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Baruch de Spinoza Ethik In geometrischer Weise behandelt in fünf Teilen (Ethica ordine geometrico demonstrata)

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Page 1: Baruch de Spinoza - Spinoza / BDSwebbdsweb.tripod.com/pdf/spinoza-ethik.pdf · Spinoza: Ethik 2 Erster Teil Über Gott Definitionen 1. Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas,

Baruch de Spinoza

Ethik

In geometrischer Weise behandeltin fünf Teilen

(Ethica ordine geometrico demonstrata)

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2Spinoza: Ethik

Erster Teil

Über Gott

Definitionen

1. Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas,dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas,dessen Natur nur als existierend begriffen werdenkann.

2. Endlich in seiner Art heißt ein Ding, das durchein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann.Ein Körper z.B. heißt endlich, weil wir stets einen an-dern größeren begreifen. Ebenso wird ein Gedankedurch einen andern Gedanken begrenzt. Dagegen wirdein Körper nicht durch einen Gedanken noch ein Ge-danke durch einen Körper begrenzt.

3. Unter Substanz verstehe ich das, was in sich istund durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Be-griff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat,um daraus gebildet zu werden.

4. Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Sub-stanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig

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erkennt.

5. Unter Modus verstehe ich eine Erregung (Affek-tion) der Substanz; oder etwas, das in einem andernist, durch welches es auch begriffen werden kann.

6. Unter Gott verstehe ich das absolut unendlicheWesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlichen At-tributen besteht, von denen ein jedes ewiges und un-endliches Sein ausdrückt.

Erläuterung

Ich sage absolut unendlich, im Gegensatz zu: inseiner Art. Denn was nur in seiner Art unendlich ist,dem können wir unendliche Attribute absprechen.Was dagegen absolut unendlich ist, zu dessen Wesengehört alles, was Sein ausdrückt und keine Vernei-nung in sich schließt.

7. Dasjenige Ding wird frei heißen, das bloß ver-möge der Notwendigkeit seiner eigenen Natur exi-stiert und bloß durch sich selbst zum Handeln be-stimmt wird; notwendig oder vielmehr gezwungenwird ein Ding heißen, das von einem andern bestimmtwird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existierenund zu wirken.

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8. Unter Ewigkeit verstehe ich die Existenz selbst,sofern sie aus der bloßen Definition des ewigen Din-ges als notwendig folgend begriffen wird.

Erläuterung

Denn ein solches Dasein wird als ewige Wahrheit,wie das Wesen des Dinges, aufgefaßt und kann daherdurch die Dauer oder die Zeit nicht erklärt werden,wenn man auch unter Dauer »ohne Anfang und ohneEnde« versteht.

Axiome

I. Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einemandern.

II. Was durch ein anderes nicht begriffen werdenkann, muß durch sich selbst begriffen werden.

III. Aus einer gegebenen bestimmten Ursache folgtnotwendig eine Wirkung, und umgekehrt: wenn keinebestimmte Ursache gegeben ist, kann unmöglich eineWirkung folgen.

IV. Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Er-kenntnis der Ursache ab und schließt dieselbe ein.

V. Dinge, welche nichts miteinander gemein haben,können auch nicht wechselseitig auseinander erkannt

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werden oder der Begriff des einen schließt den Begriffdes andern nicht ein.

VI. Eine wahre Idee muß mit ihrem Gegenstandübereinstimmen.

VII. Was als nicht existierend begriffen werdenkann, dessen Wesen schließt die Existenz nicht ein.

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Erster Lehrsatz

Die Substanz ist von Natur früher als ihre Erregun-gen.

Beweis

Derselbe erhellt aus den Definitionen 3 und 5.

Zweiter Lehrsatz

Zwei Substanzen, welche verschiedene Attributehaben, haben nichts miteinander gemein.

Beweis

Derselbe erhellt gleichfalls aus Definition 3. Dennjede Substanz muß in sich sein und muß durch sichbegriffen werden, oder der Begriff der einen schließtden Begriff der andern nicht ein.

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Dritter Lehrsatz

Von Dingen, welche nichts miteinander gemeinhaben kann nicht das eine Ursache des andern sein.

Beweis

Wenn sie nichts miteinander gemein haben, so kön-nen sie (nach Axiom V) nicht wechselseitig auseinan-der erkannt werden. Daher kann (nach Axiom IV) daseine nicht die Ursache des andern sein. - Was zu be-weisen war.

Vierter Lehrsatz

Zwei oder mehrere verschiedene Dinge unterschei-den sich voneinander entweder durch die verschie-denen Attribute der Substanzen oder durch die ver-schiedenen Erregungen derselben.

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Beweis

Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einemandern (nach Axiom I), d.h. (nach den Definitionen 3und 5), außer der Erkenntnis gibt es nichts als Sub-stanzen und deren Erregungen. Es gibt folglich außerder Erkenntnis nichts, wodurch mehrere Dinge von-einander unterschieden werden können, als die Sub-stanzen oder, was dasselbe ist (nach Definition IV),ihre Attribute und ihre Erregungen. - W.z.b.w.

Fünfter Lehrsatz

In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Sub-stanzen von gleicher Beschaffenheit oder von glei-chem Attribut geben.

Beweis

Gäbe es mehrere verschiedene Substanzen, so müß-ten sie sich entweder durch die Verschiedenheit derAttribute oder durch die Verschiedenheit der Erregun-gen voneinander unterscheiden (nach dem vorigenLehrsatz). Wenn bloß durch die Verschiedenheit der

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Attribute, so wird damit zugestanden, daß es nur EineSubstanz von gleichem Attribut gibt. Wenn aberdurch die Verschiedenheit der Erregungen: da dieSubstanz von Natur früher ist als ihre Erregungen(nach Lehrsatz 1), so wird sie, von ihren Erregungenabgesehen und für sich betrachtet, d.h. (nach Definiti-on 3 und Axiom 6) richtig betrachtet, als unterschie-den von einer andern nicht begriffen werden können,d.h. (nach dem vorigen Lehrsatz), es kann nicht meh-rere Substanzen geben, sondern nur Eine. - W.z.b.w.

Sechster Lehrsatz

Eine Substanz kann von einer andern Substanz nichthervorgebracht werden.

Beweis

In der Natur kann es nicht zwei Substanzen vongleichem Attribut geben (nach dem vorigen Lehrsatz),d.h. (nach Lehrsatz 2) die etwas miteinander gemeinhaben. Darum kann (nach Lehrsatz 3) die eine nichtdie Ursache der andern sein, oder eine kann nicht vonder andern hervorgebracht werden. - W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt, daß eine Substanz nicht von etwasanderem hervorgebracht werden kann. Denn in derNatur gibt es nichts als Substanzen und deren Erre-gungen, wie aus Axiom I und den Definitionen 3 und5 erhellt. Von einer Substanz aber kann sie nicht her-vorgebracht werden (nach dem vorigen Lehrsatz).Folglich kann eine Substanz von einer andern Sub-stanz überhaupt nicht hervorgebracht werden. -W.z.b.w.

Anderer Beweis

Noch leichter kann dies aus der Widersinnigkeitdes Gegenteils bewiesen werden. Wenn nämlich eineSubstanz von einer andern hervorgebracht werdenkönnte, so müßte die Erkenntnis derselben von derErkenntnis ihrer Ursache abhängen (nach Axiom IV);dann aber wäre sie (nach Definition 3) keine Sub-stanz.

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Siebenter Lehrsatz

Zur Natur der Substanz gehört es, daß sie existiert.

Beweis

Die Substanz kann von etwas anderem nicht her-vorgebracht werden (nach dem Zusatz zum vorigenLehrsatz); sie ist daher Ursache ihrer selbst, d.h., ihrWesen schließt notwendig die Existenz ein, oder zuihrer Natur gehört das Dasein. - W.z.b.w.

Achter Lehrsatz

Alle Substanz ist notwendig unendlich.

Beweis

Es kann nicht mehr als eine einzige Substanz vongleichem Attribut vorhanden sein (nach Lehrsatz 5),und zu ihrer Natur gehört die Existenz (nach Lehrsatz7); folglich muß sie ihrer Natur nach entweder alsendlich oder als unendlich existieren. Als endlich abernicht; denn sie müßte dann (nach Definition 2) voneiner andern Substanz gleicher Natur, welche

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ebenfalls notwendig existieren müßte, begrenzt wer-den (zufolge Lehrsatz 7); es gäbe also zwei Substan-zen von gleichem Attribut, was widersinnig ist (nachLehrsatz 5). Somit existiert sie als unendlich. -W.z.b.w.

1. Anmerkung

Da endlich sein im Grunde genommen eine teilwei-se Verneinung, unendlich sein aber die absolute Beja-hung des Daseins irgendeiner Natur ist, so folgt alsoschon aus dem Lehrsatz 7, daß jede Substanz unend-lich sein muß.

2. Anmerkung

Ich zweifle nicht, daß es allen, welche über dieDinge unklar urteilen und nicht gewohnt sind, dieDinge nach ihren ersten Gründen zu erkennen,schwerfallen wird, den Beweis des 7. Lehrsatzes zubegreifen; weil sie nämlich keinen Unterschied ma-chen zwischen den Modifikationen der Substanzenund den Substanzen selbst, und nicht wissen, auf wel-che Weise die Dinge hervorgebracht werden. Daherkommt es, daß sie den Substanzen einen Anfang an-dichten, weil sie sehen, daß die Naturdinge einen An-fang haben. Denn diejenigen, welche die wahren

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Gründe der Dinge nicht kennen, werfen alles durch-einander und lassen ohne Widerstreben ihres GeistesBäume wie Menschen reden und Menschen aus Stei-nen wie aus Samen entstehen, oder bilden sich ein, eskönne sich jede Form in jede beliebige andere ver-wandeln.

So schreiben auch die, welche die göttliche Naturmit der menschlichen verwechseln, ohne BedenkenGott menschliche Affekte zu, namentlich solange sieauch nicht wissen, auf welche Weise die Affekte inder Seele entstehen.

Würden dagegen die Menschen auf die Natur derSubstanz genau achten, so würden sie die Wahrheitdes 7. Lehrsatzes keinen Augenblick bezweifeln; jadieser Satz würde jedermann als Axiom gelten und zuden Gemeinbegriffen gezählt werden. Denn unterSubstanz würden sie alsdann das verstehen, was insich ist und durch sich begriffen wird, d.h. etwas, des-sen Erkenntnis nicht die Erkenntnis eines andern Din-ges nötig hat; unter Modifikationen aber das, was ineinem andern ist und deren Begriff nach dem Begriffdes Dinges, in welchem sie sind, gebildet wird. Daherauch können wir richtige Ideen von Modifikationenhaben, welche nicht existieren, weil nämlich, obschonsie außerhalb des Geistes nicht wirklich existieren, ihrWesen doch in einem andern so enthalten ist, daß siedurch dieses begriffen werden können. Die Wahrheit

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der Substanzen aber ist außerhalb des Geistes nir-gends als in ihnen selbst, weil sie durch sich begriffenwerden.

Wenn also jemand sagen würde, er habe eine klareund deutliche, d.h. wahre Idee von einer Substanz undzweifele trotzdem, ob eine solche Substanz existiere,so wäre das wahrlich ebenso, als würde er sagen, erhabe eine wahre Idee und zweifele trotzdem, ob sienicht falsch sei (wie jedem klar sein wird, der dieSache beim rechten Licht betrachtet). So wenn je-mand behaupten würde, eine Substanz werde geschaf-fen, so behauptet er zugleich, daß eine falsche Ideewahr geworden sei. Widersinnigeres als dieses kannwahrlich nicht gedacht werden. Daher muß man not-wendig zugeben, daß die Existenz der Substanz,ebenso wie ihr Wesen, ewige Wahrheit sei.

Wir können hier auch noch auf eine andere Weiseden Schluß ziehen, daß es nur eine einzige Substanzvon gleicher Natur geben könne, und ich halte es derMühe wert, dies hier zu zeigen. Um ordnungsgemäßzu verfahren, bemerke ich folgendes:

1. daß eine richtige Definition eines jeden Dingesnichts in sich schließt noch ausdrückt als die Naturdes definierten Dinges. Daraus folgt

2. daß keine Definition eine bestimmte Zahl vonIndividuen in sich schließt oder ausdrückt, da sie ebennichts anderes ausdrückt als die Natur des definierten

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Dinges. Zum Beispiel die Definition eines Dreiecksdrückt nichts anderes aus als die einfache Natur desDreiecks, nicht aber eine bestimmte Zahl von Drei-ecken;

3. ist zu beachten, daß es von jedwedem existieren-den Ding irgendeine bestimmte Ursache geben muß,weswegen es existiert; 4. endlich ist zu beachten, daßdiese Ursache, weswegen ein Ding existiert, entwederin der Natur selbst und der Definition des existieren-den Dinges enthalten sein muß (weil nämlich das Da-sein zur Natur desselben gehört), oder daß diese Ursa-che außerhalb derselben liegen muß.

Aus diesen Sätzen folgt, daß, wenn in der Natur ir-gendeine bestimmte Anzahl von Individuen existiert,es notwendig eine Ursache geben muß, weshalb jeneIndividuen und weshalb nicht mehr oder weniger exi-stieren. Wenn z.B. in der Natur zwanzig Menschenvorhanden wären (von denen ich, der größeren Deut-lichkeit wegen, annehme, daß sie gleichzeitig existie-ren und daß keine andern vor ihnen existierten), sowird es nicht genügen (um nämlich den Grund anzu-geben, weshalb zwanzig Menschen existieren), dieUrsache der menschlichen Natur im allgemeinen dar-zutun, sondern es wird außerdem nötig sein, die Ursa-che darzutun, weshalb nicht mehr noch weniger alszwanzig existieren; da es (nach Punkt 3) von jedemnotwendig eine Ursache geben muß, weswegen es

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existiert. Diese Ursache kann nun aber (nach Punkt 2und 3) nicht in der menschlichen Natur selbst enthal-ten sein, da die wahre Definition des Menschen dieZahl Zwanzig nicht in sich schließt; es muß also(nach Punkt 4) die Ursache, weshalb diese zwanzigMenschen existieren und folglich auch, warum jedereinzelne existiert, notwendig außerhalb eines jedenliegen. Daher muß man unbedingt den Schluß ziehen,daß alles, von dessen Natur mehrere Individuen exi-stieren können, notwendig eine äußere Ursache fürsein Dasein haben muß. Da es nun zur Natur der Sub-stanz gehört zu existieren (wie in dieser Anmerkungbereits gezeigt worden), so muß ihre Definition not-wendige Existenz in sich schließen, und folglich mußaus ihrer bloßen Definition ihre Existenz geschlossenwerden. Dagegen kann aus ihrer Definition (wie be-reits aus Punkt 2 und 3 dargetan) nicht die Existenzmehrerer Substanzen folgen. Es folgt somit aus ihrmit Notwendigkeit, daß nur eine einzige Substanz vongleicher Natur existiert, wie im Lehrsatz behauptetwurde.

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Neunter Lehrsatz

Je mehr Realität oder Sein jedes Ding hat, destomehr Attribute kommen ihm zu.

Beweis

Es erhellt dies aus Definition 4.

Zehnter Lehrsatz

Jedes Attribut einer Substanz muß durch sich begrif-fen werden.

Beweis

Denn ein Attribut ist das, was der Verstand an derSubstanz als zu ihrem Wesen gehörig erkennt (nachDefinition 4), folglich muß es (nach Definition 3)durch sich begriffen werden. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Hieraus erhellt, daß, wenn auch zwei Attribute alstatsächlich verschieden begriffen werden, d.h. einesohne Zuhilfenahme des andern, wir daraus doch nichtschließen können, daß sie zwei Wesen oder zwei ver-schiedene Substanzen bilden. Denn das gehört zurNatur der Substanz, daß jedes ihrer Attribute durchsich begriffen wird, da ja alle Attribute, die sie hat,immer zugleich in ihr gewesen sind und eines vom an-dern nicht hervorgebracht werden konnte; jedes ein-zelne drückt vielmehr die Realität oder das Sein derSubstanz aus. Weit entfernt daher, daß es widersinnigwäre, einer Substanz mehrere Attribute zuzuschrei-ben, ist im Gegenteil nichts in der Natur klarer, alsdaß jedes Wesen unter irgendeinem Attribut begriffenwerden muß und daß, je mehr Realität oder Sein das-selbe hat, es auch desto mehr Attribute hat, welchesowohl die Notwendigkeit oder Ewigkeit als auch dieUnendlichkeit ausdrücken. Demzufolge ist auchnichts klarer, als daß das absolut unendliche Wesennotwendig definiert werden muß (wie schon in Defini-tion 6 geschehen) als ein Wesen, das aus unendlichenAttributen besteht, von welchen jedes eine gewisseewige und unendliche Wesenheit ausdrückt.

Fragt nun aber jemand, an welchem Zeichen wir

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hiernach die Verschiedenheit der Substanzen unter-scheiden können, so möge er die nachstehenden Lehr-sätze lesen, welche zeigen, daß in der Natur nur eineeinzige Substanz existiert und daß dieselbe absolutunendlich ist; daß also ein solches Zeichen vergebensgesucht würde.

Elfter Lehrsatz

Gott oder die Substanz, welche aus unendlichen At-tributen besteht, von denen jedes ewige und unendli-che Wesenheit ausdrückt, existiert notwendig.

Beweis

Bestreitet man das, so nehme man an, wenn mankann, Gott existiere nicht. Es schließt also (nachAxiom VII) sein Wesen seine Existenz nicht ein. Nunist aber das (nach Lehrsatz 7) widersinnig. Also exi-stiert Gott notwendig. - W.z.b.w.

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Anderer Beweis

Von jedem Ding muß eine Ursache oder ein Grundangegeben werden, sowohl warum es existiert alsauch warum es nicht existiert. Zum Beispiel, wenn einDreieck existiert, so muß es auch einen Grund odereine Ursache geben, warum es existiert. Existiert esaber nicht, so muß es ebenfalls einen Grund oder eineUrsache geben, welche hindert, daß es existiert oderwelche seine Existenz aufhebt. Dieser Grund aberoder diese Ursache muß entweder in der Natur desDinges enthalten sein oder außerhalb derselben. ZumBeispiel den Grund, warum ein viereckiger Kreisnicht existiert, gibt die Natur des Kreises selbst an,weil das nämlich einen Widerspruch in sich schließenwürde. Weshalb aber hingegen die Substanz existiert,folgt ebenfalls aus der bloßen Natur derselben, welchenämlich die Existenz in sich schließt (s. Lehrsatz 7).Der Grund aber, weshalb ein Kreis oder ein Dreieckexistiert oder nicht existiert, folgt nicht aus ihrerNatur, sondern aus der Ordnung der Natur aller Kör-per; denn aus dieser muß folgen, daß entweder dasDreieck mit Notwendigkeit bereits existiert oder daßes unmöglich ist, daß es bereits existiert. Dies istdoch wohl selbstverständlich. Hieraus folgt, daß das-jenige mit Notwendigkeit existiert, wovon kein Grund

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und keine Ursache vorhanden ist, welche es verhin-derte zu existieren. Wenn es daher keinen Grund undkeine Ursache geben kann, welche verhinderte, daßGott existiert oder welche seine Existenz aufhebenwürde, so muß unbedingt gefolgert werden, daß er mitNotwendigkeit existiert. Gäbe es nun einen solchenGrund oder eine solche Ursache, so müßte sie entwe-der in der eigenen Natur Gottes liegen oder außerhalbderselben, d.h. in einer anderen Substanz von andererNatur. Denn wäre sie von gleicher Natur, so wäredamit schon zugestanden, daß Gott ist. Eine Substanzaber, welche von anderer Natur wäre, hat nichts mitGott gemein (nach Lehrsatz 2) und kann daher seineExistenz weder setzen noch aufheben.

