arme schweine tierschutz, staatliches gewaltmonopol und

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40 *[ Arme Schweine- Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht Alena Rudakouskaya (LL. M.), Dr. Diana Stage and Jessica Storey Arme Schweine Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht SPD äußerte Kevin Kühnert Bedenken hinsichtlich der drastischen Ausdehnung des Strafrechts durch Einbeziehung der Tiere in tatbestandliche Schuꜩ- bereiche, die bisher Menschen allein vorbehalten waren. Konsequenterweise müssten künftig Tiere auch bestraft werden können, z. B. eine Kaꜩe wegen Mordes, wenn sie heimtückisch eine arg- und wehrlose Maus verspeist hat. B. Hier und heute Zurück in die Gegenwart: am 22. Februar 2018 fand vor dem OLG Naumburg in Sachsen-Anhalt die Revi- sionshauptverhandlung in einem Strafverfahren sta, das schon zuvor einiges Aufsehen erregt hae, obwohl es in dem Verfahren um eine Straftat ging, die in der Schwereskala des Strafgeseꜩbuches einen der unteren Pläꜩe belegt. Angeklagt waren drei Tierschuꜩaktivisten wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB). Der Anklage zugrunde lag eine Tat mit einem spezifisch ökologisch-politischen Hinter- grund. Die drei Angeklagten waren im Sommer 2013 zweimal nachts in eine Schweinemastanlage im Umland von Magdeburg eingedrungen und haen von den unsäglichen Zuständen der Massen- tierhaltung in dieser Einrichtung – Verstößen gegen die Tierschuꜩ-Nuꜩtierhaltungs-Verordnung Aufnahmen gemacht. Sie wollten auf diese Weise Beweismaterial produzieren, um damit die bis dahin untätigen Behörden zum Einschreiten gegen den Anlagenbetreiber zu veranlassen. Gefahren für die Gesundheit der Tiere haen die Täter bei ihrer Vorgehensweise vermieden. Auch wurden keine A. Ein Stück Zukunftsmusik Seit 1.1.2030 enthält das Grundgeseꜩ für die Bundes- republik Deutschland einen Artikel 1 a mit folgendem Wortlaut: „Die Würde des Tieres ist unantastbar. Sie zu achten und zu schüꜩen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Bundeskanzlerin Annalena Baerbock von Bündnis 90 DIE GRÜNEN erklärt in ihrer Pressekonferenz diese Ergänzung des Grund- geseꜩes für die längst überfällige Anerkennung von Tieren als vollwertige Rechtssubjekte neben intelligenten Robotern 1 und homines sapientes und hebt die Vorreiterrolle Deutschlands auf diesem Gebiet hervor. Justizminister Wolfgang Mitsch vom Koalitionspartner ÖDP (Ökologisch Demokratische Partei) weist darauf hin, dass auf Grund einer neuen Gleichstellungsregelung im Allgemeinen Teil des Strafgeseꜩbuches (§ 11 Abs. 4 StGB: „Im Sinne dieses Geseꜩes ist Mensch auch ein Tier“) nunmehr Tiere durch dieselben Straftatbestände geschüꜩt werden wie Menschen, die vorsäꜩliche Tötung eines Tieres also Totschlag oder sogar Mord sein kann. Kritik wurde von Vertretern parlamenta- rischer und außerparlamentarischer Parteien geübt. Fraktionschefin Julia Klöckner von der stärksten Oppositionspartei CDU fragte ironisch, ob nun auch die „Ehe für alle“ Tieren zugänglich gemacht werden müsse. Für die bei der leꜩten Bundes tagswahl knapp an der 5%-Hürde gescheiterte * Der Autor ist Professor an der Universität Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht mit Jugendstrafrecht und Kriminologie. 1 Schirmer JZ 2016, 660 ff. Prof. Dr. Wolfgang Mitsch*

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Page 1: Arme Schweine Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und

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*[ Arme Schweine- Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht

Alena Rudakouskaya (LL. M.), Dr. Diana Stage and Jessica Storey

Arme SchweineTierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht

SPD äußerte Kevin Kühnert Bedenken hinsichtlich der drastischen Ausdehnung des Strafrechts durch Einbeziehung der Tiere in tatbestandliche Schutz-bereiche, die bisher Menschen allein vorbehalten waren. Konsequenterweise müssten künftig Tiere auch bestraft werden können, z. B. eine Katze wegen Mordes, wenn sie heimtückisch eine arg- und wehrlose Maus verspeist hat.

