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Im Blickpunkt Massimo Introvigne, Turin Auf den Spuren des Satanismus I. Im Bereich der Sensations- hascherei Kein Bereich ist für den Fachmann der re- ligiösen Randzonen unzuverlässiger als der Satanismus; eine wenig bekannte Welt, aus der aber kleine und kleinste Nachrichten ein unmittelbares und oft krankhaftes Interesse erwecken. Es han- delt sich auf der einen Seite um eine Form von Interesse, aus dem nicht selten eine wenig zuverlässige journalistische Darbietung der Phänomene resultiert; auf der anderen Seite sieht sich der Spe- zialist manchmal veranlaßt, ein Thema zu vermeiden, das irgendwie als wenig respektabel und als verwirrend angese- hen wird. So entsteht die seltsame Situa- tion, daß die wissenschaftliche Literatur über den Teufel wächst, und es gleichzei- tig nur sehr wenige Untersuchungen über den Satanismus, ganz besonders über den zeitgenössischen Satanismus gibt, da viele Autoren es vorziehen, sich auf dem sicheren Terrain von Phänome- nen der Vergangenheit und der Literatur zu bewegen. Die Konferenz über den Teufel, die vom 17. bis 21. Oktober 1988 in Turin statt- fand und weite Aufmerksamkeit der Presse erweckt hat, hat dem zeitgenössi- schen Satanismus nur wenig Raum ge- widmet; das gilt für den größten Teil der im Umlauf befindlichen Untersuchungen über das Dämonische und über Dämo- nen, wo man vergeblich eingehende und genaue Informationen über das Phäno- men sucht, das uns hier beschäftigt. Die Bibliographie, die sich eigens mit dem zeitgenössischen Satanismus befaßt, ist äußerst spärlich, und sie konzentriert sich zu einem großen Teil auf die Verei- nigten Staaten. Manche sind vor allem an Verbrechen mit rituellem Hintergrund interessiert. Sie bewegen sich auf einem schwierigen und unwegsamen Gelände, indem sie Schriften von akzeptablem Niveau, was die Informationen betrifft, mit Hypothe- sen verbinden, über die man diskutieren müßte. Dies gilt besonders für das Buch von Larry Kahaner, »Cults That Kill. Pro- bing the Underworld of Occult Crime«, New York 1988, eine Sammlung von In- terviews mit Polizisten, Experten und auch einigen Satanisten. Es gibt darüber hinaus eine Art von Litera- tur, entstanden während der 60er und 70er Jahre in den Vereinigten Staaten, in der der Satanismus bei weitem über- schätzt wird. In Wirklichkeit scheint sich die Anzahl or- ganisierter Satan isten in den gesamten Vereinigten Staaten auf eine Zahl unter 2000 zu beschränken (und zum Zeit- punkt ihres größten Erfolgs haben sie 5000 nicht überschritten; vgl. J.G. Mel- ton, »Evidences of Satan in Contempo- rary America: A Survey«, Vortrag Los An- geles 1986; ders., »Encyclopedic Hand- book of Cults in America«, London / New York 1986, S. 76-79). Der öffentli- che Alarm in der Auseinandersetzung mit dem Satanismus, dem darüber hinaus Tausende Ritualverbrechen zugeschrie- ben wurden, wurde anfangs wahrschein- MATERIALDIENST DER EZW 6/92 161

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Im Blickpunkt Massimo Introvigne, Turin

Auf den Spuren des Satanismus

I. Im Bereich der Sensations-hascherei

Kein Bereich ist für den Fachmann der re-ligiösen Randzonen unzuverlässiger als der Satanismus; eine wenig bekannte Welt, aus der aber kleine und kleinste Nachrichten ein unmittelbares und oft krankhaftes Interesse erwecken. Es han-delt sich auf der einen Seite um eine Form von Interesse, aus dem nicht selten eine wenig zuverlässige journalistische Darbietung der Phänomene resultiert; auf der anderen Seite sieht sich der Spe-zialist manchmal veranlaßt, ein Thema zu vermeiden, das irgendwie als wenig respektabel und als verwirrend angese-hen wird. So entsteht die seltsame Situa-tion, daß die wissenschaftliche Literatur über den Teufel wächst, und es gleichzei-tig nur sehr wenige Untersuchungen über den Satanismus, ganz besonders über den zeitgenössischen Satanismus gibt, da viele Autoren es vorziehen, sich auf dem sicheren Terrain von Phänome-nen der Vergangenheit und der Literatur zu bewegen. Die Konferenz über den Teufel, die vom 17. bis 21 . Oktober 1988 in Turin statt-fand und weite Aufmerksamkeit der Presse erweckt hat, hat dem zeitgenössi-schen Satanismus nur wenig Raum ge-widmet; das gilt für den größten Teil der im Umlauf befindlichen Untersuchungen über das Dämonische und über Dämo-nen, wo man vergeblich eingehende und genaue Informationen über das Phäno-men sucht, das uns hier beschäftigt.

Die Bibliographie, die sich eigens mit dem zeitgenössischen Satanismus befaßt, ist äußerst spärlich, und sie konzentriert sich zu einem großen Teil auf die Verei-nigten Staaten. Manche sind vor allem an Verbrechen mit rituellem Hintergrund interessiert. Sie bewegen sich auf einem schwierigen und unwegsamen Gelände, indem sie Schriften von akzeptablem Niveau, was die Informationen betrifft, mit Hypothe-sen verbinden, über die man diskutieren müßte. Dies gilt besonders für das Buch von Larry Kahaner, »Cults That Kill. Pro-bing the Underworld of Occult Crime«, New York 1988, eine Sammlung von In-terviews mit Polizisten, Experten und auch einigen Satanisten. Es gibt darüber hinaus eine Art von Litera-tur, entstanden während der 60er und 70er Jahre in den Vereinigten Staaten, in der der Satanismus bei weitem über-schätzt wird. In Wirklichkeit scheint sich die Anzahl or-ganisierter Satan isten in den gesamten Vereinigten Staaten auf eine Zahl unter 2000 zu beschränken (und zum Zeit-punkt ihres größten Erfolgs haben sie 5000 nicht überschritten; vgl. J.G. Mel-ton, »Evidences of Satan in Contempo-rary America: A Survey«, Vortrag Los An-geles 1986; ders., »Encyclopedic Hand-book of Cults in America«, London / New York 1986, S. 76-79). Der öffentli-che Alarm in der Auseinandersetzung mit dem Satanismus, dem darüber hinaus Tausende Ritualverbrechen zugeschrie-ben wurden, wurde anfangs wahrschein-

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lieh von protestantischen fundamentali-stischen Kreisen verbreitet, heute jedoch wird er vor allem von der Antisektenbe-wegung laizistischen Ursprungs betont. Man macht den Satanismus zum Proto-typ eines gefährlichen Kults und tendiert bisweilen dahin, ihn mehr oder weniger fundiert den neuen Religionen zuzuzäh-len*. Es handelt sich alles in allem um eine wichtige Auseinandersetzung, und es lohnt deshalb die Mühe, einige Aspekte detailliert zu untersuchen.

* Wie wir anderswo zu zeigen versucht haben (vgl. M. Introvigne, »Le nuove religione«, S. 19-24), muß man die gegenwärtige Antisektenbewegung unterscheiden von einer Kritik an der Neuen Reli-giosität aus religiöser Sicht. Beide werden oft mit-einander verwechselt, doch tatsächlich ist der An-satz von beiden vollständig verschieden. Während eine Kritik aus religiöser Sicht die Abweichungen der Sekten und Kulte nach Wahrheits- und Wertkri-terien vornimmt, greift die Antisektenbewegung im Gegenteil jede Äußerung von Religiosität als sektiererisch an, die den Besitz der Wahrheit und von Werten für sich reklamiert. Für die zweite (lai-zistische) Kritik an Sekten und Kulten ist der An-griff auf bestimmte Abweichungen (zweifellos zu-weilen tatsächlich vorhandene) oft bloßer Vor-wand für den Ruf nach Ad-hoc-Gesetzen gegen alle Form von Religiosität, die als extrem „stark" und als mit der modernen Welt nicht vereinbar an-gesehen werden, mögen sie im Umkreis der Mehr-heits- oder der Minderheitsreligionen angesiedelt sein. Dieser Differenz begegnet man auch beim Sa-tanismus: Während der bekannteste Vertreter der gegenwärtigen italienischen Antisektenbewegung in äußerst scharfen Worten die Satanisten angreift, dabei häufig Material des amerikanischen Anti-Cult-Movement verwendet (sowie Material der auf Ritualverbrechen spezialisierten Polizei - vgl. Mi-chel C. Del Re, »Prevenzione e repressione del sa-tanismo criminoso«, in: »Rivista di Polizia«, Au-gust/September 1989, S. 581-597), lädt er gleich-zeitig dazu ein, dies nicht zu verwechseln „mit dem Titanismus eines Faust, der versucht, wenn man so sagen darf, das Feuer der Unsterblichkeit den Kräften der Natur aufzuzwingen und der vor dem alten Dilemma - die Macht Gottes anzurufen oder sich durch die Versuchung Satans davon los-zureißen - die ,via regia' der Herausforderung des Allmächtigen wählt" (ders., »Nuovi idoli, Nuovi dei«, Rom 1988, S. 169).

Eine Vermutung, die den Anfängen der 80er Jahre entstammt, bezieht sich auf wiederholte Funde von Gerippen ver-stümmelter Haustiere oder wilder Tiere in verschiedenen Gegenden der Vereinig-ten Staaten; diese erinnerten an Opfer während satanistischer Riten. Die Anzahl der Berichte dieser Art war so groß, daß sie, falls bestätigt, die These bekräftigt hät-ten, nach der die Satanisten weit zahlrei-cher sind, als man gemeinhin glaubt. Es besteht kein Zweifel, daß es sich in eini-gen Fällen tatsächlich um Ritualopfer handelte, weil man z. B. auf den Kada-vern typische Symbole des Satanskultes fand, eingeschnitten oder mit Farbspray bemalt. Aber sorgfältige Untersuchungen von Fachleuten haben bewiesen, daß diese Fälle eine Minderheit darstellen. Es ist gut möglich, daß der Fund geopferter Tiere z. T. auch davon Zeugnis ablegt, daß an einem bestimmten Ort weniger sa-tanistische Riten stattgefunden haben, als vielmehr afroamerikanische Riten vom Typ der kubanischen Santeria oder des Voodoo aus Haiti. Obwohl in jüngster Zeit Fälle von Synkre-tismus zwischen diesen Kulten und dem Satanismus aufgetaucht sind, so verehrt man doch in den afroamerikanischen Kul-ten - zuweilen mit Tieropfern - Geister, an die man sich gemeinsam wie an Hei-lige katholischen Ursprungs oder wie an Orixas afrikanischen Ursprungs wendet. Es handelt sich dabei aber keineswegs um Teufelsanbetung. Die Verwirrung ist verständlich, aber nicht alle Gruppen, die Tiere opfern, sind satanistisch, und nicht alle satanistischen Gruppen opfern Tiere. Eine weitere Auseinandersetzung, die sich mehr und mehr in der Literatur nie-derschlägt, befaßt sich mit dem sog. Back-ward-Masking auf Platten und Kassetten von Sängern und Rockgruppen, sowohl bei bekannten Anhängern von Formen

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des Okkultismus und des Satanismus wie »AC/DC« und »Ozzy Osbourne«, als auch bei Gruppen verschiedener Her-kunft wie »Led Zeppelin« Der kürzlich verschwundene (verstorbene?) kanadi-sche Priester J.-P. Regimbal und eine Reihe protestantischer Prediger haben ge-gen Ende der 70er Jahre die Behauptung aufgestellt, daß Platten und Kassetten die-ser Musiker, wenn man sie mit besonde-ren Geräten rückwärts spielt, Botschaften offenbaren, wie: »Ich muß leben für Sa-tan«, »Satan ist Gott« u. ä. Während man in einigen Fällen einer gewissen Phanta-sie bedarf, um die Botschaften zu entzif-fern, sind in anderen Fällen die satanisti-schen Bezüge ausreichend deutlich, und in amerikanischen Staaten wie Arkansas sind Gesetze verabschiedet worden, die die Hersteller verpflichten, auf dem Co-ver evtl. Botschaften dieser Art anzuzei-gen. In der Tat scheint das Phänomen, wenn es sich auch nur um einige wenige Fälle handelt, nicht insgesamt der Phanta-sie entsprungen, aber seine Interpretation bleibt kontrovers. Einerseits halten die Ankläger des Back-ward-Masking daran fest, daß es sich um einen Versuch geistiger Kontrolle jugend-licher Konsumenten der Rockmusik handle, so daß deren Geist nach häufi-gem Anhören desselben Stücks fähig wäre, die umgedrehte Botschaft wahrzu-nehmen. Andererseits schließen Speziali-sten aus, daß der menschliche Geist, ob bewußt oder unbewußt, fähig wäre, die umgedrehte Botschaft wahrzunehmen. Damit fällt die Hypothese einer verborge-nen und massenhaften Gehirnwäsche. Weil es aber die umgedrehten Botschaf-ten in einigen Fällen wirklich zu geben scheint, bleibt die Frage nach ihrer Be-deutung. Es kann sich um seine Unterschrift oder um eine Art Zauberformel oder satanisti-sche Beschwörung der Sänger handeln,

die tatsächlich der Welt des Okkulten ver-bunden sind - vielleicht um den Verkauf einer größeren Anzahl von Platten zu be-günstigen. Da einer der Fälle /immy Page von »Led Zeppelin« betrifft, der ein be-kannter Fan von Crowley ist, mag man sich fragen, ob man nicht vor einem Ri-tual und zugleich einem Scherz steht, und zwar ganz nach Art Crowleys. Schließlich sehen viele seit Jahren nicht die Notwendigkeit solcher umgedrehten Botschaften, weil explizit satanistische Themen, sogar Aufforderungen zum Men-schenopfer und zum Selbstmord, in voll-kommen offener Form in Stücken von »AC/DC«, »Ozzy Osbourne« und ande-ren enthalten sind. Obwohl es nicht an solchen fehlt, die behaupten, daß diese Botschaften unschädlich sind, hat in den Vereinigten Staaten der Prozeß gegen »Ozzy Osbourne« und die Plattenfirma »CPS« viel Aufsehen erregt, der von den Eltern eines Jungen angestrengt worden ist, der Selbstmord begangen hatte. Da-bei handelte es sich um John McCollum aus Indio, Kalifornien, der die Aufforde-rungen des Sängers zum satanistischen Selbstmord wörtlich genommen hatte. Der „Jäger in der Nacht" aus Los Ange-les, Richard Ramiriz, ein alleinlebender Satanist, der für eine Reihe von Morden verurteilt worden ist, hat angegeben, durch das Musikstück »Night Prowler« von »AC/DC« inspiriert worden zu sein. Es scheint also, daß die Gefahren mehr aus den expliziten und unmittelbar ver-ständlichen Botschaften resultieren -wenn überhaupt - als aus dem Problem des Backward-Masking. Die Auseinandersetzungen über die Ver-stümmelung von Tieren oder über Rock-musik scheinen aber noch geringfügig zu sein, wenn man sie mit der heftigen Aus-einandersetzung über sexuelle Belästi-gungen und über Ritualopfer von Kin-dern vergleicht. Sie begann mit der Veröf-