Da es also einen Grund oder eine Ursache, welchedie göttliche Existenz aufhebt, außerhalb der göttli-chen Natur nicht geben kann, so müßte sie, wenn ernicht existieren würde, notwendig in der eigenenNatur Gottes liegen, welche mithin einen Wider-spruch enthielte. Dies aber von dem absolut unendli-chen und höchst vollkommenen Wesen zu behaupten,wäre widersinnig. Es gibt also weder in Gott nochaußer Gott irgendeine Ursache oder einen Grund, wel-cher seine Existenz aufhebt. Folglich existiert Gottnotwendig. - W.z.b.w.

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Anderer Beweis

Nicht existieren können ist ein Unvermögen, exi-stieren können dagegen ein Vermögen (was an sichklar ist). Wenn darum das, was schon notwendig exi-stiert, nur endliche Wesen sind, so wären also endli-che Wesen mächtiger als das absolut unendlicheWesen. Das ist (selbstverständlich) widersinnig.Somit existiert entweder nichts, oder das absolut un-endliche Wesen existiert notwendig. Nun existierenwir selbst, entweder in uns oder in einem andern, wel-ches notwendig existiert (s. Axiom I und Lehrsatz 7).Folglich muß das absolut unendliche Wesen, d.h.(nach Definition 6) Gott, notwendig existieren. -W.z.b.w.

Anmerkung

In diesem letzten Beweis wollte ich das DaseinGottes a posteriori nachweisen, damit der Beweisleichter begriffen werde, nicht aber darum, weil dasDasein Gottes auf derselben Grundlage auch nicht apriori zu folgern wäre. Denn da existieren können einVermögen ist, so folgt, daß je mehr Realität der Natureines Dinges zukommt, es um so mehr Kraft aus sichhat zu existieren. Daher muß das absolut unendliche

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Wesen oder Gott ein absolut unendliches Vermögenzu existieren aus sich haben, und er muß darum abso-lut existieren.

Vielleicht werden viele die Beweiskraft dieses Be-weises nicht leicht einsehen, weil sie gewohnt sind,nur solche Dinge zu betrachten, welche aus äußernUrsachen entspringen; dabei machten sie die Wahr-nehmung, daß Dinge, welche schnell entstehen, d.h.leicht existieren, auch wieder leicht untergehen, undumgekehrt meinen sie, daß diejenigen Dinge schwieri-ger zu machen sind, d.h. nicht so leicht existieren, zuwelchen nach ihren Begriffen mehr erforderlich ist.

Indessen, um diesen Vorurteilen entgegenzutreten,habe ich nicht nötig, hier zu zeigen, in welchem Sinneder Satz: »Was schnell entsteht, vergeht schnell«wahr sei; noch auch, ob rücksichtlich der ganzenNatur alles gleich leicht sei oder nicht. Es genügt viel-mehr die eine Bemerkung, daß ich hier nicht von Din-gen rede, die durch äußere Ursachen entstehen, son-dern nur von Substanzen, welche (nach Lehrsatz 6)von keiner äußern Ursache hervorgebracht werdenkönnen. - Denn Dinge, die durch äußere Ursachenentstehen, mögen sie aus vielen Teilen bestehen oderaus wenigen, verdanken alles, was sie an Vollkom-menheit oder Realität haben, der Kraft der äußern Ur-sache, ihre Existenz entspringt daher lediglich aus derVollkommenheit der äußern Ursache, nicht der

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eigenen. Was hingegen die Substanz an Vollkommen-heit hat, verdankt sie keiner äußern Ursache; dahermuß auch ihre Existenz aus ihrer eigenen Natur alleinfolgen, welche demnach nichts anderes ist als ihrWesen. Die Vollkommenheit hebt somit die Existenzeines Dinges nicht auf, sondern setzt sie vielmehr; dieUnvollkommenheit hingegen hebt dieselbe auf. Daherkönnen wir über die Existenz keines Dinges mehr Ge-wißheit haben als über die Existenz des absolut un-endlichen oder vollkommenen Wesens, d.h. Gottes.Denn da sein Wesen alle Unvollkommenheit aus-schließt und absolute Vollkommenheit in sichschließt, so hebt es eben dadurch jeden Grund, an sei-ner Existenz zu zweifeln, auf und gibt darüber diehöchste Gewißheit. Wer nur einigermaßen aufmerkt,wird dies, denke ich, einleuchtend finden.

Zwölfter Lehrsatz

Kein Attribut einer Substanz kann richtig begriffensein, wenn aus dessen Begriff folgen würde, daß dieSubstanz geteilt werden könne.

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Beweis

Denn die Teile, in welche die Substanz, so begrif-fen, geteilt würde, würden entweder die Natur derSubstanz behalten oder nicht. Ist das erstere der Fall,so müßte (nach Lehrsatz 8) jeder Teil unendlich sein,er müßte auch (nach Lehrsatz 6) Ursache seiner selbstsein und (nach Lehrsatz 5) aus verschiedenen Attribu-ten bestehen. So könnten aus Einer Substanz mehrereSubstanzen sich bilden, was (nach Lehrsatz 6) wider-sinnig ist. Hierzu kommt -noch, daß die Teile (nachLehrsatz 2) nichts mit ihrem Ganzen gemein hättenund das Ganze (nach Definition 4 und Lehrsatz 10)ohne seine Teile sowohl sein als auch begriffen wer-den könnte; eine Widersinnigkeit, die niemand ver-kennen wird. Würde aber der zweite Fall angenom-men, daß nämlich die Teile die Natur der Substanznicht behalten, so würde folglich die Substanz, wennsie in gleiche Teile geteilt würde, die Natur der Sub-stanz verlieren und zu sein aufhören; was (nach Lehr-satz 7) widersinnig wäre.

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Dreizehnter Lehrsatz

Die absolut unendliche Substanz ist unteilbar.

Beweis

Wäre sie teilbar, so würden die Teile, in welche siegeteilt würde, die Natur der absolut unendlichen Sub-stanz entweder behalten oder nicht behalten. Im erstenFall würden sich mehrere Substanzen von gleicherNatur ergeben, was (nach Lehrsatz 5) widersinnigwäre. Im zweiten Fall würde sich ergeben (wie obengezeigt), daß die absolut unendliche Substanz aufhö-ren könnte zu sein, was (nach Lehrsatz 11) gleichfallswidersinnig wäre.

Zusatz

Hieraus folgt, daß keine Substanz und folglichkeine körperliche Substanz, sofern sie Substanz, teil-bar ist.

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Anmerkung

Daß die Substanz unteilbar ist, wird noch einfacherdaraus allein erkannt, daß man die Natur der Substanznicht anders denn als unendlich begreifen kann, wäh-rend unter einem Teil der Substanz nichts anderesverstanden werden kann als eine endliche Substanz;was (nach Lehrsatz 8) einen offenbaren Widerspruchenthielte.

Vierzehnter Lehrsatz

Außer Gott kann es eine Substanz weder geben,noch kann eine solche begriffen werden.

Beweis

Da Gott das absolut unendliche Wesen ist, an demkein Attribut, welches das Wesen der Substanz aus-drückt, verneint werden kann (nach Definition 6) undderselbe notwendig existiert (nach Lehrsatz 11), somußte, wenn es eine Substanz außer Gott gäbe, die-selbe durch irgendein Attribut Gottes ausgedrücktwerden, und so wären zwei Substanzen von gleichemAttribut vorhanden, was (nach Lehrsatz 3)

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widersinnig wäre. Somit kann es keine Substanzaußer Gott geben, und folglich kann eine solche auchnicht begriffen werden. Denn könnte eine solche be-griffen werden, so müßte sie notwendig als existie-rend begriffen werden, was aber (nach dem ersten Teildieses Beweises) widersinnig ist. Folglich kann außerGott keine Substanz vorhanden sein noch begriffenwerden. - W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt aufs deutlichste erstens: daß Gotteinzig ist, d.h. (nach Definition 6), daß es in derNatur nur Eine Substanz gibt und daß dieselbe abso-lut unendlich ist, wie in der Anmerkung zu Lehrsatz10 bereits angedeutet wurde.

Zusatz II

Es folgt hieraus zweitens: daß das ausgedehnteDing und das denkende Ding entweder Attribute Got-tes sind oder (nach Axiom I) Erregungen der AttributeGottes.

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Fünfzehnter Lehrsatz

Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gottsein noch begriffen werden.

Beweis

Außer Gott gibt es keine Substanz und kann auchkeine begriffen werden (nach Lehrsatz 14), d.h. (nachDefinition 3) kein Ding, das in sich ist und durch sichbegriffen wird. Die Daseinsformen (Modi) aber kön-nen (nach Definition 5) ohne die Substanz weder seinnoch begriffen werden. Somit können sie nur in dergöttlichen Natur sein und nur durch sie begriffen wer-den. Außer den Substanzen und ihren Daseinsformengibt es aber nichts (nach Axiom I). Folglich kannohne Gott nichts sein noch begriffen werden. -W.z.b.w.

Anmerkung

Es gibt Menschen, welche sich Gott wie einenMenschen vorstellen, aus Körper und Geist bestehendund den Leidenschaften unterworfen. Wie weit aberdiese von dem richtigen Begriff Gottes entfernt sind,

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ergibt sich aus dem, was bereits bewiesen worden, zurGenüge. Doch lasse ich diese beiseite; denn alle, wel-che Über die göttliche Natur nur einigermaßen nach-gedacht haben, verneinen die Körperlichkeit Gottes.Unter anderem beweisen sie das am besten damit, daßman unter Körper eine lange, breite und hohe Massevon bestimmter Form versteht, während es nichts Wi-dersinnigeres geben könne, als dies von Gott, dem ab-solut unendlichen Wesen, zu sagen. - Indessen zeigensie doch durch andere Gründe, womit sie dies zu be-weisen suchen, deutlich, daß sie die körperliche oderausgedehnte Substanz selbst von der göttlichen Naturganz und gar fernhalten, und zwar behaupten sie, die-selbe sei von Gott geschaffen. Aus welcher göttlichenMacht aber dieselbe geschaffen werden konnte, dar-über wissen sie nicht das geringste; was deutlichzeigt, daß sie das, was sie sagen, selbst nicht verste-hen. Meiner Meinung nach wenigstens habe ich klargenug bewiesen (s. Zusatz zu Lehrsatz 6 und Anmer-kung 2 zu Lehrsatz 8), daß keine Substanz von einerandern hervorgebracht oder geschaffen werden kann.Weiter habe ich (Lehrsatz 14) gezeigt, daß es außerGott keine Substanz geben und keine begriffen wer-den kann, und daraus habe ich den Schluß gezogen,daß die ausgedehnte Substanz eines von den unendli-chen Attributen Gottes sei.

Um jedoch die Sache vollständig klarzumachen,

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will ich die Beweisgründe der Gegner widerlegen,welche sämtlich auf folgendes hinauslaufen.

Erstens meinen sie, daß die körperliche Substanz,als Substanz, aus Teilen bestehe; daher verneinen sie,daß dieselbe unendlich sein und folglich auch, daß siezu Gott gehören könne. Sie entwickeln das auch anvielen Beispielen, von welchen ich das eine oder an-dere anführen will. Gesetzt, sagen sie, die körperlicheSubstanz sei unendlich, so nehme man an, daß sie inzwei Teile geteilt würde; jeder Teil wird entwederendlich oder unendlich sein. Ist ersteres der Fall, sowäre das Unendliche aus zwei endlichen Teilen zu-sammengesetzt, was widersinnig wäre. Im letzterenFall gäbe es ein Unendliches, das doppelt so großwäre als ein anderes Unendliche, was gleichfalls wi-dersinnig wäre.

Ferner: Wenn eine unendliche Größe mit einemMaß von der Größe eines Fußes gemessen wird, somuß sie aus unendlich vielen solchen Teilen bestehenund ebenso, wenn sie mit einem Maß von der Größeeiner Fingerbreite (eines Zolls) gemessen würde.Demnach wäre eine unendliche Zahl zwölfmal größerals eine andere unendliche Zahl.

Endlich: Wenn man sich aus einem Punkte einerunendlichen Größe zwei Linien, wie AB und AC (s.Figur), gezogen denkt, die sich anfangs in einem ge-wissen und bestimmten Abstand voneinander

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entfernen und ins unendliche verlängert werden, sowird sicherlich der Abstand zwischen B und C fort-während zunehmen und schließlich aus einem endli-chen ein unendlicher werden.

Da also, wie sie meinen, dergleichen Widersinnig-keiten sich daraus ergeben würden, daß eine unendli-che Quantität angenommen wird, so folgern sie, daßdie körperliche Substanz endlich sein müsse und daßsie folglich nicht zum Wesen Gottes gehöre.

Ein weiterer Beweisgrund wird gleichfalls derhöchsten Vollkommenheit Gottes entnommen. Gott,sagen sie, könne als höchst vollkommenes Wesennicht leidend sein; die körperliche Substanz aberkönne leidend sein, da sie ja teilbar ist, woraus folgt,daß sie zum Wesen Gottes nicht gehört.

Das sind die bei den Schriftstellern sich findendenBeweise, womit sie zu zeigen versuchen, daß die kör-perliche Substanz der göttlichen Natur unwürdig seiund nicht zu ihr gehören könne.

Wer indessen genau aufmerkt, wird finden, daß ichbereits darauf geantwortet habe; da ja alle diese Be-weise sich nur auf die Annahme gründen, daß die

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körperliche Substanz aus Teilen zusammengesetzt ist,was aber von mir bereits (in Lehrsatz 12, verglichenmit Zusatz zu Lehrsatz 13) als widersinnig erwiesenwurde.

Wer ferner die Sache richtig erwägt, wird merken,daß alle jene Widersinnigkeiten (wenn es in der Tatsolche sind, worüber ich jetzt nicht streite), aus wel-chen geschlossen werden will, daß die ausgedehnteSubstanz endlich sei, keineswegs aus der Annahmeeiner unendlichen Quantität folgen, sondern aus derAnnahme, daß die unendliche Quantität meßbar undaus endlichen Teilen zusammengesetzt sei. Aus dengefolgerten Widersinnigkeiten kann daher nur ge-schlossen werden, daß die unendliche Quantität nichtmeßbar ist und nicht aus endlichen Teilen zusammen-gesetzt sein kann. Eben dies ist es nun aber, was ichoben (Lehrsatz 12 usw.) bereits bewiesen habe. DerPfeil, welchen jene gegen mich abschnellen, trifftdaher in Wahrheit sie selbst.

Wenn sie nun aber selbst aus dieser ihrer Widersin-nigkeit schließen wollen, daß die ausgedehnte Sub-stanz endlich sein müsse, so ist dies wahrlich ganzebenso, als wenn jemand sich einbildet, der Kreishabe die Eigenschaften des Vierecks, und nun denSchluß daraus zieht, daß der Kreis keinen Mittelpunkthabe, dessen sämtliche nach der Peripherie gezogenenLinien einander gleich sind. Denn die körperliche

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Substanz, welche doch nur als unendlich, nur als ein-zig und nur als unteilbar begriffen werden kann (s. dieLehrsätze 8, 5 und 12), denken sie sich aus endlichenTeilen bestehend, vielfach und teilbar, um schließenzu können, daß sie endlich sei. So wissen auch ande-re, welche sich einbilden, eine Linie sei aus Punktenzusammengesetzt, viele Beweise dafür beizubringen,daß eine Linie nicht ins unendliche teilbar sei. Und inder Tat ist es nicht minder widersinnig zu behaupten,daß die körperliche Substanz aus Körpern oder Teilenzusammengesetzt sei, als zu behaupten, ein Körpersei aus Flächen, die Flächen seien aus Linien, die Li-nien endlich aus Punkten zusammengesetzt.

Alle, welche wissen, daß die klare Vernunft untrüg-lich ist, müssen das zugeben, besonders aber diejeni-gen, welche behaupten, es gäbe keinen leeren Raum.Denn wem, die körperliche Substanz so geteilt wer-den könnte, daß ihre Teile in der Wirklichkeit ver-schieden wären, warum sollte nicht ein Teil vernichtetwerden können, während die andern Teile, wie zuvor,untereinander verbunden blieben? Warum müssenalle so zusammenpassen, daß es keinen leeren Raumgibt? Kann doch unter Dingen, welche tatsächlichvoneinander unterschieden sind, eins sehr wohl ohnedas andere sein und in seinem Zustand verbleiben. Daes also in der Natur keinen leeren Raum gibt (wor-über anderwärts), sondern alle Teile sich derart

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miteinander vereinigen müssen, daß es keinen leerenRaum gibt, so folgt auch daraus, daß sie in Wirklich-keit nicht unterschieden sein können, d.h., daß diekörperliche Substanz als Substanz nicht geteilt wer-den kann.

Fragt aber nun jemand, weshalb der Mensch vonNatur aus so sehr geneigt sei, die Quantität zu teilen,so antworte ich, daß die Quantität auf zweifacheWeise von uns begriffen wird, einmal abstrakt oderäußerlich, so nämlich, wie man sich dieselbe sinnlichvorstellt, und dann als Substanz, was vom Verstandallein geschieht. Richtet sich unsere Betrachtung aufdie Quantität, wie sie die sinnliche Vorstellung auf-faßt, was häufig und leichter von uns geschieht, so er-scheint sie endlich, teilbar und aus Teilen zusammen-gesetzt; richtet sich aber unsere Betrachtung auf die-selbe, wie sie der Verstand allein auffaßt, und begrei-fen wir sie als Substanz, was sehr schwierig ist, dannerscheint sie, wie ich bereits zur Genüge bewiesenhabe, unendlich, einzig und unteilbar. Dies wird allen,welche zwischen sinnlicher Vorstellung und Verstandzu unterscheiden wissen, hinlänglich klar sein; beson-ders wenn man noch bedenkt, daß die Materie überalldieselbe ist und daß Teile an derselben bloß unter-schieden werden können, sofern wir sie auf verschie-dene Weise erregt vorstellen; weshalb sich ihre Teilenur in bezug auf die Daseinsform, nicht aber

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gegenständlich unterscheiden lassen. Wir begreifenz.B., daß das Wasser, sofern es Wasser ist geteiltwerden kann und daß sich seine Bestandteile vonein-ander trennen lassen; nicht aber, sofern es körperlicheSubstanz ist, denn als solche kann es weder getrenntnoch geteilt werden. Ferner: Wasser als Wasser ent-steht und vergeht, als Substanz dagegen entsteht esund vergeht es nicht. - Damit glaube ich auch auf denzweiten Einwand geantwortet zu haben, da sich der-selbe gleichfalls darauf gründet, daß die Materie alsSubstanz teilbar und aus Teilen zusammengesetztsein soll.