B. Hier und heuteZurück in die Gegenwart: am 22. Februar 2018 fand vor dem OLG Naumburg in Sachsen-Anhalt die Revi-sionshauptverhandlung in einem Strafverfahren statt, das schon zuvor einiges Aufsehen erregt hatte, obwohl es in dem Verfahren um eine Straftat ging, die in der Schwereskala des Strafgesetzbuches einen der unteren Plätze belegt. Angeklagt waren drei Tierschutzaktivisten wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB). Der Anklage zugrunde lag eine Tat mit einem spezifisch ökologisch-politischen Hinter- grund. Die drei Angeklagten waren im Sommer 2013 zweimal nachts in eine Schweinemastanlage im Umland von Magdeburg eingedrungen und hatten von den unsäglichen Zuständen der Massen-tierhaltung in dieser Einrichtung – Verstößen gegen die Tierschutz-Nutztierhaltungs-Verordnung – Aufnahmen gemacht. Sie wollten auf diese Weise Beweismaterial produzieren, um damit die bis dahin untätigen Behörden zum Einschreiten gegen den Anlagenbetreiber zu veranlassen. Gefahren für die Gesundheit der Tiere hatten die Täter bei ihrer Vorgehensweise vermieden. Auch wurden keine

A. Ein Stück ZukunftsmusikSeit 1.1.2030 enthält das Grundgesetz für die Bundes-republik Deutschland einen Artikel 1 a mit folgendem Wortlaut: „Die Würde des Tieres ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Bundeskanzlerin Annalena Baerbock von Bündnis 90 DIE GRÜNEN erklärt in ihrer Pressekonferenz diese Ergänzung des Grund-gesetzes für die längst überfällige Anerkennung von Tieren als vollwertige Rechtssubjekte neben intelligenten Robotern1 und homines sapientes und hebt die Vorreiterrolle Deutschlands auf diesem Gebiet hervor. Justizminister Wolfgang Mitsch vom Koalitionspartner ÖDP (Ökologisch Demokratische Partei) weist darauf hin, dass auf Grund einer neuen Gleichstellungsregelung im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches (§ 11 Abs. 4 StGB: „Im Sinne dieses Gesetzes ist Mensch auch ein Tier“) nunmehr Tiere durch dieselben Straftatbestände geschützt werden wie Menschen, die vorsätzliche Tötung eines Tieres also Totschlag oder sogar Mord sein kann. Kritik wurde von Vertretern parlamenta-rischer und außerparlamentarischer Parteien geübt. Fraktionschefin Julia Klöckner von der stärksten Oppositionspartei CDU fragte ironisch, ob nun auch die „Ehe für alle“ Tieren zugänglich gemacht werden müsse. Für die bei der letzten Bundes tagswahl knapp an der 5%-Hürde gescheiterte

* Der Autor ist Professor an der Universität Potsdam und Inhaber des

Lehrstuhls für Strafrecht mit Jugendstrafrecht und Kriminologie.1 Schirmer JZ 2016, 660 ff.

Prof. Dr. Wolfgang Mitsch*

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*[Arme Schweine- Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht

Sachbeschädigungen am Gebäude verursacht. Der betroffene Betreiber der Anlage stellte indessen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs, vgl. § 123 Abs. 2 StGB. Daraufhin kam es zur Haupt-verhandlung vor dem Amtsgericht Haldensleben. Mit einer strafrechtsdogmatisch stellenweise originellen Begründung (zum subjektiven Rechtfertigungsele-ment „Gefahrabwendungswille“) legte der Straf-richter dar, warum die Tat der Angeklagten kein Unrecht sei und sie deshalb freizusprechen waren.2 Der Freispruch fand in der Öffentlichkeit ein zwiespältiges Echo („Freispruch für Tierschützer spaltet Gemüter“). Neben begeisterter Zustimmung aus dem Lager umwelt- und tierschutzbewusster Bürger („Starkes Signal für den Tierschutz“) sowie Lob aus dem Mund eines Strafrechtswissen-schaftlers3 gab es auch heftige Kritik und empörte Ablehnung von der Agrar- und Fleischindustrie („Freispruch von Tierschützern ein Skandal“). Auch die Staatsanwaltschaft war mit der Entscheidung des Strafrichters nicht einverstanden und ging in die Berufung. Über die hatte das Landgericht Magdeburg zu entscheiden und zur Freude aller mit den Angeklagten Sympathisierenden wurde der Freispruch des Amtsgerichts Haldensleben mit einer teilweise innovativen Begründung bestätigt.4 Die Staatsanwaltschaft gab nicht auf und legte Revision ein. Das Oberlandesgericht Naumburg hat am 22.2. 2018 den Freispruch bestätigt. Dieser ist damit rechtskräftig.

C. Würdigung nach geltendem Strafrecht

Studierende sollten dem Fall Aufmerksamkeit schenken, geht es doch unter anderem um stra-frechtliche Themen, die im Pflichtfach „Strafrecht“ relevant für die erste juristische Prüfung sein können.5

I. TatbestandsmäßigkeitDie Angeklagten hatten sich heimlich Zutritt zu der Schweinezuchtanlage mit 63 000 Tieren verschafft. Der Betreiber der Anlage, der von der Aktion keine Kenntnis hatte, war damit selbst-verständlich nicht einverstanden. Folglich war das Handeln der Täter ein „eindringen“ im Sinne des § 123 Abs. 1 Alt. 1 StGB.6 Die Gebäude des Betriebes waren auch taugliche Tatobjekte, nämlich

2 AG Haldensleben, Urt. v. 26.9. 2016 – 3 Cs 224/15 (182 Js 32201/14) -, juris.3 Hecker, JuS 2018, 83 (84): „Die von F und M gezeigte Zivilcourage

verdient daher keine Bestrafung, sondern Respekt“.4 LG Magdeburg, Urt. v. 11.10. 2017 – 28 Ns 182 Js 32201/14 (74/17) -,

juris, mit Anm. Hecker, JuS 2018, 83.5 Lehrreich die Urteilsanmerkung von Hecker in JuS 2018, 83 ff.6 Eisele BT I, Rn. 670.