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fentlichung des Buches »Michelle Re-nnern bers« des Psychiaters Lawrence Pazder und seiner Patientin Michelle Smith (New York 1980). Im Buch erzählt Michelle viele Jahre nach den Gescheh-nissen ihrem Psychiater über eine Kind-heit in Vancouver, in der ihre Mutter sie gezwungen habe, an satanistischen Kul-ten teilzunehmen, wobei sie in einen Sarg gelegt oder in einen Käfig einge-schlossen wurde, der voller Schlangen war; währenddessen warteten die Teil-nehmer des Kultes darauf, sie zu verlet-zen, opferten und aßen Neugeborene. Obwohl es von alldem keinen Beweis gibt, bekräftigt Pazder, daß er seiner Pa-tientin glaube. Nach der Veröffentlichung von »Mi-chelle Remembers« kamen weitere Frauen und erzählten ihre weit zurücklie-genden Geschichten. Die beeindruckend-ste unter ihnen ist die erst kürzlich in Vir-ginia aufgetauchte von Cassandra Hoyer, genannt Sam. Sie habe als Kind in einem Waisenhaus an satanistischen Riten teil-genommen und sei über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren wiederholt von den Mitgliedern derselben satanistischen Organisation, die noch existiere, geraubt und gezwungen worden, an Riten teilzu-nehmen, bei denen wenigstens zwei Menschenopfer stattgefunden hätten. In einem Fall sei eine Frau an ein Kreuz ge-bunden und dann ins Feuer geworfen worden (Lisa Antonelle, »Satan's Victim: One Woman's Ordeal«, in: »Style Week-ly«, 19.1.1988, S. 39-43) . Auch in die-sem Fall war es die psychiatrische Ärztin, Kathy Snowden, die Sam überredet hatte zu sprechen. Trotzdem ist bis zum gegen-wärtigen Zeitpunkt noch niemand wegen dieser Enthüllungen inhaftiert worden. Nicht nur Erwachsene sprechen, auch Kinder, und es ist noch schwieriger, de-ren Zeugnisse zu verifizieren. Dank der Bemühungen von Detektiven, die sich

auf den Kampf gegen Ritualverbrechen spezialisiert haben, sind gut zwanzig Fälle sexueller Belästigung von Kindern vor amerikanische Gerichte gebracht worden. Es beeindruckt die Tatsache -aus der man allerdings unterschiedliche Schlüsse zieht - , daß über eine Entfer-nung von mehreren hundert Kilometern die Kinder fast immer dieselbe Ge-schichte wiederholen: Irgendjemand, häufig ein Mitglied ihrer Familie, habe sie gezwungen, an satanistischen Riten teilzunehmen (fast immer mit Menschen-opfern von Frauen und Neugeborenen), in deren Verlauf sie sexuell belästigt wur-den. Die Beschreibungen der Riten - A n -rufungen, Kerzen, Paramente - sind sich immer sehr ähnlich. Für Polizisten und für einige Psychiater, die die Kinder unter-sucht haben, bestätigen die übereinstim-menden Zeugnisse deren Wahrheitsge-halt. Für andere beweist dies genau das Gegenteil: Die tatsächlichen satanisti-schen Riten sind in Wirklichkeit vonein-ander sehr verschieden. Es sei leichter zu glauben, daß Kinder die gleichen Phan-tasien haben, womöglich durch die auf Ritualverbrechen spezialisierten Poli-zisten. Es ist schwierig im amerikanischen Straf-prozeß Verurteilungen auf der Grundlage von Zeugenaussagen von Kindern zu er-reichen. Oft ist es möglicherweise das Problem von Pädophilie und nicht das Problem von Satanismus. Es ist schwierig, sichere Schlüsse aus dem ganzen Geschehen zu ziehen. Die Richter, Ärzte, Psychiater und auch die Spezialisten des Satanismus befinden sich in einem Dilemma: Immer den Aus-sagen von - oft sehr kleinen - Kindern glauben zu müssen, ergibt das Risiko, Schlagzeilenmonster zu schaffen und un-schuldige Erwachsene auf der Basis blo-ßer Phantasien zu ruinieren. Auf der an-deren Seite anzunehmen, es handle sich

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in jedem Fall um Phantasien von Kin-dern, führt zur entgegengesetzten Ge-fahr, daß die Verantwortlichen für so schreckliche Verbrechen ihre Aktivitäten fortsetzen. Das, was die verschiedenen „Michelles" ihren Psychiatern erzählt ha-ben, ist schließlich noch zweifelhafter, denn es handelt sich um Begebenheiten, bei denen niemals Beweise aufgetaucht sind und wo sich während der Therapie in typischer Weise Phantasie und Wirk-lichkeit vermischen. Gerichte und Poli-zei bemühen sich, in den jeweils einzel-nen Fällen Beweise und unabhängige Be-kräftigungen zu finden, die eine Entschei-dung gestatten, die nicht allein auf dem Zeugnis von Kindern gründet. Derjenige, der sich wissenschaftlich mit dem Gegen-stand befaßt, kann sich lediglich darauf beschränken, festzustellen, daß Riten mit sexuellem Mißbrauch von Kindern und satanistische Menschenopfer zwar bei ei-nem bestimmten Typ von Satanisten vor-kommen - dies geht aus einigen Gerichts-verfahren hervor - , daß aber im Gegen-satz zu dem, was man darüber liest, das erstere bloß selten vorkommt, das zweite sogar ganz selten ist. Auch nur wenige Fälle rechtfertigen eine aufmerksame Wachsamkeit gegenüber den satanisti-schen Gruppen. Was hingegen die Exi-stenz eines gesamten Netzwerks gehei-mer satanistischer Gesellschaften betrifft, ist eine nüchterne und besonnene Hal-tung bei jeder Form genereller Schlußfol-gerung vonnöten, die sich auf Erzählun-gen von Kindern bezieht.

Was kein Satanismus ist

Es bleibt schwierig, den Satanismus zu definieren. Aber es ist ein guter Ausgangs-punkt, zu versuchen, ihn von den Phäno-menen zu unterscheiden, mit denen er häufig vermischt wird, wie Wicca-Kult,

Ritualmagie und auch andere Formen von Initiationsmagie. Die Formen von Initiationsmagie, die bis-weilen als Satanismus bezeichnet wer-den, sind diejenigen, die auf der einen Seite Geister anrufen, auf der anderen Seite sich mit Sexualmagie befassen. Man muß hier unterscheiden zwischen der Beschreibung des Phänomens und seiner Interpretation, zumal einer theolo-gischen Interpretation durch katholische Experten. Bei Geschehnissen, in denen sich Geister offenbaren, deren Gegen-wart nicht leicht auf natürliche Ursachen oder bloßen Betrug zurückgeführt wer-den kann, kann sich der Theologe einer dämonologischen Interpretation annä-hern. Er kann auch annehmen, daß die Er-scheinung in Wirklichkeit der Geist des Bösen ist - eine Interpretation, die man in katholischen oder protestantischen Kreisen auch mit Blick auf den Spiritis-mus findet. Auch ein Sexualritual, bei dem Formen der Perversion stattfinden oder man Pakte mit Wesenheiten schließt, die angerufen werden, sich auf der Erde zu inkarnieren, kann durch den christlichen Theologen leicht als diabo-lisch definiert werden, der sich fragen mag, ob derjenige, der teilnimmt, nicht durch die Einflüsterung böser Geister an-geregt wird. Spekulationen dieser Art, in ihrem eigenen Umfeld völlig legitim, blei-ben außerhalb einer Phänomonologie der neuen Religiosität, die als Satanismus einzig und allein jenes Phänomen be-zeichnen darf, in dem man die Person verehrt, die die Bibel Satan oder Teufel nennt Andernfalls würde das Etikett Sata-nismus den gesamten Bereich unter-schiedlicher Phänomene abdecken, wo auf der einen Seite geheimnisvolle We-senheiten erscheinen, wo man auf der an-deren Seite Bosheit und Perversion fin-det. Unter diesem Gesichtspunkt reicht auch das Menschenopfer, das man mit

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guten Gründen als diabolisch bezeich-nen kann, allein nicht aus, etwas als sata-nistisch im technischen Sinn zu bezeich-nen (und im übrigen findet man das Men-schenopfer in alten Religionen völlig ver-schiedenen Charakters). Dieser Punkt ist nicht unwichtig für die Unterscheidung zwischen Satanismus und Ritualmagie, wenn man daran denkt, daß das A. Crowley geoffenbarte »Liber AI vel Legis« (III, 12-13) ausdrück-lich fordert: „Opfert Tiere, kleine und große und danach ein Kind." Aber es fügt sofort hinzu: „aber nicht jetzt", und die heutigen Anhänger von Crowley würden sicherlich nicht zögern, diesem Passus die Bedeutung eines bloß symbolischen Verständnisses zu geben. In der Welt der Ritualmagie von heute ist Crowley derje-nige, der hauptsächlich des Satanismus bezichtigt wird: Einige seiner Anhänger verherrlichen Satan. Viele seiner Rituale werden von satanischen Gruppen wieder-holt; Bischofsweihen und Priesterweihen in seiner gnostischen Kirche werden von Leuten vollzogen, die Schwarze Messen feiern; schließlich ist er der Autor einer bekannten Hymne an Luzifer. Man kann sagen, daß viele Riten des zeitgenössi-schen Satanismus ohne den Einfluß von Crowley anders wären. Gleichzeitig kann man Crowley nicht im eigentlichen Sinn als Satanisten ansehen, weil die ok-kulten Kräfte, die er erwecken wi l l , nicht mit dem Teufel der Bibel identifiziert wer-den, von dem er schlicht und einfach fest-stellt, er existiere nicht (Aleister Crowley, »Magic in Theory and Practice«, New York 1973, S. 86). Die Hymne an Luzifer widerspricht genau gesehen dieser Fest-stellung nicht, sondern ist einfach eine Reklamation des Wertes des Todes, des Leidens und des Schmerzes, alles Dinge, die Luzifer in den „schwachsinnigen Um-kreis von Eden" hineingebracht habe und ohne die das Leben eine Maschine ohne

Sünde sei, steril und ohne Sinn. Dadurch wurde das Eintreten des Bösen und des Schmerzes in die Welt durch den Unge-horsam von Adam und Eva, herbeige-führt durch Luzifer, in Wirklichkeit zum Segen: „Der Schlüssel zur Freude ist der Ungehorsam" (Aleister Crowley, »Hymn to Lucifer«, in: »The Equinox«, Bd. III, 10 [März 1986], S. 252). Diese Feier ist aber möglich, ohne die mythische Natur Edens zu leugnen. Das, was Crowley wirklich feiern wi l l , ist der Ungehorsam und die daraus folgende Möglichkeit des Bösen, das, in Begriffen typisch für Crowley, weniger „langweilig" macht. Carducci und Baudelaire, die satanisti-sche Hymnen derselben Art geschrieben haben, können ihrerseits nicht im techni-schen Sinn unter die Satanisten gerech-net werden. Allgemeiner gesagt besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwi-schen Ritualmagie und Satanismus. Wäh-rend der Satanist im eigentlichen Sinn die Mächte des Bösen anbetet und er-klärt, ihnen zu dienen, wil l der Ritualma-gier sich ihrer bedienen, um weltliche Macht zu erlangen. Noch weniger exakt ist, den Satanismus mit dem Wicca-Kult zu vergleichen. Auch hier gibt es gemeinsame Rituale (Crowley hat sowohl die Satanisten als auch Gardener beeinflußt), aber die Inter-pretation ist vollständig unterschiedlich. Es stimmt, daß man im Wicca-Kult bis-weilen vom „gehörnten Gott" (Horned God) spricht, welcher in der Anthropolo-gie des Neuhexentums - u. U. neben der Göttin und polytheistisch verstanden -der Gott der Hexen ist. Tatsächlich ist aber der „gehörnte Gott" des Wicca-Kults nicht wirklich der Teufel, sondern ein vorchristliches Symbol der Fruchtbar-keit. Ein Autor aus dem Umfeld des Wicca-Kults, Isaac Bonewits, hat eine häufig zitierte Typologie vorgeschlagen, die auf der Unterscheidung zwischen

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klassischen Hexen (die an praktischen Re-sultaten mit Pflanzen, Tierhufen und ähn-lichem interessiert waren, ohne beson-dere Ansprüche in der Lehre), gotischen und neugotischen Hexen (diese hätten die Literatur der christlichen Inquisition ernstgenommen und sich vorgenommen, wirklich zu praktizieren, was ursprüng-lich pure kirchliche Fiktion war, erfun-den von der Inquisition) und neuheidni-schen Hexen (von Gardener herkom-mend) beruht. Allein die neuheidnischen Hexen gehören zum Wicca-Kult, wäh-rend der Satanismus zum neugotischen Umfeld gehören würde. Alle Anhänger des Wicca-Kults sind der Meinung, daß der Satanismus schon an seinem Aus-gangspunkt den Respekt vor seinem christlichen Gegner verloren habe, von dem er Mythen und Weltsicht übernom-men habe, indem er einfach das Vorzei-chen verändert habe. Man kann sagen, daß er das Gegenstück zum Christentum sein wollte. Der Unterschied also dürfte klar sein, auch wenn ein führender Sata-nist wie LaVey die Unterscheidung der Anhänger des Wicca-Kults verspottet hat, indem er behauptete, daß im Gegenteil das Neuhexentum die Konfrontation mit dem Christentum preisgebe, weil es die Rehabilitation des Satans ablehne, der ja derjenige sei, den die Christen am meisten fürchten (Anton Szandor LaVey, »The Satanic Rituals«, New York 1972, S. 12-13). Auf der anderen Seite leiden die Anhänger des Wicca-Kults unter dem Verdacht, der ihre Riten umgibt. Häufig werden sie in der öffentlichen Meinung, von der Presse und auch von der Polizei dem aggressiven und gefährlichen Sata-nismus gleichgestellt. So schlug jemand einen Ehrenkodex für die Gruppen des Neuhexentums vor. Dieser sollte jede un-erlaubte oder von geringem Respekt ge-genüber Leben und Natur getragene Akti-vität ausschließen, besonders Tieropfer

und Sexualität mit Minderjährigen, ein Vorschlag freilich, der zu weiteren Dis-kussionen geführt hat (vgl. »Green Egg«, Bd. XXI, n.83, S. 8-13).