Indessen, auch davon abgesehen, sehe ich gar nichtein, weshalb die Materie der göttlichen Natur unwür-dig sein soll, da es doch (nach Lehrsatz 14) außerGott keine Substanz geben kann, von welcher sie lei-den könnte. Alles, sage ich, ist in Gott, und alles, wasgeschieht, geschieht einzig und allein durch die Geset-ze der unendlichen Natur Gottes und folgt aus derNotwendigkeit seines Wesens (wie ich bald zeigenwerde). Daher kann in keiner Weise gesagt werden,daß Gott von etwas anderem leide oder daß die ausge-dehnte Substanz der göttlichen Natur unwürdig sei,selbst wenn ihr Teilbarkeit zugeschrieben würde, so-bald ihr nur Ewigkeit und Unendlichkeit zugestandenwird.

Doch für jetzt genug hiervon.

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Sechzehnter Lehrsatz

Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur mußUnendliches auf unendliche Weisen (d.h. alles, wasvon dem unendlichen Denken erfaßt werden kann)folgen.

Beweis

Dieser Lehrsatz muß jedem einleuchten, der er-wägt, daß der Verstand aus der gegebenen Definitioneines jeden Dinges viele Eigenschaften folgert, welcheauch tatsächlich aus derselben (d.h. aus dem Wesendes Dinges selbst) notwendig folgen, und zwar um somehr, je mehr Realität die Definition des Dinges aus-drückt, d.h. je mehr Realität das Wesen des definier-ten Dinges einschließt. Da aber die göttliche Naturabsolut unendliche Attribute hat (nach Definition 6),von denen jedes gleichfalls ein unendliches Wesen inseiner Art ausdrückt, so muß folglich aus ihrer Not-wendigkeit Unendliches auf unendliche Weisen (d.h.alles, was von dem unendlichen Denken erfaßt werdenkann) notwendig folgen. - W.z.b.w.

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Zusatz I

Hieraus folgt erstens, daß Gott die wirkende Ursa-che aller Dinge ist, welche von dem unendlichen Ver-stand erfaßt werden können.

Zusatz II

Hieraus folgt zweitens, daß Gott diese Ursachedurch sich ist, nicht aber durch ein Nebensächliches(Hinzukommendes).

Zusatz III

Hieraus folgt drittens, daß Gott absolut die ersteUrsache ist.

Siebzehnter Lehrsatz

Gott handelt nur nach den Gesetzen seiner Naturund von niemand gezwungen.

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Beweis

Daß aus der Notwendigkeit der göttlichen Naturoder (was dasselbe ist) aus den bloßen Gesetzen sei-ner Natur Unendliches absolut folgt, habe ich soeben,im 16. Lehrsatz, gezeigt, und im 15. Lehrsatz habeich bewiesen, daß ohne Gott nichts ist und nichts be-griffen werden kann, daß vielmehr alles in Gott ist. Eskann daher nichts außer ihm sein, von dem er zumHandeln bestimmt oder gezwungen würde. Und daherhandelt Gott nur nach den Gesetzen seiner Natur undvon niemand gezwungen. - W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt erstens, daß es keine Ursache gibt,welche Gott von außen oder von innen zum Handelnerregt, außer der Vollkommenheit seiner eigenenNatur.

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Zusatz II

Hieraus folgt zweitens, daß Gott allein eine freieUrsache ist. Denn Gott allein existiert nach der blo-ßen Notwendigkeit seiner Natur (nach Lehrsatz 11und Zusatz zu Lehrsatz 14) und handelt nach der blo-ßen Notwendigkeit seiner Natur (nach dem vorigenLehrsatz). Daher kann (nach Definition 7) er alleinfreie Ursache sein. - W.z.b.w.

Anmerkung

Andere meinen, Gott sei deshalb freie Ursache,weil er, wie sie glauben, bewirken kann, daß das,wovon ich sagte, daß es aus seiner Natur folgt, d.h.,was in seiner Macht steht, nicht geschehe oder vonihm nicht hervorgebracht werde. Das aber wäre gera-deso, als ob sie sagten, Gott könne machen, daß ausder Natur des Dreiecks nicht folge, daß dessen dreiWinkel zwei rechten Winkeln gleich wären oder daßaus einer gegebenen Ursache keine Wirkung folge,was widersinnig ist. Ferner werde ich unten ohne Zu-hilfenahme dieses Lehrsatzes zeigen, daß zur NaturGottes weder Vertand noch Wille gehört.

Ich weiß allerdings, daß viele meinen, sie könntenbeweisen, daß zur Natur Gottes der höchste Verstand

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und der freie Wille gehöre; denn sie sagen, daß sienichts Vollkommeneres kennen, das sie Gott zuschrei-ben können, als das, was bei uns die höchste Voll-kommenheit ist. Ferner, obgleich sie Gott als den tat-sächlich Höchstdenkenden begreifen, glauben siedoch nicht, daß er alles, was er tatsächlich denkt, auchausführen könne, so daß es existiert, denn damit glau-ben sie die Macht Gottes umzustoßen. Wenn, sagensie, Gott alles, was in seinem Denken ist, erschaffenhätte, so könnte er ja nichts weiter erschaffen, unddies widerstreitet nach ihrer Meinung der AllmachtGottes. Daher behaupten sie lieber, Gott sei gegenalles indifferent, und er erschaffe nichts anderes alsdas, was er nach irgendeinem absoluten Willen zuschaffen beschlossen habe.

Ich glaube jedoch deutlich genug gezeigt zu haben(s. Lehrsatz 16), daß aus der höchsten Macht Gottesoder seiner unendlichen Natur Unendliches auf unend-liche Weisen, d.h. alles, mit Notwendigkeit hervorge-gangen ist oder stets mit gleicher Notwendigkeit folg-te, wie aus der Natur des Dreiecks von Ewigkeit herund in alle Ewigkeit folgt, daß dessen drei Winkelzwei rechten Winkeln gleich sind. Daher ist die All-macht Gottes von Ewigkeit her wirksam gewesen undwird in alle Ewigkeit in derselben Wirksamkeit ver-harren.

Auf diese Weise wird die Allmacht Gottes, nach

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meiner Ansicht wenigstens, als eine weit vollkomme-nere hingestellt. Ja, die Gegner scheinen die AllmachtGottes (es sei mir verstattet, offen zu reden) eigentlichzu leugnen. Sie sind nämlich gezwungen einzuräu-men, daß Gott Unendliches als erschaffbar denkt, waser doch niemals wird erschaffen können. Denn an-dernfalls, wenn er nämlich alles, was er denkt, er-schaffen würde, würde er, nach ihrer Annahme, seineAllmacht erschöpfen und damit unvollkommen wer-den. Um also Gott als vollkommen hinzustellen, kom-men sie dahin, daß sie zugleich behaupten müssen,Gott könne nicht alles bewirken, worauf seine Machtsich erstreckt. Ich kann mir nicht denken daß eine wi-dersinnigere und mit Gottes Allmacht in stärkeremWiderspruch stehende Ansicht ersonnen werdenkönnte.

Nun möchte ich auch noch über Verstand undWille (Denken und Wollen), die wir gewöhnlich Gottzuschreiben, etwas sagen. - Wenn dieselben, nämlichVerstand und Wille, zum ewigen Wesen Gottes gehö-ren, so muß unter jedem dieser beiden Attribute si-cherlich etwas anderes verstanden werden, als wasman gewöhnlich darunter versteht. Der Verstand undder Wille, welche Gottes Wesen ausmachen würden,müßten von unserm Verstand und Willen himmelweitverschieden sein und könnten bloß dem Namen nachsich gleichen; nämlich nicht anders, als das Sternbild

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43Spinoza: Ethik

Hund und das bellende Tier Hund einander gleichen.Ich beweise das also:

Wenn der Verstand zur göttlichen Natur gehört, sowird er nicht, wie unser Verstand, später als die ge-dachten Dinge (wie die meisten annehmen) odergleichzeitig mit ihnen von Natur aus sein können, daja Gott ursächlich früher ist als alle Dinge (nach Zu-satz I zu Lehrsatz 16); vielmehr ist die Wahrheit unddas formale Wesen der Dinge darum so, wie sie sind,weil sie im Verstand Gottes also objektiv existieren.Daher ist der Verstand Gottes, sofern er als dasWesen Gottes ausmachend begriffen wird, in Wahr-heit die Ursache der Dinge sowohl ihres Wesens alsauch ihrer Existenz; was auch von denen bemerktworden zu sein scheint, welche erklären, daß GottesVerstand, Wille und Macht eins und dasselbe sind.Da also der Verstand Gottes die einzige Ursache derDinge ist, nämlich (wie ich gezeigt habe) sowohlihres Wesens als auch ihrer Existenz, so muß er selbstnotwendig von den Dingen verschieden sein sowohlin Hinsicht ihres Wesens als auch in Hinsicht ihrerExistenz. Denn das Verursachte unterscheidet sichvon seiner Ursache genau in dem, was es von der Ur-sache hat. So z.B. ist ein Mensch die Ursache der Exi-stenz, nicht aber des Wesens eines andern Menschen,denn dieses ist eine ewige Wahrheit. Darum könnensie dem Wesen nach vollständig einander gleich sein,

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in der Existenz aber müssen sie sich voneinander un-terscheiden. Und darum, wenn die Existenz des einenaufhört, hört darum nicht die Existenz des andern auf;wenn aber das Wesen des einen zerstört wird und sichals falsch erweisen könnte, so würde auch das Wesendes andern zerstört werden. Deshalb muß das Ding,welches die Ursache sowohl des Wesens als auch derExistenz einer Wirkung ist, sich von dieser Wirkungunterscheiden sowohl in Hinsicht des Wesens alsauch in Hinsicht der Existenz. Nun ist aber der Ver-stand Gottes die Ursache sowohl des Wesens als auchder Existenz unseres Denkens: folglich ist der Ver-stand Gottes, sofern er als das göttliche Wesen aus-machend begriffen wird, von unserem Verstand so-wohl in Hinsicht des Wesens als auch in Hinsicht derExistenz verschieden, und er kann in nichts als nur imNamen ihm gleich sein, wie ich behauptete.

Bezüglich des Willens wird der Beweis ebenso ge-führt, was jeder leicht einsehen kann.

Achtzehnter Lehrsatz

Gott ist die innewohnende, nicht aber die überle-gende Ursache aller Dinge.

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Beweis

Alles, was ist, ist in Gott und muß durch Gott be-griffen werden (nach Lehrsatz 15), und darum ist Gott(nach Zusatz I zu Lehrsatz 16) die Ursache allerDinge, die in ihm sind. Damit ist das erste bewiesen. -Sodann kann es außer. Gott keine Substanz geben(nach Lehrsatz 14), d.h. (nach Definition 3) keinDing, das außer Gott in sich ist. Damit ist das zweitebewiesen. - Somit ist Gott die innewohnende, nichtaber die übergehende Ursache aller Dinge. - W.z.b.w.

Neunzehnter Lehrsatz

Gott oder alle Attribute Gottes sind ewig.

Beweis

Denn Gott ist (nach Definition 6) die Substanz,welche (nach Lehrsatz 11) notwendig existiert, d.h.(nach Lehrsatz 7) zu dessen Natur die Existenz gehörtoder (was dasselbe ist) aus dessen Definition folgt,daß er existiert, und also (nach Definition 3) ist erewig. - Sodann ist unter Attribute Gottes das zu ver-stehen, was (nach Definition 4) das Wesen der

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göttlichen Substanz ausdrückt, d.h. das, was zur Sub-stanz gehört. Eben dies, sage ich, müssen die Attribu-te selbst enthalten. Nun gehört zur Natur der Sub-stanz (wie ich schon aus Lehrsatz 7 bewiesen habe)die Ewigkeit. Folglich muß jedes Attribut die Ewig-keit in sich schließen, und also sind sie alle ewig. -W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Satz erhellt auch sehr deutlich aus der Art,wie ich (in Lehrsatz 11) die Existenz Gottes bewiesenhabe. Aus diesem Beweise, sage ich, ergibt sich, daßdas Dasein Gottes wie auch sein Wesen eine ewigeWahrheit ist. - Ich habe übrigens (im 19. Lehrsatz derPrinzipien des Cartesius) die Ewigkeit Gottes nochauf andere Weise bewiesen und brauche dies hiernicht zu wiederholen.

Zwanzigster Lehrsatz

Die Existenz Gottes und sein Wesen sind eins unddasselbe.

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Beweis

Gott und seine sämtlichen Attribute sind (nach demvorigen Lehrsatz) ewig, d.h. (nach Definition 8), jedesseiner Attribute drückt die Existenz aus. DieselbenAttribute Gottes also, welche (nach Definition 4) dasewige Wesen Gottes darstellen, stellen zugleich seineewige Existenz dar; d.h. eben das, was das WesenGottes ausmacht, macht zugleich seine Existenz aus.Daher ist diese und sein Wesen eins und dasselbe. -W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt erstens, daß das Dasein Gottes eben-so, wie sein Wesen eine ewige Wahrheit ist.

Zusatz II

Hieraus folgt zweitens, daß Gott oder alle AttributeGottes unveränderlich sind. Denn wenn sie sich hin-sichtlich ihrer Existenz veränderten, müßten sie sichauch (nach dem vorigen Lehrsatz) hinsichtlich ihresWesens verändern, d.h. (wie sich von selbst versteht)aus wahren zu falschen werden, und das wäre wider-sinnig.

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Einundzwanzigster Lehrsatz

Alles, was aus der absoluten Natur eines AttributsGottes folgt, mußte immer und unendlich existierenoder ist eben durch dieses Attribut ewig und unend-lich.

Beweis

Man nehme (falls man dies bestreitet) womöglichan, daß aus der absoluten Natur Gottes etwas ineinem Attribut Gottes erfolgt, was endlich ist und einebeschränkte Existenz oder Dauer hat, z.B. die IdeeGottes im Denken. Nun ist aber das Denken, da es jaals Attribut Gottes angenommen wird (nach Lehrsatz11), seiner Natur nach notwendig unendlich. Sofernes dagegen eine Idee Gottes hat, wird es als endlichangenommen. Es kann aber (nach Definition 2) nurals endlich begriffen werden, wenn es durch das Den-ken selbst beschränkt wird. Dies kann nun aber nichtdurch das Denken geschehen, sofern es die Idee Got-tes ausmacht, denn insofern wird es als endlich ange-nommen. Also durch das Denken, sofern es die IdeeGottes nicht ausmacht, das aber (nach Lehrsatz 11)notwendig existieren muß. Es gibt also ein Denken,welches die Idee Gottes nicht ausmacht, weshalb aus

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seiner Natur, sofern es absolutes Denken ist, nichtnotwendig die Idee Gottes folgt. (Denn es wird einDenken begriffen, welches die Idee Gottes ausmacht,und ein Denken, welches sie nicht ausmacht.) Dies istaber gegen die Voraussetzung. - Folglich, wenn dieIdee Gottes im Denken oder irgend etwas (es ist einer-lei, was genommen wird, da ja der Beweis allgemeingültig ist) in irgendeinem Attribut Gottes aus der Not-wendigkeit der absoluten Natur dieses Attributs folgt,so muß es notwendig unendlich sein. Dies das erste,was zu beweisen war.

Ferner kann das, was aus der Notwendigkeit derNatur eines Attributs auf diese Weise folgt, eine be-schränkte Dauer haben. Denn wenn man dies bestrei-tet, so nehme man an, in irgendeinem Attribut Gottesgäbe es ein Ding, das aus der Notwendigkeit derNatur irgendeines Attributs folgt, z.B. die Idee Gottesim Denken, und von dieser nehme man an, daß sie zuirgendeiner Zeit nicht existiert habe oder nicht existie-ren werde. Da aber das Denken als Attribut Gottesangenommen wird, so muß es sowohl notwendig alsauch unveränderlich existieren (nach Lehrsatz 11 undZusatz II zu Lehrsatz 20). Über die Grenzen derDauer der Idee Gottes hinaus (da angenommen wird,daß sie zu irgendeiner Zeit nicht dagewesen sei odernicht dasein werde) müßte daher das Denken ohne dieIdee Gottes existieren. Dies ist aber gegen die

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Voraussetzung; da angenommen wird, daß aus demgegebenen Denken notwendig die Idee Gottes folgt.Folglich kann die Idee Gottes im Denken oder sonstetwas, was notwendig aus der absoluten Natur irgend-eines Attributs Gottes folgt, keine beschränkte Dauerhaben, sondern ist durch eben dieses Attribut ewig.Dies das zweite, was zu beweisen war.

Man beachte, daß dasselbe von jedem Ding be-hauptet werden muß, welches in irgendeinem AttributGottes aus der absoluten Natur Gottes notwendigfolgt.

Zweiundzwanzigster Lehrsatz

Alles, was aus einem andern Attribut Gottes folgt,sofern dasselbe durch eine solche Modifikation mo-difiziert ist, welche sowohl notwendig als unendlichdurch dasselbe existiert, muß ebenfalls sowohl not-wendig als unendlich existieren.

Beweis

Der Beweis dieses Lehrsatzes wird ebenso geführtwie der Beweis des vorigen.

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Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Jeder Modus, welcher sowohl notwendig als auchunendlich existiert, hat notwendig erfolgen müssenentweder aus der absoluten Natur irgendeines Attri-buts Gottes oder aus irgendeinem Attribut, dasdurch eine solche Modifikation modifiziert ist, wel-che sowohl notwendig als auch unendlich existiert.

Beweis

Denn der Modus ist in einem andern, durch wel-ches er begriffen werden muß (nach Definition 5), d.h.(nach Lehrsatz 15), er ist bloß in Gott und kann bloßdurch Gott begriffen werden. Wenn also ein Modusals notwendig existierend und unendlich seiend be-griffen wird, so muß beides notwendig geschlossenoder erkannt werden durch irgendein Attribut Gottes,sofern dasselbe so begriffen wird, daß es Unendlich-keit und Notwendigkeit der Existenz oder (was nachDefinition 8 dasselbe ist) Ewigkeit ausdrückt, d.h.(nach Definition 6 und Lehrsatz 19), sofern es absolutbetrachtet wird. Also hat der Modus, welcher sowohlnotwendig als auch unendlich existiert, aus der abso-luten Natur eines göttlichen Attributs folgen müssen,und zwar entweder unmittelbar (worüber Lehrsatz 21)

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oder mittelbar durch eine Modifikation, welche ausdessen absoluter Natur folgt, d.h. (nach dem vorigenLehrsatz), welche sowohl notwendig als auch unend-lich existiert. - W.z.b.w.

