. Axel Hacke/Giovanni di Lorenzo, Wofür stehstDu? Was in unserem Leben wichtig ist, Köln 2001.

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kurses maßgebliche Relevanz zu habenscheint. Deutschlands Sehnsucht nach Ho -mogenität muss dabei aus seiner Eigenartals postfaschistischer Gesellschaft herausverstanden werden: „Wir sind aufgewach-sen in einer Bundesrepublik, die so reindeutsch war wie noch nie irgendein Deutsch -land in der deutschen Geschichte. (...) Die-ses Erbe der Nazis hielten wir für normal.Halten viele von uns noch immer für nor-mal. Es war aber nichts anderes als das Re-sultat einer gewalttätigen ethnischen Säu-berung. (...)“23 Das Verhältnis der autoch-thonen Deutschen zu ihrer Nationalitätrührt nicht nur aus dieser traumatischenVergangenheit – es rührt zum Teil auch ausder Fremdzuschreibung, die Deutschlandin Folge dessen seit Jahrzehnten entgegen-schwappt: Deutschland galt als effektiv, ag-gressiv, kognitiv. Deutschsein war uncool.

Obwohl Deutschland in seiner Politikin den letzten Jahrzehnten, im Kontext eu-ropäischer Vergleichs-Nationen wie Frank -reich, Holland, Polen oder Belgien wenigerpopulistisch, im Vergleich zu England oderItalien friedensbewegter, im Vergleich zuallen genannten ökologischer und selbst-kritischer war, schaffte es den Imagewech-sel vor allem durch das weltweit ausstrah-lende Bild des vielfältigen, unkonventio-nellen Berlins und durch die beiden Welt-meisterschaften 2006 und 2010. Es wurdeals weltoffener wahrgenommen, als „le bens -werter und liebenswerter“, wie es Bundes-präsident Wulff in seiner Antrittsrede am3. Oktober 2010 formulierte. Auch Men-schen wie Mesut Özil, Philipp Rösler oderSibel Kekilli verkörpern nun das neue Ge-sicht Deutschlands. Umso verwunderlicherist die Ablehnung, mit der ein Teil der Re-publik auf das neue Bild Deutschlands rea-giert, als ob man sich von dem Bild desugly old German nicht trennen mag.

Seitdem die Gehässigkeit der „Sarra-zin-Debatten“ offensichtliche Exklusions-mechanismen zu Tage förderte, die bis tiefin die Mitte der Gesellschaft hinein vertre-ten werden, sind auch überraschend klareSelbstverteidigungsreaktionen bei Men-schen mit Migrationshintergrund zu beob-achten. Aus den multiplen Wir-Identitä-ten, welche die Zugehörigkeitskontexte die-ser Menschen mitbestimmen, artikuliertsich immer häufiger der Gedanke einerneuen deutschen Identität in-between. Of-fen wird eine Stimmung verhandelt, in dertrotzig ein „Wir gehören dazu“ und „Dasist auch unser Land“ artikuliert wird. Alshätte ein Moment der Angst um den Ver-lust der Heimat das Bewusstsein geschaf-fen, dass man ein post-modernes Bekennt-nis zu dieser neuen deutschen Identitätartikulieren möchte. In dieses Bekenntnisreihen sich auch jene Herkunfts-Deutschenein, für die die Debatte die Frage aufwirft,mit wem man sich selbst in seinem Landeher assoziiert und mit wem man eine ver-gleichbare Ideenwelt oder aber eine Vor-stellung von Zukunft teilt. Eine parodie-rende Variante dessen lautete in den 1980erJahren: „Ausländer, lasst uns mit den Deut-schen nicht allein.“ Geändert hat sich seit-dem, dass diese „Ausländer“ zu einem we-sentlichen Bestandteil Deutschlands gewor-den sind. Dabei bedeutet die Idee, sichDeutschland ohne Multikulturalität nichtmehr vorstellen zu wollen keineswegs, dassman religiösem Extremismus nicht aktiventgegenträte – nein: man tritt ihm nur ge-meinsam entgegen – genauso wie demRechtspopulismus.

23 Arno Widmann in: Frankfurter Rundschau (FR)5.2.2010.

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26 Wer gehört zum neuen Deutschland? Argumente 4/2010

Deutschland ist nach der Sarrazin-De-batte ein gespaltenes Land. Aber die Trenn -linie verläuft nur oberflächlich zwischen„den Muslimen und dem Rest“, und nurtemporär zwischen den Menschen mit Mi-grationshintergrund und jenen ohne. DieTrennlinie verläuft zwischen den „alten“und den „Neuen“ Deutschen und ihrer je-weiligen Vision von der Zukunft ihresLandes. Es sind zwei unterschiedliche Vor-stellungen von Deutschland, die hier auf-einanderprallen. Das neue Deutschlandwird sich in der Zukunft nicht mehr anHerkunft, Genetik und Abstammungs-strukturen definieren können – dies erlaubtschon der demographische Wandel nichtmehr. Es wird sich trotzdem nicht abschaf-fen – es wird nur ethnisch und kulturellvielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dannals Chiffre für die Zugehörigkeit zu einemgemeinsamen Land. .

Der Artikel wurde „Aus Politik undZeitgeschichte“, Heft 46-47/2010 ent-nommen

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Auch wenn in der Öffentlichkeit langeZeit die Migranten nur als Gastarbeiterangesehen wurden, gibt es bereits seitdrei Generationen Kulturschaffendeunter den „Gastarbeitern“. Lange wur -den diese aber lediglich als Nischen -phänomen betrachtet und etwa als„Gastarbeiterliteratur“ kategorisiert.Anfangs wurde auch der Star-RegisseurFatih Akin, der in seinen ersten Filmenverschiedene Fragen der Einwandererin Deutschland thematisierte, als Meis -ter des Migranten- und Nischenkinosbezeichnet. Spätestens aber mit sei-nem großen Erfolg „Gegen die Wand“emanzipierte sich Fatih Akin vom Gast -arbeiterstatus der Elterngeneration.Mit diesem Film stieg er auch endgül-tig zur Riege der großen deutschenRegisseure auf. Der Literaturwissen-schaftler Georg Jansen schreibt, dassFatih Akins neuere Filme keine Filmemehr über Minderheiten seien, bei denen letztlich alles auf die Entschei-dung zwischen Bleiben oder Zurück-gehen hinauslaufe, sondern es seienvielmehr Porträts der deutschen Groß-städte im 21. Jahrhundert. „Das Außenseitertum, die aus dem Auslandkommende Randgesellschaft, ist

längst in den Zentren der Städte an-gekommen und damit auch im Zen-trum der Kultur eines Landes, das wiekaum ein anderes in Europa schon allein wegen seiner zentralen Geogra-phie auf multikulti angelegt ist. DemAusland dieses kulturell wandelfähigeDeutschland zu zeigen, darin liegt eines der Verdienste Akins um dendeutschen Film“, betont Jansen.

„Bürgerschreck der deutschen Litera-turszene“

Auch dem deutschen Schriftsteller FeridunZaimoglu wurde in seiner Anfangszeit vomFeuilleton eine literarische Relevanz abge-sprochen.

Mit „Kanak Sprak“ schuf Zaimoglu eineeinzigartige migrantische Kunstsprache –das brachte ihm Zuschreibungen wie der„Malcolm X der Türken“ ein. Über die Wutauf die eigene elende Situation kam Zai-moglu zum Schreiben. In „Kanak Sprak –24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft“verarbeitete er die Wutmonologe von Freun -den in eine kämpferisch-spielerische Kunst -sprache. „Kanak Sprak“ von 1995 ist bisheute prägend geblieben und Zaimogluswohl bekanntestes Werk. Feridun Zaimo-

DIE NEUE KULTURELLEAVANTGARDEVon Eren Güvercin, freier Journalist

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28 Die neue kulturelle Avantgarde Argumente 4/2010

glu, der sich als „educated Kanakster“ be-zeichnete, verlieh damit den Kindern vontürkischen „Gastarbeitern“ eine Stimme.Doch das Feuilleton stellte Zaimoglu alseinen Satiriker, Soziologen oder gar als So-zialarbeiter dar, als „Bürgerschreck derdeutschen Literaturszene“. Es kursiertenZuschreibungen wie „der Malcolm X derTürken“ oder „der Rudi Dutschke derDeutschländer“. Die Lesungen von KanakSprak waren regelrechte Underground-Re-volten. Sie fanden nicht in Literaturhäu-sern statt, sondern an Orten wie Jugend-häusern, Schulen und Universitäten.

„Meine Heldinnen und Helden sindNicht-Bürgerliche. Das kommt daher, dassich das Spannende, das Gärende, das wildWachsende eben nicht im deutschen Bür-gertum, bei den Bürgerlichen sehe“, sagtZaimoglu rückblickend über diese Zeit.Für ihn habe der diskrete, dekadente Charmeder Bourgeoisie keine Bedeutung, und dar-an habe sich auch heute nichts geändert.

Mit der bewegenden Familiensaga „Ley -la“ sprengte Zaimoglu die ihm zugeschrie-bene Außenseiterrolle des „Milieu-Litera-ten“. Zaimoglu ließ sich davon nicht beein-drucken, dass ihm die Feuilletons anfangseine gewisse literarische Relevanz abspra-chen. Er entwickelte sich zum Sprachrohreines Idioms, das man so in der deutschenLiteratur noch nicht gekannt hatte. Fürseinen Lektor Olaf Petersenn zeichnet sichZaimoglus Werk durch „einen unmittelba-ren Gegenwartsbezug“ aus, nah an der ge-sprochenen Sprache, mit viel Witz und Iro -nie, offen für alle Formen von Eindrücken.

Mit seinem Erfolgsroman „Leyla“ (2006)schließlich sorgte er für große Überra-schung, weil man einen ganz anderen Zai-moglu erlebte. Spätestens jetzt kam dasFeuilleton nicht darum herum, die ihm zu-gesprochene Außenseiterrolle als „Milieu-

Literat“ aufzugeben. Auch bei den Lesun-gen zu „Leyla“ waren die Säle bis auf denletzten Platz gefüllt.

Die ihm oft zugewiesene Rolle als Vor-bild für junge Menschen mit Migrations-hintergrund lehnt der Schreiber Zaimoglutrotz seines schriftstellerischen Erfolges ab.„Wenn man von Erfolg und Ankunft imZusammenhang mit mir spricht, dann darfman die Verzweiflung und Erfolglosigkeitmeiner Jahre, bevor das mit den Büchernanfing, natürlich nicht verschweigen. Ich binein doppelter Studienabbrecher, ich habekeine Ausbildung, und ich bin ganz sicherkein glänzendes Vorbild für andere Men-schen. Ich bin eher ein Paradebeispiel dafür,wie alles misslingen kann, dass man ebennicht Menschen mit technischen Begriffenbeikommen kann. Das Wort „Integration“stammt aus dem Technokraten-Jargon, undich kann damit herzlich wenig anfangen.Wofür ich stattdessen eintrete ist, dass manbitte schön nicht zu feige sein soll, um vonDeutschland als seiner Heimat zu sprechen.“

„Postmigrantisches Theater“

Neben seinen Romanen schreibt FeridunZaimoglu auch Theaterstücke. Mit seinemStück Schwarze Jungfrauen etwa schockteer das Theaterpublikum. Das Theaterstückhandelt von fünf muslimischen jungen Frau -en. Diese jungen Frauen sind keine „Ja-sager“, keine Ängstlichen, keine Ungebil-deten, keine Gutmensch-Frauen. Sie sindzornige, starke, coole, witzige und mutigeMuslimininnen, die das Wort ergreifen, ohnePunkt und Komma im Angesicht des Pu-blikums ihre persönlichen Geschichten oderMeinungen vortragen. Manchmal ist es vul -gär, manchmal radikal kompromisslos.

Die Regie zu diesem Stück führte NecoCelik vom Ballhaus in Berlin-Kreuzberg.

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Damit erfüllte sich ein Traum für ihn: „EinTheaterstück zu inszenieren war für michschon immer ein geheimer Wunsch gewe-sen. Als man mir Feriduns Stück „Schwar-ze Jungfrauen“ angeboten hat, habe ich so-fort „ja“ gesagt.“ Mittlerweile hat NecoÇelik im Ballhaus Naunynstraße schon beieinigen Theaterstücken Regie geführt.Künstlerische Leiterin des Ballhauses istShermin Langhoff. Im November 2008wurde das Ballhaus mit dem Theaterfesti-val Dogland wiedereröffnet. Initiator undTräger des neuen Konzepts an der kommu-nalen Spielstätte ist der Verein „kultur-SPRÜNGE“, ein Netzwerk von Kultur -schaf fenden der zweiten und dritten Migran-tengeneration, das Langhoff 2003 initiierteund zu dessen Unterstützern und Protago-nisten Fatih Akin, Neco Çelik, FeridunZai molu, die Schauspielerin Idil Üner, derRapper Ceza und viele andere Kulturschaf-fende gehören. „Diese Spielstätte ist aus derFeststellung entstanden, dass es hier ein kul -turelles Kapital gibt, das überhaupt nichtgefördert wird“, betont Langhoff. „Mein An -spruch ist es, vor allem migrantischen Künst -lern aus der zweiten und dritten Generationein Forum zu geben, um neue Geschichtenaus neuen Perspektiven zu erzählen.“

Durch junge Talente wie dem Regis-seur Neco Çelik oder dem SchauspielerErhan Emre hat das Ballhaus Möglichkei-ten, die sich andere Theater erst mühsamaufbauen müssen: Durch Çeliks Tätigkeitin der Jugendeinrichtung Naunyn Ritze(direkt gegenüber des Ballhauses) eröffnensich etwa Möglichkeiten für Projekte zurkulturellen Bildung der Jugendlichen inKreuzberg. Aber die kulturelle Bildung istnur ein Teil der Arbeit: „Wir wollen zwarsoziale Fragestellungen einbeziehen, aberüber die soziokulturellen Momente desklassischen Migrationstheaters hinausge-

hen und neue Wege einschlagen“, erklärtLanghoff. Sie bezeichnet das Ballhaus als„postmigrantisch“. Postmigrantisch umfas-se dabei vor allem die Geschichten undPerspektiven derer, die selbst nicht mehrmigriert seien, den Migrationshintergrundaber als Wissen mitbringen. „Man bewegtsich mit diesen Selbst- und Fremd zu schrei -bungen natürlich immer auf einer Grenz -linie. Aber wir brauchen diese Titelagen –auch um zu provozieren und damit wir unsgemeinsam weiterentwickeln können. Dennals ,junge Deutsche‘ werden wir einfachnicht gesehen. Ich glaube, dass jede gebro-chene Biografie, sei es durch Migrationoder andere Umstände, ein gewisses Poten-zial birgt.“

Anfangs als Nischenphänomen in derKulturlandschaft Deutschlands abgestem-pelt, ist daraus eine neue kulturelle Avant-garde entstanden. Trotzdem fällt es der Öf-fentlichkeit immer noch schwer, die rich-tigen Begrifflichkeiten dafür zu finden. Dieversuchten Typologisierungen spielen im-mer noch mit Begriffen wie „Migrations -literatur“, „Migrantisches Theater“ oder„Literatur der Fremde“, aber der Begriffdeutsch fehlt leider oft. Die deutsche Ge-sellschaft scheint immer noch nicht in derLage zu sein, diese Altlasten der Begriffs-geschichte hinter sich zu lassen. .