Ansätze zur Typologie

Die Typologie von Marcello Truzzi kennt elf Arten von Satanisten innerhalb zweier großer Kategorien, den unabhängigen oder für sich lebenden Satanisten und de-nen, die irgendwelchen Gruppen verbun-den sind. Bei den unabhängigen Satani-sten unterscheidet Truzzi drei Typen: a) Traditionelle Satanisten, denen man sich anschließt (wie bei den klassischen Hexen und indem man alte Bräuche prak-tiziert), um Kenntnisse in schwarzer Ma-gie gegen die eigenen Feinde zu erhal-ten. Nach Truzzi ist es gleichwohl un-wahrscheinlich, daß diese Menschen wirklich Dämonenanbeter sind. Viel häu-figer nehmen sie dämonistische Ange-wohnheiten an, um besser ihre Kund-schaft hinters Licht zu führen, und sie praktizieren schlicht Formen zeremoniel-ler Magie, des Spiritismus oder Kultfor-men, die durch afroamerikanische Riten inspiriert sind, besonders durch den Voo-doo-Kult aus Haiti, der eine bemerkens-werte Anhängerschaft in Amerika hat. b) Acid-Satanisten aus der Drogenkultur. Es handelt sich meist um Drogenabhän-gige mit irgendwelchen okkulten Kennt-nissen, die angeben, auf ihren „Reisen" Dämonen begegnet zu sein und diese an-rufen. c) Psychotische Satanisten, im eigentli-chen Sinn Fälle für die Psychiatrie, die gleichwohl weniger häufig unter den für sich lebenden Satanisten anzutreffen sind, als man annimmt, weil auch der psychotische Satanist normalerweise mit Leichtigkeit Personen findet, denen er sich anschließen kann, wenn er es wi l l . Bei den Satanisten, die zu Gruppen gehö-

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ren, führt Truzzi noch eine weitere Unter-scheidung ein zwischen reinen bzw. ste-reotypen Satanisten, die ein Wesen anbe-ten, dessen charakteristische Züge sie ins-gesamt dem Satan der Bibel entnehmen, und nicht-stereotypen Satan isten, die eine Person anbeten, die sie Satan nen-nen, wobei sie aber die biblische Theo-logie verändern. Bei den stereotypen Sa-tanisten unterscheidet Truzzi vier Grup-pen. Die Typologie von Truzzi ist nicht die ein-zige, und sie kann ergänzt oder verein-facht werden, indem man vor allem zwi-schen soziologischen und doktrinären Aspekten unterscheidet. Aus soziologi-scher Sicht gibt es einen breiten Kon-sens über die Unterscheidung zwischen „allein lebenden'' Satanisten, kleinen „wilden" Gruppen und Organisationen, die auf nationaler Ebene organisiert sind, oder sogar international, wie die Satans-kirche oder der Tempel Sets. Naturgemäß ist es leichter, organisierte Gruppen er-wähnenswerten Umfangs zu beobach-ten, als „wi lde" Gruppen und isolierte Sa-tanisten, die sich im allgemeinen nur dann offenbaren, wenn sie in Zeitungen auftauchen. Quer zur soziologischen Unterscheidung kann eine Typologie der Lehren, die sich auf die kulturellen und symbolischen Ty-pen bezieht, vier hauptsächliche Grup-pen unterscheiden: a) „Rationalistischer" Satanismus. Satan ist vor allem Symbol einer antichristli-chen, hedonistischen und antimorali-schen Weltsicht. b) „Okkultistischer" Satanismus. Man ak-zeptiert grundsätzlich Welt- und Ge-schichtsverständnis der Bibel, reiht sich jedoch auf der anderen Seite ein und übergibt sich dem Dienst des Teufels. c) „Add"-Satanismus. Es handelt sich um sadistische, orgiastische und drogen-konsumierende Gruppen; der Satanis-

mus besteht in Gewaltakten, Orgien und Drogenpartys oder, so andere Fachleute, ist Vorwand dafür. d) „Luciferismus" Es handelt sich um manichäisch oder gnostisch orientierten Satanismus; er überträgt theologische Ent-würfe und Mythen und Riten, wo Satan oder Luzifer Objekt der Verehrung im Zu-sammenhang von Kosmogonien ist, die daraus einen guten oder zumindest not-wendigen Aspekt des Heiligen oder Gött-lichen gewinnen. Bevor man entsprechend dieser Typolo-gie einige satanistische Gruppen unter-sucht, muß man betonen, daß der heu-tige Satanismus ein typisch modernes Phänomen ist. Außer mythischen oder symbolischen Beziehungen hat er keine Verbindung mit Formen des Satanskults, die möglicherweise im Mittelalter im Um-feld von Häresien und später des Hexen-wesens bestanden haben und die es mit Sicherheit im 17. Jahrhundert gegeben hat - etwa die Schwarzen Messen des Abbe Guibourg, die dazu bestimmt wa-ren, Madame de Montespan die Liebe Ludwigs XIV. wiederzugewinnen. Der gegenwärtige Satanismus entstand größtenteils in den 60er Jahren in Kalifor-nien im Umfeld der Gegenkultur unter dem Einfluß der Lehren Crowleys, und zwar in ihrer mehr luziferianischen und rebellischen Version, wie sie u. a. vom Underground-Regisseur Kenneth Anger repräsentiert werden. Hier entstand die Bewegung des LaVey, die »Kirche des Sa-tans«, während gleichzeitig die ersten Gruppen des Acid-Satanismus sich ent-wickelten, die sehr schnell die Texte von LaVey benutzten, jedoch in einem unter-schiedlichen Kontext. Das Echo der Sa-tanskirche, von Kalifornien nach Europa herübergekommen, traf auf ein vorhan-denes Interesse für schwarzen Okkultis-mus und satanistische Einstellungen ganz verschiedener Art: Die kalifornischen

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Riten wurden von einigen Gruppen über-nommen, andere scheinen Wiedergebur-ten des französischen Satanismus des 19. Jahrhunderts zu sein. Der Luziferianis-mus im eigentlichen Sinn schließt sich z.T. an unterschiedliche Vorläufer an, die ursprünglichen Verbindungen mit der Psychoanalyse entstammen; aber auch eine Gruppe typisch europäischen Ur-sprungs, wie »The Process«, fand ihre endgültige Form im kalifornischen Schmelztigel der 70er Jahre. Gleichwohl ist festzustellen, daß der Er-folg des Satanismus vornehmlich in Län-dern wie Italien nicht ohne die Tradition des Okkultismus und von Initiationsriten zu erklären ist, die wir in den vorherge-henden Teilen unserer Untersuchung be-schrieben haben. Ferner ist festzustellen, daß das allge-meine Erscheinungsbild und die Rituale der satan istischen Gruppen nicht einer Wurzel entstammen (wie häufig bei den magischen Bewegungen der Fall), son-dern einer Bricolage, die ihren Ausgang nimmt bei der Untersuchung von Texten Schwarzer Messen aus dem 17. und 18. Jahrhundert (man findet sie im allge-meinen in Wiederveröffentlichungen des 19. Jahrhunderts), die dann übergeht zu Gruppen aus dem Bereich der Freimau-rer, zuweilen befaßt mit antiklerikalen Parodien, und schließlich bei Crowley landet (dem das Ritual der heutigen Sata-nisten am meisten verdankt). Man darf da-bei nicht Musik und Literatur vergessen, weil häufig „satanistische Texte" des deut-schen Expressionismus und von Baude-laire verwendet worden sind, und LaVey gibt selbst zu erkennen, daß er die Hym-nen an Satan von Carducci kennt, und er zitiert sie (a.a.O., S. 77). Ohne ein weiteres, magisch-okkultistisch und im besonderen Maß von Crowley be-einflußtes Hinterland wäre der zeitgenös-sische Satanismus nicht entstanden und

hätte sich nicht verbreitet; dem wider-spricht nicht, daß der Satanismus - inner-halb der weiteren Kategorie magischer Bewegungen - etwas Eigenes darstellt und einen qualitativen Sprung in bezug auf Gruppen anderen Typs beinhaltet.

II. Der rationalistische Satanismus

Der rationalistische Satanismus hat in un-serem Jahrhundert Rituale begründet, die von fast allen anderen Gruppen verwen-det worden sind. Unter doktrinären Ge-sichtspunkten verehrt der rationalistische Satanismus Satan (es handelt sich in der Tat um die Person dieses Namens in der Bibel) nicht als lebende oder wirkliche Person, sondern als Symbol der Über-schreitung der Vernunft, all dessen, was religiöser Aberglaube und Obskurantis-mus und jüdisch-christliche Moral verbo-ten haben. In solch einem Kontext wird Satan weithin symbolisch verstanden, und der Satanismus wird zu einer tenden-ziell atheistischen Religion, die sich mit dem Kult der Vernunft, der Natur und des Lebens identifiziert. Gleichwohl werden alle typischen Riten, Symbole und Prakti-ken des Satanismus auch in rationalisti-schen Gruppen verwendet: Hymnen an Satan, Schwarze Messen, Profanierung christlicher Symbole usw. Aber dies hat alles die Funktion, den An-hänger des Satanskultes über eine Reihe starker Emotionen von der eigenen reli-giösen und moralischen Bindung ans Christentum zu befreien. Ein Kreuz zu zerbrechen oder eine in einer katholi-schen Messe konsekrierte Hostie zu zer-treten, ist ein Gestus, der eine traumati-sche Reaktion zu verursachen scheint, welche für immer die Verbindung zwi-schen Gläubigen und jüdisch-christli-chem Erbe zerbrechen soll, das mit sei-nen Dogmen und Verboten daran hin-

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dert, voll die Freuden des Lebens zu ge-nießen. Theoretisch ist die Unterscheidung zwi-schen dieser und anderen Formen des Sa-tanismus eindeutig. Wie immer, werden in der Praxis die Unterschiede verwischt, weil in derselben satanistischen Gruppe einige mit Satan nur ein Symbol verbin-den, andere eine mehr oder minder wirk-liche Wesenheit; und der Begriff Symbol selbst ist in einem Umfeld, das in wach-sendem Maße von der Archetypen-Lehre C. G. Jungs beeinflußt ist, nicht ohne Zweideutigkeit. Und so kommt es, daß die Unterscheidung zwischen rationalisti-schem und okkultistischem Satanismus vielleicht für die Leiter der verschiede-nen Gruppen klar ist, aber in der Praxis schnell verlorengeht. Dies zeigt die Ent-wicklung der größten satanistischen Or-ganisation unserer Zeit, der kaliforni-schen Satanskirche. Sie steht am Ur-sprung des größten Teils des zeitgenössi-schen Satanismus, und als sie sich in zahl-lose Schismen aufteilte, hat sich gezeigt, daß der größte Teil ihrer Anhänger den Gründer LaVey - Rationalist - verlassen und sich entschieden okkultistisch orien-tiert hat. Weiter ist es unmöglich, eine Unterscheidung zwischen Bewegungen oder Strömungen im Inneren derselben Gruppen festzulegen, weil es häufig eine oszillierende Tendenz zwischen Rationa-lismus und Okkultismus gibt, zwischen Satan als Symbol und Satan als lebendige und wirkliche Gegenwart in Leben und Entwicklung derselben Personen. Der crowleyanische Hintergrund einiger Per-sonen, die man am Ursprung der Bewe-gung findet, spielt eine besondere Rolle bei diesen Entwicklungen, weil Crowley, skeptisch in bezug auf die Existenz Sa-tans und deshalb kein Satanist, nicht durchgängig ein Rationalist war; er war fest von der Existenz okkulter Hierar-chien und höherer Mächte überzeugt.