Vierundzwanzigster Lehrsatz

Das Wesen der von Gott hervorgebrachten Dingeschließt die Existenz nicht ein.

Beweis

Der Satz erhellt aus Definition 1. Denn das, dessenNatur (nämlich an sich betrachtet) die Existenz ein-schließt, ist Ursache seiner selbst und existiert nachder bloßen Notwendigkeit seiner Natur.

Zusatz

Hieraus folgt, daß Gott nicht bloß die Ursache ist,daß die Dinge zu existieren anfangen, sondern auch,daß sie im Existieren verharren oder (um mich einesscholastischen Ausdrucks zu bedienen) daß Gott die»Seinsursache« der Dinge ist. Denn, mögen die Dingeexistieren oder nicht existieren, sobald wir auf ihrWesen achten, finden wir, daß dasselbe weder

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Existenz noch Dauer in sich schließt. Ihr Wesen kanndaher die Ursache weder ihrer Existenz noch ihrerDauer sein, sondern nur Gott, zu dessen Natur alleinschon die Existenz gehört (nach Zusatz I zu Lehrsatz14).

Fünfundzwanzigster Lehrsatz

Gott ist nicht nur die wirkende Ursache der Exi-stenz, sondern auch des Wesens der Dinge.

Beweis

Verneint man dieses, so wäre also Gott nicht dieUrsache des Wesens der Dinge. Es kann also (nachAxiom IV) das Wesen der Dinge ohne Gott begriffenwerden. Das aber ist (nach Lehrsatz 15) widersinnig.Also ist Gott auch die Ursache des Wesens derDinge. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz folgt deutlicher noch aus Lehrsatz16. Denn aus diesem folgt, daß aus der gegebenengöttlichen Natur sowohl das Wesen der Dinge alsauch ihre Existenz notwendig geschlossen werden

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54Spinoza: Ethik

muß; und, um es kurz zu sagen, in dem Sinne, in wel-chem Gott die Ursache seiner selbst heißt, muß erauch die Ursache aller Dinge heißen, was sich nochdeutlicher aus dem folgenden Zusatz ergibt.

Zusatz

Die einzelnen Dinge sind nichts als Erregungenoder Daseinsformen (modi), durch welche die Attribu-te Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausge-drückt werden. Der Beweis erhellt aus Lehrsatz 15und Definition 5.

Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Ein Ding, welches bestimmt ist, irgend etwas zu wir-ken, ist notwendig von Gott also bestimmt worden,und ein Ding, welches von Gott nicht bestimmt wor-den ist, kann nicht sich selbst zum Wirken bestim-men.

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Beweis

Dasjenige, wegen dessen man von den Dingen sagt,daß sie bestimmt sind, irgend etwas zu wirken, mußnotwendig etwas Positives sein (was an sich klar ist);daher ist Gott aus der Notwendigkeit seiner Natur(nach den Lehrsätzen 25 und 16) die wirkende Ursa-che sowohl von dessen Wesen als auch von dessenExistenz. Damit ist das erste bewiesen. - Daraus folgtaber auch die zweite Aufstellung des Lehrsatzes aufsdeutlichste. Denn wenn ein Ding, das von Gott nichtbestimmt ist, sich selbst bestimmen könnte, so würdeder erste Teil dieses Satzes falsch sein; was widersin-nig ist, wie gezeigt worden.

Siebenundzwanzigster Lehrsatz

Ein Ding, das von Gott bestimmt ist, etwas zu wirkenkann nicht sich selbst zu einem nichtbestimmten ma-chen.

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Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt aus Axiom III.

Achtundzwanzigster Lehrsatz

Alles Einzelne oder jedes Ding, welches endlich istund eine bestimmte Existenz hat, kann nicht existie-ren und nicht zum Wirken bestimmt werden, wenn esnicht zum Existieren und zum Wirken von einer an-dern Ursache bestimmt wird, welche ebenfalls end-lich ist und eine bestimmte Existenz hat. Und wie-derum kann diese Ursache auch nicht existieren undnicht zum Wirken bestimmt werden, wenn sie nichtvon einer andern, welche ebenfalls endlich ist undeine bestimmte Existenz hat, zum Existieren undWirken bestimmt wird. Und so ins unendliche.

Beweis

Alles, was zum Existieren und Wirken bestimmtist, ist von Gott also bestimmt (nach Lehrsatz 26 undZusatz zu Lehrsatz 24). Was aber endlich ist und einebestimmte Existenz hat, kann von der absoluten Natureines göttlichen Attributs nicht abgeleitet werden.

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Denn was aus der absoluten Natur eines göttlichenAttributs folgt, ist unendlich und ewig (nach Lehrsatz21). Somit mußte es aus Gott oder einem göttlichenAttribut folgen, sofern dieses als in irgendeiner Weiseerregt betrachtet wird. Denn außer der Substanz undden Daseinsformen (modi) gibt es nichts (nach AxiomI und den Definitionen 3 und 5), und die Daseinsfor-men sind (nach Zusatz zu Lehrsatz 25) nichts als Er-regungen der göttlichen Attribute. Aber aus Gott odereinem göttlichen Attribut, sofern es durch irgendeineModifikation erregt ist, welche ewig und unendlich istkonnte es ebenfalls nicht folgen (nach Lehrsatz 22).Es mußte also folgen oder zum Existieren und Wirkenbestimmt werden aus bzw. von Gott oder einem gött-lichen Attribut, sofern dieses modifiziert ist durcheine Modifikation, welche endlich ist und eine be-stimmte Existenz hat. Damit wäre das erste bewiesen.

Ferner mußte wiederum diese Ursache oder dieserModus (aus demselben Grunde, aus welchem schonder erste Teil dieses Satzes bewiesen worden ist)ebenfalls von einer andern bestimmt werden, die auchendlich ist und eine bestimmte Existenz hat, und dieseletzte wieder (aus dem gleichen Grund) von einer an-dern und so immer fort (aus dem gleichen Grund) insunendliche. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Da manche Dinge von Gott unmittelbar hervorge-bracht werden mußten, nämlich diejenigen, welcheaus seiner absoluten Natur notwendig folgen, indemdiese ersten Dinge alle diejenigen vermittelten, welchedoch ohne Gott weder sein noch begriffen werdenkönnen, so folgt hieraus erstens, daß Gott die absolutnächste Ursache der von ihm unmittelbar hervorge-brachten Dinge ist; nicht aber in ihrer Gattung, wieman sagt. Denn die Wirkungen Gottes können ohneihre Ursache weder sein noch begriffen werden (nachLehrsatz 15 und Zusatz zu Lehrsatz 24). - Es folgtzweitens, daß Gott nicht eigentlich die entfernte Ursa-che der einzelnen Dinge genannt werden kann, außeretwa aus dem Grunde, damit wir sie von denen unter-scheiden, die er unmittelbar hervorgebracht hat odervielmehr, die aus seiner absoluten Natur folgen. Dennunter einer entfernten Ursache verstehen wir eine sol-che, welche mit der Wirkung auf keine Weise verbun-den ist. Alles aber, was ist, ist in Gott und hängt vonGott dermaßen ab, daß sie ohne ihn weder sein nochbegriffen werden können.

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Neunundzwanzigster Lehrsatz

In der Natur gibt es kein Zufälliges, sondern alles istvermöge der Notwendigkeit der göttlichen Natur be-stimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wir-ken.

Beweis

Alles, was ist, ist in Gott (nach Lehrsatz 15). Gottaber kann nicht ein zufälliges Ding heißen, denn erexistiert notwendig, nicht aber zufällig (nach Lehrsatz11). Ferner sind die Daseinsformen der göttlichenNatur aus dieser ebenfalls notwendig, nicht aber zu-fällig erfolgt (nach Lehrsatz 16); und zwar entwedersofern die göttliche Natur absolut (nach Lehrsatz 21)oder sofern sie als auf gewisse Weise zu wirken be-stimmt betrachtet wird (nach Lehrsatz 27). Ferner istGott die Ursache dieser Daseinsformen, nicht nur, so-fern sie einfach existieren (nach Zusatz zu Lehrsatz24), sondern auch (nach Lehrsatz 26), sofern sie alsetwas zu wirken bestimmt betrachtet werden. Wennsie (nach demselben Lehrsatz) von Gott nicht be-stimmt sind, so ist es unmöglich, nicht bloß zufällig,daß sie sich selbst bestimmen, und umgekehrt (nachLehrsatz 27), wenn sie von Gott bestimmt sind, so ist

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es unmöglich, nicht bloß zufällig, daß sie sich zunicht bestimmten machen. Also ist alles vermöge derNotwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, nichtbloß, um zu existieren, sondern auch, um auf gewisseWeise zu existieren und zu wirken, und ein Zufälligesgibt es nicht. - W.z.b.w.

Anmerkung

Bevor ich weitergehe, will ich hier auseinanderset-zen, was wir unter »schaffende Natur« (natura natu-rans) und was wir unter »geschaffene Natur« (naturanaturata) zu verstehen haben oder eigentlich bloßdaran erinnern. Denn wie ich glaube, ergibt sich be-reits aus dem Bisherigen, daß wir unter »schaffendeNatur« das zu verstehen haben, was in sich ist unddurch sich begriffen wird, oder solche Attribute derSubstanz, welche ewiges und unendliches Wesen aus-drücken, d.h. (nach Zusatz I zu Lehrsatz 14 und Zu-satz II zu Lehrsatz 17) Gott, sofern er als freie Ursa-che betrachtet wird. Unter »geschaffene Natur« aberverstehe ich alles dasjenige, was aus der Notwendig-keit der Natur Gottes folgt, d.h. alle Daseinsformender Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtetwerden, welche in Gott sind und welche ohne Gottweder sein noch begriffen werden können.

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Dreißigster Lehrsatz

Der Verstand (die Erkenntnis), ob in Wirklichkeitendlich oder in Wirklichkeit unendlich, muß die At-tribute Gottes und die Erregungen Gottes umfassenund nichts anderes.

Beweis

Eine wahre Idee muß mit ihrem Gegenstand über-einstimmen (nach Axiom VI), d.h. (wie an sich klar)das, was in Verstand objektiv enthalten ist, muß not-wendig in der Natur vorhanden sein. Nun gibt es aberin der Natur (nach Zusatz I zu Lehrsatz 14) nur EineSubstanz, nämlich Gott, und keine andere Erregungen(nach Lehrsatz 15) als die, welche in Gott sind undwelche (nach demselben Lehrsatz) ohne Gott nichtsein noch begriffen werden können. Somit muß derVerstand, ob er in Wirklichkeit endlich oder in Wirk-lichkeit unendlich ist, die Attribute Gottes und die Af-fektionen Gottes umfassen und nichts anderes. -W.z.b.w.

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Einunddreißigster Lehrsatz

Der wirkliche Verstand (die wirkliche Erkenntnis),mag er endlich oder unendlich sein, wie auch derWille, die Begierde, die Liebe usw. müssen zur ge-schaffenen Natur, nicht aber zur schaffenden Naturgerechnet werden.

Beweis

Denn unter Verstand verstehe ich (wie selbstver-ständlich) nicht das absolute Denken, sondern nureine gewisse Daseinsform (modus) des Denkens, wel-che Daseinsform sich von andern Daseinsformen, wieBegierde, Liebe usw., unterscheidet und daher (nachDefinition 5) durch das absolute Denken begriffenwerden muß; nämlich (nach Lehrsatz 15 und Definiti-on 6) durch irgendein Attribut Gottes, welches dasewige und unendliche Wesen des Denkens ausdrückt,so begriffen werden muß, daß es ohne dasselbe wedersein noch begriffen werden kann. Daher muß er (nachAnmerkung zu Lehrsatz 29) zur geschaffenen Natur,nicht aber zur schaffenden gerechnet werden, wieauch die übrigen Daseinsformen des Denkens. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Der Grund, warum ich hier von wirklichem Ver-stand rede, ist nicht, weil ich etwa zugebe, daß es ir-gendeinen potentiellen Verstand gibt, sondern weilich jede Verwirrung zu vermeiden trachte, wollte ichnur von etwas sprechen, das uns vollständig klar ist,nämlich von der Erkenntnis selbst, die von uns deutli-cher als alles andere begriffen wird. Denn wir könnennichts erkennen, was nicht zum vollkommeneren Ver-ständnis der Erkenntnis beitragen würde.

Zweiunddreißigster Lehrsatz

Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nurnotwendige heißen.

Beweis

Der Wille ist nur eine gewisse Form des Denkens,ebenso wie der Verstand. Daher kann jedes einzelneWollen (nach Lehrsatz 20) nur dann existieren undnur dann zum Wirken bestimmt werden, wenn es voneiner Ursache bestimmt wird und diese wiederum voneiner andern und so fort ins unendliche. Wird derWille als unendlich angenommen, so muß er ebenfalls

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zum Existieren und Wirken von Gott bestimmt wer-den; nicht sofern Gott die absolut unendliche Sub-stanz ist, sondern sofern er ein Attribut hat, welchesdas unendliche und ewige Wesen des Denkens aus-drückt (nach Lehrsatz 23). Auf welche Weise also derWille begriffen wird, ob als endlich oder als unend-lich, erfordert er eine Ursache, von welcher er zumExistieren und Wirken bestimmt wird. Daher kann er(nach Definition 7) nicht freie Ursache heißen, son-dern nur notwendige oder gezwungene. - W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt erstens, daß Gott nicht aus freiemWillen wirkt.

Zusatz II

Hieraus folgt zweitens, daß Wille und Verstand zurNatur Gottes sich verhalten wie Bewegung und Ruheund überhaupt wie alles Natürliche, welches zum Exi-stieren und Wirken auf gewisse Weise von Gott be-stimmt werden muß. Denn der Wille bedarf, wie allesÜbrige, einer Ursache, von welcher er zum Existierenund Wirken auf gewisse Weise bestimmt wird. Undobgleich aus einem gegebenen Willen oder VerstandUnendliches folgt, kann man darum doch

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ebensowenig von Gott sagen, er handle aus freiemWillen, als man wegen dessen, was aus Bewegungund Ruhe folgt (denn auch aus diesen folgt Unendli-ches), von ihm sagen kann, er handle aus freier Bewe-gung und Ruhe. Der Wille gehört darum zur NaturGottes nicht mehr als alles übrige Natürliche, viel-mehr verhält er sich zu ihr geradeso wie Bewegungund Ruhe und alles übrige, welches, wie ich gezeigthabe, aus der Notwendigkeit der göttlichen Naturfolgt und von ihr zum Existieren und Wirken auf ge-wisse Weise bestimmt wird.

Dreiunddreißigster Lehrsatz

Die Dinge konnten auf keine andere Weise und inkeiner andern Ordnung von Gott hervorgebrachtwerden, als sie hervorgebracht worden sind.

Beweis

Denn alle Dinge sind aus der gegebenen NaturGottes mit Notwendigkeit erfolgt (nach Lehrsatz 16)und vermöge der Notwendigkeit der göttlichen Naturbestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zuwirken (nach Lehrsatz 29). Hätten also die Dinge vonanderer Beschaffenheit sein oder auf andere Weise

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zum Wirken bestimmt werden können, so daß dieOrdnung der Natur eine andere wäre, so hätte auchdie Natur Gottes eine andere sein können, als siewirklich ist. Dann aber müßte (nach Lehrsatz 11) jeneandere Natur auch existieren, und es müßte sonachzwei oder mehrere Götter geben, was (nach Zusatz Izu Lehrsatz 14) widersinnig ist. Daher konnten dieDinge auf keine andere Weise und nach keiner andernOrdnung usw. - W.z.b.w.

1. Anmerkung

Nachdem ich hiermit sonnenklar gezeigt habe, daßes durchaus nichts in den Dingen gibt, wegen dessensie als zufällige bezeichnet werden könnten, will ichnoch mit wenigen Worten auseinandersetzen, was wirunter zufällig zu verstehen haben; vorher aber, wasunter notwendig und unmöglich. Ein Ding heißt not-wendig entweder in bezug auf sein Wesen oder inbezug auf seine Ursache. Denn die Existenz einesDinges folgt mit Notwendigkeit entweder aus demWesen und der Definition desselben oder aus einergegebenen wirkenden Ursache. Diese Gründe sind esauch, weshalb eine Sache unmöglich heißt, weil näm-lich entweder das Wesen oder die Definition dessel-ben das Gegenteil in sich schließt oder weil keine äu-ßere Ursache gegeben ist, die bestimmt wäre, ein

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solches Ding hervorzubringen. Zufällig aber wird einDing aus keinem andern Grund genannt als wegen un-serer mangelhaften Erkenntnis. Denn ein Ding, vondem wir nicht wissen, ob sein Wesen einen Wider-spruch in sich schließt, oder von dem wir gewiß wis-sen, daß es keinen Widerspruch in sich schließt, wäh-rend wir dennoch über dessen Existenz nichts Siche-res behaupten können, weil die Ordnung der Ursachenuns verborgen ist, ein solches Ding kann uns wederals notwendig noch als unmöglich erscheinen, unddarum nennen wir es entweder zufällig oder möglich.

2. Anmerkung

Aus Vorstehendem folgt klar, daß die Dinge inhöchster Vollkommenheit von Gott hervorgebrachtworden sind da sie ja aus der gegebenen vollkommen-sten Natur mit Notwendigkeit erfolgt sind. Und zwarwird damit Gott nicht irgendeiner Unvollkommenheitgeziehen, denn eben dessen Vollkommenheit nötigtuns, dies zu behaupten. Es würde sogar aus dem Ge-genteil klar folgen (wie ich bereits gezeigt), daß Gottnicht höchst vollkommen wäre; weil man nämlich,wenn die Dinge auf andere Weise hervorgebrachtwären, Gott eine andere Natur zuschreiben müßte,verschieden von derjenigen, welche wir aus der Be-trachtung des höchsten Wesens demselben

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zuzuschreiben genötigt sind.Indessen zweifle ich nicht, daß viele diese Ansicht

als eine widersinnige verspotten und gar keine Lusthaben, sie näher zu erwägen, und zwar aus keinemandern Grunde, als weil sie Gott eine andere Freiheitzuzuschreiben gewöhnt sind, ganz verschieden vonderjenigen, welche von mir (Definition 7) dargelegtwurde; nämlich einen absoluten Willen. Allein, ichzweifle auch wieder nicht, daß, wenn sie über dieSache nachdenken und die Reihe meiner Beweisegenau erwägen würden, sie selbst schließlich eine sol-che Freiheit, wie sie Gott eine zuschreiben, nicht bloßals Verkehrtheit, sondern auch als großes Hindernisdes Wissens vollständig verwerfen würden. Es ist un-nötig, hier zu wiederholen, was in der Anmerkung zuLehrsatz 17 gesagt wurde. Doch will ich ihnen zulie-be noch zeigen, daß, wenn auch eingeräumt würde,daß der Wille zum Wesen Gottes gehöre, nichtsdesto-weniger aus dessen Vollkommenheit folgte, daß dieDinge auf keine andre Weise und nach keiner andernOrdnung von Gott geschaffen werden konnten.