„Geschäftsräume“.7 Da die Angeklagten sicher wussten, was sie taten, hatten sie Vorsatz (§ 15 StGB) und erfüllten somit den objektiven und subjektiven Tatbestand des Hausfriedensbruchs.8

II. RechtswidrigkeitObwohl im Text des § 123 Abs. 1 StGB das Wort „widerrechtlich“ steht, ist die Rechtswidrigkeit beim Hausfriedensbruch wie bei jeder Straftat von der Tatbestandsmäßigkeit zu unterscheiden. „Widerrechtlich“ bedeutet „rechtswidrig“ und gehört nicht zum objektiven Tatbestand des Haus-friedensbruchs.9 Ausgeschlossen ist die Rechtswid-rigkeit, wenn ein Rechtfertigungsgrund eingreift.

1. Rechtfertigender NotstandIn der Strafrechtsklausur sollte man – sofern dieser Rechtfertigungsgrund ernsthaft in Betracht gezogen werden kann – stets mit der „schärferen“ Notwehr (§ 32 StGB) beginnen und erst danach – vor allem, wenn man Rechtfertigung gem. § 32 StGB verneint hat10 – rechtfertigenden Notstand prüfen.11 Im vorliegenden Text wird von dieser Regel abge-wichen und zunächst einmal auf den rechtferti-genden Notstand eingegangen. Denn die Bejahung einer Nothilfe (§ 32 StGB) zugunsten der Tiere ist ein gewagter Schritt über die Grenzen der gewohnten Notwehrdogmatik. Das LG Magdeburg hat diesen Schritt getan und somit dem Freispruch des Amts-gerichts noch eine zweite Grundlage gegeben. Das Amtsgericht hatte den Angeklagten „nur“ einen rechtfertigenden Notstand zugebilligt. Diese Fall-beurteilung ist vor dem Hintergrund des § 34 StGB vertretbar, aber – wie sich zeigen wird – auch Kritik ausgesetzt. Die Tat der Angeklagten müsste das zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut erforderliche und angemessene Mittel gewesen sein. Zudem müsste das Interesse an der Abwendung der Gefahr das Interesse an der Achtung des dem Anlagenbetreiber zustehenden Hausrechts wesentlich überwiegen. Schließlich müssten die Täter mit Gefahrabwendungswillen gehandelt haben.12

Unterstellt, die Zustände in der Anlage sind tatsäch-lich so unerträglich, wie das in Medienberichten geschildert wird, liegt eine Gefahr für die körperli-che Unversehrtheit der Tiere vor. Dass die Schweine

7 Rengier BT II, § 30 Rn. 3.8 Hecker JuS 2018, 83.9 Eisele BT I, Rn. 668; Rengier BT II, § 30 Rn. 1.10 Vgl. z. B. Ebert (Hrsg.), Strafrecht Allgemeiner Teil, 16 Fälle mit

Lösungen, 2003, S. 94 (Fall 5); Hilgendorf, Fälle zum Strafrecht für

Examenskandidaten, Klausurenkurs III, 2010, Fall 13 Rn. 4 ff.11 Eisele/Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, Rn. 217;

B. Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2016, Rn. 333, 402.12 Zum Prüfungsschema vgl. B. Heinrich, AT, Rn. 404.

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eingesperrt sind, also auch ihrer Freiheit beraubt sind, ist hingegen grundsätzlich kein Zustand, der im Widerspruch zu der Rechtsordnung steht und somit auch keine „Gefahr“ im Sinne des Notstands-rechts. Da Tiere geschlachtet werden dürfen, um zu menschlicher Nahrung verarbeitet zu werden, ist selbst die Tötung der Schweine kein Vorgang, an dessen Abwendung ein rechtlich begründetes Interesse bestünde. Die Tötung zu diesem Zweck hat einen „vernünftigen Grund“ iSd § 17 TierSchG.13 Solange aber die Tiere leben, sollen sie anständig behandelt werden. Deswegen gibt es das Tier-schutzgesetz. Dieses verpflichtet zu einem Umgang mit Tieren, der ihr körperliches Wohl achtet. Da Tiere aber auch so etwas wie eine „Psyche“ haben und zu Empfindungen wie Angst oder Freude fähig sind,14 ist auch das nichtkörperliche Wohlbefinden der Tiere ein rechtlich relevantes Kriterium für menschliches Verhalten. Weil Menschen daran interessiert sind bzw. sein sollten, dass es Tieren gut geht, ist das – körperliche und nichtkörperliche Wohl der Tiere ein von der Rechtsordnung – sogar auf der Ebene des Grundgesetzes (vgl. Art. 20 a GG) – anerkanntes schutzwürdiges Interesse, also ein „Rechtsgut“ im Sinne des § 34 StGB. Die im Tier-schutzgesetz aufgestellten – zum Teil strafbewehr- ten – Regeln zum artgerechten Umgang mit Tieren dienen nicht dem Schutz des Eigentums an den Tieren15, sondern dem physischen und psychischen Wohlbefinden der Tiere selbst. Daher richten sich die pflichtbegründenden Verhaltensregeln auch – sogar in erster Linie – an den Halter bzw. Eigentümer der Tiere. Dieser kann in eine tatbestandsmäßige Tierquälerei nicht rechtfertigend einwilligen16 und macht sich selbst aus § 17 TierSchG strafbar, wenn er seine eigenen Tiere schlecht behandelt. Anders als bei der Notwehr (§ 32 StGB)17 ist beim Notstand weitgehend unbestritten,18 dass auch das Interesse an der Unversehrtheit überindividueller Rechts-güter die Rechtfertigung einer tatbestandsmäßigen Gefahrabwendungshandlung begründen kann.19