Satanismus als Spiel

Entferntere Vorläufer des gegenwärtigen rationalistischen Satanismus - ohne di-rekte Kontinuität - kann man in den For-men des „Satanismus als Spiel", prakti-ziert in aufklärerischen und libertinisti-schen Kreisen des 18. Jahrhunderts, wie-derfinden. Hier praktizierte man (bzw. diese Kreise wurden solcher Praxis ange-klagt) Schwarze Messen und blasphemi-sche Riten. In französischen Kreisen wollte man mit Satan Kontakt aufnehmen und so Vorteile erlangen. Bei den engli-schen Aufklärern handelte es sich um ei-nen Ausdruck ihrer Rebellion gegen die herrschende Religion und die beste-hende Ordnung durch eine blasphemi-sche Parodie christlicher Riten. Hier muß man einen Blick werfen auf die Anklage des Satanismus, die von Zeit zu Zeit gegen Organisationen und Bruder-schaften vorgebracht wird, die mehr oder weniger geheim sind und die Studenten und Ex-Studenten einiger amerikanischer und englischer Elite-Universitäten verbin-den; bisweilen können auch Dritte Mit-glieder werden. Im allgemeinen handelt es sich um Organisationen, die nicht be-sonderer Aufmerksamkeit wert sind; sie imitieren oder adaptieren im studenti-schen Umfeld typische Vorbilder angel-sächsischer Freimaurerei. Ein besonderer Fall ist gleichwohl der »Order of Skull and Bones« (Orden des Totenkopfs und der Gebeine), der möglicherweise auf-grund seines Namens und wegen sei-nes eher makabren Symbolismus vom 19. Jahrhundert bis heute satanistischer Praktiken beschuldigt wird. Es handelt sich um eine angesehene Organisation, häufig einfach „The Order" genannt, die einige ehemalige Studenten und Dozen-ten der Yale-Universität verbindet und zu der bisweilen auch Dritte eingeladen wer-den. Die Anklagen auf Satanismus - wie-

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derholt in der zeitgenössischen Literatur - resultieren aus dem Gebrauch mensch-licher Gebeine, makabrer und sich um den Tod drehender Rituale, ferner von einigen Symbolen, die man tatsächlich auch in gewissen Formen des zeitgenössi-schen Satanismus findet. Die Frage der Beurteilung - in Verbindung mit der an-deren, die sich auf den Einfluß des Or-dens auf die zeitgenössische amerikani-sche Politik bezieht - ist von nicht gerin-gerem Gewicht, weil es sich um eine Or-ganisation handelt, der Personen, wie der Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush, und der Außenminister George Shultz angehören oder angehört haben. Eine Anklage aus jüngerer Zeit, die ihr Echo in der amerikanischen Presse fand, hat die Nachkommen des In-dianerhäuptlings Hieronimus einbezo-gen. Sie wollen den Totenkopf ihres Ah-nen zurückhaben, der - so sagen sie - i l -legal im Tempel des »Order of Skull and Bones« in Yale aufgestellt worden sei, und zwar vor einigen Jahren durch den Senator Prescott Bush, den Vater des ge-genwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten (vgl. »The New Haven Advo-cate«, 19.10. 1989). Es versteht sich des-halb, daß der Orden des Totenkopfs und der Gebeine die Politik bestimmt hat und daß schließlich Humoristen und Kartoni-sten wie Gary Trudau auf die Szene getre-ten sind, der den Aktivitäten von Präsi-dent Bush im Orden 1989 eine ganze Reihe seiner populären Doonesbory-Co-mics gewidmet hat. Hier - ganz abgese-hen von der legitimen Satire von Humori-sten - scheint es ganz offensichtlich ab-surd zu sein, von Satanismus im techni-schen Sinn zu sprechen; aber es ist nicht ohne Interesse, festzustellen, daß die Ri-tuale des Ordens vom Totenschädel und den Gebeinen mit ihrem makabren, ver-letzenden (transgressiven) und bisweilen aggressiven Charakter in einem Kontext,

der an Partys oder an die Zusammen-kunft von Ex-Studenten erinnert, Spuren des „Satanismus als Spiel" bewahrt, des-sen Ursprünge sehr alt sind. Bei diesen Fällen ist der spielerische Aspekt beson-ders offensichtlich. Einer größeren Aggressivität begegnet man bei der Verwendung von Satan als Symbol unter polemischen Vorzeichen in den Angriffen auf Christentum und ka-tholische Kirche bei Antiklerikalen, in der Hymne an Satan bei Carducci bis hin zu antikatholischen Paraden, die im ver-gangenen Jahrhundert in Italien und in unserem Jahrhundert in Mexiko und wäh-rend des Bürgerkriegs in Spanien organi-siert wurden, wo häufig bei Prozessionen Bilder des Dämons getragen wurden. Aber selbst hier - evident in der Literatur wie z. B. der Hymne von Carducci -wird Satan als Symbol der Rebellion ge-feiert, als Macht, die als Rächer der Ver-nunft auftritt, ohne daß er im okkultisti-schen Sinne angerufen würde. Es handelt sich immer noch um eine spielerische Form, wenn auch aggressiver, blasphemi-scher Parodie, die sich an den Rändern des eigentlichen Satanismus bewegt. Gleichwohl hat auch der spielerische Sa-tanismus als Quelle der Inspiration den Gründern des zeitgenössischen, eigentli-chen und wirklichen Satanismus gedient, wo die Unterscheidung zwischen Ratio-nalismus und Okkultismus, wie bemerkt, schwer zu ziehen ist.

Satanskirche (San Francisco)

Die Anfänge der Satanskirche liegen im Zusammentreffen zwischen einer von Crowley stammenden Tradition, der Welt der Gegenkultur sowie antiklerikalen und gegen die herrschende Moral einge-stellten Organisationen, wie die Liga für Sexuelle Freiheit (»Sexual Freedom Lea-gue«) der 70er Jahre in Kalifornien. LaVey

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war ein aktiver Teilnehmer. 1930 gebo-ren, verließ er im Alter von 15 Jahren seine Familie, Oakland und die Schute, um im Zirkus von Clyde Betty als Helfer zu arbeiten. Seine Leidenschaft für wilde Tiere ließ ihn schnell zur Hilfskraft für den Tierbändiger werden, spezialisiert auf Löwen. In der Zwischenzeit lernte er Orgel zu spielen und machte die musika-lische Begleitung für die Akrobaten und für den Mann in der Kanone des Zirkus. Im Alter von 18 Jahren verließ er den Zir-kus und begann, in einem „Karneval" zu arbeiten, einer Art Schauspiel für Erwach-sene, wo Illusionisten, Hypnotiseure (La-Vey lernte beides), Tänzerinnen und Strip-tease-Girls auftraten. In diesem Umfeld lernte LaVey (der diesen Namen anstelle von Howard Levy zu gebrauchen be-gann) ziemlich intim, aber nur wenn man seinen späteren Erzählungen Glau-ben schenkt, eine Striptease-Tänzerin na-mens Marilyn Monroe kennen. Mit 21 Jahren beschloß LaVey, daß es Zeit sei, ein ruhigeres Leben zu führen, er heira-tete (ließ sich kurz darauf wieder schei-den), belegte einen Kurs in Kriminologie, und einige Monate später kam er als Foto-graf zur Polizei von San Francisco. Viel später schrieb er, daß der ständige Kon-takt mit den Leichen ermordeter Männer und Frauen, die er zu fotografieren hatte, ihn noch zynischer machte im Blick auf Leben und Tod. In jener Zeit, es war in den 50ern, begann er sich ernsthaft für den Okkultismus zu interessieren, und je-den Freitagabend versammelte er in sei-nem Haus Freunde zur Konferenz über esoterische Themen. Diese Konferenzen hatten solchen Erfolg, daß LaVey Eintritts-geld erhob und die Aufmerksamkeit der Presse erweckte. Diese berichtete z. B. von einer Konferenz über den Kannibalis-mus, die anscheinend mit einem Essen endete, bei dem den Teilnehmern ein von einem Arzt der Gruppe einer nicht

identifizierten Leiche amputierter, in Brandy gekochter Arm serviert wurde (vgl. A. Lyons, »Satan wants You. The Cult of Devil Worship in America«, New York 1988, S. 107). LaVey wäre wahr-scheinlich einer der vielen Exzentriker Kaliforniens geblieben, hätte nicht in den 70ern die entscheidende Begegnung mit Kenneth Anger stattgefunden, einem Ok-kultisten mit erheblich größerem Hinter-grund. Dieser hatte bereits seinen ersten Underground-Film produziert, »Inaugura-tion of the Pleasure Dome«, einen Film magischen Inhalts in der Richtung Crowleys, und 1959 hatte er die erste Ausgabe seines Buches »Hollywood Ba-bylon« publiziert, ein Produkt der Haß-liebe zur Welt des Films. Anger stellte La-Vey dem Jetset von Hollywood und litera-rischen Berühmtheiten wie Anais Nin vor. Mit seiner zweiten Frau Diane und mit Anger gründete LaVey eine Gruppe mit Namen »Magic Circle«, woraus in der Walpurgisnacht 1966 (30. April) die Satanskirche entstand. 1966 wurde zum ersten „Jahr des Satans", wonach viele Sa-tanisten auch außerhalb der Organisa-tion von LaVey ihren Kalender aus-richten. Die persönliche Entwicklung von Anger zeigt gut die Unterschiede zwischen dem magischen Zeremoniell von Crowley und dem Satanismus. Ungefähr 14 Jahre seines Lebens widmete der Regisseur der Realisation eines Films über Luzifer. Im Jahr 1966, dem Jahr der Gründung der Sa-tanskirche, entwendete der Schauspieler Bobby Beausoleil, der Luzifer darstellte, nach einem Streit mit Anger zunächst ei-nen Teil des Films, darauf wurde er 1969 inhaftiert, nachdem er den Musiker Garry Hinman zu Tode gequält hatte (ein dunkles Verbrechen, für einige voll von ri-tueller Bedeutung) und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Nachdem er sich mit Anger versöhnt hatte, schrieb Beauso-

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leil im Gefängnis die Musik für die End-fassung des Films »Lucifer Rising«, der 1980 abgeschlossen wurde. 1969 hatte in einer vorhergehenden Fassung mit dem Titel »Invocation of my Dimon Bro-ther« - Musik von Mick Jagger von den Rolling Stones - Anton La Vey persönlich den Satan gespielt. 1970 definierte Anger eindeutig sein Verständnis von Luzifer als „Gott des Lichtes - nicht der Teufel, dies sei eine christliche Diffamierung". Der Film sei „das Geburtstagsfest zum Wasser-mann-Zeitalter", es sei „Luzifer, der rebel-lierende Engel, der hinter allem steht, was heute in der Welt vor sich geht. Seine Botschaft ist, daß der Schlüssel zur Freude der Ungehorsam ist." (Zit. in: Ro-bert A. Haller, »Kenneth Anger«, in: »The Equinox« Bd. III, n. 10, S. 239-260; hier: S. 247) Die letzten Worte sind eine wörtliche Wiedergabe des Hymnus an Luzifer von Crowley. Dieser Typ des gefallenen En-gels, charakteristisch für Crowley, stimmt nicht mit dem Satanismus von LaVey überein (wo der Satan - wie symbolisch auch immer - wirklich der Teufel ist), und deshalb mußte Anger mit ihm bre-chen. In der Tat tauchte LaVey in der End-fassung des Films von 1980 nicht mehr auf. Aber der Einfluß von Anger auf die Satanskirche war entscheidend und hat dort einige der Ideen und viel vom Stil und der Sprache Crowleys eingeführt. Die Satanskirche eroberte dank ihrer Bin-dungen zur Welt Hollywoods sofort die ersten Seiten der Zeitungen im Jahre 1967, als mit großer Feierlichkeit die Hochzeit des radikalen Journalisten lohn Raymond mit einer Vertreterin der guten Gesellschaft Kaliforniens, Judith Case, be-gangen wurde, und sie kurz darauf Zeena, die dreijährige Tochter von La-Vey, auf satanische Weise taufte. Ende 1967 wurde die Folge der Sakramente mit einer satanischen Taufe eines Angehö-

rigen der Marine abgeschlossen, der der Satanskirche angehört hatte. Die Marine der Vereinigten Staaten machte schließ-lich gute Miene zum bösen Spiel, indem sie die Satanskirche unter die religiösen Gruppen ihrer Angehörigen in einem Handbuch für Geistliche einordnete; dort werden detailliert die spirituellen Notwendigkeiten und Rechte erklärt, die die Mitglieder der Kirche LaVeys in An-spruch nehmen können (Kopien des Handbuchs für Kapläne der Marine in: L. Kahaner, a.a.O., S. 67-72). LaVey ist sicher nicht über jeden Verdacht erhaben und nutzt seine Bekanntheit kommerziell aus, so in einer Hexensabbat genannten Show von Topless-Tänzerinnen im Nacht-club »Gigi's« in North Beach, wo er auch persönlich auftritt. Aber der „Hohe Prie-ster Satans", wie er sich selbst zu nennen begann, gewann Anhänger auch in füh-renden Kreisen Hollywoods, unter Perso-nen wie Sammy Davis, der darum bat, seine Zugehörigkeit geheim zu halten, und Jayne Mansfield, die ihren satanisti-schen Glauben öffentlich und privat be-kannte, bis ihr Lebensgefährte Sam Brody sie dazu zwang, mit LaVey zu brechen. Als 1967 Brody und die Mansfield kurz nach deren Bruch mit LaVey bei einem Autounfall ums Leben kamen, nahmen viele Angehörige der Satanskirche an, daß es sich nicht um einen Zufall handle. Zwischen 1969 und 1972 publizierte La-Vey seine bekanntesten Bücher: 1969 die Satansbibel, 1971 das vollständige He-xenbuch (unter seinen Büchern am mei-sten in Richtung Sexualmagie orientiert) und 1972 die Satansrituale. 1973 existierten in 13 amerikanischen, in 2 kanadischen und in wenigstens 3 eu-ropäischen Städten „Grotten " oder Lokal-gruppen der Satanskirche. Der Gebrauch nationalsozialistischer Symbole ist nicht ungewöhnlich in ver-schiedenen Kreisen des Satanismus (be-

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sonders des „Acid" und des Jugendli-chen-Satanismus), deren Interesse für das Dritte Reich mehr von Literatur und von sado-sexuellen Filmen über die SS herzu-rühren scheint, als von einer wirklichen Kenntnis des Nazismus. Die Begegnung mit dem Nationalsozialismus bei einigen schismatischen Bewegungen der Satans-kirche in den Vereinigten Staaten hatte in denselben Jahren eine Parallele in Eu-ropa, wo bei Esoterik- und Okkultismus-Interessierten in extrem rechten Kreisen eine Reihe von Organisationen entstan-den mit Namen wie Söhne des Feuers und Grüner Orden und wo die Riten der Satanskirche in Neuinterpretation - Sa-tan wird mit Mitras und mit allen germa-nischen Gottheiten identif iziert- mit typi-schen Symbolen des Nationalsozialis-mus vermischt wurden. 1975 wurde in diesen Kreisen auch eine Luziferianische Internationale gegründet, mit Anhängern in Frankreich, Belgien, Deutschland und Italien (vgl. Jean-Paul Bourre, »Les sectes luciferiennes aujourd'hui«, Paris 1978, S. 126f). Auf der einen Seite scheint La-Vey die Kontakte mit nationalsozialisti-schen Kreisen abgelehnt zu haben, und er hat sich darüber ironisch geäußert (der Hohe Priester Satans ist unter anderem jü-discher Herkunft und kann mit Sicherheit keine Sympathien für antisemitische Be-wegungen haben). Aber auf der anderen Seite nimmt er in seinen Werken die Idee eines Schwarzen Ordens ernst, welcher in Deutschland unmittelbar vor und wäh-rend des Dritten Reichs bestanden habe, und er erklärt, bei seinen Aktivitäten durch einige seiner Rituale inspiriert wor-den zu sein (vgl. »The Satanic Rituals«, S. 106). Keines der Schismen hatte die Bedeutung von dem des »Tempels Sets«, dem wir uns noch zuwenden werden. Das Schisma fand 1975 statt aufgrund der An-klage, LaVey hätte satanistische Priester-

weihen verkauft. Das Schisma hatte die Trennung des gesamten Systems der „Grotten" zur Folge, deren Autonomie sich als eine ständige Quelle von Spaltun-gen gezeigt hatte. Nach 1975 hatte die Mehrheit der Mitglieder der Satanskirche in den Vereinigten Staaten (sie hatte nach LaVey zu der Zeit etwa 20000 Anhänger, nach unabhängigen, ernster zu nehmen-den Schätzungen nicht mehr als 5000) sich dem »Tempel Sets« angeschlossen, während in verschiedenen Städten, vor allem in Europa, Satanskirchen weiterhin die Rituale von LaVey vollzogen, aber ohne Kontakt mit ihm zu halten. Die kali-fornische Satanskirche besteht noch als Organisation, die vor allen Dingen über Korrespondenz funktioniert; nach Auflö-sung des Systems der „Grotten" ist es ein individueller Kontakt von über die Welt verstreuten Mitgliedern (nach Angaben der Kirche 2000, nach anderen Schätzun-gen die Hälfte); das Zentrum in San Fran-cisco wird von Mitgliedern der Familie LaVeys geleitet. Ein Versuch, eine hierar-chische und strukturierte Gruppe der Sa-tanskirche in Europa wiederherzustellen, wurde 1972 in Holland von Martin Lam-mers unternommen, einem ehemaligen Schauspieler, der eine mit Lehrvollmacht ausgestattete „Grotte" (Magistralis Grot-to) in Etersheim gegründet hatte. Er er-warb eine der ältesten protestantischen Kirchen Hollands und wandelte sie in einen Satanstempel um. Die Gründung durch Lammers wurde von LaVey appro-biert, der seine Tochter Karla nach Hol-land schickte, die wie ihr Vater Krimino-logie studiert hatte und dann eine Art Bot-schafterin der Satanskirche in der Welt wurde, die Konferenzen in verschiede-nen Ländern veranstaltete. 1976 wurde die »Magistralis Grotto« von Lammers von Etersheim nach Amster-dam verlegt. Dort eröffnete man eine Ka-pelle und unmittelbar nebenan einen