Es wird dies leicht gezeigt werden können, wennwir zunächst das betrachten, was die Gegner selbsteinräumen, nämlich daß es allein von Gottes Be-schluß und Willen abhängt, daß jedes Ding ist, wases ist; denn sonst wäre Gott nicht die Ursache allerDinge. Ferner, daß alle Beschlüsse Gottes von

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Ewigkeit her von Gott selbst gefaßt waren; denn sonstwürde Gott der Unvollkommenheit und Unbeständig-keit geziehen werden. Da es nun in der Ewigkeit keinWann gibt, kein Vorher und kein Nachher, so folgthieraus, nämlich aus der bloßen VollkommenheitGottes, daß Gott nie etwas anderes beschließen konn-te oder daß Gott vor seinen Beschlüssen nicht gewe-sen ist noch ohne sie sein kann.

Aber, sagen die Gegner, wenn auch angenommenwürde, daß Gott eine andere Natur gemacht hätte oderdaß er von Ewigkeit her etwas anderes über die Naturund ihre Ordnung beschlossen hätte, so würde darausdoch keine Unvollkommenheit in Gott folgen. - Al-lein, wenn sie das sagen, so geben sie zugleich zu,daß Gott seine Beschlüsse ändern könne. Denn wennGott über die Natur und ihre Ordnung anderes be-schlossen hätte, als er beschlossen hat, d.h., wenn erüber die Natur etwas anderes gewollt und gedachthätte, so hätte er notwendig einen andern Verstand,als er wirklich hat, und einen andern Willen, als erwirklich hat. Und wenn man Gott einen andern Ver-stand und einen andern Willen zuschreiben darf, ohneirgendeine Veränderung seines Wesens und seinerVollkommenheit, welcher Grund wäre vorhanden, daßGott nicht jetzt seine Beschlüsse über die geschaffe-nen Dinge ändern und dabei doch gleich vollkommenbleiben könnte? Denn in bezug auf sein Wesen und

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seine Vollkommenheit ist es ja einerlei, auf welcheWeise sein Verstand und sein Wille begriffen wird.Ferner geben alle mir bekannten Philosophen zu, daßes in Gott keinen potentiellen Verstand, sondern nureinen wirklichen gibt. Da aber sowohl sein Verstandals auch sein Wille sich von seinem Wesen nicht un-terscheidet, was ebenfalls alle zugeben, so folgt dar-aus auch, daß, wenn Gott einen andern Verstand inder Wirklichkeit gehabt hätte und einen andern Wil-len, auch sein Wesen notwendig ein anderes wäre,und ferner, daß (wie ich anfangs geschlossen), wenndie Dinge anders, als sie wirklich sind, von Gott her-vorgebracht worden wären, der Verstand Gottes undsein Wille, d.h. (wie zugegeben wird) sein Wesen, einanderes sein müßte, was widersinnig wäre.

Da also die Dinge auf keine andere Weise und inkeiner andern Ordnung von Gott hervorgebracht wer-den konnten und die Wahrheit dieser Behauptung ausder höchsten Vollkommenheit Gottes folgt, so kanngewiß keine gesunde Vernunft uns überreden zu glau-ben, Gott habe nicht alles, was in seinem Verstandist, mit derselben Vollkommenheit, womit er es ge-dacht, erschaffen wollen. Indessen wird man sagen: Inden Dingen ist weder Vollkommenheit noch Unvoll-kommenheit, sondern dasjenige in ihnen, weshalb sievollkommen oder unvollkommen sind, gut oderschlecht heißen, hängt vom Willen Gottes allein ab.

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Hätte daher Gott gewollt, so hätte er machen können,daß das, was jetzt Vollkommenheit ist, die höchsteUnvollkommenheit wäre, und umgekehrt. - Allein,was hieße dies anders, als offen behaupten, Gott, derdoch das, was er will, notwendig denkt, könne durchseinen Willen machen, daß er die Dinge auf andereWeise denkt, als er sie denkt; was (wie ich bereits ge-zeigt) ein großer Unsinn ist.

Ich kann daher den Beweis gegen die Gegner selbstfolgendermaßen umkehren: Alles hängt ab von derMacht Gottes. Sollten daher die Dinge anders be-schaffen sein können, so müßte notwendig auch derWille Gottes anders beschaffen sein. Nun kann aberder Wille Gottes nicht anders beschaffen sein (wie ichbereits aus der Vollkommenheit Gottes sehr klar ge-zeigt habe). Folglich können die Dinge nicht andersbeschaffen sein.

Ich gestehe, daß diese Meinung, welche alles einemgewissen indifferenten Willen Gottes unterwirft undvon seinem Gutdünken alles abhängig sein läßt, weni-ger von der Wahrheit abirrt als die Meinung jener,welche behaupten, Gott mache alles unter dem Ge-sichtspunkt des Guten. Denn diese scheinen etwasaußer Gott anzunehmen, das von Gott nicht abhängtund das Gott bei seinem Wirken sich zum Musternimmt oder auf das er, wie auf ein bestimmtes Ziel,hinarbeitet. Dies heißt wahrlich nichts anderes, als

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Gott dem Fatum unterwerfen; das Widersinnigste,was man von Gott behaupten kann, der, wie gezeigtwurde, die erste und einzige freie Ursache ist sowohldes Wesens aller Dinge wie auch ihrer Existenz. Ichhabe daher nicht nötig, mit der Widerlegung diesesUnsinns die Zeit zu vergeuden.

Vierunddreißigster Lehrsatz

Die Macht Gottes ist sein Wesen selbst.

Beweis

Denn aus der bloßen Notwendigkeit seines Wesensfolgt, daß Gott die Ursache seiner selbst (nach Lehr-satz 11) und (nach Lehrsatz 16 und dessen Zusatz)aller Dinge ist. Folglich ist die Macht Gottes, durchwelche er und alles ist und handelt, sein Wesenselbst. - W.z.b.w.

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73Spinoza: Ethik

Fünfunddreißigster Lehrsatz

Alles, was wir begreifen als in Gottes Macht seiend,ist notwendig.

Beweis

Denn alles, was in Gottes Macht ist, muß (nachdem vorigen Lehrsatz) in seinem Wesen so enthaltensein, daß es aus demselben notwendig folgt; also istes notwendig. - W.z.b.w.

Sechsunddreißigster Lehrsatz

Es existiert nichts, aus dessen Natur nicht eine Wir-kung folgte

Beweis

Alles, was existiert, drückt die Natur oder dasWesen Gottes auf gewisse und bestimmte Weise aus(nach Zusatz zu Lehrsatz 25), d.h. (nach Lehrsatz 34)alles, was existiert, drückt die Macht Gottes, welchedie Ursache aller Dinge ist, auf gewisse und bestimm-te Weise aus; also muß (nach Lehrsatz 16) irgendeine

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Wirkung aus demselben folgen. - W.z.b.w.

Anhang

Damit habe ich die Natur Gottes und seine Eigen-schaften auseinandergesetzt, nämlich: daß er notwen-dig existiert; daß er einzig ist; daß er vermöge derbloßen Notwendigkeit seiner Natur ist und handelt;daß und in welcher Weise er die freie Ursache allerDinge ist; daß alles in Gott ist und von ihm so ab-hängt, daß nichts ohne ihn sein oder begriffen werdenkann; endlich, daß alles von Gott vorausbestimmt ge-wesen ist, nicht zwar vermöge der Freiheit des Wil-lens oder eines absoluten Gutdünkens, sondern ver-möge der absoluten Natur Gottes oder seiner unendli-chen Macht.

Auch habe ich bei jeder Gelegenheit die Vorurteile,welche dem Verständnis meiner Beweise im Wegewaren, zu beseitigen gesucht.

Indessen gibt es noch weitere Vorurteile, und ihreZahl ist nicht gering, welche nicht minder, ja ganz be-sonders hinderlich waren und sind, daß man die Ver-kettung der Dinge in der Weise, wie ich sie beleuchtethabe, zu verstehen vermag. Ich hielt es darum derMühe wert, diese Vorurteile einer Prüfung durch dieVernunft zu unterziehen. Und weil alle Vorurteile,

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welche ich hier behandeln will, von Einem abhängen,nämlich davon, daß die Menschen gewöhnlich anneh-men, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selbst,um eines Zwecks willen, ja daß sie von Gott selbstmit aller Bestimmtheit behaupten, er leite alles zu ir-gendeinem bestimmten Zweck - sagen sie doch, Gotthabe alles um des Menschen willen gemacht, denMenschen selbst aber, damit er ihn verehre -, so willich mich hier vor allem mit diesem Einen Vorurteilbeschäftigen, indem ich erstens die Ursache aufsuche,weshalb die meisten in diesem Vorurteil befangensind und alle von Natur so sehr geneigt sind, es zuhegen; sodann werde ich dessen Unwahrheit nachwei-sen und schließlich auch, wie daraus über Gut undSchlecht, Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ord-nung und Verwirrung, Schönheit und Häßlichkeit undüber anderes dieser Art Vorurteile entstanden sind.

Es ist hier jedoch nicht der Ort, dies aus der Naturdes menschlichen Geistes abzuleiten; es wird viel-mehr genügen, etwas, das jedermann anerkennenmuß, zur Grundlage zu nehmen, die Tatsache näm-lich, daß alle Menschen, ohne die Ursachen derDinge zu kennen, auf die Welt kommen und daß alledie Begierde haben, ihren Nutzen zu suchen und siedieses wohl wissen. Denn daraus folgt erstens, daßdie Menschen sich für frei halten, da sie sich ihresWollens und ihres Begehrens bewußt sind, während

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sie nicht im Traum an die Ursachen denken, vondenen sie zum Begehren und Wollen bestimmt wer-den, weil sie dieselben eben nicht kennen. Es folgtzweitens, daß die Menschen alles um eines Zweckswillen tun, nämlich um des Nutzens willen, den siebegehren. Daher kommt es, daß sie stets nur die End-zwecke der vollbrachten Dinge zu wissen trachtenund befriedigt sind, wenn sie diese erfahren haben,weil sie dann keinen Anlaß haben, sich weiter damitzu befassen. Können sie diese Zwecke aber von kei-nem andern erfahren, so bleibt ihnen nichts anderesübrig, als sich an sich selbst zu wenden und aufZwecke zu sinnen, von welchen sie selbst zu derglei-chen bestimmt zu werden pflegen, und so beurteilensie die Sinnesweise eines andern notwendig nach ihrereigenen Sinnesweise.

Da sie ferner in sich und außer sich zahlreiche Mit-tel bemerken, die zur Erreichung ihres Nutzens nichtwenig beitragen, wie z.B. die Augen zum Sehen, dieZähne zum Kauen, Pflanzen und Tiere zur Nahrung,die Sonne zum Leuchten, das Meer, Fische zu nährenusw., so kommt es, daß sie alles in der Natur als Mit-tel zu ihrem Nutzen betrachten. Und weil sie wissen,daß jene Mittel von ihnen aufgefunden, aber nichthergestellt sind, so hat dies den Glauben verursacht,irgendein anderer sei es, der diese Mittel zu ihremNutzen bereitet habe. Denn nachdem sie einmal die

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Dinge als Mittel ansahen, so konnten sie nicht glau-ben, daß diese sich selbst gemacht hätten, sondern ausden Mitteln, die sie sich selbst zu bereiten pflegen,mußten sie schließen, es gäbe irgendeinen oder meh-rere mit menschlicher Freiheit begabte Lenker derNatur, welche alles für sie besorgt und alles zu ihremNutzen gemacht hätten. Auch die Sinnesweise dieserLenker der Natur mußten sie, da sie über dieselbe nieetwas erfahren hatten, nach ihrer eigenen Sinnesweisebeurteilen. Daher ihre Behauptung, die Götter lenktenalles zum Nutzen der Menschen, um sich die Men-schen zu verpflichten und von ihnen hoch verehrt zuwerden.

Daher ist es gekommen, daß der eine diese, der an-dere jene Art der Gottesverehrung in seinem Kopfe er-dacht hat, damit Gott ihn mehr als die übrigen Men-schen lieben und die ganze Natur zum besten seinerblinden Begierde und unersättlichen Habsucht lenkenmöge. So ist jenes Vorurteil zum Aberglauben ausge-wachsen und hat in den Geistern tiefe Wurzeln ge-schlagen. Und dies war der Grund, weshalb die Men-schen sich alle Mühe gaben, die Endzwecke allerDinge zu erkennen und zu erklären.

Aber während sie zu zeigen suchten, daß die Naturnichts vergebens (d.h., was für den Menschen keinenNutzen hat) tue, haben sie, wie mir scheint, nichts an-deres gezeigt, als daß die Natur samt den Göttern

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ebenso wahnwitzig sei wie die Menschen. Man sehedoch nur, wohin die Sache endlich führte. Unter sovielem Nützlichen in der Natur mußten sie nichtwenig Schädliches bemerken, Stürme, Erdbeben,Krankheiten usw.; und diese, behaupteten sie, seiendeswegen da, weil die Götter erzürnt wären über dieihnen von den Menschen angetanen Kränkungen oderüber die in ihrem Dienste begangenen Sünden. Undobgleich die Erfahrung widersprach und durch unzäh-lige Beispiele zeigte, daß den Frommen ebenso wieden Nichtfrommen bald Nützliches, bald Schädlicheszuteil wird, gaben sie darum doch das eingewurzelteVorurteil nicht auf. Denn es war ihnen leichter, diesunter anderes Unbekannte, dessen Nutzen sie nichtwußten, zu rechnen und so in ihrem wirklichen undangebornen Zustand der Unwissenheit zu verharren,als jenes ganze Gebäude einzureißen und ein neuesauszudenken. Deshalb nahmen sie als gewiß an, daßdie Absichten der Götter die menschliche Fassungs-kraft weit übersteigen; was sicherlich allein schonhätte verursachen können, daß die Wahrheit demMenschengeschlecht in Ewigkeit verborgen gebliebenwäre, wenn nicht die Mathematik, welche sich nichtmit Zwecken, sondern nur mit dem Wesen und denEigenschaften der Figuren beschäftigt, den Menscheneine andere Norm der Wahrheit gezeigt hätte. Nebender Mathematik können noch andere Ursachen gezeigt

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werden (deren Aufzählung hier überflüssig), welchebewirkten, daß die Menschen auf diese gemeinenVorurteile aufmerksam geworden sind und zur rechtenErkenntnis der Dinge geführt wurden.

Damit habe ich den ersten Punkt dessen, was ich zuzeigen versprochen, hinlänglich auseinandergesetzt.

Um nun aber zu zeigen, daß die Natur sich keinenZweck vorgesetzt hat und daß alle Endzwecke nichtsals menschliche Einbildung sind, bedarf es nicht viel.Denn ich glaube, daß sich dies schon genügend ergibtsowohl aus den Grundlagen und Ursachen, aus wel-chen ich den Ursprung dieses Vorurteils abgeleitethabe, als auch aus dem 16. Lehrsatz und den Zusät-zen zum 32. Lehrsatz und außerdem noch aus allenSätzen, in denen ich gezeigt habe, daß alles in derNatur nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit undhöchsten Vollkommenheit hervorgeht.

Das aber will ich noch hinzufügen, daß diese Lehrevom Zweck die Natur vollständig auf den Kopf stellt.Denn sie betrachtet als Wirkung, was in Wahrheit Ur-sache ist, und umgekehrt. Ferner macht sie das, wasvon Natur das erste ist, zum letzten. Endlich verkehrtsie das Höchste und Vollkommenste zum Unvollkom-mensten. Denn (auf die beiden ersten gehe ich nichtweiter ein, weil sie an sich klar sind) wie aus denLehrsätzen 21, 22 und 23 hervorgeht, ist die Wirkungdie vollkommenste, die von Gott unmittelbar

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hervorgebracht wird; je mehr vermittelnder Ursachenaber eine Wirkung bedarf, um hervorgebracht zu wer-den, desto unvollkommener ist sie. Wenn nun dieDinge, welche unmittelbar von Gott hervorgebrachtsind, deshalb gemacht wären, damit Gott seinenZweck erreichte, so wären notwendig die letzten, umderentwillen die ersten gemacht sein sollen, die vor-züglichsten von allen.

Weiter hebt diese Lehre die Vollkommenheit Got-tes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen han-delt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt.Wenn nun auch Theologen und Metaphysiker zwi-schen Bedürfniszweck und Assimilationszweck unter-scheiden, so gestehen sie doch, daß Gott alles um sei-netwillen, nicht aber der zu schaffenden Dinge wegengetan habe; weil sie nichts vor der Schöpfung außerGott angeben können, wegen dessen Gott handelnsollte. Sie müssen also notwendig zugeben, daß Gottdie Dinge, für welche er die Mittel habe bereiten wol-len, entbehrt hätte. Das ist an sich klar.

Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß Anhängerdieser Lehre, welche im Angeben der Zwecke derDinge ihren Scharfsinn zeigen wollen, eine neue Artder Beweisführung aufgebracht haben, um diese ihreLehre glaublich zu machen. Sie führen dieselbe näm-lich nicht auf die Unmöglichkeit, sondern auf die Un-wissenheit zurück; was zeigt, daß ihnen kein anderes

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Beweismittel für diese Lehre zu Gebote stand. Wennz.B. ein Stein von einem Dach auf den Kopf einesMenschen fällt und ihn tötet, so beweisen sie, der er-wähnten Methode gemäß, daß der Stein gefallen sei,um den Menschen zu töten, folgendermaßen: Wäreder Stein nicht zu eben diesem Zwecke, nach demWillen Gottes, heruntergefallen, wie mochten da soviele Umstände (denn oft treffen viele zusammen)durch Zufall zusammentreffen? Antwortet man, es seiso gekommen, weil der Wind wehte und weil derMensch gerade dort vorbeiging, so wenden sie dage-gen ein: Weshalb hat der Wind gerade damals ge-weht? Warum ist der Mensch gerade damals dort vor-beigegangen? Erwidert man darauf: Der Wind fingdamals zu wehen an, weil das Meer tags zuvor, beinoch ruhigem Wetter, in Bewegung kam, und derMensch ging damals dort vorbei, weil er von einemFreunde eingeladen war, so wenden sie - da das Fra-gen keine Grenzen hat - abermals ein: Warum aberkam das Meer in Bewegung? Warum war der Menschdamals eingeladen? - Und so werden sie nicht aufhö-ren, fort und fort nach den Ursachen der Ursachen zufragen, bis man zum Willen Gottes seine Zufluchtnimmt, d.h. zum Asyl der Unwissenheit. - Ebenso,wenn sie den Bau des menschlichen Körpers ins Augefassen, stehen sie erstaunt und schließen, weil sie dieUrsachen dieses großen Kunstwerks nicht kennen,

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daß derselbe nicht durch mechanische, sondern durcheine göttliche und übernatürliche Kunst gebildet undso eingerichtet worden sei, daß kein Teil den andernverletzt.