Notstandslage ist eine gegenwärtige Gefahr für das Rechtsgut. Gefahr ist eine Situation im Vorfeld einer unmittelbar bevorstehenden Verletzung,

aber auch der Zustand einer schon eingetretenen

13 Pfahl, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6, 3. Aufl. 2018,

§ 17 TierSchG Rn. 35.14 Pfahl, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6, 3. Aufl. 2018,

§ 17 TierSchG Rn. 72.15 Dafür gibt es § 303 StGB.16 Pfahl, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6, 3. Aufl. 2018,

§ 17 TierSchG Rn. 113.17 Eisele/Heinrich AT, Rn. 22818 Anders aber Frister, AT, Kap. 17 Rn. 2.19 Eisele/Heinrich AT, Rn. 276; Erb, in: Münchener Kommentar zum

StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 59; B. Heinrich, AT, Rn. 410; Jäger,

Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017,

Rn. 102, 151; Maurach/Zipf, AT 1, § 27 Rn. 14.

Verletzung,20 sofern es ein anhaltender Dauerzu-stand ist (Dauergefahr)21. Dass es den Schweinen in der Anlage schon seit längerer Zeit schlecht geht, steht also einer Gefahr nicht entgegen. Auf Grund des Andauerns ist die Gefahr auch permanent gegenwärtig.22 Fraglich ist indessen, ob die Gefahr nicht anders abwendbar ist.23 Das bedeutet zunächst einmal, dass die tatbestandsmäßige Gefahrabwend-ungshandlung mangels Erforderlichkeit nicht gerechtfertigt ist, wenn zur Abwendung der Gefahr andere geeignete und weniger schädigende Mittel zur Verfügung stehen.24 Priorität haben vor allem die Gefahrabwendungsmaßnahmen der für die Verhinderung von Gefahren zuständigen staatli-chen Behörden, insbesondere die Polizei.25 Betrifft die Gefahr ein überindividuelles Rechtsgut, gibt es in der Regel staatliche Behörden, deren Aufgabe die Verwaltung dieses Rechtsgutes einschließlich der Abwendung von Schädigungen und der Beseitigung von Schäden ist.26 Das lässt sich am Beispiel des mit dem Tierschutz verwandten (vgl. Art. 20a GG) Umweltschutzes demonstrieren. Für die Erhaltung der Unversehrtheit von Umwelt-gütern wie z. B. Wasser, Boden und Luft sowie für die Bewirtschaftung dieser Güter sind spezielle Behörden zuständig. In Brandenburg kümmern sich z. B. um den Gewässerschutz die Landkreise und kreisfreien Städte als untere Wasserbehörden (§ 124 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BbgWG) und das Wasserwirtschaftsamt als obere Wasserbehörde (§§ 124 Abs. 1 Nr. 2, 125 BbgWG). Diese Behörden regulieren den Umgang mit den Umweltmedien, indem sie Genehmigungen erteilen, zurücknehmen oder einschränken, Genehmigungen mit Auflagen verbinden, Untersagungen anordnen und gege-benenfalls auch mit Vollstreckungsmaßnahmen die Erfüllung von Pflichten erzwingen. Kommt es beim Betrieb umweltbelastender Anlagen zu Störungen, durch die die Umwelt geschädigt werden könnte, müssen die Behörden einschreiten und z. B. dem Betreiber Auflagen erteilen, den Betrieb der Anlage untersagen oder ihre Stilllegung anordnen, §§ 20, 24, 25, 25 a BImSchG.27 Die Behörden haben in diesem Bereich ein Gefahrenabwehrmonopol, eine Ausprägung des „staatlichen Gewaltmonop-ols“. Privates Eingreifen auf der Grundlage des rechtfertigenden Notstands ist hier grundsätzlich nicht erlaubt. Zudem ist das Verhalten des Anla-genbetreibers legal, wenn es von einer wirksamen behördlichen Genehmigung gedeckt ist, mag diese

20 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 15 Rn. 70; B. Heinrich, AT, Rn. 407.21 B. Heinrich, AT, Rn. 413; Jäger, Examens-Repetitorium AT, Rn. 153.22 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 15 Rn. 8423 Dazu Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 15 Rn. 87 ff.24 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 15 Rn. 88; Eisele/Heinrich AT, Rn. 28325 Eisele/Heinrich AT, Rn. 284; MK-Erb, § 34 Rn. 94.26 B. Heinrich, AT, Rn. 410.27 Schmidt/Kahl/Gärditz Umweltrecht, § 4 Rn. 75.