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30 Was ist eigentlich Rassismus? Argumente 4/2010

Die aktuelle Integrationsdebatte zeigt,dass sich die Mehrheitsgesellschaftnicht genügend über Rassismus undseine gegenwärtigen Phänomene aus-einandersetzt. Rassismus ist ein gesell-schaftliches Phänomen, welches Menschen sowohl strukturell als auchindividuell ausgrenzt aufgrund von fik-tiven oder tatsächlichen Unterschieden.Rassismus hat viele nebeneinanderexistierende Formen, die sich gegen-seitig bedingen und verändern.

Die moderne Form des natio-ethno-kultu-rellen Rassismus nach Paul Mecheril lässtsich besonders in den bundesweiten De-batten um „die Ausländer“, „die Muslime“oder „den Islam“ gut verdeutlichen. Hierwird nicht mehr mit „rassischer Reinheit“argumentiert, sondern vielmehr geht es umdie Bewahrung der eigenen Kultur und da-mit der eigenen „kulturellen Identität“.(Paul Mecheril: Rassismus bildet, S. 15)

„Wenn dieses Klassifikationssystemdazu dient, soziale, politische und ökono-mische Praxen zu begründen, die bestimm-te Gruppen vom Zugang zu materiellenoder symbolischen Ressourcen ausschließen,dann handelt es sich um rassistische Pra-xen.“ (Stuart Hall: Rassismus als ideologi-scher Diskurs)

Stuart Hall definiert Rassismus als„Ras sismus ohne Rassen“, der Identitätenkonstruiert und die Mehrheit damit absi-chert. Es werden „Andere“ produziert undals Gruppe untergeordnet. Somit liegt Ras-sismus vor, wenn eine Mehrheit die Machtbesitzt, eine Minderheit als nicht „normal“bzw. „anders“ zu definieren und sie dadurchzu benachteiligen. Dieser Ausgrenzungs-mechanismus dient vor allem der eigenenIdentifikation und dem Erhalt einer gesell-schaftlichen Hierarchie.

Bezogen auf Deutschland bedeutet dies,die Ausgrenzungsmechanismen im histori-schen, sozial-strukturellen und gesetzlichen

WAS IST EIGENTLICHRASSISMUS?Von Karima Benbrahim, Referentin bei IDA e. V.

Schwerpunkt

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Kontext zu durchleuchten. Begriffe wie„Rasse“ die ihre Hochkonjunktur im Na-tionalsozialismus hatten, werden heute zwarvermieden, sie werden jedoch durch andereBegriffe wie „Kultur“ oder „Ethnie“ ersetzt.

„Das vornehme Wort Kultur tritt an-stelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibtaber ein bloßes Deckbild für den brutalenHerrschaftsanspruch.“ (Theodor W. Ador-no: Schuld und Abwehr)

In diesem Zusammenhang bedarf es ei-ner differenzierten Analyse rassistischerErscheinungsformen und die Aufdeckungrassistischer Begriffe, da sie permanent einerassistische Normalität reproduzieren ohnegesellschaftliches Verantwortungsbewusst-sein. Dabei kommt der Politik, dem Staatund seinen Institutionen eine wichtige Ver -antwortung zu, um selbst geführte Debat-ten über „die Anderen“ rassismuskritischzu hinterfragen, d. h. die Verknüpfungenmit Fragen von Macht und Abhängigkeitins Bewusstsein zu rücken.

Zu Argumentationsmustern in der Integrationsdebatte

Schaut man auf die sog. Integrationsdebatte,so lässt sich mit den Aussagen des SPD-Mit -glieds Thilo Sarrazin und des CSU Poli ti kersHorst Seehofer die Kontinuität der ras sis ti -schen Argumentationsmuster in der Bun des -republik Deutschland gut beobachten.

Die Debatten um „die Muslime“, „dieAraber“ oder „die Türken“ führen zu einerpermanenten Ausgrenzung und Stigmati-sierung dieser Minderheitengruppen.

„Die Integrationsprobleme liegen aus-schließlich bei den muslimischen Migran-ten. Überall in Europa gibt es analoge Inte-grationsprobleme mit muslimischen Migran-ten. Die These meines Buches ist: Dies liegtoffenbar am islamisch-kulturellen Hinter-

grund. Ich kenne keine andere Erklärung.“(Thilo Sarrazin Interview, Die ZEIT,28.06.10)

Die undifferenzierten und rassistischenÄußerungen in dieser Integrationsdebattezeigen, dass es sich um ein immer wieder-kehrendes Muster handelt, welches bei derReproduktion rassistischer Argumentrati-onsmuster üblich ist. Die rassistischen Ar-gumentationsmuster basieren auf Zu schrei -bungen aufgrund unterschiedlicher „Kultu-ren“, „Nationen“, „Ethnien“ oder Reli gions -zugehörigkeiten.

„Ich möchte, dass auch meine Urenkelin 100 Jahren noch in Deutschland lebenkönnen, wenn sie dies wollen. Ich möchtenicht, dass das Land meiner Enkel und Ur-enkel zu großen Teilen muslimisch ist, dassdort über weite Strecken Türkisch undArabisch gesprochen wird, die Frauen einKopftuch tragen und der Tagesrhythmusvom Ruf der Muezzine bestimmt wird.Wenn ich das erleben will, kann ich eineUrlaubsreise ins Morgenland buchen.“(Zitat von Thilo Sarrazin)

Somit entpuppt sich die „Integrations-debatte“ als eine verdeckte Identitätsdebat-te, die versucht Zugehörigkeiten zu homo ge -nisieren, d. h. eine Gesellschaft in ein „Wir“und „die Anderen“ zu spalten. Minderhei-ten werden kollektiv konstruiert und ihreindividuelle Positionierung ausgeblendet.

Bei einer näheren Betrachtung der ras-sistischen Argumentationsmuster, zeigt sichdeutlich die Verneinung einer anzuerken-nenden Vielfalt in diesem Einwanderungs-land. Die immer wieder auftauchende Selbst -verständnisdebatte versucht das „Wir“ alshomogen zu bestätigen und die „Anderen“als Gesellschaft zu negieren.

„Es ist doch klar, dass sich Zuwandereraus anderen Kulturkreisen wie aus der Tür-kei und arabischen Ländern insgesamt

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schwe rer tun. Daraus ziehe ich auf jedenFall den Schluss, dass wir keine zusätzlicheZuwanderung aus anderen Kulturkreisenbrauchen.“ „Wir müssen uns mit den Men-schen beschäftigen, die bereits hier leben.80 bis 90 Prozent sind ja gut integriert. DieIntegrationsverweigerer müssen wir aberhärter anpacken.“ (Horst Seehofer, DieZeit 9.10.2010)

Problematisch sind keine Hinweise aufgesamtgesellschaftliche Herausforderungen,sondern die Einbettung in rassistische Ar-gumentationsmuster, dies führt besonderszu einer Verschiebung des Blicks von derMehrheit auf die Minderheit und blendetdie Diskriminierungen der Minderheiten-gruppe aus. Eine rassismuskritische Per-spektive meint den Blick in die eigene Ver-strickung von rassistischen Denk- undVerhaltensmuster zu erkennen, um diese zubekämpfen. Dies beinhaltet jedoch das Ein -geständnis, dass es Rassismus in allen Be-reichen unserer Gesellschaft gibt. .

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Aktuell werden Tabu-Brüche im Hinblickauf die Integrationsdebatte geradezubegrüßt, da wohl Problemlagen in Zu-sammenhang mit der Eingliederungvon MigrantInnen nun letztendlichkonstruktiv und offen behandelt wer-den könnten. Es wird suggeriert, dassdie sogenannte Integrationsdebattenie zuvor ernsthaft geführt worden sei.Doch um was geht es eigentlich beiden Forderungen nach Integration,angesichts der Tatsache, dass dermuslimische Teil der Bevölkerung sehr stark im gesellschaftspolitischenFokus steht?

Tabu-Brüche?

Die Anfänge in der Chronologie dieser De -batte gehen auf die Anwerbung von aus-ländischen Arbeitskräften in den 50er Jah-ren zurück. Es handelte sich neben „Gast-arbeiterInnen“ aus der Türkei um Italiene-rInnen, SpanierInnen und GriechInnen.Zu dem Zeitpunkt wurden die Diskussio-nen lediglich von arbeitsmarktpolitischenGesichtspunkten der Einwanderung do mi -niert. Die GastarbeiterInnen sollten nachgetaner Arbeit auch wieder in ihre Heimatzurückkehren. Diese Einschätzung trat nichtein und nach dem Anwerbestopp von 1973erhöhte sich die Zahl der Arbeitsmigran-tInnen nicht zuletzt durch Familiennach-zug. Die Politik konzentrierte sich darauf-

LEITKULTUR UND ANTI-MUSLIMISCHER RASSIS-MUS: UM WAS GEHT ES BEI INTEGRATION EIGENTLICH? EIN KOMMENTAR ZU DEN AKTUELLEN DEBATTENVon Ilhan Altiparmak, studiert Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der Uni-versität Heidelberg

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hin in den 80er Jahren auf die Begrenzungvon Zuwanderung und Rückkehrförderung.Nichts an ihrer Aktualität verloren wirdletzteres auch heute durch finanzielle An-reize unterstützt, ungeachtet der Notwen-digkeit von Zuwanderung aus wirtschaftli-chen und demografischen Gründen. Ob-wohl es sich abzeichnete, dass die „Gäste“keine Gäste mehr waren, blieben struktu-relle Maßnahmen zur gesellschaftlichpoli-tischen Integration aus. Diffuse Vorstel lun -gen von und zur Integration wurden den-noch artikuliert und debattiert. So kam es1978 zur Einrichtung des Amtes des Aus-länderbeauftragten, dessen erster Leiter derehemalige SPD-Ministerpräsident des Lan -des Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn wur -de. Im Memorandum über den „Stand undWeiterentwicklung der Integration der aus -ländischen Arbeitnehmer und ihrer Fami-lien in der Bundesrepublik Deutschland“von 1979 stellte Kühn die These auf, dassDeutsch land faktisch ein Einwanderungs-land sei.1

Die Ausländerpolitik in den 80er Jah-ren entwickelte sich zu einem populärenWahlkampfthema, die von der Mehrheit derGesellschaft getragen wurde. Das „Dring-lichkeitsprogramm“ von Helmut Kohl be-nannte 1982 die Ausländerpolitik als einenvon vier thematischen Schwerpunkten sei-ner „Politik der Erneuerung“. Erhöhte Asyl -bewerberzahlen und der Zuzug von Aus-siedlerInnen in den 90er Jahren beflügeltenweiter den Unmut gegenüber „Asylbewer-bern und Ausländern“. Bezeichnend ist indiesem Zusammenhang, dass 1984 bereits79 Prozent der Bevölkerung der Meinungwaren, es lebten zu viele AusländerInnen inDeutschland.2 Auf den Pogrom von Ro-stock-Lichtenhagen folgte eine Welle vonAngriffen und Brandanschlägen auf Aus-länder und Asylbewerber. Diese waren in

den 90er Jahre schließlich Ausdruck einerherrschenden „Ausländerfeindlichkeit“ undkreierten eine gefühlte Zäsur im Hinblickauf die Ausländerdebatte. Zwar stand dieseEskalation vordergründig in engem Zu sam -menhang mit den Diskussionen um dasdeutsche Asylrecht, dennoch wurde klar,dass es dabei auch um eine viel grundsätz-lichere Frage ging: das Verhältnis zur Ein-wanderung und Einwanderern. Letztend-lich folgte eine breite Debatte über die poli-tische Steuerung von Zuwanderung, dasVerhältnis zur Integration und Assimilation,die Haltung zur Einbürgerung von Aus-ländern aber auch zum Konzept der multi-kulturellen Gesellschaft. Das gesellschafts-politische Thema der Integration von Mi-grantInnen hat es geschafft, über einensehr langen Zeitraum ihre Aktualität zubewahren.

Zwischen Assimilation und Integration

Ein Kardinalsfehler des Integrationsdis kur -ses liegt in der stets unklaren Bedeutungund Verwendung des Terminus Integration.Eine klare Definition des Begriffs Integra-tion ist jedoch unerlässlich, damit die be-teiligten AkteurInnen von einem gemein-samen Verständnis ausgehen können. Dieoftmals unklare Verwendung verhindert eineklare Zuweisung der politischen Verant-wortung. Ferner müssen strukturelle Hin-dernisse für gesellschaftliche Teilhabe ab-gebaut werden, was vor allem politischeGestaltungsmacht voraussetzt und über dieVerantwortung des Individuums hinausgeht.