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Nachtclub mit Namen »Walpurgis-Ab-tei« mit Live-Sex-Shows. Solche Shows werden in Holland toleriert, aber Lam-mers kam in Konflikt mit den zuständi-gen Behörden, weil er sich weigerte, Steu-ern zu zahlen, und zwar nicht nur für die Aktivitäten der „Grotte", sondern vor al-lem für die des Nachtclubs. Er unter-strich, das Ganze müsse als religiöse Akti-vität angesehen werden, und die Eintritts-karten seien in Wirklichkeit Spenden für eine Form von Kult. Die holländischen Richter haben Lammers in erster Instanz recht gegeben, jedoch nicht LaVey, der immer Geldspenden für seine Satanskir-che auf der Grundlage seines Antiklerika-lismus und seiner Theorie, daß alle Kir-chen besteuert werden müßten, abge-lehnt hatte. Danach kehrte Karla LaVey, die eine Zeitlang in Amsterdam zuge-bracht hatte, in die Vereinigten Staaten zurück, und das Vorhaben einer Verle-gung des Internationalen Sitzes der Sa-tanskirche nach Holland wurde aufgege-ben, auch wenn die holländische Grup-pe oder wenigstens ein Teil davon biswei-len Kontakt mit der kalifornischen Orga-nisation zu halten scheint. Lammers rech-net mit ungefähr 50 Mitgliedern, zieht aber Tausende von Neugierigen an oder hat es zumindest getan. Seine Autorität wurde in einigen europäischen Ländern anerkannt (Österreich, Norwegen, in ei-nem Teil Deutschlands und Belgien), aber nicht von französischen und italieni-schen Satanisten. Diese, obwohl ausge-stattet mit Patenten aus San Francisco, ha-ben sich immer in bestimmter Weise als autonom verstanden, und die Verbindun-gen zu LaVey sind teilweise vollständig abgebrochen worden. Nachdem LaVey eine Verlegung der Satanskirche nach London in Erwägung gezogen hatte, wo es einen Kern treuer Anhänger gibt, scheint er sich entschlossen zu haben, in Kalifornien zu bleiben. Er hat angegeben,

daß in den letzten Jahren die Zahl der Per-sonen, die der Bewegung zugehören wol-len, gestiegen ist. Die Organisation, die recht groß war, ist heute mit Sicherheit klein, aber die Person LaVeys und dessen Rituale haben auf vielfache Weise den zeitgenössischen Satanismus geschaffen. Die Philosophie LaVeys ist typisch ratio-nalistisch, und sie kommt am charakteri-stischsten in den »Neun satanistischen Er-klärungen« von 1966 zum Ausdruck: „ 1 . Satan repräsentiert das Gewährenlas-

sen anstelle der Abstinenz. 2. Satan repräsentiert das Vitale an-

stelle leerer spiritueller Träume. 3. Satan repräsentiert unbegrenzte

Weisheit statt heuchlerischem Selbst-betrug.

4. Satan repräsentiert freundliches Ver-halten einzig denen gegenüber, die es verdienen, anstelle nutzloser Liebe gegenüber Unwürdigen.

5. Satan repräsentiert Rache, anstatt die andere Wange hinzuhalten.

6. Satan repräsentiert bei Auseinander-setzungen die Verantwortlichkeit des-sen, der verantwortlich ist, anstelle der Sorge um psychische Vampire.

7. Satan repräsentiert den Menschen als nichts anderes als ein anderes Tier, manchmal besser, aber viel häu-figer schlechter als jene, die auf vier Füßen gehen, ein Tier, das mit seiner angemaßten göttlichen Entwicklung intellektueller und spiritueller Art schlimmer als alle anderen Tiere ge-worden ist.

8. Satan repräsentiert alle sogenannten Sünden, soweit sie physischer, geisti-ger oder emotionaler Befriedigung dienen.

9. Satan ist der beste Freund, den die Kirche jemals gehabt hat, weil sie ihn alT die Jahre im Angebot gehabt hat." (A. S. LaVey, »The Satanic Bi-ble«, S.25)

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Utilitaristisch, hedonistisch und materiali-stisch kann die Philosophie der Satansbi-bel im Motto zusammengefaßt werden: „Das Leben ist die große Freiheit und das große ,Gewähren-Lassen', der Tod der große Verzicht. Genießt deshalb das Le-ben, soviel ihr könnt, hier und jetzt." (Ebd., S. 33) Die Wendung zum Atheis-mus wird in den Schriften LaVeys bestä-tigt, die vom Tod und vom Jenseits han-deln. Nachdem er die Reinkarnation der Okkultisten und das Paradies der Reli-gionsanhänger abgelehnt hat, beschränkt sich der Führer der Satanskirche darauf, zu sagen, daß „für eine Person, die mit ihrem Leben auf der Erde zufrieden ist, das Leben wie eine Party ist, und keiner möchte eine gute Party verlassen". Es scheint, als befände man sich in einem vollständig rationalistischen Klima -oder wenigstens beinahe, denn auch der hartnäckigste Rationalist wird sich nicht weigern, den Traum zu haben, nach dem Tod noch einmal einen Blick durch das Fenster werfen zu können. Aber tatsäch-lich sind die Dinge weniger eindeutig, denn die Rituale von LaVey können auch okkultistisch praktiziert und interpretiert werden und - wie wir gesehen haben -hat sich genau dies in großem Umfang in den Vereinigten Staaten und in Europa bei den schismatischen Gruppen ereig-net und sogar im Inneren der Satanskir-che selbst. Was für LaVey Psychodramen sind, können für seine Anhänger viel rea-lere Anrufungen des Dämons sein. Es bleibt die Aufgabe, noch einen Blick auf Riten und Symbole der Satanskirche zu werfen, denn sie wurden weitgehend vom zeitgenössischen Satanismus über-nommen, auch von Gruppen, die LaVey gegenüber feindlich gesonnen sind. Das Symbol der Satanskirche ist der fünfzak-kige Stern mit dem Kopf eines Ziegen-bocks. Unterscheidendes Zeichen oder charakteristischer Gruß sind die „Hör-

ner", populär auch in Neapel, aber in einem anderen Zusammenhang, wobei man die Finger so hält, daß sie an die cha-rakteristischen Merkmale des Dämons in der traditionellen Ikonographie erinnern. Jede Zeremonie beginnt damit, daß man die Lichter entzündet, rituelle Leuchter anzündet, ein Glöckchen läutet und eine Anrufung an Satan rezitiert (in der mit den Worten „In nomine Dei nostri Sata-nas" Satan wie Gott gefeiert wird); darauf folgt eine Litanei, in welcher man die 77 Namen Satans rezitiert, einige traditio-nelle wie Astaroth oder Beelzebub, an-dere von Göttern östlicher oder antiker Religionen, die im teuflischen Sinn inter-pretiert werden (Kali, Shiva, Pluto, Mo-loch), wiederum andere aus Geschichte oder Literatur (Dracula, Mephistofeles). Einige sind außerordentlich originell wie „Mormo", was von den Gegnern der Mor-monen ausgenutzt wurde, die auf dem sa-tanistischen Charakter des Mormonismus bestehen, aber LaVey erklärt, es handle sich einfach um den Gatten von Hekate in der griechischen Mythologie (ebd., S. 145f; 59). Die wesentlichen Elemente einer Zeremonie in der Satanskirche sind rituelle Bekleidung (schwarz für die Män-ner, bisweilen mit Maske; sexuell provo-zierende Kleidung für die Frauen), ein Kelch, ein Schwert oder Degen, etwas zum Besprengen in Form eines Phallus, ein Glöckchen, ein Bild von Baphomet (der im Gegensatz zu Crowley mit Satan identifiziert wird) und ein Altar, in den meisten Ritualen gebildet durch eine un-bekleidete Frau, die auf einem Tisch liegt. In vielen Zeremonien werden ei-nige der 19 „Schlüssel Henochs" von Ed-ward Kelley und John Dee rezitiert, von LaVey in der Fassung gebraucht, die be-reits vom »Golden Dawn« verwendet wurde. Außer der Taufe von Kindern und Erwachsenen, Eheschließung und Beerdi-gung enthält das Ritual der Satanskirche

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8 Zeremonien. 1. Die Schwarze Messe. Dazu bestimmt, durch einen Schock die Christen und in besonderer Weise die Katholiken von vor-heriger Indoktrinierung zu befreien (»The Satanic Rituals«, S. 34). Es handelt sich um eine Parodie der katholischen Messe und um eine Reihe von Schmähungen Jesu Christi, die in der Profanisierung ei-ner geweihten Hostie kulminieren. Diese wird, nachdem sie auf dem Körper der Frau, die der Altar ist, entweiht worden ist, vom Zelebranten mit den Füßen zer-treten, der dabei die Formel spricht (gerichtet gegen Jesus Christus): „Ver-schwinde im Nichts des leeren Himmels, denn du hast niemals existiert und du wirst niemals existieren." (Michael A. Aquino, »The Church of Satan«, Eigenver-lag 1989, S. 51) Da besteht die übliche Ambivalenz des rationalistischen Satanis-mus, denn man wendet sich gegen Jesus Christus und benutzt dabei eine konse-krierte Hostie, erklärt aber zur gleichen Zeit, es handle sich um eine imaginäre Person. Auch in der rationalistischen Interpretation der Schwarzen Messe von LaVey als Psychodrama ist der Gebrauch einer konsekrierten Hostie wichtig. In der Literatur der Satanskirche - und auch bei den Mate-rialien von Gruppen, die stärker okkultistisch orien-tiert sind - findet man selten Aufforderungen zum Ho-stienraub in den Kirchen, auch wenn es sich um eine Praktik handelt, die bisweilen tatsächlich stattfindet. Tatsächlich bedient man sich im zeitgenössischen Sa-tanismus, um an konsekrierte Hostien zu kommen, lieber des Dienstes von Priestern, die gültig, wenn auch unerlaubt, in einer der zahllosen „Kleinen Kir-chen" [Anm. d. Hg., von Episcopi Vagantes] geweiht worden sind. Man darf sich, ohne das Problem lösen zu können, gleichwohl aus einer katholischen Sicht her fragen, ob die Konsekration der Gaben stattfin-det, wenn diese zum alleinigen Zweck der Profanie-rung in einer Schwarzen Messe stattfindet, oder ob nicht die notwendige Intention fehlt, „zu tun, was die Kirche tut" Interessant ist, daß im Ritual der Satanskir-che dann, wenn der Zelebrant der Schwarzen Messe eine Person ist, die mit priesterlicher Gewalt ausge-stattet ist, Jesus Chrristus mit diesen Worten angespro-chen wird: „Du, den ich durch meine Eigenschaft als Priester zwinge, ob Du willst oder nicht, in diese Ho-

stie herabzusteigen und Dich in diesem Brot zu inkar-nieren höre" (a.a.O., S.46; natürlich hat LaVey diese Ausdrücke bei Huysmans in dessen Buch »Ganz unten« gefunden).