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auch rechtswidrig sein.28 Solange kein Nichtigkeits-grund iSd § 44 VwVfG vorliegt und die Geneh-migung nicht durch unlautere Methoden erwirkt wurde, vgl. § 330 d Abs. 1 Nr. 5 StGB, legalisiert sie das Handeln des Genehmigungsempfängers, auch im Verhältnis zu Dritten. Nur die Behörde selbst ist zur Beseitigung des von ihr selbst mitverursachten Zustands befugt.

In der Dogmatik des rechtfertigenden Notstands heißt dieser Gesichtspunkt Vorrang und Exklus-ivität staatlich geordneter Verfahren und wird der Notstandsvoraussetzung „angemessenes Mittel“ zugeordnet.29 Die Einmischung von Privaten in den Zuständigkeitsbereich der Behörden zur Beseitigung wirklicher oder vermeintlicher Missstände ist grundsätzlich unzulässig und nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt. Nur in extremen Ausnahmefällen, in denen Behörden nicht oder nicht rechtzeitig eingreifen können, soll private Gefahrenabwehr („Staatsnothilfe“) gerechtfertigt sein können.30 Auch die Zucht und Haltung von Schlachtvieh ist ein Gegenstand verwaltungs-behördlicher Kontrolle und Überwachung. Tiermastanlagen unterliegen neben dem Baurecht auch dem Immissionsschutzrecht, da ihr Betrieb die Umwelt belastet, sowie dem Tierschutzrecht, da das Wohl der Tiere durch unsachgemäßen Betrieb gefährdet werden kann. Die Anlage, die Gegenstand der verfahrensgegenständlichen Tier-schützeraktion war, bedurfte der Genehmigung gem. § 4 BImSchG iVm § 1 Abs. 1 S. 1 4. BImSchV iVm Anhang 1 Nr. 7.1.7 4. BImSchV. Es ist davon auszugehen, dass diese Genehmigung erteilt und nicht zurückgenommen worden war. Anderen-falls wäre die zuständige Behörde gewiss tätig geworden. Allerdings darf die Behörde sich nicht damit begnügen, in dem Genehmigungsverfahren die Einhaltung der gesetzlichen Bedingungen durch den Anlagenbetreiber zu prüfen. Die Behörde hat auch den Betrieb der Anlage zu überwachen und gegebenenfalls zu reagieren, wenn Abweichungen von der Genehmigung festgestellt werden oder sich herausstellt, dass die Genehmigung nicht hätte erteilt werden dürfen.31 Müssen Tiere leiden, weil der Betreiber der Anlage die Vorschriften nicht beachtet, die eine tiergerechte Gestaltung der Einrichtungen gewährleisten sollen, ist es die Pflicht der Behörde, dagegen einzuschreiten und den Betreiber notfalls mit Zwangsmitteln zur Einhaltung der Regeln zu bewegen.32 Der Bürger hingegen ist

28 Schmidt/Kahl/Gärditz Umweltrecht, § 4 Rn. 67.29 Frister, AT, Kap. 17 Rn. 17; B. Heinrich, AT, Rn. 427; Maurach Zipf, AT 1,

§ 27 Rn. 42; Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1,

3. Aufl. 2017, , § 34 Rn. 190; Rengier, AT, § 19 Rn. 57; Schönke/Schröder/

Perron, § 34 Rn. 41.30 Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 59.31 Schmidt/Kahl/Gärditz Umweltrecht, § 4 Rn. 70.32 Schmidt/Kahl/Gärditz Umweltrecht, § 4 Rn. 73.

nicht befugt, sich hoheitliches Auftreten gegenüber Mitbürgern anzumaßen und ihn in die Schranken der Rechtsordnung zu weisen.33