Daher kommt es, daß, wer die wahren Ursachendes Wunderbaren aufsucht und wer bestrebt ist, dienatürlichen Dinge als Wissender zu verstehen, stattals Einfältiger sie anzustaunen, oft für einen Ketzerund schlechten Menschen gehalten und verschrieenwird von denen, welche das Volk als die Dolmetscherder Natur und der Götter verehrt. Denn sie wissen,daß mit der Unwissenheit auch das Anstaunen, daseinzige Mittel, womit sie ihre Lehren beweisen undihr Ansehen behaupten, dahinschwindet.

Ich verlasse jedoch nunmehr dieses und wendemich jetzt zum dritten Punkt, den ich hier zu behan-deln mir vorgenommen.

Nachdem die Menschen sich einmal eingeredet hat-ten, alles, was geschieht, geschehe ihretwillen, muß-ten sie an jedem Ding das für die Hauptsache halten,was ihnen am nützlichsten war, und alles das als dasVorzüglichste schätzen, was am angenehmsten auf siewirkte. Daher mußten sie folgende Begriffe bilden,mit welchen sie die Natur der Dinge erklärten, näm-lich: Gut und Schlecht, Ordnung und Verwirrung,Warm und Kalt, Schönheit und Häßlichkeit usw.Und daraus, daß sie sich für frei halten, sind die

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weiseren Begriffe entstanden: Lob und Tadel, Sündeund Verdienst. Diese letzteren werde ich indessen erstspäter behandeln, nachdem ich die menschliche Naturbehandelt haben werde; die ersteren aber seien hierkurz erläutert.

Alles, was zum Wohlbefinden oder zur VerehrungGottes beiträgt, nannte man gut, das Gegenteil aberschlecht. Und weil diejenigen, welche die Natur derDinge nicht erkennen, nichts von den Dingen selbstbehaupten, sondern die Dinge sich nur sinnlich vor-stellen und die sinnliche Vorstellung für Erkenntnisnehmen, darum glauben sie in ihrer Unkenntnis derDinge und ihrer Natur fest an eine Ordnung derDinge. Denn wenn dieselben so beschaffen sind, daßwir, wenn sie uns durch die Sinne dargestellt werden,sie leicht vorstellen und demgemäß uns ihrer leicht er-innern können, nennen wir sie wohlgeordnet; im ge-genteiligen Fall nennen wir sie schlecht geordnetoder verworren. Und weil uns das, was wir leicht vor-stellen können, angenehmer ist als anderes, darumziehen die Menschen die Ordnung der Verwirrungvor, als ob die Ordnung, auch abgesehen von unsererVorstellung, etwas in der Natur wäre. Sie sagen auch,Gott habe alles in Ordnung geschaffen, und auf dieseWeise schreiben sie Gott, ohne es zu wissen, sinnli-che Vorstellung zu; wenn sie nicht vielleicht meinen,Gott habe, die menschliche Vorstellung vorhersehend,

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alle Dinge so eingerichtet, wie sie von den Menschenam leichtesten vorgestellt werden können. Wahr-scheinlich stoßen sie sich gar nicht daran, daß es auchUnendliches gibt, was unsere Vorstellung weit über-steigt, und sehr vieles, was ihre Vorstellung, wegenderen Schwäche, verwirrt. - Doch genug hiervon.

Auch die übrigen Begriffe sind weiter nichts alsVorstellungsarten, durch welche die Einbildungskraftauf diese und jene Weise erregt wird, die aber vonUnwissenden für die hauptsächlichsten Attribute derDinge gehalten werden, weil sie, wie wir bereits ge-sagt, der Meinung sind, alle Dinge wären um ihretwil-len gemacht, und sie nennen die Natur eines Dingesgut oder schlecht, gesund oder faul und verdorben, jenachdem sie von demselben erregt werden. Zum Bei-spiel wenn die Bewegung, welche die Nerven von denGegenständen empfangen, die mit den Augen wahrge-nommen werden, dem Wohlbefinden zusagt, so wer-den die betreffenden Gegenstände schön genannt; dieaber, welche den entgegengesetzten Eindruck machen,heißen häßlich. Was durch die Nase den Sinn erregt,nennt man wohlriechend oder stinkend; was durchdie Zunge, süß oder bitter, schmackhaft oder un-schmackhaft usw.; was durch Tasten, hart oderweich, rauh oder glatt usw. Von Dingen endlich, wel-che das Gehör erregen, sagt man, sie seien geräusch-voll oder wohlklingend. Das letztere hat die

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Menschen so betört, daß sie glaubten, Gott selbst er-götze sich an der Harmonie, und es gibt sogar Philo-sophen, welche überzeugt sind, daß die Bewegungender Himmelskörper eine Harmonie bilden. Das alleszeigt deutlich, daß jeder nach dem Zustand seines Ge-hirns über die Dinge geurteilt oder vielmehr die Erre-gungen seiner Einbildungskraft für die Dinge selbstgenommen hat.

Kein Wunder daher (um auch das beiläufig zu be-merken), daß unter der, Menschen so viel Meinungs-streit, als wir erfahren, entstanden ist und endlich dar-aus der Skeptizismus. Denn obgleich die menschli-chen Körper in vielem übereinstimmen, so weichensie doch in sehr vielem voneinander ab. Darum er-scheint oft etwas dem einen gut, dem andern schlecht,diesem geordnet, jenem verworren, dem angenehm,jenem unangenehm, und dasselbe gilt von dem übri-gen; doch gehe ich hier darüber hinweg, weil einer-seits hier der Ort nicht ist, den Gegenstand eingehendzu behandeln, anderseits jeder darüber Erfahrunggenug besitzt. Sind doch in aller Mund die Sprüch-wörter: »Soviel Köpfe, soviel Meinungen«, »Jeder hatgenug an seinem eigenen Kopf«, »Die Geschmäckesind so verschieden als die Köpfe«. Diese Redensar-ten zeigen zur Genüge, daß die Menschen je nach demZustand ihres Gehirns über die Dinge urteilen unddaß sie die Dinge weniger erkennen als sinnlich

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vorstellen. Denn wenn sie die Dinge erkannt hätten,so würden diese, wie die Mathematik beweist, alle,wenn auch nicht anlocken, so doch überzeugen.

Wir sehen also, daß alle Begriffe, mit denen dasVolk die Natur zu erklären pflegt, nur verschiedeneVorstellungsarten sind und nicht die Natur der Dingeselbst, sondern nur die Beschaffenheit der Vorstellunganzeigen. Und weil sie Namen haben, welche so lau-ten wie Namen von wirklich vorhandenen, außerhalbder Vorstellung existierenden Wesen, so nenne ichdiese Wesen nicht Vernunftwesen, sondern Wesen derEinbildung. Daher können alle Beweisgründe, welchegegen mich aus derlei Begriffen geltend gemacht wer-den, leicht aus dem Felde geschlagen werden.

Viele pflegen nämlich folgendermaßen zu argu-mentieren: Wenn alles aus der Notwendigkeit dervollkommensten Natur Gottes erfolgt ist, woher kom-men dann so viele Unvollkommenheiten in der Natur,wie das Faulen der Dinge, sogar bis zum Übelriechen,die ekelerregende Häßlichkeit gewisser Dinge, dieUnordnung, das Schlechte, die Sünde usw.? - Sie sindaber, wie gesagt, leicht zu widerlegen. Denn die Voll-kommenheit der Dinge ist nur nach ihrer Natur undihrem Vermögen zu schätzen, folglich ist ein Dingdeshalb nicht mehr und nicht weniger vollkommen,weil es einen der menschlichen Sinne ergötzt oder be-leidigt, weil es der menschlichen Natur zusagt oder

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nicht zusagt.Denen aber, welche fragen, warum Gott nicht alle

Menschen so geschaffen hat, daß sie sich von derVernunft allein leiten lassen, antworte ich nur: weil erStoff hatte, alles zu schaffen, vom höchsten Grad derVollkommenheit bis zum niedrigsten. Oder um micheigentlicher auszudrücken: weil die Gesetze seinerNatur so umfangreich gewesen sind, daß sie ausreich-ten, alles hervorzubringen, was von einem unendli-chen Verstand begriffen werden kann; wie ich im 16.Lehrsatz bewiesen.

Das sind die Vorurteile, die ich hier anführen woll-te. Wenn noch einige solchen Schlags übrig sind,werden sie von jedermann bei einigem Nachdenkenbeseitigt werden können.

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Zweiter Teil

Über die Natur und den Ursprung des Geistes

Vorwort

Ich wende mich nun zur Auseinandersetzung des-sen, was aus dem Wesen Gottes oder des ewigen undunendlichen Wesens notwendig folgen muß. Zwarnicht alles, denn in Lehrsatz 16 des ersten Teils habeich bewiesen, daß Unendliches auf unendliche Artenaus ihm folgen muß; sondern nur das, was uns zur Er-kenntnis des menschlicher Geistes und seiner höch-sten Glückseligkeit sozusagen handgreiflich führenkann.

Definitionen

1. Unter Körper verstehe ich eine Daseinsform(modus), welche das Wesen Gottes, sofern dasselbeals ausgedehntes Ding betrachtet wird, auf gewisseund bestimmte Weise ausdrückt. Siehe Zusatz zuLehrsatz 25 im ersten Teil.

2. Zum Wesen eines Dinges gehört, sage ich, das,durch welches, wenn es gegeben ist, das Ding not-wendig gesetzt wird und durch welches, wenn es

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aufgehoben wird, das Ding notwendig aufgehobenwird; oder das, ohne welches das Ding, und umge-kehrt, welches ohne das Ding weder sein noch begrif-fen werden kann.

3. Unter Idee verstehe ich einen Begriff des Gei-stes, welchen der Geist bildet, weil er ein denkendesDing ist.

Erläuterung

Ich sage lieber Begriff als Wahrnehmung, weil dasWort Wahrnehmung anzudeuten scheint, daß derGeist von dem Objekt leidet, während Begriff eineTätigkeit des Geistes auszudrücken scheint.

4. Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee,welche, sofern sie an sich und ohne Beziehung zumObjekt betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inner-lichen Merkmale einer wahren Idee hat.

Erläuterung

Ich sage innerlichen, um das auszuschließen, wasäußerlich ist, nämlich die Übereinstimmung der Ideemit ihrem Gegenstand.

5. Dauer ist eine unbestimmte Fortsetzung der

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Existenz.

Erläuterung

Ich sage unbestimmt, weil sie durch die eigeneNatur des existierenden Dinges nicht bestimmt wer-den kann und ebensowenig von der wirkenden Ursa-che, weil nämlich diese die Existenz des Dinges not-wendig setzt, nicht aber aufhebt.

6. Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ichein und dasselbe.

7. Unter Einzeldinge verstehe ich Dinge, welcheendlich sind und eine beschränkte Existenz haben.Wenn mehrere Individuen in einer Tätigkeit so zu-sammenwirken, daß sie alle zugleich die UrsacheEiner Wirkung sind, so betrachte ich sie alle insofernals Ein Einzelding.

Axiome

I. Das Wesen des Menschen schließt nicht notwen-dige Existenz in sich; d.h., nach der Ordnung derNatur kann es ebenso geschehen, daß dieser oderjener Mensch existiert, als daß er nicht existiert.

II. Der Mensch denkt.

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III. Formen (Arten) des Denkens, wie Liebe, Be-gierde und was sonst noch mit dem Namen Affekt(Seelenbewegung) bezeichnet wird, gibt es nur, wennes in demselben Individuum eine Idee des geliebten,begehrten usw. Dinges gibt. Eine Idee aber kann esgeben, auch ohne daß es eine andere Form des Den-kens gibt.

IV. Wir empfinden, daß ein Körper auf verschie-dene Arten erregt werden kann.

V. Andere Einzeldinge als Körper und Formen(Arten) des Denkens fühlen und wahrnehmen wirnicht.

Die Postulate s. nach Lehrsatz 13.

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Erster Lehrsatz

Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist eindenkendes Ding.

Beweis

Die einzelnen Gedanken oder dieses und jenesDenken sind Daseinsformen, welche die Natur Gottesauf gewisse und bestimmte Weise ausdrücken (nachZusatz zu Lehrsatz 25, Teil 1). Es kommt also (nachDefinition 5, Teil 1) Gott ein Attribut zu, dessen Be-griff in allen einzelnen Gedanken eingeschlossen istund durch welches sie auch begriffen werden. DasDenken ist also eins von den unendlichen AttributenGottes, welches das ewige und unendliche WesenGottes ausdrückt (s. Definition 6, Teil 1), oder Gottist ein denkendes Ding. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz erhellt auch daraus, daß wir einunendlich denkendes Wesen begreifen können. Dennje mehr ein denkendes Wesen denken kann, destomehr Realität oder Vollkommenheit enthält dasselbein unserm Begriff. Ein Wesen also, welches

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Unendliches auf unendliche Weisen denken kann, istnotwendig an Kraft des Denkens unendlich. Da wiralso, auf das bloße Denken achtend, ein unendlichesWesen begreifen, so ist (nach den Definitionen 4 und6, Teil 1) das Denken notwendig eins von den unend-lichen Attributen Gottes, wie ich behauptet habe.

Zweiter Lehrsatz

Die Ausdehnung ist ein Attribut Gottes, oder Gott istein ausgedehntes Ding.

Beweis

Der Beweis dieses Satzes wird auf dieselbe Weisegeführt wie der Beweis des vorigen.

Dritter Lehrsatz

In Gott gibt es notwendig eine Idee sowohl seinesWesens als alles dessen, was aus seinem Wesen not-wendig folgt.

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Beweis

Denn Gott kann (nach Lehrsatz 1 dieses Teils) Un-endliches auf unendliche Weisen denken, oder (wasdasselbe ist, nach Lehrsatz 16, Teil 1) er kann dieIdee seines Wesens und alles dessen, was notwendigaus demselben folgt, bilden. Nun ist alles, was inGottes Macht steht, notwendig (nach Lehrsatz 35,Teil 1). Also gibt es notwendig eine solche Idee und(nach Lehrsatz 15, Teil 1) nur in Gott. - W.z.b.w.

Anmerkung

Das Volk versteht unter Gottes Macht Gottes freienWillen und sein Recht auf alle Dinge, welche sindund welche deshalb gewöhnlich als zufällige betrach-tet werden. Denn, sagt man, Gott hat die Macht, alleszu zerstören und in nichts zu verwandeln. Auch ver-gleicht man häufig Gottes Macht mit der Macht derKönige. Doch habe ich dies in den Zusätzen I und IIzu Lehrsatz 32, Teil 1, widerlegt und im Lehrsatz 16,Teil 1, bewiesen, daß Gott mit derselben Notwendig-keit handelt, mit welcher er sich selbst erkennt, d.h.,sowie aus der Notwendigkeit der göttlichen Naturfolgt (was alle einstimmig behaupten), daß Gott sichselbst erkennt, ebenso folgt mit derselben

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Notwendigkeit, daß Gott Unendliches auf. unendlicheWeisen tut. Ferner habe ich in Lehrsatz 34, Teil 1,bewiesen, daß Gottes Macht nichts ist als Gottes täti-ges Wesen. Daher ist es uns ebenso unmöglich zu be-greifen, daß Gott nicht handle, als daß Gott nicht sei.

Wenn ich dies weiter verfolgen dürfte, könnte ichhier noch zeigen, daß jene Macht, welche das VolkGott andichtet, nicht bloß eine menschliche ist (waszeigt, daß Gott als Mensch oder nach dem Bilde einesMenschen vom Volk begriffen wird), sondern auchOhnmacht einschließt.

Doch will ich über dieselbe Sache nicht so oft aus-führlich reden. Ich will nur den Leser dringend bitten,daß er alles, was im ersten Teil von Lehrsatz 16 anbis zum Schluß über diesen Gegenstand gesagt ist,aber und abermals erwäge. Denn niemand wird das,was ich meine, recht verstehen können, wenn er sichnicht außerordentlich hütet, die Macht Gottes mit dermenschlichen Macht oder dem menschlichen Rechtder Könige zu vermengen.

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Vierter Lehrsatz

Die Idee Gottes, aus welcher Unendliches auf un-endliche Weisen folgt, kann nur eine einzige sein.

Beweis

Der unendliche Verstand umfaßt nichts als die At-tribute Gottes und seine Erregungen (nach Lehrsatz30, Teil 1). Nun ist Gott einzig (nach Zusatz I zuLehrsatz 14, Teil 1). Somit kann die Idee Gottes, auswelcher Unendliches auf unendliche Weisen folgt, nureine einzige sein. - W.z.b.w.

Fünfter Lehrsatz

Das formale Sein der Ideen erkennt Gott als Ursa-che an, sofern er nur als denkendes Ding betrachtetwird, nicht aber sofern er durch ein anderes Attributerklärt wird. Das heißt, die Ideen sowohl der Attri-bute Gottes als auch der Einzeldinge erkennen nichtdas Gedachte selbst oder die wahrgenommenenDinge als wirkende Ursache an, sondern Gottselbst, sofern er ein denkendes Wesen ist.

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Beweis

Der Satz erhellt zwar schon aus Lehrsatz 3 diesesTeils. Denn dort folgerten wir, daß Gott die Idee sei-nes Wesens und alles dessen, was aus demselben not-wendig folgt, bilden kann, daraus allein, daß Gott eindenkendes Ding ist, nicht aber daraus, daß er das Ob-jekt seiner Idee ist. Daher erkennt das formale Seinder Ideen Gott als Ursache an, sofern er ein denkendesDing ist.

Indessen kann der Satz auch noch auf folgendeWeise bewiesen werden. Das formale Sein der Ideenist eine Form des Denkens (wie an sich klar), d.h.(nach Zusatz zu Lehrsatz 25, Teil 1) ein Modus, wel-cher die Natur Gottes, sofern er ein denkendes Dingist, auf gewisse Weise ausdrückt. Es schließt also(nach Lehrsatz 10, Teil 1) den Begriff keines anderngöttlichen Attributes in sich und ist demzufolge (nachAxiom IV, Teil 1) die Wirkung keines andern göttli-chen Attributes als des Denkens.

Somit erkennt das formale Sein der Ideen Gott alsUrsache an, sofern er nur als denkendes Ding betrach-tet wird usw. - W.z.b.w.

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Sechster Lehrsatz

Die Daseinsformen (modi) jedes Attributs habenGott zur Ursache nur, sofern er unter jenem Attri-but, dessen Daseinsformen sie sind, betrachtet wird,nicht aber, sofern er unter irgendeinem andern At-tribut betrachtet wird.