1 Vgl. http://www.migration-online.de/data/khnmemorandum_1.pdf (04.12.2010).

2 Vgl. http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E1753C8F3F4324072B3A02A037829DCC0~ATpl~Ecommon~Scontent.html (04.12.2010).

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Die These ist, dass die MigrantInnen sichin die Gesellschaft hinein integrieren; also,„in“ die Gesellschaft hinein. So klar dasklingt, wird in den Debatten deutlich, dassdie Vorstellungen über Integration in derGesellschaft so vielfältig sind, wie die Ge-sellschaft selber. Im eigentlichen Sinn be-deutet Integration die „Herstellung einesGanzen“. So spricht auch der bekanntesteIntegrationsforscher Hartmut Esser ur-sprünglich von Assimilation und nicht In-tegration. Und ja, der Begriff der Assimila-tion ist beabsichtigt und kein Fauxpas. Undnein, es ist nicht schlimm, sondern korrektund treffend, da die Verwendung des Be-griffs Integration das eigentliche Ziel derAssimilation verharmlost. Jedoch wird derBegriff aus politischen und normativenGründen nicht verwendet, da eine spuren-lose Assimilation nur unter einseitigerAufgabe von Identitätsmerkmalen einher-geht und hegemoniale Strukturen verfe-stigt, sobald eine ausgesuchte Minderheitsich der Mehrheitsgesellschaft „anpassen“und darin aufgehen soll.

Deutlich wird, dass die zurzeit verwen-dete Form von Integration nicht annä-hernd verwandt ist mit der eigentlichenBedeutung. Die Verwandtschaft des ur-sprünglichen Integrationsbegriffs bestehteher zu dem für „tot“ erklärten „Multi-Kul-ti“ Begriff. Kritiker des Multikulturalismusbeklagen, dass die Hervorhebung kulturel-ler Differenz partikularistische und separa-tistische Bestrebungen stärkt.3 „Multi-Kul-ti“ implizierte im Inhalt nicht nur ein „wirleben mal so nebeneinander her und freuenuns übereinander“. Multikulturalismus istdie Beschreibung für die in der Theorieund Praxis auftretende Vielkulturengesell-schaft, „in der Menschen verschiedenerTraditionen, Sprachen, Religionen, Kon-fessionen und ethnischer Zugehörigkeiten

zusammenleben“.4 In der zweiten Haupt-bedeutung wird von einem politischenKampfbegriff gesprochen, mit dem die vol-le Anerkennung der Gleichwertigkeit allerKulturen, vor allem auch die Respektierungkultureller und ethnischer Besonderheiten,gefordert wird, im Gegensatz zum Integra-tions- oder „Schmelztiegel“-Konzept, dasauf die allmähliche Auflösung kulturellerDifferenzen durch Assimilation und Inte-gration setzt.5

Die idealistische Zielsetzung von „Mul -ti-Kulti“ bestand in der gegenseitigen Vor-stellung und Wahrnehmung der Vielfältig-keit Deutschlands. Diese sollte persönlicherlebt werden, so dass die Konsensfindungder Kulturen gefördert, und ein neues Gan-zes hergestellt werden kann. Folglich ist dieBedeutung von Integration dem Verständ-nis von „Multi-Kulti“ näher, als dem Kon-zept der Assimilation im Kontext der deut-schen „Leitkultur“.

Esser selbst definiert Assimilation als ei-nen Prozess der zur gleichmäßigen Vertei-lung von Strukturmerkmalen (z. B. Sprach -verhalten oder Einnahme beruflicher Posi-tion) über die verschiedenen Gruppen einerGesellschaft. Es geht um die Auflösung sys -tematischer Unterschiede zwischen den ver-schiedenen (ethnischen) Gruppen.6 Dem-nach ist Assimilation dann gelungen, wennes unter den einzelnen Migrantengruppenzu gleichen Anteilen AkademikerInnen undSozialleistungsempfängerInnen gibt, wieun ter der „deutschen“ Bevölkerung.

3 Vgl. Schmidt, Manfred (2004): Wörterbuch zurPolitik. 2., vollst. überarb. u. erweit. Aufl. Stuttgart,2004, S. 464.

4 Ebd.5 Ebd.6 Vgl. Esser, Hartmut (2001): Integration und eth-

nische Schichtung. Arbeitspapiere – MannheimerZentrum für Europäische Sozialforschung,Mannheim 2001, S. 21.

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36 Leitkultur und antimuslimischer Rassismus: um was geht es bei Integration eigentlich? Argumente 4/2010

Muslime im Fokus

Verfolgt man den aktuellen Diskurs in denMedien und der Politik, wird schnell deut-lich, dass im Grunde genommen Muslimegemeint sind, wenn von „Migranten“ dieRede ist. Schlagworte, die die Debatte be-stimmen, sind die Unterdrückung der Frau,Widerstand gegen Moscheebauten, ge walt -legitimierende Männlichkeitsvorstellungender muslimischen Jugendlichen sowie diestetige Forderung an Muslime nach einemBekenntnis zum Grundgesetz in Abgren-zung zur Scharia. Diese negative Rezeptionder Muslime schlägt sich in der allgemei-nen Wahrnehmung und Haltung der Mehr -heitsgesellschaft zur muslimischen Bevöl-kerung nieder. So belegen die Ergebnisseeiner aktuellen repräsentativen Studie desExzellenzclusters „Religion und Politik“der Universität Münster, dass in Deutsch-land wesentlich stärkere Vorbehalte gegen-über Muslimen und deren Glaubensaus-übung bestehen, als in Dänemark, Holland,Frankreich und Portugal. Niederländer den -ken zu 62 Prozent positiv über Muslime,Franzosen zu 56 Prozent, Dänen zu 55 Pro -zent. Hingegen haben in Westdeutschlandnur 34 Prozent und in Ostdeutschland 26Prozent eine positive Einstellung zu Mus-limen.7 Nicht zuletzt wird oftmals betont,dass Integration bei Migranten aus Italien,Griechenland, Spanien und Portugal durch -aus konfliktfrei gelungen sei. Im Gegensatzdazu wird die Integration von türkei- undarabischstämmigen MigrantInnen als pro-blematisch angesehen – bisweilen wird ih-nen sogar Integrationsunwilligkeit bzw. -unfähigkeit attestiert.

Dies geht einher mit der Forderung sichzur jüdisch-christlich geprägten deutschenLeitkultur zu bekennen und den Islam zurelativieren, ohne dass bislang eine zufrie-

denstellende Bestimmung über die Subs -tanz dieser Leitkultur vorliegt. Mit dem Be -streben eine Leitkultur ethnisch-religiös zubestimmen, wird die Überlegenheit einer(Leit-)Kultur gegenüber anderen beste hen -den Kulturen postuliert.

Zum Phänomen der Ausländerfeind-lichkeit tritt immer mehr eine Form der Is-lamfeindlichkeit in Erscheinung. Mittler-weile nimmt die Islamfeindlichkeit einegesonderte Form des Rassismus ein, die un -abhängig von der Ausländerfeindlichkeitbestehen kann.8 In der angefeindeten Ziel-gruppe finden sich neben MigrantInnenmit muslimischem Hintergrund, sogar auchdeutschstämmige Konvertiten zum Islam.

In der Konstruktion einer vermeintli-chen Dichotomie zwischen der „westlichen“,sprich christlich-abendländischen Kultur,und der „islamischen“ Kultur, die als stati-sche Einheiten unvereinbar gegenüber ste-hen, sieht die Rassismus-Forscherin Yase-min Shooman ein konstitutives Elementdes antimuslimischen Rassismus. Dabei giltdie westliche Kultur als aufgeklärt und fort -schrittlich, während der islamischen KulturRückständigkeit und Gewaltbereitschaft zu -geschrieben wird. Mit der Dämonisierungder „islamischen“ Kultur erfolgt gleichzei-tig eine Idealisierung der westlichen Kul-tur.9 Dieser Logik folgt auch die Propagie-

7 Vgl. http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2010/dez/PM_Studie_Religioe-se_ Vielfalt_in_Europa.html (04.12.2010).

8 Vgl. auch Benz, Wolfgang (Hg.) (2009): Islam-feindschaft und ihr Kontext. Dokumentation derKonferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“,Berlin 2009 sowie Schneiders, Thorsten G. (Hg.)(2009): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen derKritik verschwimmen. Wiesbaden 2009.

9 Vgl. Shooman, Yasemin (2010): ... weil ihre Kulturso ist“. Der neorassistische Blick auf Muslime, in:„Rasse“ – eine soziale und politische Konstruktion,hrsg. v. Sir Peter Ustinov Institut, Wien 2010, S. 102f.

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rung einer Leitkultur, die soziale und struk -turelle Probleme einer Religion und Kulturzuschreibt und dabei einen gesamtgesell-schaftlichen Prozess sabotiert, der zwin-gend für jede multikulturelle Gesellschaftnotwendig ist. Die politische und gesell-schaftliche Definition und Einführung desBegriffes Integration schafft eine künstli-che Grauzone, die immun gegen die Vor-würfe der Diskriminierung und des Rassis-mus ist. Diese Grauzone ermöglicht diestetige Aushöhlung der Tabus. Dabei bildenstereotypisch gebildete Ressentiments inder Öffentlichkeit die Vorstufe zur hem-mungslosen Diffamierung von Minderhei-ten. Welche Gefahren sich hinter ethnischenStereotypen verbergen, verdeutlicht die For -schung von Grace Kao.

Die Wirkung ethnischer Stereotypen

Die amerikanische Soziologin Kao er forsch -te die Wirkung von ethnischen Stereoty-pen auf die Entwicklung und Selbstwahr-nehmung von Schülern. Kao fand heraus,dass nicht nur Konsens über die Stereo -typen bestimmter ethnischer Gruppen be-stand, sondern dass die Schüler unter-schiedlicher ethnischer Herkunft dieseStereotypen auch auf sich selbst projizier-ten und anwandten. Während weiße Schü-ler beispielsweise als hart arbeitend, fleißigund ehrgeizig betrachtet wurden, galtenafroamerikanische Schüler grundsätzlichals nicht lernbegierig oder weniger intelli-gent. Den „Hispanics“ ist das Handwerkvorherbestimmt, z. B. als Gärtner oder Au-tomechaniker, daher galten sie in der Schu-le als weniger ambitioniert. Die asiatischenSchüler wurden als sehr hart arbeitende, er-folgreiche Überflieger betrachtet.

Kao kommt zu dem Ergebnis, dass Schü -ler diese Stereotypen nicht nur persönlich

als zutreffend annehmen, sondern dieseauch im eigenen Handeln weitgehend den„erwarteten“ Eigenschaften und stereoty-pischen Prognosen anpassen.

Ein Grund nach Kao ist, dass jungeMenschen, unabhängig ihrer ethnischenZugehörigkeit dazu tendieren, sich sowohlinnerhalb und außerhalb der Schule „mitgleichgesinnten“ zu sozialisieren, so dass be -stehende Vorurteile verstärkt werden. Einweiterer Grund ist, dass alle Schüler zwarerfolgreich sein wollen, den Erfolg jedochnur in Relation zu ihrer eigenen Gruppemessen. „For all these young people, then,,self‘ develops through the lens of how U.S.society defines race and ethnicity.“10

Diese Entwicklung des Selbst an eineramerikanischen High-School kann nichtnur lokal begründet werden und liefert eineErklärung dafür, wie sich Minderheitenund Mehrheiten an deutschen Schulen de-finieren und durch die Bilder in der Gesell-schaft nicht nur geprägt werden, sonderndiese auch verfestigen. Ohne den Abbau vonrassistischen und diskriminierenden Vor-urteilen und Strukturen wird es der deut-schen Gesellschaft nicht möglich sein, die-sen circulus vitiosus zu durchbrechen; auchdann nicht, wenn Thomas Müller und Me-sut Özil zusammenspielen. .

10 Macionis, John J. (2005): Sociology, 10. überarb.Auflage, New Jersey 2005, S. 133.

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38 Integrationsmainstreaming als Konzept Argumente 4/2010

So viele Aktivitäten und Diskussionenzum Thema Integrationspolitik, sowohlauf der politischen Ebene als auch inden Medien, wie derzeit, gab es nochnicht. Das Thema ist aus seinem Schat -tendasein herausgetreten und insBlickfeld der Öffentlichkeit gerückt:

Bereits vier „Integrationsgipfel“ haben statt -gefunden. Der Nationale Integrationsplanund das Integrationsprogramm sind veröf-fentlicht. Die Islamkonferenz hat im Dia-log mit Muslimen neue Akzente gesetzt.Die Bundesländer haben eigene Integrati-onskonzepte entwickelt. Viele Kommunen,vor allem die größeren, haben konkrete In-tegrationspläne verabschiedet. Die statisti-sche Erfassung der Zielgruppe nach dem„Ausländerkonzept“ wird zunehmend er-setzt durch das Konzept „Menschen mitMigrationshintergrund“. Das Positive ist,dass das Ausmaß der gesellschaftlichen Her-ausforderungen nicht mehr geleugnet wer-den kann: ca. ein Fünftel der Bevölkerung

in Deutschland hat einen Migrationshin-tergrund, in vielen Städten, Stadtteilen, Kin -dergärten und Schulen liegen die Anteiledarüber.

Bisherige Lösungsansätze unzureichend

Die Mehrzahl der o. g. Aktivitäten verfol-gen allerdings einen „Förderansatz“, dernach wie vor von den Defiziten und nichtvon den Ressourcen der Einwanderer aus-geht. Die zahlreichen Projekte und Mo-dellversuche in der Integrationsarbeit kön-nen strukturelle Defizite nicht beheben, siehaben nur begrenzten Erfolg. Von sozialerChancengleichheit und gleichberechtigterTeilhabe sind wir weit entfernt: Die struk-turelle Benachteiligung von Menschen mitMigrationshintergrund zeigt sich in vielenBereichen:

– Die PISA- und IGLU-Studien habendie Defizite unseres Schulsystems deut-lich gemacht.