2. »L'air epais« („schwere Luft"). Es han-delt sich um eine Zeremonie, von der La-Vey behauptet- in möglicherweise phan-tastischer Form - , er habe sie übernom-men aus dem inneren Kreis einer frei-maurerähnlichen Organisation, wie der Shrin. Dort feiert man in ritueller Form ei-nen Prozeß, in dem die Rache der Temp-ler an dem König von Frankreich (der sich in Nichts auflöst) und am römischen Papst vollzogen wird. Dieser wird in ei-nen Sarg gelegt, in dem man eine junge Frau findet, dank derer der Papst sich zu den Genüssen des Fleisches bekehren und so seine Strafen büßen kann (die Ze-remonie ist eine Anspielung darauf, daß mit der Französischen Revolution die Ra-che am französischen Königshaus vollzo-gen ist, während das Papsttum noch be-steht und man so wenigstens auf seine Be-kehrung hoffen kann). 3. Das Tierdrama. Nach LaVey stammt dies von bayerischen llluminaten, aber auch aus Texten von Okkultisten unseres Jahrhunderts und aus der »Insel des Dok-tor Moreau« von H. C. Wells, darin schwören die Menschen ihrer (angenom-menen) geistigen Natur ab und feiern ihre Identität mit den Tieren. Eine Ratte, die in einem Käfig der Zeremonie beige-wohnt hat, wird zum Schluß befreit, und es folgen ihr die zu Tieren gewordenen Gläubigen, die auf vier Füßen zu gehen anfangen. Die Gläubigen-Darsteller, die Tiere darstellen, wiederholen den Ruf: „Der Mensch ist Gott, aber auch wir Tiere sind Menschen und deshalb sind wir auch Götter." 4. Das Gesetz der Trapezoiden (oder »Die elektrischen Vorspiele«). Der Be-griff ist geprägt vom deutschen Expressio-nismus, der lehrhafte Inhalt stammt aus

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der Sexual-Psychoanalyse von Wilhelm Reich. Es geht darum, durch Licht, Töne und einen elektrostatischen Generator (nicht, wie man in diesem Umfeld vermu-ten könnte, von sexuell geprägter Aktivi-tät) vor allem die Orgon-Energie (OR) zu erzeugen, die nach Reich die vitale Ener-gie (sexueller Natur) des Universums ist, deren statische Gestalt von Reich DOR genannt wurde. Diese ist für Reich aus-schließlich negativ und abzulehnen, während es so scheint, als spiele sie für die Satanskirche eine auf ihre Art notwen-dige komplementäre Rolle. 5. Hommage for Tchort Hier wird die unbekleidete Frau, die als Altar dient, ver-herrlicht und man singt Hymnen auf das Verlangen und auf die Gelüste des Fleisches. Man wiederholt so Riten, die von antinomistischen Gruppen im vielfar-bigen Sektierertum Rußlands praktiziert worden seien, übernommen, zumindest nach LaVey, von Rasputin. 6. Die Scheitans-Erklärung. Es handelt sich um eine Übernahme von Riten der Yeziden, Anhängern einer Religionsge-meinschaft im Irak, die von Christen wie Moslems als Teufelsanbeter bezeichnet werden (heutige Ethnologen stimmen nicht immer überein hinsichtlich des ge-nauen Charakters ihrer Zeremonien). 7. Die Zeremonie der neuen Ecken und 8. die Anrufung Cthulhus. Es handelt sich um Rituale, die von Michael Aquino geschrieben wurden. Sie inspirieren sich

an den Erzählungen von Howard R Love-craft, dessen obskures mythologisches „Pantheon" in satanischem Sinn neu in-terpretiert wird. Wer an den Zeremonien der Bewegung teilnimmt, ist vor allen Dingen beein-druckt durch die Schwarze Messe (heute anscheinend in den Vereinigten Staaten nur noch selten praktiziert, aber immer noch populärer in europäischen Grup-pen und bei schismatischen Bewegun-gen) und vom Tierdrama, worin in nach-haltiger und suggestiver Form das Anima-lische des Menschen bekräftigt wird. Diese Riten repräsentieren das Wesen des modernen Satanismus. Auch wenn er rationalistisch ist, muß er sich antichrist-lich definieren: theologisch als Provoka-tion und Verfluchung gegenüber Jesus Christus in der Schwarzen Messe; philo-sophisch als Zurückweisung des wesentli-chen Unterschieds zwischen Mensch und Tier, der den Anfang in der Präam-bula fidei in der jüdisch-christlichen Ge-nesis, wie auch in der griechischen Philo-sophie darstellt. (Hinweis: Fortsetzung und Schluß dieses Beitrags von Dr. Massimo Introvigne, Direktor von CESNUR [»Cen-tre d'F-tudes sur les Nouvelles Religions«], folgen in der nächsten Ausgabe des »Materialdiensts«. Der Bei-trag wurde mit freundlicher Genehmigung entnom-men aus der Werkmappe »Sekten, religiöse Sonder-gemeinschaften, Weltanschauungen« Nr. 59/1991 [Inhaber- »Arbeitsgemeinschaft der österreichischen Seelsorgeämter«; Herausgeber- »Referat für Weltan-schauungsfragen«, Wien]. Die Übersetzung aus dem Italienischen besorgte Hans Gasper, Bonn.)

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im Blickpunkt Massimo Introvigne, Turin

Auf den Spuren des Satanismus (II)

III. Der okkultistische Satanismus*

In den Vereinigten Staaten entstand der moderne okkultistische Satanismus aus einer Reihe von Abspaltungen der Satans-kirche. In Frankreich und in Italien ent-stammt der okkultistische Satanismus da-gegen dem besonderen Strang eines ok-kultistischen „Revivals" vom Ende des vergangenen Jahrhunderts, während in Deutschland die »Luzifer-G«, wie der »Tempel Sets«, aufgrund einer neuen Of-fenbarung entstand. In England, wo der Friedhof in Highgate Zentrum zahlrei-cher satanistischer Aktivitäten zu sein scheint, siedeln sich zahlreiche als satani-stisch bezeichnete Gruppen wie der »Ordo Astrum Serpentis« in der Mitte zwischen Neuhexentum, das auf dem Ge-hörnten Gott besteht, und einem wahren und eigentlichen okkultistischen Satanis-mus an.

Der Tempel Sets

Als der Leutnant Michael A. Aquino 1969 an einer Konferenz teilnahm, um LaVey zu hören, hatte er sich sicherlich nicht vorgestellt, einmal das Erbe von La-Vey selbst zu übernehmen und die wich-tigste Gestalt des zeitgenössischen Sata-nismus zu werden. Oülzler der Gegen-spionage des Heers, auf psychologische Kriegsführung und auf Techniken der Des-

information spezialisiert, fand Aquino plötzlich eine Ähnlichkeit zwischen sei-nem Beruf und der machiavellistischen Weltsicht von LaVey. Dieser Eindruck ver-stärkte sich während eines Aufenthaltes in Vietnam. Bei seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten ließ sich Aquino zum Priester in der Kirche von LaVey weihen und organisierte eine „Grotte" in Ken-tucky, wohin ihn die Armee versetzt hatte. LaVey wurde sich sofort über die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Aquino klar, sei es als eines Intellektuel-len (viele Texte der Satanskirche sollten später seine Unterschrift tragen), sei es mit Blick auf Public Relations aufgrund seiner angesehenen Stellung beim Mil i -tär. Aquino gelang es, Konferenzen über die Satanskirche zu veranstalten - bis zur Universität von Louisville, und er wurde in Rekordzeit zur Nummer Zwei in der Organisation von LaVey. Aus seiner privi-legierten Stellung als Direktor der Zeit-

Kap. I und II s. MD 6/1992, S. 161 ff. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung entnommen aus der Werkmappe »Sekten, religiöse Sonderge-meinschaften, Weltanschauungen« Nr. 59/1991 Inhaber: »Arbeitsgemeinschaft der österreichi-schen Seelsorgeämter«; Herausgeber- »Referat für Weltanschauungsfragen«, Wien. Der Text ist eine gekürzte Übersetzung aus: Massimo Introvigne, »II cappello del mago. I nuovi movimenti magici dal-lo spiritismo al satanismo«, Mailand 1990, S. 367ff. Die Übersetzung aus dem Italienischen besorgte Hans Gasper/Bonn.

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schritt der Satanskirche »The Cloven Hoof«, konnte Aquino von 1973 bis 1975 zunächst am Erfolg, dann am Nie-dergang des Systems der „Grotten" teil-nehmen: Auf der einen Seite zeigte sich, daß die örtlichen Vereinigungen nur überlebens-fähig waren, wenn sie von einem mit Au-torität ausgestatteten und charismati-schen Führer geleitet wurden; auf der an-deren Seite geriet jeder örtliche Leiter, der mit einer starken Persönlichkeit aus-gestattet war, fatalerweise in Wider-spruch zum autokratischen Verhalten von LaVey und riskierte, die Kirche zu verlassen. Als sich 1975 diese Probleme wieder einstellten, begann LaVey das Sy-stem der „Grotten" abzuschaffen und die Satanskirche in eine zentralisierte Organi-sation zu verwandeln, die Kontakte mit ihren Anhängern vorwiegend durch Brief-verkehr und durch reisende „Botschaf-ter" hielt (im allgemeinen Mitglieder der eigenen Familie). Für Aquino und für zahlreiche andere örtliche Leiter glich das neue System einem sakrilegischen Ausverkauf des satanistischen Priester-tums und der Initiationsstufen. Er beschloß deswegen, die Satanskirche zu verlassen, wobei sich ihm die Führer der wichtigsten „Grotten" anschlössen, darunter New York (Lilith Sinclair, seine 2. Frau), Los Angeles (L. Dale Seago), Wa-shington (Robert Ethel) und San Jose (Mar-garet Wendall). Mit ihnen schlössen sich auch viele im Ausland der Abspaltung des Aquino an, auch wenn man, beson-ders in Ländern wie Italien, nicht genau begriff, was in den Vereinigten Staaten vor sich ging. Unentschlossen, was er ma-chen solle, beschloß Aquino am Vor-abend der Sonnenwende, am 21 . Juni 1975, Satan selbst anzurufen. Im Unter-schied zu LaVey war er von dessen per-sönlicher Wirklichkeit stets überzeugt. Das Ergebnis war eine neue Offenba-

rung: »The Book of Coming Forth by Night«, ein Text von drei Seiten, der in der Organisation von Aquino dieselbe Be-deutung erhielt wie für die Anhänger von Crowley das »Liber AI vel Legis«. In der neuen Offenbarung des Aquino erklärte Set (der lieber unter diesem Namen ver-ehrt werden wollte als unter dem „Ba-stard-Namen des jüdischen Dämons", nämlich Satan), die Ära Satans, die 1966 angefangen habe, sei beendet. Set er-klärte: LaVey ist mir sehr „teuer", und „kein Mensch hat je gesehen, was seine Augen gesehen haben"; aber seine Ar-beit ist beendet. Die Epoche toter Götter (gemeint ist die des Christentums) sei 1904 beendet worden, als nämlich „mein entgegengesetztes Selbst" - ein be-wußter und komplementärer Teil von Set mit dem wirklichen Namen HarWer -Crowley unter dem Namen des Engels Ai-wass offenbart wurde. Seitdem und bis 1966, als LaVey an die Stelle Crowleys trat, lebte die Menschheit im Zeitalter von HarWer, im Zeitalter der Reinigung, die durch die Tag- und Nacht-Gleiche symbolisiert wird. Aber jetzt „ist die Tag-und Nacht-Gleiche besiegt durch meine Sonnenwende, und ich, Set, habe mich in meiner Majestät offenbart". Crowley selbst, weil er ein Prophet war, konnte das Liber AI nicht vollständig verstehen, „denn er verstand HarWer als geeintes Selbst", während es sich bloß um eine Unterperson von Set handelte. In der neuen Ära, die mit 1975 beginnt, müssen die Riten vereinfacht werden und mehr ein Gespräch mit Set als ein Ritual wer-den. „Die mich Fürst der Finsternis nen-nen", so Set, „verunehren mich nicht"; die Riten dürfen weiterhin des Nachts stattfinden; die Verwendung der schwachsinnigen und korrupten He-nochs-Schlüssel, die bloß ein Schatten meines wahren Wortes waren, ist dage-gen eine Beleidigung für Set, seitdem die-

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ser seine vollständige Botschaft offenbart hat (»The Book of Coming Forth by Night«, Anhang von »The Crystal Tablet of Set«, Hg. M. A. Aquino, Temple of Set, San Francisco 1983ff, S.26ff. Vgl. M. A. Aquino, »The Book of Coming Forth by Night: Analysis and Commentary«, Tem-ple of Set, San Francisco 1985). Auf der Grundlage dieser Unterweisun-gen Sets konnte Aquino sich als das zweite Tier 666 verstehen, das von Crowley vorhergesagt worden war, und eine neue Kirche gründen. Anstelle der „Grotten", deren System die Dissidenten der Satanskirche grundsätzlich beibehal-ten wollten, entstanden die „Pfeiler" des neuen »Tempels Sets«. Die systematische und elaborierte Weltsicht in den Schrif-ten von Aquino, die Werbekampagnen auch über Anzeigen in Zeitschriften des Populärokkultismus, haben dem »Tempel Sets« eine Anhängerschaft gebracht, die von einigen in die Hunderte geschätzt wird, von anderen in die Tausende; vor-wiegend in den Vereinigten Staaten sol-len sich auch Wicca-Anhänger zum Set-Kult bekehrt haben und sogar ein ehema-liger Jesuit (A. Lyons, »Satan Wants You«, a.a.O., S. 129f). In den 80er traten beim »Tempel Sets« ähnliche Probleme auf wie bei der Satanskirche, und Aquino wurde ebenso autokratischer Tendenzen beschuldigt wie LaVey. Um mit diesen Problemen fertig zu werden, hat Aquino, nachdem er den obersten Grad der Initia-tion als „Ipsissimus" erreicht hatte, sich auf die Position des emeritierten Groß-meisters zurückgezogen und die Verant-wortung für Leitung des Tempels Steven Flowers überlassen, einem texanischen Englischprofessor. Aquino mußte sich auch mit den zunehmenden Aktivitäten der Anti-Sekten-Bewegung auseinander-setzen, die besonders die Satanisten an-griff. Die Weltsicht von Aquino, vor allen Din-

gen dargelegt in seinem Buch »Schwarze Magie in Theorie und Praxis«, offenbart ein Umfeld philosophischer Studien, wie sie im Umkreis der Satanisten nicht häu-fig sind, ferner den Versuch, sich als Er-ben einer Tradition zu präsentieren, zu der der »Golden Dawn«, Crowley und die Satanskirche gehören; schließlich ent-hält das Buch eine beständige Polemik gegen seinen Quasi-Namensvetter Tho-mas von Aquin. Gegen die klassische Phi-losophie behauptet Michael Aquino, daß das objektive Universum nicht die ein-zige Wirklichkeit ist und daß der Mensch, Teil und Schöpfer auch eines subjektiven Universums, in sich einen Le-bensfunken trägt, der allen objektiven und natürlichen Gesetzen widerspricht und diese bestreitet. Die Existenz dieses Funkens verlangt nicht notwendig die Schöpfung (Welt und Mensch können im-mer existiert haben), verlangt aber wenig-stens einen Eingriff in die Evolution in prä-historischer Zeit durch ein intelligentes Wesen, das sich vom objektiven Univer-sum unterscheidet und sich im teilwei-sen, nicht vollständigen Widerspruch zu seinen Gesetzen befindet. Was auch seine Motive sind, auf jeden Fall hat es in den Menschen das Potential geweckt, dieselbe Perspektive zu entwickeln, dazu die Intelligenz, dies bewußt und kreativ zu tun. Der „Geheimnisvolle Fremde", der am Anfang der Menschheit gewirkt hat, ist also ein Feind von Kosmos und Natur und kann zu Recht Teufel genannt werden (wenn auch sein wahrer Name Set ist). Und aus dieser Perspektive - im Unterschied zu den kindischen Versu-chen einer Harmonie mit dem Kosmos (weiße Magie und Religion) - hält der »Tempel Sets« es für angemessen, seine Aktivitäten mit Begriffen wie Schwarze Magie und Satanismus zu kennzeichnen (obwohl dies im Hinblick auf die Öffent-lichkeitswirkung gefährlich ist). Die An-