Beweis

Denn jedes Attribut wird durch sich und ohne einanderes begriffen (nach Lehrsatz 10, Teil 1). Darumschließen die Daseinsformen jedes Attributs den Be-griff ihres Attributs, nicht aber den eines andern ein.Also haben sie (nach Axiom IV, Teil 1) Gott zur Ur-sache nur, sofern er unter jenem Attribut, deren Da-seinsformen sie sind, nicht aber, sofern er unter einemandern betrachtet wird. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß das formale Sein der Dinge, wel-che keine Daseinsformen des Denkens sind, nichtdarum aus der göttlichen Natur folgt, weil sie dieDinge früher erkannt hat; sondern die gedachtenDinge folgen aus ihren Attributen und werden daraus

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geschlossen, auf dieselbe Weise und mit derselbenNotwendigkeit, wie nach unserer Ausführung dieIdeen aus dem Attribut des Denkens folgen.

Siebenter Lehrsatz

Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist diesel-be wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.

Beweis

Der Satz erhellt aus Axiom IV, Teil I. Denn dieIdee eines jeden Verursachten hängt von der Erkennt-nis der Ursache ab, deren Wirkung sie ist.

Zusatz

Hieraus folgt, daß die Macht Gottes zu denken sei-ner wirklichen Macht zu handeln gleich ist, d.h. alles,was aus der unendlichen Natur Gottes formell folgt,das alles folgt in Gott Objektiv aus der Idee Gottes, inderselben Ordnung und in derselben Verknüpfung.

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Anmerkung

Hier müssen wir, ehe wir weitergehen, uns ins Ge-dächtnis rufen, was oben gezeigt worden, nämlich daßalles, was von dem unendlichen Verstand als dasWesen der Substanz ausmachend erfaßt werden kann,daß dies alles nur zu Einer Substanz gehört und daßfolglich die denkende Substanz und die ausgedehnteSubstanz eine und dieselbe Substanz ist, welche baldunter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßtwird. So ist auch die Daseinsform der Ausdehnungund die Idee dieser Daseinsform ein und dasselbeDing, aber auf zwei Arten ausgedrückt. Dies scheineneinige Hebräer dunkel eingesehen zu haben, welchebehaupten, Gott, der Verstand Gottes, und die vonihm erkannten Dinge seien eins und dasselbe. ZumBeispiel ein in der Natur existierender Kreis und dieIdee eines existierenden Kreises ist ein und dasselbeDing, welches durch Verschiedene Attribute ausge-drückt wird. Mögen wir daher die Natur unter demAttribut der Ausdehnung oder unter dem Attribut desDenkens oder unter irgendeinem andern begreifen,immer werden wir eine und dieselbe Ordnung odereine und dieselbe Verknüpfung der Ursachen, d.h.dieselbe Folge der Dinge eins aus dem andern, finden.

Aus keinem andern Grunde habe ich gesagt, daß

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Gott die Ursache der Idee z.B. des Kreises ist, nur so-fern er ein denkendes Ding ist, und des Kreises selbst,nur sofern er ein ausgedehntes Ding ist, als deswegen,weil das formale Sein der Idee des Kreises nur durcheine andere Daseinsform des Denkens als dessennächste Ursache und diese wieder durch eine andereund so ins unendliche begriffen werden kann; so daß,solange die Dinge als Daseinsformen des Denkens be-trachtet werden, wir die Ordnung der ganzen Naturoder die Verknüpfung der Ursachen durch das Attri-but des Denkens allein erklären müssen und sofern sieals Daseinsformen der Ausdehnung betrachtet wer-den, auch die Ordnung der ganzen Natur durch dasbloße Attribut der Ausdehnung erklärt werden muß;und so verstehe ich es auch bei andern Attributen.Daher ist die wahre Ursache der Dinge, wie sie ansich sind, Gott, sofern er aus unendlichen Attributenbesteht. Deutlicher kann ich das für jetzt nicht erläu-tern.

Achter Lehrsatz

Die Ideen der Einzeldinge oder Daseinsformen, wel-che nicht existieren, müssen in der unendlichen IdeeGottes so enthalten sein, wie die formalen Wesender Einzeldinge oder Daseinsformen in den

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Attributen Gottes enthalten sind.

Beweis

Dieser Satz erhellt aus der vorigen Anmerkung.

Zusatz

Hieraus folgt, daß, solange die Einzeldinge nur exi-stieren, sofern sie in den Attributen Gottes enthaltensind, auch ihr objektives Sein oder ihre Ideen nur exi-stieren, sofern die unendliche Idee Gottes existiert.Sobald aber von den Einzeldingen gesagt wird, daßsie existieren, nicht nur, sofern sie in den AttributenGottes enthalten sind, sondern auch, sofern gesagtwird, daß sie eine Dauer haben, auch ihre Ideen eineExistenz, vermöge welcher gesagt wird, daß sie eineDauer haben, einschließen.

Anmerkung

Wenn jemand zum besseren Verständnis dieserSache ein Beispiel wünschen sollte, so kann ich aller-dings keines geben, das die Sache, von welcher hierdie Rede ist und welche einzig in ihrer Art ist, voll-ständig erläutert. Doch will ich versuchen, die Sache,so gut es geht, zu verdeutlichen.

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Der Kreis ist von solcher Natur, daß die Rechteckeaus allen geraden, sich durchschneidenden Linien indemselben einander gleich sind. Daher sind im Kreisunendliche, einander gleiche Rechtecke enthalten.Gleichwohl kann man von einem solchen Rechtecknur sagen, daß es existiert, sofern der Kreis existiert;auch von der Idee dieser Rechtecke kann nur gesagtwerden, daß sie existiert, sofern sie in der Idee desKreises enthalten ist. Nun nehme man an, daß vonjenen unendlichen Dreiecken nur zwei existieren,nämlich E und D (s. Figur).

Jetzt existieren ihre Ideen nicht bloß, sofern sie nurin der Idee des Kreises enthalten sind, sondern auch,sofern sie die Existenz jener Dreiecke in sich schlie-ßen. Daher kommt es, daß sie sich von den übrigenIdeen der andern Dreiecke unterscheiden.

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Neunter Lehrsatz

Die Idee eines wirklich existierenden Einzeldingeshat Gott zur Ursache, nicht sofern er unendlich ist,sondern sofern er als durch eine andere Idee eineswirklich existierenden Einzeldinges erregt betrachtetwird, dessen Ursache auch Gott ist, sofern er durcheine andere dritte erregt ist, und so ins unendliche.

Beweis

Die Idee eines wirklich existierenden Einzeldingesist eine einzelne Daseinsform des Denkens und vonden übrigen unterschieden (nach Zusatz und Anmer-kung zu Lehrsatz 8 dieses Teils), und also hat sie(nach Lehrsatz 6 dieses Teils) Gott zur Ursache, nursofern er ein denkendes Ding ist. Aber nicht (nachLehrsatz 28, Teil 1), sofern er ein absolut denkendesDing ist, sondern sofern er als von einer andern Da-seinsform des Denkens erregt betrachtet wird. Und dieUrsache dieser Daseinsform ist Gott wiederum nur,sofern er von einer andern erregt ist, und so ins un-endliche. Nun ist aber die Ordnung und Verknüpfungder Ideen (nach Lehrsatz 7 dieses Teils) dieselbe wiedie Ordnung und Verknüpfung der Ursachen. Folglichist die Ursache der Idee eines Einzeldinges eine

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andere Idee oder Gott, sofern er als durch eine andereIdee erregt betrachtet wird, und die Ursache dieserIdee ist er wiederum, sofern er durch eine andere er-regt wird, und so ins unendliche. - W.z.b.w.

Zusatz

Von allem, was im einzelnen Objekt irgendeinerIdee geschieht, gibt es in Gott eine Erkenntnis nur,sofern er eine Idee dieses Objekts hat.

Beweis

Von allem, was im Objekt irgendeiner Idee vor-geht, davon gibt es in Gott eine Idee (nach Lehrsatz 3dieses Teils), nicht sofern er unendlich ist, sondernsofern er als durch eine andere Idee eines Einzeldin-ges erregt betrachtet wird (nach dem vorigen Lehr-satz). Aber die Ordnung und Verknüpfung der Ideenist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung derDinge (nach Lehrsatz 7 dieses Teils). Folglich wirdeine Erkenntnis dessen, was in irgendeinem Einzel-ding vorgeht, in Gott sein, nur sofern er eine Idee die-ses Objekts hat. - W.z.b.w.

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Zehnter Lehrsatz

Zum Wesen des Menschen gehört nicht das Sein derSubstanz, oder die Substanz macht nicht die Formdes Menschen aus.

Beweis

Denn das Sein der Substanz schließt die notwendi-ge Existenz in sich (nach Lehrsatz 7, Teil 1). Wennalso zum Wesen des Menschen das Sein gehört, sowürde, wenn die Substanz gegeben, notwendig (nachDefinition 2 dieses Teils) auch der Mensch gegebensein, was (nach Axiom I dieses Teils) widersinnig ist.Folglich usw. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz kann auch aus Lehrsatz 5, Teil 1,bewiesen werden, wonach es nämlich keine zwei Sub-stanzen von gleicher Natur gibt. Da aber mehrereMenschen existieren können, so ist das, was die Formdes Menschen ausmacht, nicht das Sein der Sub-stanz. - Außerdem erhellt dieser Satz aus den übrigenEigenschaften der Substanz, indem nämlich die Sub-stanz ihrer Natur nach unendlich, unveränderlich,

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unteilbar usw. ist; was jeder leicht einsehen kann.

Zusatz

Hieraus folgt, daß das Wesen des Menschen ausgewissen Modifikationen der Attribute Gottes besteht.Denn das Sein der Substanz gehört (nach dem vorigenLehrsatz) nicht zum Wesen des Menschen. Es ist also(nach Lehrsatz 15, Teil 1) etwas, das in Gott ist unddas ohne Gott nicht sein noch begriffen werden kann;oder (nach Zusatz zu Lehrsatz 25, Teil 1) eine Affek-tion oder Daseinsform, welche die Natur Gottes aufgewisse und bestimmte Weise ausdrückt.

Anmerkung

Sicherlich muß jedermann einräumen, daß ohneGott nichts sein noch begriffen werden kann. Dennallgemein wird zugestanden, daß Gott die einzige Ur-sache aller Dinge ist sowohl ihres Wesens als auchihrer Existenz d.h., Gott ist, wie man zu sagen pflegt,die Ursache der Dinge, nicht bloß in bezug auf dasWerden, sondern auch in bezug auf das Sein. Dabeiaber sagen die meisten, zum Wesen eines Dinges ge-höre das, ohne welches ein Ding nicht sein noch be-griffen werden kann. Daher glauben sie entweder, dieNatur Gottes gehöre zum Wesen der geschaffenen

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Dinge, oder die geschaffenen Dinge können ohne Gottentweder sein oder begriffen werden; oder vielmehrsie sind selbst nicht recht klar darüber.

Der Grund davon liegt nach meiner Meinung darin,daß sie den ordnungsmäßigen Gang des Philosophie-rens nicht eingehalten haben. Denn die göttlicheNatur, welche sie vor allen hätten in Betracht ziehenmüssen, weil sie sowohl der Erkenntnis als der Naturnach die erste ist in der Reihe der Erkenntnis, hieltensie für die letzte, und die Dinge, welche Sinnesobjektegenannt werden, hielten sie für die ersten unter allen.So kam es, daß sie bei der Betrachtung der natürli-chen Dinge an nichts weniger dachten als an die gött-liche Natur und daß sie nachher, als sie sich zur Be-trachtung der göttlichen Natur wendeten, an nichtsweniger denken konnten als an ihre ersten Phantasie-gebilde, worauf sie die Erkenntnis der natürlichenDinge gebaut hatten, weil sie ihnen nämlich zur Er-kenntnis der göttlichen Natur nichts helfen konnten.Kein Wunder daher, daß sie sich mitunter widerspre-chen.

Doch lassen wir das. Meine Absicht war hier janur, den Grund anzugeben, weshalb ich nicht sagte,zum Wesen eines Dinges gehöre das, ohne welchesdas Ding weder sein noch begriffen werden kann;nämlich weil die Einzeldinge ohne Gott weder seinnoch begriffen werden können und dennoch Gott zu

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ihrem Wesen nicht gehört. Dasjenige, sagte ich viel-mehr, macht notwendig das Wesen eines Dinges aus,mit welchem, wenn es gegeben ist, auch das Ding ge-setzt wird, und wenn es aufgehoben ist, auch dasDing aufgehoben wird; oder das, ohne welches dasDing, und umgekehrt, welches ohne das Ding wedersein noch begriffen werden kann.

Elfter Lehrsatz

Das erste, was das wirkliche Sein des menschlichenGeistes ausmacht, ist nichts anderes als die Ideeeines in der Wirklichkeit existierenden Einzeldinges.

Beweis

Das Wesen des Menschen besteht (nach Zusatzzum vorigen Lehrsatz) aus gewissen Daseinsformender Attribute Gottes; nämlich (nach Axiom II diesesTeils) aus Daseinsformen des Denkens, deren Idee(nach Axiom III dieses Teils) von Natur früher ist. Istdiese Idee gegeben, so müssen die übrigen Daseins-formen (nämlich denen gegenüber die Idee von Naturfrüher ist) in demselben Individuum sein (nach dem-selben Axiom). Es ist also die Idee das erste, was dasSein des menschlichen Geistes ausmacht. Aber nicht

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die Idee eines nicht existierenden Dinges; denn dannkönnte (nach Zusatz zu Lehrsatz 8 dieses Teils) dieIdee selbst nicht existierend genannt werden. Es wirdalso die Idee eines in der Wirklichkeit existierendenDinges sein, aber nicht eines unendlichen Dinges.Denn ein unendliches Ding muß (nach den Lehrsätzen21 und 22, Teil 1) immer notwendig existieren. Folg-lich ist das erste, was das wirkliche Sein des mensch-lichen Geistes ausmacht, die Idee eines in der Wirk-lichkeit existierenden Einzeldinges. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der menschliche Geist ein Teildes unendlichen Verstandes Gottes ist. Wenn wirdemnach sagen, der menschliche Geist nimmt diesesoder jenes wahr, so sagen wir nichts anderes, als daßGott, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern erdurch die Natur des menschlichen Geistes erklärt wirdoder sofern er das Wesen des menschlichen Geistesausmacht, diese oder jene Idee hat. Und wenn wirsagen, Gott hat diese oder jene Idee nicht nur, soferner die Natur des menschlichen Geistes ausmacht, son-dern sofern er zugleich mit dem menschlichen Geistauch die Idee eines andern Dinges hat, dann sagenwir, daß der menschliche Geist ein Ding teilweiseoder nicht adäquat (inadäquat) auffaßt.

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Anmerkung

Hier werden ohne Zweifel die Leser stutzen, und eswird ihnen mancherlei in den Sinn kommen, was siedagegen einwenden möchten. Daher bitte ich sie,langsamen Schritts mit mir weiterzugehen und nichteher ein Urteil darüber zu fällen, als bis sie allesdurchgelesen haben.

Zwölfter Lehrsatz

Alles, was im Objekt der Idee, die den menschlichenGeist ausmacht, geschieht, muß vom menschlichenGeist erfaßt werden oder es gibt im menschlichenGeist notwendig eine Idee dieses Dinges. Das heißt,wenn das Objekt der Idee, welche den menschlichenGeist ausmacht, ein Körper ist, so wird in diesemKörper nichts geschehen können, was vom Geistnicht erfaßt wird.

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Beweis

Denn alles, was im Objekt irgendeiner Idee ge-schieht, davon gibt es notwendig eine Erkenntnis inGott (nach Zusatz zu Lehrsatz 9 dieses Teils), soferner als von der Idee dieses Objekts erregt betrachtetwird, d.h. (nach Lehrsatz 11 dieses Teils), sofern erden Geist eines Dinges ausmacht. Was also in demObjekt einer Idee, die den menschlichen Geist aus-macht, geschieht, davon gibt es notwendig in Gotteine Erkenntnis, sofern er die Natur des menschlichenGeistes bildet, d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 11 die-ses Teils), davon wird notwendig im Geist eine Er-kenntnis sein, oder der Geist erfaßt dasselbe. -W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz erhellt auch und wird noch deutli-cher erkannt aus der Anmerkung zu Lehrsatz 7 diesesTeils; siehe diesen.

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Dreizehnter Lehrsatz

Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geistausmacht, ist der Körper oder eine gewisse Daseins-form der Ausdehnung, die in Wirklichkeit existiert,und nichts andres.

Beweis

Denn wäre der Körper nicht das Objekt desmenschlichen Geistes, so wären die Ideen der Körper-erregungen in Gott nicht (nach Zusatz zu Lehrsatz 9dieses Teils), sofern er unsern Geist, sondern sofern erden Geist eines andern Dinges ausmacht; d.h. (nachZusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), die Ideen derKörpererregungen wären nicht in unserm Geiste. Nunhaben wir (nach Axiom IV dieses Teils) die Ideen derKörpererregungen. Folglich ist das Objekt der Idee,welche den menschlichen Geist ausmacht, der Körper,und zwar (nach Lehrsatz 11 dieses Teils) der in Wirk-lichkeit existierende. - Ferner: Gäbe es außer demKörper noch ein anderes Objekt des Geistes, somüßte, da (nach Lehrsatz 3G, Teil 1) nichts existiert,woraus nicht irgendeine Wirkung folgt, es notwendig(nach Lehrsatz 11 dieses Teils) die Idee einer Wir-kung desselben in unserem Geiste geben. Nun gibt es

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aber (nach Axiom V dieses Teils) keine solche Idee.Folglich ist das Objekt unseres Geistes der existie-rende Körper und nichts anderes. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Mensch aus Geist und Kör-per besteht und daß der menschliche Körper so, wiewir ihn empfinden, existiert.

Anmerkung

Daraus verstehen wir auch nicht bloß, daß dermenschliche Geist mit dem Körper vereinigt ist, son-dern auch, was unter Einheit von Geist und Körper zuverstehen ist.

Niemand aber wird dieselbe adäquat oder gründ-lich verstehen können, der nicht vorher die Natur un-seres Körpers adäquat erkennt. Denn das, was wir bisjetzt gezeigt haben, ist sehr allgemein und gilt vonden Menschen nicht mehr als von andern Individuen,welche alle, wenn auch in verschiedenen Graden, be-seelt sind. Denn von jedem Ding gibt es notwendig inGott eine Idee, deren Ursache Gott ist, ebenso wie dieIdee des menschlichen Körpers. Darum muß alles,was wir von der Idee des menschlichen Körpers ge-sagt haben, notwendig von der Idee eines jeden

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Dinges gesagt werden. Dennoch können wir auchnicht in Abrede stellen, daß die Ideen untereinander,wie die Objekte selbst, verschieden sind und daß dieeine vorzüglicher ist als die andere und mehr Realitätenthält, je nachdem das Objekt der einen vorzüglicherist und mehr Realität enthält als das Objekt der an-dern.