INTEGRATIONSMAIN -STREAMING ALS KONZEPTVon Günther Schultze, Leiter des Gesprächskreises Migration und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung

Schwerpunkt

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– In Parlamenten und Parteien sind Men -schen mit Migrationshintergrund un-terrepräsentiert.

– Die Mitarbeiterstruktur vieler Organi-sationen entspricht nicht der Bevölke-rungsstruktur.

– Es gibt Diskriminierungen beim Ein-stieg in Ausbildung und Beruf.

– Gesetzesfolgenabschätzungen findennicht statt usw.

Diese unbefriedigende Situation ist inzwi-schen von vielen erkannt worden. Institu-tionen der Zivilgesellschaft aber auch derverschiedenen staatlichen Ebenen sind nichtuntätig geblieben und haben nach Lö sungs -möglichkeiten gesucht. Doch wie sehendiese aus? In der Vergangenheit und auchheute noch werden häufig spezielle Stellen,Ämter, Arbeitskreise und Arbeitsgruppeneingerichtet, die sich mit den Themen In-tegration, Migration und ethnische Vielfaltbefassen. In den Kommunen gibt es Inte-grationsbeauftragte und es werden multi-kulturelle Büros eingerichtet. Nahezu alleVerbände und größeren Vereine haben Ar-beitskreise für Migration und Integrationgegründet. In ihnen treffen sich die Migra-tions- und Integrationsexperten. Vor allembieten sie den politisch engagierten Ein-wanderinnen und Einwanderern eine Platt -form, sich einzubringen. Dass dort ihr poli-tisches Engagement vor allem auf Integra-tionsfragen reduziert wird, stört meistensnur sie selbst.

Die Erfolge und Wirkungen dieser Ar-beitskreise sind begrenzt. Sie sind die alleinzuständigen Gremien für Integrationsfra-gen. Die übrigen Organisationseinheitenmüs sen sich nicht mit der Thematik aus-einandersetzen. Wir alle kennen die zahl-reichen Positionspapiere und Stellungnah-men solcher Gremien und Arbeitskreise.

Sie fordern eine bessere Integrationspolitikin der Gesellschaft, aber auch in der eige-nen Organisation, ohne dass aber allzu vielpassiert. In der Regel sind diese AKs mitgeringen finanziellen und personellen Res-sourcen ausgestattet. Und so entstehen beiden Mitgliedern nicht selten Gefühle derÜberforderung und Resignation.

Was bedeutet Mainstreaming für Ein-wanderer?

Wir müssen eine grundlegend neue Her-angehensweise wählen. Notwendig ist eineStrategie, die neue Instrumente einsetzt,andere organisatorische Lösungen findetund einen Perspektivenwechsel aller Betei-ligten einleitet.

Wir haben diese Strategie Mainstrea -ming für Einwanderer oder „Cultural Main -stream“ genannt. Der Begriff CulturalMainstreaming konkurriert mit anderenKonzepten und Begrifflichkeiten, wie z. B.„Integration als Querschnittsaufgabe“ oder„Interkulturelle Öffnung“. Neuerdings ist„Diversity Management“ modern. Manmuss immer genau analysieren, wer wel-chen Begriff mit welcher Zielsetzung be-nutzt. Das Konzept „Cultural Mainstrea -ming“ ist angelehnt an das Konzept desGender Mainstreaming. Gender Main strea -ming wurde aus der Kritik an der begrenz-ten Reichweite der traditionellen Frauen-förderung entwickelt. In vielen Förderpro-grammen auf EU Ebene wird inzwischenvon den Projektträgern gefordert, das Ver-fahren des Gender Mainstreaming anzu-wenden.

Mainstreaming für Einwanderer lässtsich definieren als ein Instrument mit demZiel der gleichberechtigten Teilhabe undder Verwirklichung von Chancengleichheitvon Einwanderinnen und Einwanderern

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und ihrer Kinder in allen Lebensbereichenund in allen Politikfeldern. Bei allen Ent-scheidungen und Abläufen einer Organisa-tion oder bei allen Gesetzen soll abgeschätztwerden, ob sie Wirkungen entfalten, diedem oben genannten Ziel dienen oder ihmzuwider laufen. Das Besondere ist, dassMain streaming-Prozesse die gesamte Or-ganisation/ein gesamtes Politikfeld undnicht nur einzelne Themen und Bereichebetreffen.

Zum Beispiel:– Kultur: Nicht nur fragen, wie können

wir die Kulturarbeit von Migrantenor-ganisationen fördern, sondern auch, wiekönnen städtische Theater, Orchesterund Bibliotheken Menschen mit Mi-grationshintergrund ansprechen.

– Medien: Nicht nur die Berichterstat-tung über „Integrationsprobleme“ über-prüfen, sondern fragen, wie in der all-täglichen Berichterstattung auch dieEinwanderungsrealität abgebildet wer-den kann.

– Familienpolitik: Nicht nur „Zwangs-verheiratungen“ thematisieren, sonderndie gesamten Leistungen der Familien-politik (Kindergeld, Elterngeld, Steuer-splitting usw.) auf ihre integrationspoli-tische Wirkung überprüfen usw.

Der grundlegende Perspektivenwechsel be -steht darin, dass nicht mehr allein die Pro-bleme und Schwierigkeiten, die Menschenmit Migrationshintergrund machen oderhaben, im Fokus stehen. Gefragt wird nichtausschließlich danach, wie sich Einwande-rer integrieren können. Gefragt wird viel-mehr, wie sich Organisationen und politi-sche Konzepte, ändern müssen, um ihremAuftrag in der Einwanderungsgesellschaftmit einer ethnisch, religiös und kulturell

heterogenen Bevölkerung gerecht zu wer-den.

Mainstreaming-Prozesse für Einwan-derer müssen einen reflexiven Umgang mitden Begriffen „Kultur“, „Ethnie“ und „Na-tionalität“ pflegen und vermitteln. Es mussvermieden werden, aus der Zugehörigkeitzu einer bestimmten Gruppe bzw. statisti-schen Kategorie auf bestimmte Wesens-und Charaktermerkmale eines Menschenzu schließen. Es muss vermieden werden,aus der Zugehörigkeit zu einer Religion,zum Beispiel dem Islam oder einer Natio-nalität, zum Beispiel der türkischen, auf einbestimmtes Verhalten zu schließen. „Eth-nizität“ ist eine soziale und keine biologi-sche Kategorie. Prozesse der Selbst- undFremdwahrnehmung durchdringen sich.Ethnische Zugehörigkeit kann, muss abernicht, ein wesentliches Element der Identi-tät sein. Und ethnische Zugehörigkeit kann,muss aber nicht, eine wesentliche Katego-rie der gesellschaftlichen Zuschreibungenund Einordnungen sein.

Wichtig für Mainstreaming-Prozesseist weiterhin, dass hierarchische Strukturender Organisation thematisiert werden: Wieviele Menschen mit Migrationshintergrundbesetzen Führungspositionen? Wie ist ihreVerteilung auf die verschiedenen Eingrup-pierungsstufen? Es geht hier vor allem nichtnur um die Erhöhung der Effektivität undEffizienz einer Organisation; diese Fragenstehen bei Diversity-Management-Kon zep -ten im Vordergrund. Es geht vielmehr dar-um, wie Chancengleichheit und sozialeGerechtigkeit verwirklicht werden können.

Konzept der Organisationsentwicklung

Das hier vorgestellte Konzept verfolgt einsehr weit gehendes Ziel. Im folgenden sollein idealtypischer Verlauf eines Mainstrea -

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ming-Prozesses dargestellt werden. Er ver-wirklicht das Prinzip „von oben gewollt“(Top-Down) und „von unten getragen“(Bottom-Up).

„Top-Down-Prinzip“: Mainstreaming-ansätze können nur funktionieren, wenndie Spitze einer Organisation und die Ent-scheidungsträger diese Veränderungen wol -len und den Prozess initiieren und unter-stützen. Eine Strategie, die von unterenHierarchieebenen angestoßen wird und dieoberen Hierarchieebenen außer acht lässt,wird nicht erfolgreich sein.

„Bottom-Up-Prinzip“: Die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter der Organisationmüssen von Anfang an in die Überlegun-gen und Entscheidungen einbezogen wer-den. Dazu sind unter anderem Fort- undWeiterbildungsangebote erforderlich, dieeinen Bezug zur jeweiligen Arbeitspraxishaben. Nur von der Führungsebene verord-nete Veränderungsprozesse versanden, wennes nicht gelingt, die Beschäftigten in diesenProzess einzubinden und sie für die Mitar-beit zu gewinnen. Der „Mehrwert“ für dieeigenen Arbeitsergebnisse und -abläufemuss sichtbar werden.

Leitbildentwicklung. Es sollte ein Leit-bild oder eine Vision erarbeitet werden, diedie Zielsetzung der Organisationsentwick-lung umschreibt. Dies dient allen Arbeits-einheiten und allen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern als Orientierung. Das Leit-bild beschreibt das Selbstverständnis derOrganisation und ist die Grundlage für dieZielformulierungen.

Bestandsaufnahme: Die Analyse desIst-Zustands sollte in allen Bereichen er-folgen. Für sie muss genügend Zeit einge-räumt werden. Die Bestandsaufnahme haterstens einen quantitativen Teil. Es muss z. B. in Institutionen des ÖffentlichenDienstes erhoben werden, auf welchen Po-

sitionen Einwanderer vertreten sind undwie ihre Eingruppierung ist. Zu fragen ist,wie viele Menschen mit Migrationshinter-grund sich bewerben und wie viele ange-nommen werden usw. Diese quantitativeAnalyse muss ergänzt werden durch einequalitative Analyse. Diese umfasst Fragenwie: Wie sieht es mit der Einstellungspra-xis aus, welche Verfahren gibt es? WelcheKommunikationsprobleme gibt es zwischenden Kolleginnen und Kollegen untereinan-der? Welche Kommunikationsprobleme ha -ben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitden Kunden, die Dienstleistungen abfra-gen? Wie sieht das Bild des „anderen“ des„Fremden“ aus, das in einer Organisationvorherrscht? Usw.

Entwicklung von Zielen: Bei der Ziel-entwicklung müssen alle Beteiligten einbe-zogen werden. Ziele, die von oben diktiertwerden, verpuffen in der Regel. Entschei-dend ist, dass die Ziele einen engen Bezugzur Praxis haben. Und die Ziele müssendem SMART-Prinzip folgen. SMARTmeint: spezifisch, messbar, attraktiv, realis -tisch und zeitlich terminiert. Ziele, wie z. B.„wir wollen die Integration verbessern“,oder „wir werden die Partizipationsmög-lichkeiten der Einwanderer erhöhen“, blei-ben in der Regel wirkungslos, weil niemandweiß, was konkret getan werden soll. EinSMART-Ziel hingegen ist etwa: Im nächs -ten Jahr werden wir den Anteil der Auszu-bildenden mit Migrationshintergrund ver-doppeln. Oder: In allen Gremien und Aus- schüssen der Organisation sollen nach dennächsten Wahlen oder Berufungen Personmit Migrationshintergrund adäquat vertre-ten sein.

Projektplanung und Durchführung:Wenn ich diese Ziele formuliert habe, folgtdas klassische Projektmanagement: Ver-antwortliche bestimmen, Zuständigkeiten

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klären, interkulturelle Projektteams bilden,Ressourcen und Personal akquirieren, Zeit-plan erstellen usw..

Evaluation: Es muss überprüft werden,welche Ziele erreicht und welche verfehltwurden. Das schließt ein, nach den Grün-den zu forschen, warum etwas nicht funk-tioniert hat.

Verankerung des Mainstreaming als per -manenter Bestandteil der Organisations-entwicklung: Mainstreaming ist kein Pro-zess, der irgendwann abgeschlossen ist. Esist eine neue Denk- und Handlungsweise,die bei allen zukünftigen Vorhaben berück-sichtigt werden sollte

Mainstreaming für Einwanderer undEinwanderinnen ist ein anspruchsvollesKon zept. Es setzt die Bereitschaft aller Be-teiligten zur Veränderung voraus. Nebender Bereitstellung von zusätzlichen finan-ziellen und personellen Ressourcen erfor-dert es einen grundlegenden Wechsel desBlickwinkels. .

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Interkultur

Die Problematik der Diskussionen über „In -tegration“ beginnt bereits bei der Frage,was „Integration“ denn eigentlich sein soll.Zentrales Buch zur aktuellen Debatte istdaher in diesem Jahr der Titel „Interkultur“des Journalisten Mark Terkessidis. Im Mit-telpunkt des Buches steht die Kritik amBegriff „Integration“: Da sich hinter die-sem Begriff allerlei unausgesprochene Vor-stellungen darüber, was „deutsch“ sei und werhier „zu Hause“ und wer hier „Gast“ sei, ver -bergen würden, trage dieser Begriff kaumzu einer Klärung bei, wie Zusammenlebenfunktionieren kann. Hinzu komme, dass dieverbreiteten Ideen vom „Deutschsein“ soaltbacken seien, dass selbst viele Einheimi-sche ihre Lebensrealitäten nicht mehr dar-in unterbringen könnten.

Der Begriff „Integration“ bedeute damitmeist eine negative Diagnose: „Es gibt Pro-bleme, und die werden verursacht durch dieDefizit von bestimmten Personen, die wie-derum bestimmten Gruppen angehören“ –klarer lässt sich die Problematik der Dis-

kussion über die „Integrationsfähigkeit“des Islams in Deutschland nicht charakte-risieren.

Nicht in den Blick genommen werdedemgegenüber der verbreitete Rassismusund die fehlende Offenheit von Strukturenund Institutionen für die neue Vielfalt derGesellschaft. Terkessidis schlägt daher vor,den Begriff „Integration“ durch den Begriff„Interkultur“ zu ersetzen. Ziel ist die Evo-lution der Institutionen im Hinblick aufdie neue Vielfalt der Gesellschaft. Terkessi-dis möchte hier den Begriff der „Barriere-freiheit“ als Orientierungspunkt dafür ein-führen, ob eine Gesellschaft für alle ihreBewohnerinnen und Bewohner gut funk-tioniert.