Ausweislich der Urteilsbegründungen haben sowohl das Amtsgericht Haldensleben als auch das Landge-richt Magdeburg diese Grenze des Notstandsrechts gesehen. Sie meinten aber sich darüber hinwegsetzen zu dürfen, da die zuständigen Behörden Sachsen-Anhalts trotz mehrerer Strafan-zeigen gegen den Betreiber der Anlage untätig geblieben sind.34 Das dürfte von dem Beurteilungs- spielraum gedeckt sein, den der recht elastische Wortlaut des § 34 StGB dem Rechtsanwender öffnet. Es liegt auf der Hand, dass die Friedenspflicht des Bürgers endet, wo die Grenze der Unerträglichkeit erreicht ist. Dass diese Grenze hier durch das Verhalten des Anlagenbetreibers einerseits und die mangelnde Aktionsbereitschaft der Behörden andererseits überschritten worden ist, haben die Gerichte wohl zu Recht angenommen.35 Fraglich ist allerdings, ob die Angeklagten überhaupt eine taugliche Gefahrabwendungshandlung vorgenom-men haben.36 Denn an den Zuständen in den Ställen hat sich infolge der Aktion zunächst nichts geändert. Vor allem haben die Tierschützer ihre Aufnahmen nicht sofort den Behörden zur Verfügung gestellt oder an die Öffentlichkeit gebracht. Sie haben damit einige Wochen gewartet. Zu beachten ist jedoch, dass für die Bewertung einer tatbestandsmäßigen Handlung als rechtswidrig oder gerechtfertigt allein die Umstände maßgeblich sind, die bei Vollzug der Handlung existieren. Insbesondere vermag das spätere Verhalten der Täter an dieser Bewertung nichts mehr zu ändern.37 Deswegen bleibt z. B. eine nach § 127 Abs. 1 S. 1 StPO gerecht-fertigte Freiheitsberaubung auch dann rechtmäßig, wenn der Täter den Festgenommenen nicht unver-züglich der Polizei übergibt, sondern erst einmal einige Stunden oder gar Tage in einem dunklen Kellerverließ „schmoren“ lässt.38 Die Verzögerung der Informationsweitergabe an die Behörden mag zwar als solche unverständlich und vielleicht sogar rechtswidrig sein. Sie steht aber einer Rechtferti-gung des Eindringens in die Tiermastanlage nicht entgegen. Auch der Umstand, dass die Aktion der Tierschützer die Situation der Tiere nicht sofort verbessern konnte, schließt eine Rechtfertigung nicht aus. Diese setzt zwar eine „gegenwärtige Gefahr“ voraus, nicht aber, dass diese Gefahr auch „gegenwärtig“ – also sofort – abgewendet wird. Notstandscharakter kann auch eine Tat haben, mit

33 Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 190.34 AG Haldensleben Urt. Rn. 19; LG Magdeburg Urt. Rn. 26.35 So auch Hecker, JuS 2018, 83 (84).36 Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 89.37 Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 470.38 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 14 Rn. 49.

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*[ Arme Schweine- Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht

der eine spätere Abwendung der Gefahr vorbereitet wird.

Schließlich muss das Interesse an der Abwendung der Gefahr das Interesse des Anlagenbetreibers an der Integrität der ihm gehörenden räumlichen Sphäre wesentlich überwiegen. An dieser Stelle der Notstandsprüfung ist die entscheidungsleitende Kraft des Gesetzes am schwächsten, die dezisionis-tische Macht der Gerichte demgemäß am stärksten. Welches Interesse überwiegt und in welchem Maße (wesentlich oder unwesentlich?), lässt sich schwer objektivieren und ist somit in erheblichem Maße dem Argumentationsgeschick des zur Entscheidung berufenen Richters überantwortet. Man könnte sich deshalb ohne weiteres vorstellen, dass ein anderes Gericht über denselben Sachverhalt anders urteilen würde, weil es ein wesentlich überwiegendes Ge- fahrabwendungsinteresse für nicht gegeben erachtet. Allerdings weist der Fall doch einen Aspekt auf, der die Entscheidung über die Rechtfertigung der Tat schon vor jeder gerichtlichen Prüfung stark in eine bestimmte Richtung drängt: es handelt sich um einen Fall des „Defensivnotstands“, weil die Täter in ein Rechtsgut des Anlagenbetreibers eingegriffen haben und der Anlagenbetreiber derjenige ist, der die Gefahr für das zu schützende Rechtsgut verursacht hat. Ein positivgesetzlich geregelter Fall des Defensivnotstands ist die sog. „Sachwehr“ des § 228 BGB. Deren Voraussetzungen liegen hier nicht vor, da die Angeklagten nicht Sachbeschädigung, sondern Hausfriedensbruch begangen haben. Der Grundgedanke des Defensivnotstands lässt sich aber in § 34 StGB hineinprojizieren und somit verallge-meinernd auf die Verletzung jeglichen Rechtsgutes ausdehnen:39 wird die Gefahr durch einen Eingriff in ein Rechtsgut desjenigen abgewendet, der selbst die Gefahr verursacht hat, dann ist der Rechtferti-gungsprüfung der wesentlich täterfreundlichere Abwägungsmaßstab des § 228 BGB zugrunde zu legen. Nur im Fall einer außer Verhältnis zum Gefahrabwendungszweck stehenden Schädigung des Gefahrverursachers ist die Rechtfertigung ausgeschlossen. Ein derart krasses Missverhältnis ist im vorliegenden Fall zweifellos nicht gegeben. Der Eingriff in das Hausrecht steht nicht außer Verhältnis zu dem Interesse an der Bewahrung der Schweine vor weiter andauernder schlechter Behan-dlung. Daher ist der Hausfriedensbruch durch Notstand gerechtfertigt.