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hänger Sets praktizieren nicht bloß die kleine schwarze Magie, die darin be-steht, sich der objektiven Welt (deren Wirklichkeit nicht geleugnet wird) für die eigenen Ziele zu bedienen, sondern sie praktizieren auch die große schwarze Magie, die dazu führt, mit dem eigenen Willen das gesamte subjektive Univer-sum zu kontrollieren. Die kleine schwarze Magie besteht darin, „irgend etwas zu tun, ohne Zeit oder Energie zu verlieren, die notwendig wären, wenn man es durch einen Ursa-che-Wirkung-Prozeß bewirkte". In Wirk-lichkeit handelt es sich um „Variationen desselben Grundthemas": die physi-schen Gesetze und den Lauf des objekti-ven Universums kennen und zum eige-nen Vorteil manipulieren, „von einfa-chen Tricks der Desinformation bis zu ex-trem subtilen und komplexen Manipula-tionen psychologischer Faktoren in der menschlichen Persönlichkeit". Man darf hier nicht vergessen, daß der Leutnant Mi-chael Aquino durch seine Tätigkeit bei der Gegenspionage der Armee mit dem Bereich Desinformation sehr vertraut war. Die kleine schwarze Magie offen-bart sich schlicht und einfach als okkulti-stische Version von Techniken der Mani-pulation von Feinden, die westlichen wie östlichen Geheimdiensten bekannt sind (M. A. Aquino, »Black Magic in Theory and Practice«, in: »The Crystal Ta-bletof Set«, S.5f; 10ff). Die große schwarze Magie auf der ande-ren Seite ist ein Ritual, das das System des »Golden Dawn«, von dem der »Tem-pel Sets« die Initiationsgrade übernom-men hat, Crowley, LaVey und persönli-che Zutaten von Aquino verbindet. Das Ziel ist ein Prozeß, der als „xepering" be-schrieben wird, und die Parole des neuen Zeitalters Sets lautet: Xeper. Die magische Bedeutung dieses Wortes ist: „Werde!" Es geht, ganz im Sinne

Crowleys, darum, den eigenen Willen zu verwirklichen, aber mit der Unterstüt-zung des Fürsten der Finsternis, der am Anfang den Menschen die Intelligenz gab. Während des Rituals schafft der Initi-ierte sein „Magisches Doppel" (o ka, ein Wort ägyptischen Ursprungs) und beför-dert es so auf die Ebene des Astralplans, um seinen wahren Willen auszuführen. Aquino hat sich darum bemüht, die anstö-ßigen Aspekte der Riten der Satanskirche zu beseitigen, vor allen Dingen den Al-tar, der durch eine unbekleidete Frau ge-bildet wurde. Dieser wurde durch einen sehr traditionellen Altar ersetzt, auf dem eine Flamme brennt. Um die Riten der Sa-tanskirche, die zu einem Theater degene-riert seien, zu vermeiden, hat Aquino in-dividuelle und Gruppenriten für den Fall eingesetzt, daß keine Gruppe besteht, über deren Festigkeit man sicher ist. Nachdem neunmal das rituelle Glöck-chen geläutet wurde, wird dadurch, daß die Flamme auf dem Altar angezündet wird, die Tür für den Fürsten der Finster-nis geöffnet und Set angerufen. Der Zele-brant trinkt aus dem „Kelch der Wahr-heit", der irgendein nichtalkoholisches Getränk enthalten kann, außer Blut. Des-sen Gebrauch ist ebenso verboten wie das Opfer oder wie irgendeine Belästi-gung eines Lebewesens. Daraufhin kann man entsprechend seinen Vorlieben und seiner Phantasie vorgehen, indem man die Götter anruft, die man bevorzugt, wo-bei es ohne Bedeutung ist, ob es sich um mythische oder reale Gestalten handelt -schließlich handele es sich immer um Manifestationen der Persönlichkeit Sets. Der Ritus schließt damit, daß die Tür ge-schlossen wird, die Flamme gelöscht wird. Ein letztes Mal wird das Glöckchen geläutet, und es werden die Worte ge-sprochen: „So ist es getan" (So it is done). Während der zentrale Ritus viel der Phan-tasie des Zelebranten überläßt, gibt es

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präzisere Anweisungen in den verschie-denen Orden, die innerhalb des »Tem-pels Sets« bestehen. Sie scheinen die Funktion zu haben, die verschiedenen Vorlieben der Gruppen unter Kontrolle zu halten, um so die Probleme zu vermei-den, die innerhalb der „Grotten" LaVeys entstanden waren. Aquino hat aus der Sa-tanskirche den »Orden des Trapezoids« herübergebracht, 1970 innerhalb der Kir-che von LaVey gegründet. Er ist heute stark verwurzelt in einem germanischen Runensymbolismus, der „den attraktiven Charakter des 3. Reichs", seinen Kult des Lebens und des Irrationalismus aner-kennt, wobei Vorsorge getroffen ist gegen die Gefahren, die diese Kräfte hervorru-fen können, wenn sie nicht unter Kon-trolle gehalten werden. „Die germani-sche Tradition", so Aquino, „ist ebenfalls Teil des Erbes des Fürsten der Finsternis und deshalb von einem Orden des Tem-pels Sets übernommen, denn dieser nimmt alle Manifestationen der Macht der Finsternis in der Welt bei sich auf." (»Order of the Trapezoid«, in: »The Scroll of Set«, Teil von »The Crystal Tablet of Set«, S. 1-2) Andere Orden im »Tempel Sets« sind der »Orden Amn Bast«, der »Orden des Leviathan«, des »Nepthys«, dessen Großmeisterin die gegenwärtige Frau Aquinos, Lilith, ist, die satanistische Wege des Betragens und der Kosmetik lehrt, um sein Äußeres zu verbessern; schließlich der »Orden des Vampirs«, der Nutzen aus dem wachsenden Inter-esse an Dracula und am Vampirismus in-nerhalb okkultistischer Kreise zu ziehen versucht (der Vampirismus wird nicht physisch als Verwendung von Blut ver-standen, sondern psychologisch, als Fä-higkeit, andere zu manipulieren und zu beherrschen). Eine lange Liste empfohle-ner Literatur für die Mitglieder dieser Or-den und allgemeiner für den »Tempel Sets« zeigt die ganze Zielsetzung Aqui-

nos, der sich als Ziel der gesamten zeitge-nössischen magischen Tradition ansieht.

Church of Satanic Liberation

Ein großer Teil des okkultistischen Sata-nismus in der ganzen Welt findet sich in-nerhalb der esoterischen Buchhandlun-gen explizit satanistischer Orientierung. Aus dem Umkreis einer der berühm-testen dieser Buchhandlungen, der »Ma-gickel Childe« aus New York, entstammt die »Church of Satanic Liberation«, ge-gründet am 8. Januar 1986 in New Ha-ven, Connecticut, durch Paul Douglas Va-lentine, einen Englischprofessor aus dem Umkreis des Wicca-Kultes, der in Litera-turwissenschaft und Paläontologie pro-moviert hat. Valentine hat sich in den ver-gangenen Jahren als ein veritabler Ant-agonist von Aquino etabliert, und seine Bewegung zählt gut 1000 Mitglieder. Im Vergleich zu Aquino wil l Valentine - er ist kein persönlicher Schüler von LaVey, aber durch seine Texte geformt - „zur Be-deutung der traditionellen satanistischen Dramaturgie und der blasphemischen Praktiken als Teil des Rituals" zurückkeh-ren, ebenso auch zur rituellen Sexual-magie, welche Aquino ein wenig zu schnell aufgegeben habe (A. Lyons, a.a.O., S. 132). Wie Aquino und LaVey, so gibt auch Valentine an, innerhalb der Grenzen des Gesetzes zu wirken und Ge-walt sowie Pädophilie auszuschließen (allerdings nicht minderjährige Partner, sofern sie alt genug sind, mit Vernunft ihre freie Einwilligung zu geben).

Bambini di Satana

Die Gruppe von Valentine scheint für zahlreiche kleinere Gruppen repräsenta-tiv zu sein, die sich überall in der Welt bil-den. Ein jüngeres italienisches Beispiel dafür ist jener Kreis, den die Zeitungen

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»Bambini di Satana« (Satanskinder) nen-nen (den Namen hat die Gruppe übri-gens angenommen und akzeptiert), ent-standen in Bologna im Umkreis des Schutzmanns Marco Dimitri. Dieser wurde durch einen Carabiniere, der sich in die Gruppe eingeschleust hatte, ange-zeigt mit der Anklage, die Bewegung ent-weihe Kirchen und Friedhöfe. Im Inter-view gab sich Dimitri überzeugt von der Existenz Satans und der Möglichkeit, ihn anzurufen, hat aber die ihm vorgeworfe-nen Vergehen zurückgewiesen und eine Antwort gegeben, die an LaVey erinnert: „Dieser Junge hat uns eine Lügenge-schichte erzählt. Aber häufig ist die Ver-leumdung die Eintrittskarte für den Bösen und dafür, mit entsprechenden Men-schen Kontakt aufzunehmen. Ich habe eine geistige Beziehung zwischen mir und dem Carabiniere bemerkt..., viel-leicht weiß er von jener Beziehung, die er zu uns hat." (Marco Dimitri, »Si, sono io il sacerdote di Belzebü«, Interview von Paola Cascella, in: »La Repübblica« vom 20. April 1989) Ähnliche Gruppen mit allgemein nicht mehr als einigen we-nigen Mitgliedern (ungeachtet der Anga-ben ihrer Leiter, die sich gern in der Zei-tung interviewen lassen) bestehen in den wichtigsten Städten des Westens und so-gar Dank Perestrojka auch in Moskau. Unter den Gruppen mit größerer Publizi-tät in Italien kann man die »Confraternita di Efrem del Gatto« erwähnen, in wel-cher Luzifer in der Hierarchie über Satan steht.

Satanskirchen (Paris - Turin) Von größerer Relevanz sind die Satanskir-chen, die die Tradition des französischen Satanismus aus dem späten 19. Jahrhun-dert fortsetzen. Richard Griffiths be-schreibt den Satanismus des späten 19. Jahrhunderts in Frankreich als „unerwar-tet aktiv", „glücklicherweise selten" und

so geheim, daß es „extrem schwierig ist, sich davon ein zusammenhängendes Bild zu machen" (R. Griffiths, »The Reac-tionary Revolution. The Catholic Revival in French Literature 1870-1914«, Lon-don 1966, S. 125). In einem Bereich, wo es im 17. und 18. Jahrhundert bereits Schwarze Messen gab, entsteht der Sata-nismus an den Rändern gnostischer und okkultistischer „Erweckung", mit deren oft extremen Erscheinungsformen er häu-fig zu Unrecht verwechselt wird. Für sei-nen Roman »Lä-bas« hatte Huysmans alle Informationen gesammelt, die im ma-gischen Milieu Frankreichs über den Sata-nismus existierten. Er war davon über-zeugt, daß seit 1855 in Paris eine haupt-sächlich weibliche satanistische Gesell-schaft bestanden habe, deren Anhänge-rinnen „sich mehrmals am Tag trafen, die Hostie im Mund hatten und sie dann auf den Boden spuckten, um sie zu zerstük-keln oder zu entweihen". 1874 ver-schwanden die Freiwilligen, man habe sich entschlossen, Frauen zu nehmen, die dieselbe Arbeit für Geld getan hätten und die eine bestimmte Summe für jede Hostie erhalten hätten (vgl. Gerhard Za-charias, »Der dunkle Gott. Die Überwin-dung der Spaltung von Gut und Böse. Sa-tanskult und Schwarze Messe«, Wiesba-den 1982, S. 203). 1891 erschien der Ro-man »Lä-bas« im »Echo de Paris« noch vor der Veröffentlichung als Buch. Huys-mans beschrieb eine Schwarze Messe, ze-lebriert durch den Kanoniker Docre vor einer obszönen Darstellung des gekreu-zigten Christus. Präfation und Kanon der katholischen Messe wurden in ein an Sa-tan gerichtetes Gebet und in eine Folge von Beleidigungen Christi umgewandelt. Der Ritus schloß mit der Entweihung kon-sekrierter Hostien durch Docre in einer satanistischen Orgie. Satanistische Gruppen, Satanskirchen gibt es in Paris kontinuierlich von 1880

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bis heute, wahrscheinlich schon einige Jahrzehnte zuvor. Die Vermutung einer Kontinuität mit den Schwarzen Messen des 18. Jahrhunderts scheint jedoch nicht ausreichend erwiesen. Ähnliche „Kirchen" aus Paris mit mehr oder weni-ger gültigen Priesterweihen sind in unse-rem Jahrhundert für verschiedene franzö-sische Provinzstädte ausreichend nachge-wiesen, und es bestehen Kontakte auch nach Deutschland, Belgien, England. Was Turin betrifft, so scheint es die Exi-stenz einer organisierten satanistischen Kirche nicht vor den 60er oder 70er Jah-ren unseres Jahrhunderts gegeben zu ha-ben. Satanistische Weihen scheinen von einer aus Paris stammenden Persönlich-keit vermittelt worden zu sein. Gleich-wohl gibt es heute in der Hauptstadt von Piemont wenigstens zwei Organisatio-nen, die sich „Satanskirche" nennen, und sie haben eine apostolische Sukzession französischen Ursprungs. Die eine ent-spricht dem Schema, das Huysmans be-schrieben hat (aber ohne die Elemente sexuellen Charakters), die andere ist mehr okkultistisch, mit entsprechenden Phänomenen und nächtlichen Anrufun-gen in den Wäldern. Es gibt eine lebhafte Diskussion über den wirklichen Umfang dieser Gruppen: Der häufigen Schätzung von 4000 Satanisten (bestätigt durch Verantwortliche einer der Satanskirchen), die die meisten als un-glaubwürdig einschätzen würden, wer-den soziologische Einschätzungen gegen-übergestellt, die von einigen 10 bis zu ei-nigen 100 wirklichen Satanisten reichen. Es gibt manche Verbindungen der satani-stischen Tradition von Turin zu anderen italienischen Städten, wo aber häufiger kleine unabhängige Gruppen nach dem Typ der »Bambini di Satana« agieren. Diese sind entweder Ableger kaliforni-scher Gruppen oder schlicht und einfach professionelle Magier mit wenig Skru-

peln, die eine Priesterschaft und eine nicht existierende satanistische Gefolg-schaft erfinden, um ihre eigene Kund-schaft zu vergrößern. Zumindest die mehr theologische Linie Turins besteht aus Personen, die daran glauben, daß Sa-tan der Fürst des Bösen ist, und die ge-wählt haben, auf seiner Seite zu stehen. Ihre Schwarze Messe ist übrigens weni-ger spektakulär als viele in der Literatur zu dem Stoff beschriebenen Riten: keine Orgien, keine lebenden Altäre, keine Ent-weihungen sexuellen Charakters. Die Schwarze Messe ist teilweise eine Perver-sion des katholischen Ritus, wo Gott sy-stematisch verflucht und Satan gepriesen wird.