Muslim Girls

Mit dem Buch „Muslim Girls“ widmet sichdie Herausgeberin der Frauenzeitschrift„Gazelle“, Sineb El Masrar, einer Gruppe,die in der aktuellen Debatte meist nur alsunterdrückte Objekte vorgestellt werden:Frauen mit muslimischem Hintergrund.

GESELLSCHAFTLICHEVIELFALT ANERKENNEN:AKTUELLE BÜCHER ZURINTEGRATIONSDEBATTEVon Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Schwerpunkt

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Dem setzt El Masrar ein Portrait ihrereigenen Generation junger Frauen mit ei-nem Migrationshintergrund aus muslimi-schen Ländern entgegen. Entstanden istda bei nicht nur ein gut geschriebenes Buchüber die Vielfalt von Lebensrealitäten jun-ger Musliminnen in Deutschland, das mitvielen Klischees aufräumt: Es ist sehr wohlmöglich, auch als junge Muslima eine mo-derne Identität zu entwickeln, ohne sich inpermanentem Konflikt mit dem Her kunfts -milieu zu befinden. Gerade diese Viel -schich tigkeit bildet sich in den aktuellenDebatten über „die“ muslimische Fraukaum ab.

El Masrar geht aber darüber hinausauch ausführlich auf Benachteiligungen undDiskriminierungen von Menschen mit Mi -grationshintergrund im Bildungssystem undauf dem Arbeitsmarkt ein. Gerade zur oftverbreiteten Ansicht, ein zentrales Problemmuslimischer Frauen sei die Unterdrü ckungdurch patriarchalische Strukturen in ihrenHerkunftsmilieus, setzt El Masrar damiteinen wichtigen Kontrapunkt.

Muslimisch, weiblich, deutsch!

Das Thema „Islam“ steht auch im Mittel-punkt des Buches von Lamya Kaddor. DieAutorin wurde als eine der ersten Islam-kundelehrerinnnen in Deutschland bekanntund ist regelmäßiger Gast auf politischenVeranstaltungen zum Thema „Islam inDeutschland“. Dabei hat sich Kaddor inden vergangenen Jahren als Vertreterin ei-nes „liberalen“ Islam hervorgetan, der diereligiösen Quellen vor allem mit Blick aufheutige Lebensrealitäten interpretieren will.

Das Buch „Muslimisch – weiblich –deutsch!“ bewegt sich auf mehreren Ebe-nen: Zum einen bietet Kaddor eine kleineEinführung in die Grundlagen islamischen

Glaubens und der Interpretation von reli-giösen Quellen – aus ihrer Sicht. Schwer-punkt ist dabei die Herleitung ihrer eige-nen Überzeugen – so erläutert sie bei-spielsweise, warum das Tragen eines Kopf-tuchs ihrer Ansicht religiös zwar möglich,aber nicht vorgeschrieben ist. Breiten Raumnehmen daneben immer wieder die Ver-weise auf die Einstellungen und Kenntnis-se ihrer Schülerinnen und Schüler an einerHauptschule ein: Hier konstatiert Kaddorgroße Unkenntnis über Glaubensinhalteund ihre theologischen Begründungen. Fürviele sei der Islam ausschließlich ein Sys -tem von Ge- und Verboten. Dem stelltKaddor ihr eigenes Verständnis von einerReligion der ständigen Suche nach Wahr-heiten und des Nachdenkens und Reflek-tierens über religiöse Ansichten gegenüber.

Gerade diese Wahrnehmung könnteauch für eines der zentralen Probleme ak-tuell sein: Wie für die von Kaddor vorge-stellten Schüler ist auch für viele Nicht-muslime „der“ Islam in erster Linie einSystem von Ge- und Verboten, dass kauman wirkliche Debatten anschlussfähig ist.Das dies doch so sein kann – und von vie-len auch so gesehen und praktiziert wird –zeigt Kaddors Buch.

Islamfeindlichkeit und Islamverherrlichung

Unterschiedliche Perspektiven auf aktuelleAuslegungen und Glaubenspraktiken bie-tet auch das vom Münsteraner Religions-wissenschaftler Thorsten Gerald Schnei-ders herausgegebene Buch „Islamverherr-lichung“. Anders als der Untertitel „Wenndie Kritik zum Tabu wird“ vermuten lässt,geht es in dem Band aber nicht um die Artder Unterdrückung von inner-muslimischenDebatten. Die im Band versammelten 29Beiträge sind vielmehr zu den Blöcken

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„Grundlagen des theoretischen Diskurses“,„Zum gegenwärtigen Umgang mit dem is-lamischen Erbe in Europa“ und „Verhaltenund Eigendarstellung von Muslimen inDeutschland“ geordnet und geben vor al-lem einen Überblick über aktuelle theolo-gische Diskurse und ihre Anwendung imAlltag.

Während einige Beiträge sich histori-schen oder theologischen Fragen widmen,wenden sich andere aktuellen Lebensreali-täten von Muslimen zu. Auch wenn dieAuswahl der Beiträge zum Teil etwas will-kürlich wirkt – ein roter Faden ist bei derZusammenstellung nicht erkennbar – sobietet der Band doch ein interessantes Pan-orama unterschiedlicher theologischer In-terpretationen und Diskussionen. Für dieaktuelle Debatte in Deutschland interes-sant ist vor allem der dritte Abschnitt desBuches, in dem u. a. auf das Verhältnis vonReligion und traditioneller Überlieferungsowie auf das Zusammenspiel von Religionund Nationalismus eingegangen wird.

Als „Gegenstück“ zum Band „Islamver-herrlichung“ ist der vom selben Herausge-ber edierte Band „Islamfeindlichkeit“ kon-zipiert. In den hier versammelten 30 Bei-trägen wird ein sehr guter Überblick überdie aktuellen Aspekte von „Islamfeindlich-keit“ geboten, aber auch die historischenBezüge hergestellt. Deutlich wird, wie se-lektiv der Blick auf „den“ Islam zumeist er-folgt, um ein Bild von Rückständigkeit zuzeichnen. In den Blick genommen wird da-bei auch das Zusammenspiel der verschie-denen „Islamkritiker“ und deren Praxis desgegenseitigen Zitats. Aufschlussreich istauch der Blick auf verschiedene Websites,die vor allem als legitime Kritik verpackte„Islamfeindlichkeit“ zum Thema haben.

Durch die Zusammenschau beider Bän -de entsteht so einerseits ein sehr guter

Über blick über die aktuellen Facetten vonIslamfeindlichkeit, andererseits aber auchein erster Eindruck über innerislamischeDe batten und Diskussionsansätze.

Islamfeindlichkeit in Deutschland

Dem Thema „Islamfeindlichkeit in Deutsch -land“ widmet sich auch das gleichnamigeBuch des FH-Professors Achim Bühl. An-trieb für das Buch war wohl die aktuellenDebatte im Herbst 2010: Brühl hält ein-gangs fest, dass die Debatte um das Sarra-zin-Buch eine sei, ob Rassismus, Biologismusund Islamfeindlichkeit in Deutschland Teilder politischen Kultur seien, oder nicht.

Bühl zieht auch Parallelen zwischen Is-lamfeindlichkeit und Antisemitismus, ohnedie Phänomene hier gleichzusetzen, die erzum Beispiel in einem Transfer antisemiti-scher Topoi wie dem von einer die Weltsteuernden geheimen Macht auf den Islamsieht. Insgesamt bietet das Buch ein breitesPanorama von den historischen Ursprün-gen von Islamfeindlichkeit über „Gegen-bilder und Gegenrealitäten“ des Islam alsBestandteil der europäischen Kultur bis hinzur modernen Islamfeindlichkeit.

Dabei scheint das Buch sehr schnell ge-schrieben worden zu sein. Die meisten Fuß -noten stammen aus dem Internet oder ver-weisen auf das jeweilige Stichwort bei wiki-pedia. Auch ist die Darstellung im Bereichder historischen Islamfeindlichkeit ober-flächlich: Die Auseinandersetzung mit KarlMay als einem der Hauptbeispiele für Is-lamfeindlichkeit gerät viel zu kurz, und un-terschlägt die völkerverbindenden Töne imSpätwerk Karl Mays vollständig. Trotzdembietet das Buch einen guten ersten Einstiegund Überblick vor allem über die im Kon-text der aktuellen Debatten diskutiertenAspekte von „Islamfeindlichkeit“.

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Postislamismus

Zu den nach wie vor umstrittensten islami-schen Vereinigungen in Deutschland ge-hört die „Islamische Gemeinschaft MilliGörüs“, die vom Verfassungsschutz als fun-damentalistisch eingestuft und beobachtetwird. Der Ethnologe Werner Schiffauerbefasst sich seit vielen Jahren mit der Ent-wicklung islamisch-religiöser Verbände inDeutschland, und legt nun eine umfassen-de Studie über die ideologische Entwick-lung von Milli Görüs in Deutschland inden letzten Jahren vor.

Milli Görüs habe traditionell einen „Po -pulärislamismus“ vertreten, der auf den Auf -bau einer breiten und möglichst viele Be-völkerungsgruppen einbeziehenden Bewe-gung gezielt habe. Als neues Paradigmaund der jüngeren Funktionären den „Post -islamismus“ aus. Dieser setze nicht mehrauf die Errichtung einer theokratischenHerrschaft, sondern richte sich vielmehr ineinem grundsätzlich säkularen Staat ein,und versuche stattdessen, möglichst vieleRechte für eine konservativ geprägte Reli-gionsausübung zu erlangen. Zu finden sei-en solche Einstellungen aber vor allem aufden höheren Funktionärsebenen, währendin den Gemeinden noch die „alten“ Über-zeugungen dominieren würden. Damitschal tet sich Schiffauer an einem entschei-denden Punkt in die öffentlichen Debattenein. Sein Fazit legt nahe, die Milli Görüsals normale – zwar konservativ orthodoxe,doch innerhalb des Verfassungsbogens lie-gende Organisation – einzustufen.

Schiffauers Fazit ist in der Politik um-stritten. Gerade am Beispiel der Milli Gö-rus lässt sich aber auch gut zeigen, wo viel-leicht eine Unterscheidung zu treffen istzwischen der aus dem Prinzip der Gleich-behandlung zu gewinnenden grundsätzli-

chen Akzeptanz der Milli Görüs als reli-giöse Vereinigung und der gleichzeitigenFeststellung, dass sie als politischer Bünd-nispartner für linke Organisationen aufGrund ihrer konservativ-religiösen Orien-tierung ausscheiden muss.

„Graue Wölfe“ in Deutschland

Mit den „Grauen Wölfen“ nimmt EmreArslan eine weitere umstrittene Gruppeaus dem türkisch-islamischen Bereichs inden Blick. Anders als Schiffauer geht esArslan aber nicht darum, Veränderungenin der nationalistischen und faschistoidenIdeologie der Grauen Wölfe herauszuar-beiten, sondern vielmehr der Frage nach-zugehen, dass die bestimmenden ideologi-schen Momente für die Grauen Wölfe inDeutschland sind und aus welchen Grün-den sich Menschen dieser Organisationanschließen.

Einer der wichtigsten Faktoren ist fürArslan die auf die ständige Fremdethnisie-rung in Deutschland folgende Selbstethni-sierung vieler junger Menschen mit türki-schem Migrationshintergrund. ZentralerAnknüpfungspunkt sei dabei der „Mythos“,den die Grauen Wölfe zur Entwicklung dertürkischen Nation verbreiten, und den siezur Erklärung von historischen Entwick-lungen und aktueller Politik heranziehen.

Eine Entwicklungsgeschichte oder einÜberblick über die aktuellen Aktivitätender Grauen Wölfe ist das Buch nicht. Mitdem Nachzeichnen der ideologischen Fix-punkte der Grauen Wölfe bietet das Buchaber eine fundierte Diskussion der Funk -tionsweise von Ideologie bei den GrauenWöl fen, und bietet damit auch Hinweisefür die politische Auseinandersetzung.

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Der Ball ist bunt

Rassismus und Antisemitismus, aber auchdie Vielfalt von Identitäten stehen im Mit-telpunkt des Buches „Der Ball ist bunt“. InTextbeiträgen und Interviews wird dieViel falt der Herkünfte von Menschen imFußball in Deutschland vorgestellt, bei-spielsweise durch kurze Interviews mit denFußballern Patrick Owomoyela und HalilAltintop. Breiten Raum nimmt die Dar-stellung von Rassismus im Fußball sowievon Maßnahmen dagegen ein. Interessantund wichtig sind auch die Beiträge zumThema Antisemitismus im Fußball sowiezum verdrängten und ignorierten „jüdischenErbe“ im Fußball – von Nationalspielernüber Funktionäre bis hin zu Journalisten.

So ist der „Ball ist bunt“ ein schönesZeichen nicht nur dafür, welche Leiden-schaft Fußball quer durch Milieus und eth-nische Hintergründe auslösen kann, sondernauch, wie einfach das Zusammenspielenund Zusammenleben doch eigentlich funk -tionieren kann.