2. NotwehrEin Ausrufezeichen setzt das LG Magdeburg mit der Bejahung einer nach § 32 StGB gerechtfertigten Nothilfe für die eingesperrten Tiere.40 Damit setzt sich das Gericht über die bislang noch herrschende

39 Rengier, AT, § 19 Rn. 39.40 Ablehnend insoweit Hecker, JuS 2018, 83 (84).

Meinung im Schrifttum hinweg, wonach Tier-schutz kein notwehrfähiges Rechtsgut ist und straftatbestandsmäßige Tierschützeraktionen nur durch Notstand gerechtfertigt werden können.41 Notwehrfähig seien nur Individualrechtsgüter, nicht aber Rechtsgüter der Allgemeinheit.42 „Staatsnothilfe“ sei daher kein Fall des § 32 StGB.43 Ganz überzeugt dies nicht vor dem Hintergrund, dass die h. M. die ratio des scharfen Notwehrrechts mit dem „Rechtsbewährungsprinzip“ erklärt.44 Dogmatisch wesentlich bedeutsamer wäre im vorliegenden Zusammenhang die Fundierung des drittbegünstigenden Nothilferechts: ist dieses nämlich nur eine aus dem Selbstverteidigungs-recht des Angegriffenen abgeleitete akzessorische Befugnis zur Unterstützung des zur Selbstvertei-digung berechtigten Notwehrrechtsinhabers, kann es ein Nothilferecht konsequenterweise dann nicht geben, wenn ein Selbstverteidigungsberechtigter gar nicht existiert. Da Tiere keine Rechtssubjekte sind, können sie keine Straftatbestände verwirk- lichen und haben deshalb auch kein Notwehrrecht. Ein abgeleitetes Nothilferecht zum Schutz von Tieren ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Ist die Nothilfe indessen eine originäre Befugnis des Dritten zur Abwehr rechtswidriger Angriffe ohne Rücksicht auf Existenz und Verteidigungswillen des Angegriffenen, kann jedenfalls das Fehlen eines Selbstverteidigungsrechts der Tiere einer Nothilfe zur Verteidigung von angegriffenen Tieren nicht entgegenstehen. Diese Ansicht wird vereinzelt in der Literatur schon vertreten45 und wird nach den Entscheidungen des LG Magdeburg und des OLG Naumburg gewiss weitere Anhänger gewinnen. Ein Gesichtspunkt spricht ganz entschei-dend für die Anerkennung eines Nothilferechts zur Abwehr von Tierquälereien: die Tiere werden nicht nur von dem Betreiber der Mastanlage rechtswidrig angegriffen, sondern auch von den Beamten in der zuständigen Behörde, die es pflichtwidrig unterlas-sen, gegen die unhaltbaren Zustände einzuschreit-en.46 Die Amtsträger haben eine Garantenstellung47 und begehen somit einen Angriff durch Unterlas-sen, wenn sie ihre Garantenpflicht nicht erfüllen. Der Staat selbst steht also neben dem Tiermastan-lagenbetreiber auf der Angreiferseite. Deswegen ist die Eigenmacht der Tierschützer nicht nur dem

41 Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 100.42 B. Heinrich, AT, Rn. 344; Schönke/Schröder/Perron § 32 Rn. 8.43 Jescheck/Weigend, AT, S. 349; Maurach/Zipf, AT 1, § 26 Rn. 54; Rengier,

AT, § 18 Rn. 10.44 B. Heinrich, AT, Rn. 337; Jescheck/Weigend, AT, S. 337; Kühl, AT, § 7 Rn.

10; Maurach/Zipf, AT 1, § 26 Rn. 4; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rn. 1.45 Schönke/Schröder/Perron § 32 Rn. 8.46 Zum Angriff durch Unterlassen vgl. Baumann/Weber/Mitsch/

Eisele, AT, § 15 Rn. 9; B. Heinrich, AT, Rn. 343; Kühl, AT, § 7 Rn. 29;

Maurach Zipf, AT 1, § 26 Rn. 9.47 Kühl, AT, § 18 Rn. 79; Schönke/Schröder/Stree/Bosch § 13 Rn. 31a.

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*[Arme Schweine- Tierschutz, staatliches Gewaltmonopol und Notwehrrecht

Anlagenbetreiber gegenüber legitime Verteidigung. Auch der Übergriff in den Zuständigkeitsbereich der Behörde, also die Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols, ist hier durch Notwehrhilfe gerechtfertigt. Wie schon bei der Erörterung des rechtfertigenden Notstands festgestellt (oben 1), steht auch der Rechtfertigung nach § 32 StGB der Umstand nicht entgegen, dass die Handlungen der Tierschützer die Angriffe gegen die Tiere nicht sofort abwendeten, sondern nur die Voraussetzung- en dafür schufen, dass sie demnächst abgewendet werden können. Der Angriff muss gegenwärtig sein, nicht aber muss auch die Verteidigungswirkung schon gegenwärtig eintreten.48