Luzifer-G Ein Dokument, das in den Kreisen des ok-kultistischen Satanismus weit verbreitet wird, ist eine Bibel Luzifers, eine neue Offenbarung, 1975 „Nasha" mitgeteilt, Großmeister einer satanistischen Kirche in Köln mit Namen »Luzifer-G«, die große internationale Verbindungen herge-stellt hat, in Wirklichkeit jedoch eine sehr kleine Gruppe zu sein scheint. Die Bibel Luzifers ist in jedem Fall ein interes-santer Text und zeigt Einflüsse Crowleys, des kalifornischen Satanismus und auch der Theosophie. Ein erster Teil - Buch des Chaos - enthält einen Ursprungsmy-thos, worin Luce-Fer, der älteste der Göt-ter, aus sich ein doppeltes Prinzip hervor-gehen läßt, ein männliches (Luzifer) und ein weibliches (Lilith); ihm dient ein En-gel mit Namen Ka-e und eine Astralprie-sterin mit Namen Soma. Aus dem Paar Luzifer-Lilith entstehen die Welten und die Menschenrassen, und zwar von der glorreichen hyperboräischen Epoche, in der Becher und Dreizack (Symbol weibli-cher und männlicher Sexualität) über die Erde herrschten. Aber einige magische Rebellen erfanden die Moral und erschu-

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fen mit ihrer Macht Gott und Jehova. Der zweite Teil der Luzifer-Bibel - das Buch der Zeit der Menschen - beschreibt die-sen Abstieg und darauf die durch Soma vermittelte Rückkehr von Becher und Dreizack bei Gruppen von Initiierten, die sich in den verborgenen Höhlen der Erde vorbereiten, indem sie den Sex rehabili-tieren, die Moral ablehnen und Gott von seiner Stelle rücken. Die antinomisti-schen Hinweise, die Riten und Kontakte mit anderen Gruppen satan istischer Art legen eine Zuordnung zum Satanismus nahe. Das Werk ist in verschiedenen Sprachen im Umlauf; man findet Teile davon bei Jean-Paul Bourre, »Les sectes luciferiennes aujourd'hui« (Paris 1978, S. 194-204).

IV. Der Acid-Satanismus

Per definitionem entzieht sich der Acid-Satanismus Untersuchungen und Zusam-menstellungen. Es handelt sich um eine verborgene Sache. Kleine Gruppen kom-men zusammen, feiern Riten, lösen sich auf, und sie werden von niemandem be-merkt, es sei denn, ihre Aktivitäten sind eindeutig illegal und die Behörden schrei-ten ein. Das Charakteristikum der Acid-Gruppen besteht in deren Randexistenz und im Fehlen von Organisationsformen. Man kann gleichwohl Tendenzen be-schreiben und eine Typologie der Acid-Satanisten entwerfen, indem man zwi-schen dem Satanismus der kalifornischen Gegenkultur (entstanden in den 60ern), satan istischer Folklore von Drogenkonsu-menten (entstanden in den 70ern und im-mer noch vorhanden) und den Mythen der Drogenverkäufer (sie kennzeichnen einige aufsehenerregende Episoden der 80er) unterscheidet. Bei der in Kalifornien entstandenen Ge-genkultur handelt es sich um eine welt-weite Bewegung des Widerstands gegen

die Gesellschaft. Sie hat das Entstehen verschiedener Formen zeitgenössischer neuer Religiosität begünstigt, deren Ver-bindungen mit dem Satanismus marginal sind. Man muß auch feststellen, daß un-ter den Hunderten von Gruppen auf der Suche nach neuen, spirituellen Wegen, denen man im Distrikt Haight Ashbury in San Francisco Mitte der 60er begegnen konnte, bloß eine, nämlich »The Family« des Charles Manson, eine wirkliche Ver-bindung zum Satanismus gehabt hat. Die Aktivitäten von Manson, bisweilen als ty-pisch für den gesamten zeitgenössischen Satanismus angesehen, fügen sich gleich-wohl in den Kontext der Subkultur von Drogen und von Gewalt der Jugendban-den ein, und sie gehören eher an die Peri-pherie des eigentlichen und wirklichen Satanismus. Die Botschaft von Manson war ursprünglich messianisch-apokalyp-tisch, sie glich der Botschaft anderer Pro-pheten unter den Hippies und den Dro-genabhängigen von Haight Ashbury. Manson kündigte seinen Gläubigen ei-nen baldigen universalen Krieg zwischen Weißen und Schwarzen an (Heiter Skel-ter). Die Schwarzen würden die Weißen, die Reichen und die Kapitalisten töten, aber unfähig sein, die Welt zu leiten, und es würde schließlich die Macht an Man-son selbst und seine „Familie" fallen. Um dies vorzubereiten, sollte »The Family« einen städtischen Terrorismus gegen die Weißen organisieren, bis hin zu Gewalt und Mord, die Schuld den Schwarzen zu-schreiben und so die Rassenauseinander-setzung schüren. Danach sollte sich »The Family« in die Wüste zurückziehen, in sicherer Erwartung der apokalyptischen Auseinandersetzung und in der Erwar-tung, daß die siegreichen Schwarzen kommen würden, um ihren Herrscher zu suchen. Daß extreme Ideen dieser Art überhaupt Anhänger gefunden haben, läßt sich bloß mit dem einmaligen Klima

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der heißen Jahre kalifornischer Gegenkul-tur erklären, und man darf nicht verges-sen, daß es sich um eine Ideologie han-delt, die unter dem allgegenwärtigen Ein-fluß von Drogen entstanden ist. Manson, der in den Zeitungen unter dem Namen Satan bekannt wurde, sah sich am An-fang seines Abenteuers eher als eine neue Inkarnation Jesu Christi. Die Bezugnahme auf Satan als Symbol der Rebellion und die schrittweise Identi-fikation zwischen Manson und Satan scheint mit der Teilnahme von Bobby Beausoleil an den Aktivitäten der Family in Verbindung zu stehen. Wir sind ihm schon begegnet im Umkreis von Kenneth Anger, dem von Crowley beeinflußten Fil-memacher. Die Ermordung der Schau-spielerin Sharon Täte und weiterer vier Personen 1969 als Gipfelpunkt der terro-ristischen Laufbahn der Family ist in ei-ner großen Anzahl von Büchern als das Phänomen zeitgenössischen Satanismus beschrieben worden, aber die Verbindun-gen zum eigentlichen Satanismus sind au-ßerordentlich dürftig. Die apokalyptische und antibürgerliche Ideologie von Manson ist wenig typisch für den folgenden Acid-Satanismus. Die Mehrheit der Gruppen des Acid-Satanis-mus, die identifiziert und beschrieben wurden, entspricht einem sich wiederho-lenden Schema: 10, 15 Jugendliche zwi-schen 14 und 20 (manchmal von einem Erwachsenen angeführt) kommen haupt-sächlich zusammen, um sich Drogen zu besorgen und diese zu konsumieren. Man liest satamstische Texte und hört sa-tanistische Rockmusik. Man beginnt mit einfachen Riten, die man bisweilen aus den Büchern übernommen hat oder von den Beschreibungen der Sensations-presse übernimmt. Sie werden entdeckt als Folge von Vergehen von relativ weni-ger schweren Fällen der Profanierung von Kirchen und Friedhöfen oder von

Tieropfern bis zu Episoden, die schlicht und einfach schaurig sind. Unter den schweren Verbrechen ist der Fall der »Knights of the Black Circle« (Ritter des schwarzen Kreises) aus Northport, New York, charakteristisch. Es handelt sich um eine Gruppe drogenabhängiger Jugendli-cher, die von Tieropfern zur Folterung übergingen, die zum Tode führte: In ei-nem Wald zwangen sie den 17jährigen Gary Lauwers dazu, seine Liebe zu Satan zu proklamieren, und steinigten ihn dar-auf. Die beiden Führer der Gruppe, Ri-chard Kasso (17 Jahre alt) und James Triano (18 Jahre alt), ohne Schulab-schluß, wurden inhaftiert und des Mor-des beschuldigt. Kasso erhängte sich in der Zelle. Die Motive für den Mord erwie-sen sich, wie in ähnlichen Fällen, als ein Geflecht von Rivalität zwischen Drogen-abhängigen und Satanismus. Viel häufi-ger sind ähnliche Gruppen wegen gering-fügigerer Vergehen angeklagt worden, von nächtlicher Entweihung von Friedhö-fen bis hin zum Diebstahl von Meßge-wändern aus Kirchen, um sie in satanisti-schen Zeremonien zu verwenden. Bis-weilen tauchen schwerere Fälle auf. Um diese Fälle in der richtigen Perspektive wahrzunehmen, muß man sie darüber hinaus der größeren Szenerie der Drogen-subkultur zuordnen. Hier gibt es ähn-liche Episoden, auch in Zusammenhän-gen, in denen die satanistische Symbolik nicht vorkommt.

V. Der Luziferianismus Der Satanismus, ob rationalistisch, okkul-tistisch oder Acid-Satanismus, verehrt Sa-tan als Gegenspieler, als die Gestalt, die in der Bibel als Prinzip des Bösen be-schrieben wird. Der Luziferianismus ver-ehrt gewöhnlich Satan, ist aber nicht da-von überzeugt, daß er das Böse repräsen-tiere. Im Gegenteil ist er der Ansicht, daß die biblische Geschichte wie andere Ge-

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Schichtsschreibungen eine Geschichts-schreibung der Sieger sei, daß Satan in Wirklichkeit eine viel positivere Gestalt sei, als die Bibel in ihrer gegenwärtigen Darstellung uns glauben machen wi l l . In organisierter und strukturierter Form gibt es den Luziferianismus heute nur noch in einigen kleinen Gruppen. Als Folge ver-schiedener Wechselfälle scheinen die eher typischen Bewegungen in den 60ern und 70ern unseres Jahrhunderts ausgelöscht worden zu sein. Satan kann in einer manichäischen Theo-logie eine positive Rolle annehmen, wo das Gute und das Böse auf eine Stufe ge-stellt werden, auch in einer gnostischen Theologie, für die Gott (oder wenigstens der Gott des Alten Testamentes) der De-miurg ist, der für den unvollkommenen Zustand dieser Welt verantwortlich ist, während Satan die Hauptwurzel des Auf-standes der Menschen gegen ihn ist. Um zu verstehen, wie theologische Strö-mungen mit manichäischem Unterton in das Umfeld der neuen magischen Bewe-gungen geraten sind, empfiehlt es sich, ein weiteres Mal deren Beziehungen zur Psychologie des Unbewußten in Erinne-rung zu rufen. Durch C G. Jungs Idee von den Archetypen (Bildern des kollekti-ven Unbewußten, unter ihnen Götter und Göttinnen verschiedener Mytholo-gien, die zu spezifischen psychischen Realitäten der Menschheit in Beziehung stehen) „entstand eine neue Begründung des Polytheismus. Es gibt die Archety-pen, die antiken Gottheiten. Es gibt sie subjektiv, aber sie sind auch mehr als rei-nes Produkt der Kollektivseele der Menschheit. Man kann sie verehren, so-gar anbeten, denn sie manifestieren und repräsentieren Kräfte, die das Individuum transzendieren. Man kann sie zugleich manipulieren, insofern sie Teile des Indi-viduums darstellen. Die Götter zu begrei-fen heißt, sich selbst zu begreifen. Sie an-

zubeten, bedeutet Wachstum. Sich mit ih-nen zu identifizieren, ist das Ziel des Le-bens." (J. G. Melton, »Magic, Witchcraft and Paganism in America. A Bibliogra-phy«, New York - London 1982, S. 20) Wir haben das Erbe Jungs bereits in den gnostischen Kirchen, in magischen Zere-monien und im Neuhexentum am Werk gesehen. Dasselbe Erbe wird von einer Richtung des Luziferianismus geteilt, die an Jungs Interpretation der Dreifaltigkeit interessiert ist. Nachdem er die Bedeu-tung der Trinität mit der Begrifflichkeit der Archetypen diskutiert hat, schlägt Jung eine rekonstruktive Interpretation der Dreifaltigkeit vor, die aus der trinitari-schen eine quaternitarische Theologie macht. Ein vollständiges System der Ar-chetypen muß vier Akteure umfassen: den Vater (die Einheit), seine beiden Söhne (Christus und der Teufel: der Kon-flikt) und den Heiligen Geist (die Versöh-nung oder wiederhergestellte Einheit). Jung suggeriert, daß Christus und der Dä-mon gleichermaßen mächtige, aber ent-gegengesetzte Emanationen des Vaters sind und daß Satan als vierte Person Got-tes anzusehen ist, wodurch aus der Trini-tät eine Quaternität wird. Diese Rekon-struktion der Trinität hat auch eine thera-peutische Bedeutung im Inneren des ge-samten Systems Jungs, welches den „Schatten" als Licht bringen wi l l , den „dunklen Aspekt" (repräsentiert durch den Dämon), dessen Verdrängung ins Un-terbewußte verantwortlich für Probleme jeder Art sei (vgl. C. G. Jung, »Psycholo-gie und Religion«, Mailand 1977, S. 8 8 - 1 1 1 ; vgl. dazu James Hillman, »II demoniaco come ereditä di Jung«, in: »Presenza ed ereditä culturale di C G . Jung«, Mailand 1987, S. 93-102). Ideen dieser Art gibt es im modernen manichäi-schen Satanismus in zahlreichen Län-dern, meistens diskret und wenig an Öf-fentlichkeit interessiert.

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