Genau hier sollte auch die Diskussionweiter ansetzen, wie gerade Terkesssidisund El Masrar in ihren Büchern gezeigthaben: Die Lebensrealitäten in Deutsch-land sind bunt, und das ist auch gut so!Statt endlose Debatten über Kultur, Religi-on und Herkunft zu führen, sollte es end-lich an die gemeinsame und solidarischeGestaltung dieser Realität gehen! .Liste der besprochenen Bücher:

Emre ArslanDer Mythos der Nation im Transnationalen RaumTürkische Graue Wölfe in DeutschlandVS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009265 Seiten, 39,90 €

Diethelm Blecking/Gerd Dembowski (Hrsg.)Der Ball ist buntFußball, Migration und die Vielfalt der Identitätenin DeutschlandBrandes & Apsel Verlag, Frankfurt am Main 2010301 Seiten, 24,90 €

Achim BühlIslamfeindlichkeit in DeutschlandUrsprünge/Akteure/StereotypeVSA-Verlag, Hamburg 2010319 Seiten, 22,80 €

Sineb El MasrarMuslim GirlsWer wir sind, wie wir lebenEichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010206 Seiten, 14,95 €

Lamya KaddorMuslimisch, weiblich, deutsch!Mein Weg zu einem zeitgemäßen IslamVerlag C.H. Beck, München 2010206 Seiten, 17,90 €

Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.)IslamfeindlichkeitWenn die Grenzen der Kritik verschwimmenVS Verlag für Sozialwissenschaften, 2., aktualisierteund erweiterte Auflage, Wiesbaden 2010498 Seiten, 49,95 €

Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.)IslamverherrlichungWenn die Kritik zum Tabu wirdVS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010401 Seiten, 39,95 €

Werner SchiffauerNach dem IslamismusEine Ethnographie der Islamischen GemeinschaftMilli GörüsSuhrkamp Verlag, Berlin 2010394 Seiten, 15,00 €

Mark TerkessidisInterkulturSuhrkamp Verlag, Berlin 2010221 Seiten, 13,00 €

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48 Feminismus in der Einwanderungsgesellschaft – ein Aufschlag zur Debatte Argumente 4/2010

1. Von Kopftuchmädchen und weißenalten Herren

Der Sommer und Herbst dieses Jahres ka-men vielen Antirassist/innen vor wie eineunerwünschte Zeitreise – zurück in dieSteinzeit. Plötzlich musste allen Ernstesbegründet werden, warum das Schwadro-nieren über ethnisch bedingte Gendefekteoder die „Produktion von Kopftuchmäd-chen“ rassistisch ist.

In der anschließenden Debatte wurdeplötzlich „die Unterdrückung der Frau“ zumArgument von WELT-Redakteuren undwei ße, ältere Herren versuchten, sich alsSpeerspitze des Feminismus in Deutsch-land zu profilieren. Wie schon in der De-batte über einen „neuen Feminismus“ wur-de auch die Diskussion um ein Patriarchatim Islam weitgehend ohne Beteiligung vonFrauen mit Migrationshintergrund geführt.

Denn die alten weißen Männer suchen kei -nes wegs gleichberechtigt nach Allianzen mitVertreter/innen eines migrantischen Fe mi -nis mus, sondern differenzieren fein säu ber -lich zwischen „abendländischer“ Aufklärungund dem archaich-machistischen „Orient“.

Diese Schlaglichter zeigen, dass wir un-sere Kategorien besser in Einklang bringenmüssen. Es gilt, antirassistische und femi-nistische Debatten im Verband stärker inden Dialog zu bringen und unsere politi-sche Theorie und Praxis daraufhin zu be-fragen, wo sie selbst die Hegemonie des„Weiß-Seins“ reproduziert. Als Jusos ha-ben wir den Anspruch, Machtstrukturender Ungleichheit zu erkennen, aufzudeckenund daraus Potenzial für Veränderungen zuschöpfen. Dazu müssen wir rassistischeHerr schaftsstrukturen systematisch in un-sere Debatten, gerade die feministischen,einbeziehen.

FEMINISMUS IN DER EIN-WANDERUNGSGESELL-SCHAFT – EIN AUF-SCHLAG ZUR DEBATTEVon Matthias Ecke, Daniela Kaya und Elena Pieper

Schwerpunkt

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2. Theoretische Erweiterung: Rassismus als Strukturkategorie

Schon im 19. Jahrhundert haben die Theo-retiker/innen der Arbeiter/innenbewegungerkannt, dass der Kapitalismus kein alleini-ger, uniformer Herrschaftsapparat ist, deralle Menschen in gleicher Weise betrifft.Denn neben der mit der Verfügungsgewaltüber Produktionsmittel sowie der Abhän-gigkeit von Lohnarbeit verbundenen Un-terscheidung in Proletariat und Bourgeoi-sie wurden auch andere Friktionen offen-bar. Auch in Proletariatsfamilien blieb dieReproduktionsarbeit fast ausschließlich denFrauen aufgebürdet und die Kämpfe umFreiheit und politische Mitbestimmungwurden vor allem für einen Teil der Bevöl-kerung gefochten: Männer. Der orthodox-marxistische Glaube der frühen Arbeiter/innenbewegung, dass die Gleichberechti-gung der Geschlechter ein „Nebenwider-spruch“ sei, der sich mit der Emanzipationder Arbeit vom Kapital von selbst erledige,galt alsbald als theoretisch und praktischüberholt. Kapitalismus und Patriarchat wur -den zunehmend in ihrer Eigenständigkeitaber auch Verschränkung diskutiert undkonfrontiert. Die emanzipatorischen so zia -len Bewegungen des 20. Jahrhunderts ha-ben diese Perspektive erweitert.

Heute leben wir in einer Einwande-rungsgesellschaft in der Klassenzugehörig-keit, Geschlecht und die ethnische Zu -schrei bung wichtige Markierungen für diesoziale Positionierung sind. Diese Markie-rungen und die mit ihnen verbundenen ge-sellschaftlichen Dominanzstrukturen, exis -tieren nicht nur nebeneinander, sondernüber schneiden sich und bilden so neue Dis -kriminierungskategorien heraus. Eine tür-kischstämmige Frau wird demnach nichtnur als Frau oder als Person mit Migrati-

onshintergrund beschrieben und diskrimi-niert, sondern als weibliche Migrantin. Die -ses Phänomen der Wechselwirkung undÜberschneidung verschiedener Diskrimi-nierungskategorien wird in der Soziologieals Intersektionalität beschrieben.

Diese Erkenntnis hat Folgen für unserVerständnis von Rassismus. Nicht nur, dassrassistische Diskriminierung heute andersstattfindet als früher. An die Stelle des bio-logistisch-völkischen Rassismus des 19. und20. Jahrhunderts treten nun neue Label wieReligion, Ethnie und Kultur. „Der Muslim“mehr noch als „der Araber“ dient heute oft-mals als rassistische Zuschreibungsfolie.Auch das Verständnis rassistischer Praxis hatsich weiterentwickelt. Rassismus kann nichtals Unterdrückung einer homogenen, durchunveränderliche Körper- oder Verhaltens-merkmale definierten „Rasse“, „Ethnie“ oder„Kultur“ durch eine andere verstanden wer-den. Besonders die Arbeiten der postkolo-nialen Theorie haben darauf hingewiesen,dass soziale Kategorien wie „race“ diskursiverzeugt und festgeschrieben werden. Eth-nische Zuschreibungen und die mit ihnenverbundenen Rollenerwartungen sind kon-textabhängig und veränderbar. Wer inDeutschland als „Südländerin“ wahr ge nom -men wird, kann in Ghana leicht als „Euro-päerin“ oder „Weiße“ gelten. Identitätensind machtvolle Konstrukte, die in Diskur-sen verhandelt werden und materielle Kon-sequenzen nach sich ziehen.

Der Einbezug des HerrschaftssystemsRassismus in unsere feministische Debattedarf aber auch vor uns selbst nicht Haltmachen. Auch wir sind eingebunden in dievermachteten und tradierten Diskurse ei-nes weißen Eurozentrismus: alle sozialenVerhältnisse werden auf ihre Differenz zumgedachten Normalzustand (West)europäi-scher liberal-kapitalistischer Gesellschaften

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50 Feminismus in der Einwanderungsgesellschaft – ein Aufschlag zur Debatte Argumente 4/2010

hin untersucht und markiert. Damit werdennicht nur Normabweichungen exotisiertoder abgewertet, sondern auch das Bild derEigengesellschaft homogenisiert. Das „An-dere“ bildet den Spiegel, um sich des „Ei-genen“ zu vergewissern. Studien zur „Criti-cal Whiteness“ nehmen die Formierungdieser Norm in den Blick und wenden sichder Erschaffung eines Normalzustands zu,der mit Privilegien verbunden ist.

3. Die unterdrückte Muslima – Referenzfolie kultureller Überlegenheit

Der Selbstversicherungs-Diskurs der hege-monialen deutschen Öffentlichkeit wirdnicht erst seit der Debatte um das Buchvon Thilo Sarazzin auf dem Rücken vonzumeist muslimisch markierten Migran-tinnen ausgetragen. Bereits 2004 war einegroße Mehrheit der Deutschen laut einerAllensbach-Studie der Auffassung, der Is-lam sei intolerant (71 %) und undemokra-tisch (60 %) – zudem gaben 93 % der Be-fragten an, sie denken beim StichwortIslam an „Unterdrückung der Frau“. Diese93 % sind mitnichten sämtlich ungebildetoder rechts – Feminist/innen sind sie aberleider auch nicht alle. Die Frauenbewegungkönnte jubeln, erblickten 93 % der Deut-schen Geschlechterungleichheit, sobald siesie sich die Haare von einer schlecht be-zahlten Friseurin schneiden lassen oder aneinem stets von männlichem Priester ge-führten katholischen Gottesdienst teilneh-men. Aber in der Ablehnung des „frauen-feindlichen Islams“ treffen sich Bildungsbür-gerinnen mit Bild-Zeitungslesern, Linke mitRechten und allen dazwischen. Argumentedes sonst so verächtlich abgelehnten Femi-nismus werden auf einmal zum allgemeinakzeptierten Wertekonsens bei der Ab gren -zung eines „Wir“ zu „dem Fremden“.

Und so werden öffentliche Debattenum die „Integration“ muslimischer Migran-tinnen, das Kopftuch, oder – noch schlim-mer – die Burka zu einem Ausgrenzungs-prozess, für den sich eine feste diskursiveForm entwickelt hat. Es findet eine Rassi-fizierung von Frauen mit Migrationshin-tergrund statt, die automatisch die viktimi-sierte und zu rettende Figur der durch ein„orientalisches Patriarchat“ unterdrücktenFrau verkörpern. Dabei geht es aber nichtum Empathie den vermeintlich unter drück -ten Frauen gegenüber (die auch nicht ge-fragt werden, ob sie überhaupt gerettet wer -den wollen), sondern muslimisierte Frauenwerden zu „Grenzobjekten“, an denen dieFortschrittlichkeit der eigenen Kultur be-wiesen werden kann. Die abendländischeKultur versichert sich ihrer Überlegenheitdurch die Konstruktion eines rückständi-gen „orientalischen Anderen“ und fantasiertsich selbst als essentiell frauenfreundlich.Diese „kulturelle Überlegenheit“ legitimiertdann im Umkehrschluss koloniale Kon trol -le, wie zum Beispiel das Burka-Verbot inFrankreich oder die „Einbürgerungstests“für jahrelang in Deutschland lebende Men -schen. Die Diskussion um Kopftuch undSchleier ist also kein ehrenrühriger Ver-such, unterdrückte Frauen zu retten, son-dern ein Kampf für eine hegemonial weißeLeitkultur, in dem erotisierte Selbstdarstel-lung und sexuelle Freizügigkeit mit Freiheitund Emanzipation verwechselt werden.Frauen werden hier zum Symbol des kultu-rellen Selbstverständnisses.

Die muslimisch markierten Frauen sel-ber dürfen sich in diesem Diskurs freilichnicht äußern. Logisch, denn nur so kanndas Stereotyp von dem vom „orientalischenPatriarchat“ unterdrückten Opfer aufrechterhalten werden, dessen „Rettung“ propa-giert wird. Zudem verfügen Migrantinnen

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nicht über den Zugang zu der Deutungs-und Definitionsmacht, die öffentliche Dis-kurse strukturiert. Hier äußern sich vor-wiegend weiße, konservative Männer undmanchmal weiße Feminist/innen mit ihrenAuffassungen zum „orientalischen Patriar-chat“ und bestimmen, wer unterdrückt istund wer nicht, was genau Muslima bedeu-tet und wer überhaupt dazugehört.

4. Offene Fragen

Als sozialistischer und feministischer Rich -tungsverband haben wir uns schon intensivmit der Verschränkung von Kapitalismusund Patriarchat als Herrschaftssysteme un-serer Gesellschaft beschäftigt. Es gilt nun,unseren Blick zu weiten und die Frage desRassismus systematisch in die Analyse exis -tierender Dominanzstrukturen einzubezie-hen. Rassismus darf nicht nur eine als inten -tionale Handlung einzelner, „unverbesser-licher“ Individuen abgetan werden, sondernmuss als gesellschaftliche Struktur begrif-fen werden, die auch und gerade gegenüberFrauen wirkmächtig ist. Klasse, ethnischeZuschreibung und Geschlecht sind zentra-le Strukturkategorien, nach denen sich ge-sellschaftliche Exklusionsmechanismen voll -ziehen.

Viele Fragen bleiben noch offen. Lässtsich überhaupt pauschal beantworten, wel-che der angeführten Kategorien wirkmäch-tiger ist? So ist die eklatante Ungleichheitin der Einkommens- und Vermögensun-gleichheit am stärksten auf den Kapitalis-mus zurückzuführen, aber die Frage, wiegefährlich das nächtliche Warten an einerBushaltestelle für die eigene körperlicheUn versehrtheit ist, ist eher eine Frage desRassismus. Zudem sollten wir uns gemein-sam der Frage nähern, wie wir die hetero-genen und überlappenden Ausgrenzungs-

strukturen und -diskurse in unserer Gesell-schaft analysieren und in unsere politischePraxis einbeziehen können. Bildet eineAuf zählung und Hierarchisierung von Do-minanzstrukturen (Kapitalismus, Patriarchat,Rassismus, Antisemitismus etc.) die Kon-flikte unserer Gesellschaft hinreichend ab,oder müssen wir vom Subjekt her denken,welches symbolische Ausgrenzung durchverschiedenste Zuschreibungen erfährt?Und welche Folgen müssen diese Erkennt-nisse für unsere politische Praxis haben?Diese Fragen lohnen eine systematische Aus -einandersetzung in Zukunft. .