D. SchuldBei aller Sympathie für das ethisch hochrangige Anliegen, dem die angeklagten Tierschützer mit ihrer straftatbestandsmäßigen Aktion nützen wollten, muss man als rational und nüchtern urteilender Jurist einräumen, dass das geltende Strafrecht auch ein entgegengesetztes Urteil tragen würde. Gegen eine Rechtfertigung der Tat sind Einwände möglich, da die Auslegungsspielräume sowohl des § 34 StGB als auch des § 32 StGB Wertungen ein Fundament geben, die die Tat als rechtswidrig erscheinen lassen. Deswegen ist noch ein kurzer Blick auf das Straftatmerkmal „Schuld“ zu werfen: eine Entschuldigung nach § 35 Abs. 1 S. 1 StGB scheitert daran, dass die Gesundheit und das Wohl der Tiere keinem der drei Rechtsgüter zugeordnet werden kann, die § 35 StGB berücksichtigt. Leben, Leib oder Freiheit sind allesamt bezogen auf den Rechtsgutsinhaber „Mensch“.49 Denn ein Tier kann keine „nahestehende Person“50 sein. Gäbe es die im Prolog „Zukunftsmusik“ oben erwähnte fiktive „Gleichstellungsregelung“ § 11 Abs. 4 StGB, könnte man auch Leben, Gesundheit und Freiheit von Tieren einbeziehen. Im geltenden StGB kann die tatbestandliche Enge des § 35 StGB allenfalls mittels der nicht ganz unumstrittenen Figur „übergeset-zlicher entschuldigender Notstand“ durchbrochen werden.51 Soweit diese Entschuldigung anerkannt ist, sind deren Voraussetzungen aber bei Tier-schutzaktionen nicht erfüllt.

E. SchlussWelche Geringschätzung große Teile der Gesellschaft unseren Mitlebewesen, den Tieren, entgegenbrin-gen, haben die jüngsten Medienberichte über skan-dalöse Methoden von „Abgastests“ an Tieren und

48 B. Heinrich, AT, Rn. 354; Schönke/Schröder/Perron § 32 Rn. 35.49 Schönke/Schröder/Perron, § 35 Rn. 4.50 Dazu Schönke/Schröder/Perron § 35 Rn. 15.51 B. Heinrich, AT, Rn. 596; Kühl, AT, § 12 Rn. 92 ff; Schönke Schröder Lenckner/

Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 115 ff.

Menschen durch die Automobilindustrie gezeigt. Während die an den Tests beteiligten Menschen sich dieser Veranstaltung auf Grund eigener Entscheidung ausgesetzt haben, trifft das auf die als Versuchsobjekte missbrauchten Affen selbst-verständlich nicht zu. Die große Empörung, mit der reflexartig auf diese und ähnliche Nachrichten reagiert wird, ist zum Teil pure Heuchelei. Tatsäch-lich ist es unser maß- und gedankenloses Konsum-verhalten, das solche und andere Fehlentwick-lungen auslöst, befördert und verfestigt. Viel und möglichst billig Fleisch essen zu können, gehört für einen großen Teil der Bevölkerung ebenso zum als selbstverständlich und unanfechtbar gehaltenen Lebensgenuss, wie mit schnellen und großen Autos durch die Gegend fahren zu können. Juristisch gilt das als „sozialadäquat“. Dass uns unsere expansive materialistische Lebensweise irgendwann auf die Füße fallen könnte, wird offenbar von vielen nicht wahrgenommen oder zumindest wird es verdrängt. Klimawandel, Dürre, Wassermangel, Hunger? In Afrika oder auf den Fidschiinseln, aber hier doch nicht! Irrtum! Die Erde, die Natur schlägt zurück, schon jetzt, nicht erst in hundert Jahren. Wir merken das anscheinend noch nicht, nehmen es nicht ernst oder verschließen einfach Augen und Ohren. Denn Politik, Wirtschaft und Medien verkünden uns unablässig: „Deutschland geht es gut!“. Sicher ist das Nachdenken über solche Themen unerquick-lich, handelnd Konsequenzen zu ziehen erst recht.52 Aber vielleicht sollte es uns in der Gegenwart Lebenden etwas wert sein, nicht irgendwann in gar nicht so ferner Zukunft von unseren Enkeln und Urenkeln verflucht zu werden.

Zeitgleich zu dem Revisionsverfahren vor dem OLG Naumburg haben CDU, CSU und SPD über die Bildung einer Regierungskoalition verhandelt und einen Koalitionsvertrag entworfen. In dem 177 Seiten umfassenden Text findet sich in Zeile 4026 auch eine Passage, die von Reaktionen auf die Freisprüche („Skandal!“) inspiriert worden sein könnte: „Wir wollen Einbrüche in Tierställe als Straftatbestand effektiv ahnden“. Danke, Frau Merkel, Herr Seehofer und Herr Schulz!

52 Nichts für schwache Nerven ist die Lektüre von Hutter/Goris, Die Erde

schlägt zurück – Wie der Klimawandel unser Leben verändert, 2009.