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52 Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungschancen junger Menschen Argumente 4/2010

Die Differenzierung der Lebenslagenund Pluralisierung der Lebensstile hatalle Menschen in Deutschland erreicht.Die Lebenswelten und Milieus vonMenschen mit Migrationshintergrund– so die Milieu-Studie des Sinus-Insti-tuts – unterscheiden sich dabei genau-so voneinander wie die der Bevölke-rung ohne Migrationshintergrund. Einzentrales Resultat ist: Die Mehrheit derMenschen mit Migrationshintergrund1

ist in der gesellschaftlichen RealitätDeutschlands längst angekommen.Denn Deutschland ist ein Einwande-rungsland, in welchem Menschen unterschiedlichster sozialer, kulturellerund geographischer Herkunft leben,lernen und arbeiten. Bei vielen Men-schen mit Migrationshintergrund istdie direkte Migrationserfahrung inzwi-schen Geschichte. Dies gilt insbeson-dere für Kinder und Jugendliche – sie haben meist in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt. Dennoch sind ihreChancen einer gleichberechtigten Teil -habe an zentralen Ressourcen unserer

Gesellschaft – wie Bildung und Beruf –bisher unterproportional.

1. Bildungssystem: Innovation undChancengerechtigkeit

Wachsende soziale Disparitäten, die in denLebenslagen von Kindern und Jugendlichenbesonders deutlich werden, rücken das Zielder gesellschaftlichen Integration, verstan-den als die Chance aller hier lebenden Men -schen auf eine gleichberechtigte Teilhabe anzentralen gesellschaftlichen Gütern in wei-te Ferne. Gerade die Debatte um die Inte-gration junger Menschen in unsere Gesell-schaft hat seit einigen Jahren – angestoßendurch die Ergebnisse der PISA Studien –erheblich an gesellschaftlicher und politi-scher Brisanz gewonnen. In Frage gestelltist seither die Leistungs- und Integrations-fähigkeit des Bildungssystems – in doppel-

QUALIFIZIERUNGSBEDARFUND QUALIFIZIERUNGS -CHANCEN JUNGER MENSCHEN Von Dr. Mona Granato, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn

Schwerpunkt

1 Die Begriffe „Migranten“, Menschen „mit Migra-tionshintergrund“ bzw. „aus Migrantenfamilien“sowie Menschen „ohne Migrationshintergrund“,bzw. „Nichtmigranten“ werden im Beitrag sy no nymverwendet.

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ter Hinsicht: Inwieweit gelingt es ihm,Chancengerechtigkeit für alle herzustellenund welchen Beitrag leistet es für die Qua-lifizierung der Menschen in Deutschland?

Nach Ansicht von Experten trägt dasBildungssystem noch immer zu wenigdazu bei, dass Deutschland aktuellen wiekünf tigen gesellschaftlichen und wirt schaft -lichen Herausforderungen gelassen entge-gen sehen kann. Im internationalen Ver-gleich nimmt Deutschland in puncto Inno -vationsfähigkeit lediglich einen mittlerenRang ein und gehört nicht zur Spitzen-gruppe wie Schweden und andere nordeu-ropäische Länder (Belitz 2008:717). Wasdie Bildung betrifft befindet sich Deutsch-land sogar auf einem der hinteren Ränge(Platz 15 von 17). Die Autoren der Studiebezeichnen das Bildungswesen in Deutsch -land daher als „Achillesferse“ des Innovati-onssystems (Belitz 2008:717). Sie sehen dieZukunftsfähigkeit unseres Landes gefähr-det, wenn es nicht gelingt, genügend Men-schen gut zu qualifizieren.

Gleichzeitig leistet das Bildungssystembisher zu wenig, bestehende soziale Un-gleichheiten im Bildungsverlauf auszuglei-chen und dem Ziel von Bildungsgerechtig-keit näher zu kommen. Ungleiche Start-chancen von Kindern zu Beginn ihrerSchulzeit werden im weiteren Bildungsver-lauf nicht verringert, sondern verstärkt; so-zial bedingte Bildungsungleichheit im (for -malen) Bildungssystem nicht abgebaut,son dern vergrößert. Eine Folge hiervon: AmEnde der Bildungsphase hat rund jedersiebte junge Mensch in Deutschland keineabgeschlossene Berufsausbildung.

Die Barrieren, denen gerade Kinder undJugendliche mit Migrationshintergrund aufdem Weg durch die Bildungsinstitutionenbegegnen tragen wesentlich dazu bei, dasssie als junge Erwachsene erheblich häufi-

ger ohne abgeschlossene Berufsausbildungund somit ohne Aussichten auf eine tragfä-hige berufliche Integration bleiben. JungeErwachsene mit Migrationshintergrund ha -ben in der Altersgruppe der 20 – 30Jährigenmit 31 % derzeit mehr als doppelt so oftwie die Vergleichsgruppe ohne Migra tions -hintergrund (13 %) keine abgeschlosseneBerufsausbildung (vgl. Autorengruppe Bil-dungsberichterstattung 2010).

Vor diesem Hintergrund analysiert derfolgende Beitrag den Qualifizierungsbe-darf aus gesellschaftlicher wie individuellerPerspektive sowie die Qualifizierungs chan -cen junger Menschen mit und ohne Mi-grationshintergrund im Übergang Schule –Ausbildung.2

2. Gesellschaftlicher und individuellerQualifizierungsbedarf

Der Ausspruch des finnischen Bildungsex-perten Jukka Sarjala trifft auf Deutschlandin besonderer Weise zu: „Wir brauchen hierjeden – hoffnungslose Fälle können wir unsnicht erlauben“. Dies gilt gerade vor demHintergrund der gewaltigen demografischenHerausforderungen. Um den Anteil der Er -werbstätigen zur Gesamtbevölkerung etwaauf dem heutigen Stand zu halten ist es erforderlich die Erwerbstätigenquote vonheute knapp 70 % bis 2020 auf 76 % zusteigern. Dies erreichen bisher nur wenigeLänder wie Schweden, die Niederlande oderDänemark. Hierfür müssen alle Arbeits-marktreserven genutzt und alle Qualifika-tionspotenziale auch der nachwachsendenGeneration in Deutschland voll ausgeschöpft

2 Dieser Beitrag ist ein Resultat des Forschungspro-jekts „Ausbildungschancen von Jugendlichen mitMigrationshintergrund“ des Bundesinstituts fürBerufsbildung (BIBB).

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werden. Sollte dies nicht geschehen, so be-trägt der aus dem Mangel an qualifiziertenArbeitskräften resultierende „volkswirt -schaft liche Gesamtschaden bis 2020 etwa1,2 Billionen Euro“. Denn „Bildungsarmuterzeugt Wachstumsarmut“ – so die Ro-bert-Bosch-Stiftung (Robert Bosch Stif-tung (Hrsg.) 2008:20).

Will Deutschland nicht aufgrund feh-lender Fachkräfte auf einen großen Teilseines gesellschaftlichen Wohlstandes ver-zichten, ist die Qualifizierung aller Men-schen und aller Generationen in Deutsch-land unerlässlich. Bereits heute stammen27 % der Jugendlichen in Deutschland ausFamilien mit Migrationshintergrund, in vie -len Ballungsgebieten sogar über 40 %. Derdemographische Wandel bedeutet auch, dassder Zeitpunkt naht, an welchem in denGroßstädten Westdeutschlands mehr alsdie Hälfte der Kinder in Familien mit einerMigrationsgeschichte aufwächst. Ihr Qua-lifizierungspotential ist daher unabdingbarfür Deutschland.

Der individuelle Qualifizierungsbedarfder Jugendlichen ist hoch. So formulierendie meisten jungen Frauen und Männer inDeutschland unmittelbar nach der Schul-zeit ihren Qualifizierungsbedarf konkret:Nach der BIBB-Übergangstudie3 haben 85 % der SchulabgängerInnen klare (Aus)Bil dungsziele und konkrete Qualifizie rungs -pläne. Rund 70 % der SchulabgängerInnenmöchten eine berufliche Qualifizierung be -ginnen, sei es eine betriebliche (61 %) odereine berufsfachschulische (10 %) Ausbil-dung. Die Aufnahme eines Studiums ist fürrund 12 % das nächste Bildungsziel (Beicht/Granato 2009:11). Jugendliche mit und ohneMigrationshintergrund4 unterscheiden sichnur wenig in ihrem Bildungsbedarf. Diesgilt für junge Frauen und Männer gleicher-maßen – auch bei Berücksichtigung des

Schulabschlusses (z. B. Beicht/Granato 2009,2010).

Doch die Jugendlichen formulieren die -sen Qualifizierungsbedarf nicht nur abstrakt,sondern sie versuchen ihre Bildungszieleauch aktiv umzusetzen. So ist die großeMehrheit der SchulabgängerInnen, die eineberufliche Bildung anstrebt, konkret aufLehrstellensuche. Schulabgängerinnen undSchulabgänger mit Migrationshintergrundsind bei der Suche nach einem Ausbil dungs -platz genau so flexibel und engagiert. Le-diglich bei den Netzwerkressourcen zeigensich Unterschiede: Jugendliche mit Migra-tionshintergrund werden (oder können) vonihren Eltern und ihrem privaten Umfeldseltener dabei unterstützt (werden), Kon-takte zu Ausbildungsbetrieben herzustellen.Nutzung des Internets sowie überregionaleBewerbungen sind unabhängig von Her-kunft und Geschlecht (Beicht/Granato2009, 2010). Schulabgängerinnen und Schul -abgänger mit Migrationshintergrund er hal -

3 In der BIBB-Übergangsstudie 2006 wurden aufder Grundlage einer repräsentativen Stichprobemittels computergestützter Telefoninterviews Jugendliche der Geburtsjahrgänge 1982 bis 1988befragt. Es handelt sich um eine retrospektiveLängsschnitterhebung, in der die Bildungs- undBerufsbiografie erfasst wurde. Berücksichtigt werden bei den folgenden Analysen rund 5.500Befragte, die die allgemeinbildende Schule bereitsvor dem Jahr 2006 verlassen haben, und für diesomit Informationen über den weiteren Werde-gang vorliegen. Über 1.000 Befragungspersonenhaben einen Migrationshintergrund (23 %).

4 Der Migrationshintergrund wird „indirekt“ defi-niert: Kein Migrationshintergrund wird ange-nommen, wenn ein Jugendlicher die deutscheStaatsangehörigkeit besitzt, zudem als Kind in derFamilie zuerst ausschließlich die deutsche Sprachegelernt hat und außerdem Vater und Mutter inDeutschland geboren sind. Treffen diese Bedin-gungen nicht vollständig zu, wird von einem Mi-grationshintergrund ausgegangen (Beicht/Grana-to 2009:10).

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ten allerdings seltener als diejenigen ohneMigrationshintergrund die Chance auf einBewerbungsgespräch (z. B. Beicht/Granato2009, 2010).

Der hohe Qualifizierungsbedarf von Ju -gendlichen wird – unabhängig von der Mi-grationsherkunft – nicht nur klar formuliert,sondern durch die engagierten Suchaktivi-täten an der ersten Schwelle konkret einge-fordert. Die Gründe für die geringere Teil-habe junger Menschen mit Migrationshin-tergrund an beruflicher Ausbildung liegendemnach nicht in einem fehlenden oderunzureichend formulierten Bildungsbedarf,d. h. in ihren Bildungspräferenzen oderSuch strategien am Übergang Schule – Aus -bildung.

3. Qualifizierungschancen

Der Übergang Schule – Ausbildung hatsich im vergangenen Jahrzehnt angesichtsder schwierigen Lage auf dem Ausbil-dungsmarkt für viele Jugendliche zu einerunsicheren Lebensphase entwickelt. DieVeränderungen an dieser Statuspassage wer -den besonders deutlich bei der erheblichgewachsen Zahl von SchulabgängerInnen,die eine oder mehrere Maßnahmen bzw.Bildungsgänge im sog. Übergangssystemdurchlaufen, die nicht zu einem Berufsab-schluss führen (Beicht 2009; Eberhard/Ul rich 2010). Der Besuch solcher Maß-nahmen trägt bei jungen MigrantInnen al-lerdings seltener als bei denjenigen ohneMigrationshintergrund dazu, dass sie imAn schluss in eine vollqualifizierende Aus-bildung einmünden (Beicht 2009). In denersten drei Jahren nach Beendigung der all-gemeinbildenden Schule gelingt ihnen sel-tener ein unmittelbarer und dauerhafterÜbergang in eine betriebliche oder berufs-fachschulische Ausbildung als der einhei-

mischen Vergleichsgruppe, wie sich bei -spiels weise anhand der BIBB – Übergangs-studie nachweisen lässt (mit MH 43 %,ohne MH 60 %). Demgegenüber durch-laufen sie erheblich häufiger langwierigeund schwierige Übergangsprozesse, bei de-nen ihnen die Einmündung in eine voll-qualifizierende Ausbildung selbst nach dreiJahren nicht gelingt (mit MH 30 %, ohneMH 17 %, Beicht/Granato 2009:16-18).5

Jugendliche mit Migrationshintergrundhaben zwar einen ebenso hohen Qualifi-zierungsbedarf und setzen Suchstrategienähnlich intensiv wie Jugendliche ohne Mi-grationshintergrund ein, um ihr Ziel zu er-reichen (vgl. Abschnitt 2). Dennoch sindihre Chancen, in eine Ausbildung einzu-münden – selbst bei gleichen schulischenVoraussetzungen – wesentlich geringer.

Verfügen Jugendliche, die eine betrieb-liche oder schulische Ausbildung anstreben,maximal über einen Hauptschulabschluss,so beginnen im Laufe eines Jahres diejeni-gen mit Migrationshintergrund mit 42 %erheblich seltener eine vollqualifizierendeBerufsausbildung als diejenigen ohne Mi-grationshintergrund mit 62 %. Nach dreiJahren ist es dann 68 % der jungen Migran-tInnen und 86 % der einheimischen Ju-gendlichen gelungen, eine vollqualifizie-rende Ausbildung aufzunehmen.

Liegt ein mittlerer Schulabschluss vor,so ist die Chance ihr Qualifizierungsziel zuerreichen in beiden Gruppen deutlich hö-her. So sind nach einem Jahr 55 % der Ju-gendlichen mit Migrationshintergrund und74 % derjenigen ohne Migrationshinter-grund in eine Berufsausbildung eingemün-det. Im Verlauf von drei Jahren sind 79 %der Jugendlichen aus Migrantenfamilien

5 Dieser Abschnitt fasst wesentliche Ergebnisse derExpertise Beicht/Granato 2009 zusammen.

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und 91 % derjenigen aus einheimischen Fa -milien bei der Ausbildungsplatzsuche er-folgreich gewesen (Beicht/Granato 2009,S. 20f ).

Bei maximal Hauptschulabschluss liegtdie Chance auf einen Ausbildungsplatz fürjunge Menschen mit Migrationshintergrundzu fast allen Zeitpunkten um rund 20 Pro-zentpunkte niedriger als bei jungen Men-schen ohne Migrationshintergrund. Auchbei einem mittleren Schulabschluss sind dieAbweichungen zunächst ähnlich hoch. Erstim Zeitverlauf kommt es zu einer leichtenAnnährung – dennoch beträgt die Diffe-renz auch hier nach drei Jahren noch über10 Prozentpunkte.

Für die Qualifizierungschancen sindauch die Noten auf dem Abschluss- bzw.Abgangszeugnis der allgemeinbildendenSchu le von besonderer Bedeutung, da sieals geeigneter Prädikator für die Leistungs-fähigkeit der Jugendlichen angesehen wer-den. Verfügen SchulabgängerInnen mit ei-nem mittleren Schulabschluss über eher guteNoten, so nehmen von denjenigen mit Mi-grationshintergrund im Laufe eines Jahres56 % eine vollqualifizierende Ausbildungauf, von denjenigen ohne Migrationshin-tergrund 75 %. Nach drei Jahren sind 78 %der Jugendlichen mit und 92 % der Jugend-lichen ohne Migrationshintergrund in eineAusbildung eingemündet.

Übersicht 1: Wahrscheinlichkeit der Einmündung in eine Berufsausbildung (betrieblich, außer-betrieblich, schulisch) – Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund mitmittlerem Schulabschluss nach Notendurchschnitt (kumulierte Einmündungsfunktion)

(relativ) guter Notendurchschnitt (bis 2,9) mittlerer bis schlechter Notendurchschnitt (ab 3,0)

Schätzung nach der Kaplan-Meier-Methode; zur Methode. Basis: Personen der Geburtsjahr-gänge 1982 bis 1988, die bei Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems eine betrieblicheoder schulische Ausbildung suchten.Quelle: Beicht/Granato 2009:22 auf der Grundlage der BIBB-Übergangsstudie

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Fallen bei einem mittleren Abschlussdie Schulnoten durchschnittlich bis schlechtaus, so beginnen innerhalb eines Jahres 52 % der RealschulabsolventInnen mit Mi-grationshintergrund und 70 % derjenigenohne Migrationshintergrund eine Ausbil-dung. Nach drei Jahren haben 82 % der RealschulabsolventInnen mit und 91 %der jenigen ohne Migrationshintergrund denÜbergang in eine Ausbildung geschafft(Beicht/Granato 2009:20-23).

Gute schulische Voraussetzungen wir-ken sich bei einheimischen Schulabgänge-rInnen immer als förderlich für die Ein-mündung in eine vollqualifizierende Aus-bildung aus, bei eingewanderten Schulab-gängerInnen mit einem mittleren Abschlussjedoch nur zum Teil. Vor allem jungen Mi-grantInnen mit guten Schulzeugnissen ge-lingt die Aufnahme einer Ausbildung er-heblich seltener als der Vergleichsgruppeohne Migrationshintergrund (Beicht/Gra-nato 2009:20-23).

Bei gleichem Qualifizierungsziel undvergleichbaren Suchstrategien und selbst beigleichen schulischen Voraussetzungen ha-ben Jugendliche mit Migrationshinter-grund geringere Chancen, in eine Ausbil-dung einzumünden. Die BIBB-Schulab-gängerbefragungen zeigen zudem, dassSchulabsolventInnen mit Migrationshin-tergrund, die einen Ausbildungsplatz fin-den, nur halb so oft in ihrem „Wunschbe-ruf“ ausgebildet werden wie einheimischeSchulabgänger (Diehl u.na. 2009).

Diese Ergebnisse belegen, dass dieschu lischen Voraussetzungen wie Schulno-ten und Schulabschlüsse von Schulabgän -gerIn nen mit Migrationshintergrund keinausreichender Erklärungsansatz für ihre ge -ringere Einmündungsquote in eine dualeoder berufsfachschulische Ausbildung sind.Nimmt man die kognitive Leistungsfähig-

keit als Indikator, so ist das Resultat dasGleiche.

Weitere Einflussgrößen erweisen sichzwar als relevant (statistisch signifikant) fürden Einmündungserfolg in eine Ausbildungerklären jedoch die geringeren Ausbil dungs -chancen von SchulabsolventInnen mit Mi -gra tionshintergrund nicht vollständig. Jun-ge Menschen aus Migrantenfamilien verfü-gen zwar häufiger als junge Nichtmigran-ten über einen Hauptschulabschluss, undihre Schulnoten fallen im Durchschnitt et-was schlechter aus. Ihre Eltern sind wenigergut gebildet und der Vater hat seltener einequalifizierte Tätigkeit. Bei gleichzeitigerBerücksichtigung all dieser Faktoren bleibtdennoch ein eigenständiger Einfluss desMigrationshintergrunds bestehen. Diesdeu tet darauf hin, dass sich schon allein dasVorhandensein eines Migrationshinter-grunds bei der Ausbildungsplatzsuche nach -teilig auswirkt (Beicht/Granato 2009, 2010).

4. Diskussion der Ergebnisse

Die in Theorie und Praxis lange Zeit ver-wendeten Ansätze zur Erklärung der ge-ringeren Einmündungschancen junger Men -schen mit Migrationshintergrund in eineAusbildung, die individuelle Einflussfakto-ren wie geringe schulische Bildung, fehlen-de deutsche Sprachkenntnisse, unzurei-chende (Aus)Bildungsorientierung mit derThese der kulturellen Differenzierung ver-knüpften, sind mittlerweile grundlegend de -konstruiert (vgl. z. B. Boos-Nünning/Gra-nato 2008). Formale Bildungsvorausset-zungen können ebenfalls keinen Beitragmehr leisten zur abschließenden Erklärungder geringeren Zugangschancen. Die gleich -berechtigte Verwertung derselben Bil dungs -voraussetzungen scheint bisher nur zumTeil gegeben.

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Auch das soziale Kapital, z. B. die Un-terstützung über verwandtschaftliche Netz -werke bei der Ausbildungsplatzsuche sowiedie sozioökonomische Positionierung desElternhauses bietet bislang keine hinrei-chende Erklärung für die geringeren Chan -cen junger Menschen mit Migrationshin-tergrund erfolgreich in eine Ausbildung ein-zumünden (Beicht/Granato, 2010; Eber-hard/Ulrich 2010).

Während Erklärungsansätze, die auf dieindividuelle Perspektive der Jugendlichenund ihrer Familien zielen in Gegenwartund Vergangenheit als Einflussfaktoren fürdie geringeren Zugangschancen jungerMenschen mit Migrationshintergrund in-tensiv untersucht wurden, gibt es nur weni-ge Forschungsarbeiten, die auf die struktu-relle Perspektive, also die Rahmenbedin-gungen des Ausbildungssystems für denZugang von Jugendlichen mit Migrations-hintergrund in Ausbildung blicken.

Das Ausbildungsplatzangebot inDeutsch land ist regional unterschiedlichverteilt. Regionen mit einem fast ausgegli-chenen Ausbildungsmarkt stehen solchenmit starken Disparitäten und z. B. einemhohen Bewerberandrang gegenüber (Eber-hard/Ulrich 2010). Doch auch unter Be-rücksichtigung des regional unterschiedli-chen Ausbildungsplatzangebots lassen sichdie geringeren Zugangschancen von Ju-gendlichen mit Migrationshintergrund inAusbildung immer noch nicht abschließenderklären (Eberhard/Ulrich 2010:11-16).

Hingegen sind Selektionsprozesse pri-vater wie öffentlicher Arbeitgeber am Über -gang Schule – Ausbildung stärker in denBlick zu nehmen, besonders negative grup-penspezifische Zuschreibungen von Perso-nalverantwortlichen und anderen Ent schei -dern gegenüber Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund bzw. bestimmten Gruppen

von Jugendlichen. Dies gilt auch für dasErklärungspotenzial der Argumentations-muster, die hinter den Entscheidungen derPersonalauswahl stehen und die – laut ei-ner Schweizer Studie – einen erheblichenEinfluss auf die geringeren Zugangschan-cen junger Menschen mit Migrationshin-tergrund in eine betriebliche Ausbildunghaben können (Imdorf 2009).

5. Fazit

Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungs -chancen klaffen in Deutschland weit ausein-ander. Sowohl aus gesellschaftlicher als auchaus individueller Sicht der Jugendlichen be-steht ein erheblicher Qualifizierungsbedarf,dem jedoch – gerade für Jugendliche mitMigrationshintergrund – nicht die entspre-chenden Qualifizierungschancen in der be-ruflichen Ausbildung gegenüberstehen.

Die Herausbildung beruflicher Kom-petenzen und das Erreichen eines aner-kannten Berufsabschlusses scheitert bei jun -gen Menschen mit Migrationshintergrundvielfach schon daran, dass sie seltener alsSchulabgänger ohne Migrationshintergrundin eine Ausbildung, sei sie dual oder be-rufsfachschulisch einmünden – auch beigleichen schulischen Voraussetzungen undBildungszielen. Für die Frage inwieweitBildungssysteme dazu beitragen, Bildungs-gerechtigkeit herzustellen sowie ein ausrei-chendes und qualifiziertes Fachkräfteange-bot bereitzustellen, ist dieser Befund nie- derschmetternd. Zudem erhalten diejenigenJugendlichen mit Migrationshintergrund,die in eine Ausbildung einmünden, beson-ders häufig in den Segmenten des Ausbil-dungsmarktes einen Ausbildungsplatz, die– so erste empirische Hinweise – von un-günstigeren Ausbildungs- und Rahmenbe-dingungen betroffen sind.

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Das Bildungssystem, das duale undschulische Ausbildungssystem sowie dasHochschulsystem haben es sich seit Jahr-zehnten geleistet einen Teil der Jugendohne Berufsbildung in die Arbeitswelt zuentlassen – zu einem erheblichen Teil mitMigrationshintergrund. Es genügt nicht,dies festzustellen und zu bedauern. Viel-mehr sind zwei entscheidende bildungspo-litische Weichenstellungen vorzunehmen:

„Jedem ausbildungswilligen Jugendli-chen einen Ausbildungsvertrag“

Im Mittelpunkt sollte die bildungspoli-tische Zielsetzung „Jedem ausbildungswil-ligen Jugendlichen einen Ausbildungsver-trag“ stehen, um die Zugangschancen ge-rade junger Menschen mit Migrationshin-tergrund zu einer vollqualifizierenden Aus-bildung direkt im Anschluss an die Schul-zeit nachhaltig zu unterstützen. Prioritätsollten Maßnahmen erhalten, die dazu bei-tragen jedem Schulabgänger unmittelbarnach Schulabschluss einen Ausbildungs-vertrag anzubieten. Nur dadurch könnenunnötige und kostspielige Warteschleifenvermieden werden. Die Nutzung und Schaf -fung betrieblicher Ausbildung sollte voraußer betrieblicher Ausbildung Vorrang ha -ben – z. B. über anonymisierte Bewer bungs -verfahren. Statt Übergänge zu finanzierengilt es bestehende bzw. freiwerdende Kapa-zitäten – bei individuellem Bedarf – in einekontinuierliche Ausbildungsbegleitung flie -ßen zu lassen. Lernbegleitung wie sozial-pädagogische Betreuung und dementspre-chende Angebote sollten hier Vorrang haben(Beicht/Granato 2009).

Eine „zweite“ Chance für Jeden – Keiner ohne Abschluss einer Berufs-qualifizierung“

Die zweite bildungspolitische Priorität zieltauf: „Eine ‚zweite‘ Chance für Jeden – Kei-ner ohne Abschluss einer Berufsqualifizie-rung“. Erheblich stärker als bisher sind diein Pilotprojekten erfolgreich erprobten Stra -tegien und Verfahren der „zweiten Chance“zur Nachqualifizierung in einem aner kann -ten Beruf für junge Erwachsene, die auf ih-ren bisherigen beruflichen Erfahrungen undKompetenzen beruhen, auszubauen. Die be -rufsbegleitende modulare Nachqualifizie-rung bedarf dringend einer flächendecken-den Ausweitung und benötigt hierzu einebundesweite Regelförderung, um den rund1,09 Millionen jungen Ungelernten mitMigrationshintergrund und den rund 1 Mil -lionen jungen Ungelernten ohne Migrati-onshintergrund ein Angebot zur berufli-chen Nachqualifizierung in einem anerkann-ten Beruf zu unterbreiten (Beicht/Granato2009).

Die Zukunft der Gesellschaft ist ohnedie Beteiligung gerade dieses Teils der heu-tigen Jugend nicht denkbar. Ein Innovati-onsland wie Deutschland kann es sich nichtleisten, dass so viele junge Erwachsene ohneeine anerkannte Berufsausbildung bleiben.Mehr Bildungsgerechtigkeit zu verwirkli-chen bedeutet auch, das in der UN-Chartaverbriefte Recht auf Bildung in Deutsch-land nachhaltig in einem chancengerechtenBildungswesen umzusetzen. Denn Gesell-schaft und Wirtschaft brauchen die Jugendvon heute und ihre Vielfalt mindestensebenso sehr wie umgekehrt. .

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