Um daher zu bestimmen, wodurch der menschlicheGeist sich von den übrigen unterscheidet und worin erdie übrigen übertrifft, ist es notwendig, daß wir dieNatur seines Objekts, wie ich gesagt, d.h. desmenschlichen Körpers, erkennen. Doch kann ich die-selbe hier nicht näher erklären, und es ist auch fürdas, was ich beweisen will, gar nicht nötig. Nur dasbemerke ich im allgemeinen: Je befähigter ein Körperist, vieles zugleich zu tun oder zu leiden, desto befä-higter ist auch sein Geist, vieles zugleich zu erfassen.Ferner, je mehr die Handlungen eines Körpers vonihm allein abhängen und je weniger andere Körperdabei mitwirken, desto befähigter ist sein Geist zugründlicher Erkenntnis. Darum können wir also denVorzug des einen Geistes vor dem andern erkennen,sodann auch den Grund einsehen, weshalb wir nureine sehr unklare Kenntnis von unserem Körperhaben, und noch manches andere, was ich im folgen-den davon ableiten werde.

Ich erachte es daher der Mühe wert, diese

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Behauptung selbst genauer zu entwickeln und zu be-weisen. Zu diesem Behufe muß einiges über die Naturder Körper vorausgeschickt werden:

Axiom I

Alle Körper sind entweder in Bewegung oder inRuhe.

Axiom II

Jeder Körper bewegt sich bald langsam, baldschneller.

1. Hilfssatz

Die Körper sind in bezug auf Bewegung und Ruhe,Schnelligkeit und Langsamkeit, nicht aber in bezugauf die Substanz voneinander unterschieden.

Beweis

Den ersten Teil dieses Satzes betrachte ich alsselbstverständlich. Das andere, daß die Körper inbezug auf Substanz nicht voneinander unterscheidensind, erhellt sowohl aus Lehrsatz 5 wie aus Lehrsatz 8des ersten Teils, noch deutlicher aber aus dem, was in

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der Anmerkung zu Lehrsatz 15 im ersten Teil gesagtist.

2. Hilfssatz

Alle Körper stimmen in manchem miteinanderüberein.

Beweis

Denn darin stimmen alle Körper überein, daß sieden Begriff eines und desselben Attributs in sichschließen (nach Definition 1 dieses Teils). Fernerdarin, daß sie sich bald schneller, bald langsamer be-wegen und daß sie überhaupt bald sich bewegen, baldruhen können.

3. Hilfssatz

Ein bewegter oder ruhender Körper mußte zur Be-wegung oder Ruhe von einem andern Körper be-stimmt werden, der ebenfalls zur Bewegung oderRuhe von einem andern bestimmt war, und dieserwiederum von einem andern, und so ins unendliche.

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Beweis

Die Körper sind (nach Definition I dieses Teils)Einzeldinge, welche (nach Hilfssatz 1) in bezug aufBewegung und Ruhe voneinander unterschieden sind.Jeder Körper mußte daher (nach Lehrsatz 28, Teil 1)zur Bewegung oder Ruhe notwendig von einem an-dern Einzelding bestimmt werden, nämlich (nachLehrsatz 6 dieses Teils) von einem andern Körper,welcher (nach Axiom I) ebenfalls sich bewegt oderruht. Aber auch dieser hätte aus, demselben Grundsich nicht bewegen oder ruhen können, wenn er nichtvon einem andern zur Bewegung oder Ruhe bestimmtgewesen wäre, und dieser wiederum (aus demselbenGrund) von einem andern, und so ins unendliche.

Zusatz

Hieraus folgt, daß ein bewegter Körper so lange inBewegung bleibt, bis er von einem andern Körperzum Ruhen bestimmt wird, und daß ein ruhender Kör-per auch so lange in Ruhe bleibt, bis er von einem an-dern zur Bewegung bestimmt wird. Es ist dies auchan sich klar. Denn wenn ich annehme, daß ein Kör-per, z.B. A, ruht und keine andern bewegten Körperin Betracht ziehe, so werde ich von dem Körper A

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nichts sagen können, als daß er ruht. Geschieht es nunspäter, daß der Körper A sich bewegt, so hat das si-cherlich nicht daraus erfolgen können, daß er ruhte;denn daraus konnte nichts anderes folgen, als daß derKörper A ruhe. Oder wenn umgekehrt angenommenwird, A bewegt sich, so werden wir, solange A alleinin Betracht gezogen wird, nichts anderes von demsel-ben behaupten können, als daß er sich bewegt. Ge-schieht es hernach, daß A ruht, so hat das auch sicher-lich nicht aus der Bewegung erfolgen können, die erhatte; denn aus dieser Bewegung konnte nichts ande-res folgen, als daß sich A bewegt. Es geschah somitdurch etwas, das nicht in A war, nämlich durch eineäußere Ursache, von welcher A zur Ruhe bestimmtward.

Axiom I

Alle Arten, wie ein Körper von einem andern Kör-per erregt wird, folgen aus der Natur des erregtenKörpers und zugleich aus der Natur des erregendenKörpers, so daß ein und derselbe Körper auf verschie-dene Weise bewegt wird, je nach der Verschiedenheitder Natur der bewegenden Körper, und umgekehrt,daß verschiedene Körper von einem und demselbenKörper auf verschiedene Weise bewegt werden.

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Axiom II

Wenn ein bewegter Körper auf einen andern ruhen-den den er nicht wegbewegen kann, stößt, so prallt erzurück, um seine Bewegung fortzusetzen; und derWinkel, welchen die Linie der zurückprallenden Be-wegung mit der Fläche des ruhenden Körpers, aufwelche er gestoßen ist, bildet, wird gleich sein demWinkel, welchen die Linie der einfallenden Bewegungmit dieser Fläche bildet (s. Figur).

Soviel von den einfachen Körpern, die sich bloßdurch Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Lang-samkeit voneinander unterscheiden. Nun zu den zu-sammengesetzten.

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Definition

Wenn einige Körper gleicher oder verschiedenerGröße von andern so zusammengedrängt werden, daßsie aneinanderliegen oder daß, wenn sie sich mit glei-cher oder verschiedener Schnelligkeit bewegen, sieeinander ihre Bewegung in irgendeiner bestimmtenWeise mitteilen, so sagen wir, daß alle diese Körpermiteinander vereinigt sind oder daß alle miteinanderEinen Körper oder Ein Individuum bilden, welchessich von den übrigen durch diese Einheit der Körperunterscheidet.

Axiom III

Je größer oder kleiner die Oberflächen sind, mitwelchen die Teile zusammengesetzter Individuen oderKörper, aneinanderliegen, desto schwerer oder leich-ter können sie gezwungen werden, ihre Lage zu ver-ändern, und folglich kann es um so leichter oderschwerer bewirkt werden, daß das betreffende Indivi-duum seine Gestalt ändere. Deshalb werde ich Kör-per, deren Teile mit großen Oberflächen aneinander-liegen, hart nennen; deren Teile aber mit kleinenOberflächen aneinanderliegen, weich; deren Teileendlich sich untereinander bewegen, flüssig.

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4. Hilfssatz

Wenn von einem Körper oder Individuum, das ausmehreren Körpern zusammengesetzt ist, einige Kör-per abgetrennt werden und zugleich ebenso viele Kör-per von gleicher Natur an deren Stelle treten, so wirddas Individuum seine vormalige Natur behalten, ohneirgendeine Änderung seiner Form.

Beweis

Denn die Körper unterscheiden sich (nach Hilfssatz1) nicht in bezug auf ihre Substanz. Das aber, was dieForm eines Individuums ausmacht, besteht (nach dervorigen Definition) in der Einheit der Körper. Dieseaber wird beibehalten (nach der Voraussetzung),wenn auch eine fortwährende Veränderung der Körpervor sich geht. Folglich wird das Individuum sowohlin bezug auf seine Substanz als auch seiner Daseins-formen seine vormalige Natur beibehalten.

5. Hilfssatz

Wenn die Teile, die ein Individuum bilden, größeroder kleiner werden, aber in dem Verhältnis, daß alledas vormalige gegenseitige Verhältnis der Bewegungund Ruhe bewahren, so wird das betreffende

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Individuum gleichfalls seine vormalige Natur beibe-halten, ohne irgendwelche Änderung seiner Form.

Beweis

Derselbe ist der gleiche wie beim vorigen Hilfssatz.

6. Hilfssatz

Wenn gewisse Körper, die ein Individuum bilden,genötigt werden, die Bewegung, welche sie nachEiner Richtung haben, nach einer andern Richtung zulenken, aber so, daß sie ihre Bewegung fortsetzen undganz in dem vormaligen Verhältnis einander mitteilenkönnen, so wird das betreffende Individuum seineNatur beibehalten, ohne jede Änderung seiner Form.

Beweis

Der Satz erhellt von selbst. Denn alles wird als bei-behalten vorausgesetzt, was wir in seiner Definitionals seine Form bildend bezeichnet haben.

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7. Hilfssatz

Außerdem behält ein so zusammengesetztes Indivi-duum seine Natur, mag es im Ganzen sich bewegenoder ruhen mag es sich nach dieser oder jener Rich-tung bewegen wenn nur jeder Teil seine Bewegungbehält und sie wie vorher dem andern mitteilt.

Beweis

Derselbe erhellt aus der Definition des Individuums(s. dieselbe vor Hilfssatz 4).

Anmerkung

Hieraus ersehen wir also, in welcher Weise ein zu-sammengesetztes Individuum auf viele Arten erregtwerden und nichtsdestoweniger seine Natur bewahrenkann.

Bis hierher haben wir ein Individuum im Auge ge-habt, welches nur aus Körpern, die sich bloß durchBewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeitvoneinander unterscheiden, d.h., aus den einfachstenKörpern zusammengesetzt ist. Wenn wir uns nun einanderes denken, das aus vielen Individuen von ver-schiedener Natur zusammengesetzt ist, so werden wir

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finden, daß dasselbe noch auf viele andere Weisen er-regt werden und dennoch seine Natur bewahren kann.Denn da jeder Teil desselben aus mehreren Körpernzusammengesetzt ist, so wird (nach dem vorigenHilfssatz) jeder Teil, ohne jede Veränderung seinerNatur, sich bald langsamer, bald schneller bewegenund folglich seine Bewegungen schneller oder langsa-mer den übrigen mitteilen.

Wenn wir uns weiter noch eine dritte Gattung vonIndividuen denken, die aus diesen zweiter Gattung zu-sammengesetzt sind, so werden wir finden, daß einsolches Individuum noch auf viel mehr Weisen erregtwerden kann ohne jede Änderung seiner Form. Undwenn wir so weiter ins unendliche fortfahren, werdenwir leicht begreifen, daß die ganze Natur Ein Indivi-duum ist, dessen Teile, d.h. alle Körper, auf unendli-che Weise verschieden sind, ohne irgendwelche Ände-rung des ganzen Individuums.

Ich hätte dies, wenn ich die Absicht gehabt hätte,die Körper eingehend zu behandeln, ausführlicher er-klären und beweisen müssen. Ich habe jedoch, wie ge-sagt, etwas anderes beabsichtigt, und das Vorstehendenur angeführt, um daraus das, was ich zu beweisenmir vorgesetzt, leicht ableiten zu können.

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Postulate

1. Der menschliche Körper ist aus vielen Individu-en (verschiedener Natur) zusammengesetzt, von denenjedes sehr zusammengesetzt ist.

2. Von den Individuen, aus welchen der menschli-che Körper zusammengesetzt ist, sind einige flüssig,andere weich und wieder andere hart.

3. Die Individuen, welche den menschlichen Kör-per bilden, und folglich auch der menschliche Körperselbst, werden von äußern Körpern auf verschiedeneWeisen erregt.

4. Der menschliche Körper braucht zu seiner Erhal-tung sehr viele andere Körper, von welchen er fort-während gleichsam wiedererzeugt wird.

5. Wenn ein flüssiger Teil des menschlichen Kör-pers von einem äußern Körper bestimmt wird, aufeinen andern, weichen öfters zu stoßen, so veränderter dessen Fläche und drückt ihm gleichsam gewisseSpuren des äußern Körpers ein, der den Anstoß gibt.

6. Der menschliche Körper kann die äußeren Kör-per auf sehr viele Arten bewegen und auf sehr vieleArten disponieren.

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Vierzehnter Lehrsatz

Der menschliche Geist ist befähigt, vieles zu erfas-sen, und um so befähigter, auf je mehrere Weisensein Körper disponiert werden kann.

Beweis

Denn der menschliche Körper wird (nach den Po-stulaten 3 und 6) auf vielerlei Weisen von äußernKörpern erregt und disponiert, die äußern Körper aufvielerlei Weisen zu erregen. Alles aber, was immenschlichen Körper geschieht, muß (nach Lehrsatz12 dieses Teils) der menschliche Geist erfassen. Folg-lich ist der menschliche Geist befähigt, vieles zu er-fassen, und um so befähigter etc. - W.z.b.w.

Fünfzehnter Lehrsatz

Die Idee, welche das formale Sein des menschlichenGeistes ausmacht, ist keine einfache, sondern aussehr vielen Ideen zusammengesetzt.

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Beweis

Die Idee, welche das formale Sein des menschli-chen Geistes ausmacht, ist die Idee des Körpers (nachLehrsatz 13 dieses Teils), welcher (nach Postulat 1)aus sehr vielen sehr zusammengesetzten Individuengebildet wird. Nun gibt es aber von jedem Individu-um, das einen Körper bildet, notwendig (nach Zusatzzu Lehrsatz 8 dieses Teils) in Gott eine Idee. Folglichist (nach Lehrsatz 7 dieses Teils) die Idee desmenschlichen Körpers aus sehr viel solchen Ideen derihn bildenden Teile zusammengesetzt. - W.z.b.w.

Sechzehnter Lehrsatz

Die Idee jeder Erregungsweise, von welcher dermenschliche Körper durch äußere Körper erregtwird, muß die Natur des menschlichen Körpers undzugleich die Natur des äußern Körpers in sichschließen.

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Beweis

Denn alle Erregungsweisen, von welchen ein Kör-per erregt wird, folgen aus der Natur des erregtenKörpers und zugleich aus der Natur des erregendenKörpers (nach Axiom I, das auf den Zusatz zu Hilfs-satz 3 folgt); daher wird ihre Idee (nach Axiom IV,Teil 1) die Natur beider Körper notwendig in sichschließen. Mithin schließt die Idee einer jeden Erre-gungsweise, von welcher der menschliche Körperdurch einen äußern Körper erregt wird, die Natur desmenschlichen Körpers und des äußern Körpers insich. - W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt erstens, daß der menschliche Geistdie Natur vieler Körper zugleich mit der Natur seinesKörpers Auffaßt.

Zusatz II

Er folgt zweitens, daß die Ideen, die wir von äußernKörpern haben, mehr die Verfassung unseres Körpersals die Natur der äußern Körper anzeigt; wie ich imAnhang zum ersten Teil an vielen Beispielen

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auseinandergesetzt habe.

Siebzehnter Lehrsatz

Wenn der menschliche Körper von einer Erregungs-weise erregt ist, welche die Natur eines äußerlichenKörpers in sich schließt, so wird der menschlicheGeist diesen äußern Körper als wirklich existierendoder als gegenwärtig betrachten, bis der Körpereine andere Erregung empfängt, welche die Existenzdieses Körpers oder seine Gegenwart ausschließt.

Beweis

Selbstverständlich. Denn solange der menschlicheKörper so erregt ist, insolange wird der menschlicheGeist (nach Lehrsatz 12 dieses Teils) diese Erregungdes Körpers betrachten, d.h. (nach dem vorigen Lehr-satz), er wird von der wirklich existierenden Erre-gungsweise eine Idee haben, welche die Natur des äu-ßern Körpers in sich schließt, d.h. eine Idee, welchedie Existenz oder Gegenwart der Natur des äußernKörpers nicht ausschließt, sondern setzt. Also wird(nach Zusatz I zum vorigen Lehrsatz) der Geist denäußern Körper als wirklich existierend oder als gegen-wärtig betrachten, bis usw. - W.z.b.w.

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Zusatz

Der Geist kann die äußern Körper, von welchen dermenschliche Körper einmal erregt gewesen ist, auchwenn sie nicht mehr existieren oder gegenwärtig sind,dennoch betrachten, als wären sie gegenwärtig.

Beweis

Wenn äußere Körper die flüssigen Teile desmenschlichen Körpers bestimmen, auf die weicherenhäufig zu stoßen, so verändern sie deren Flächen(nach Postulat 5). Daher kommt es (s. Axiom II nachdem Zusatz zu Hilfssatz 3), daß sie von da auf andereWeise zurückprallen, als es früher zu geschehenpflegte, und daß sie auch nachher, wenn sie auf dieneuen Flächen in ihrer willkürlichen Bewegung auf-stoßen, auf dieselbe Weise zurückprallen wie damals,als sie von den äußern Körpern gegen jene Flächengestoßen wurden, und folglich auch, daß sie, wenn siediese zurückprallende Bewegung fortsetzen, denmenschlichen Körper auf dieselbe Weise erregen.Hierüber wird der Geist (nach Lehrsatz 12 diesesTeils) wiederum denken, d.h. (nach Lehrsatz 17 die-ses Teils), der Geist wird wiederum den äußern Kör-per als gegenwärtig betrachten. Und dies wird so oft

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geschehen, sooft die flüssigen Teile des menschlichenKörpers in ihrer willkürlichen Bewegung auf dieseFlächen stoßen. Darum wird der Geist, wenn auch dieäußern Körper, von welchen der menschliche Körpereinmal erregt gewesen ist, nicht mehr existieren, dieseKörper so oft als gegenwärtig betrachten, sooft dieseTätigkeit des Körpers sich wiederholen wird. -W.z.b.w.

Anmerkung

Wir sehen also, wie es möglich ist, daß wir etwas,was nicht ist, als gegenwärtig betrachten, wie oft ge-schieht.

Es ist zwar auch möglich, daß dies aus andern Ur-sachen vorkommt, aber es genügt mir hier, Eine Ursa-che gezeigt zu haben, durch welche ich die Sache soerklären konnte, als hätte ich sie auf ihre wahre Ursa-che zurückgeführt. Ich glaube jedoch nicht, daß ichmich von der Wahrheit weit entferne, da alle jene Po-stulate, welche ich angewendet habe, kaum etwas ent-halten, was nicht durch die Erfahrung bestätigt wird,und an dieser dürfen wir nicht zweifeln, nachdem wirgezeigt, daß der menschliche Körper so, wie wir ihnempfinden, existiert (s. Zusatz nach Lehrsatz 13 die-ses Teils).

Außerdem verstehen wir jetzt vollkommen (aus

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dem vorigen Zusatz und dem Zusatz II zu Lehrsatz 16dieses Teils) den Unterschied zwischen der Idee z.B.des Peter, welche das Wesen des Geistes des Peterselbst ausmacht, und zwischen der Idee von Peter,welche in einem andern Menschen, etwa in Paul, ist.Denn jene drückt das Wesen des Körpers des Peterselbst direkt aus und schließt die Existenz nur ein, so-lange Peter existiert. Diese dagegen zeigt mehr denZustand des Körpers des Paul als die Natur des Peter.Daher wird der Geist des Paul, solange jener Körper-zustand des Paul dauert den Peter, auch wenn er nichtexistiert, als sich gegenwärtig betrachten.

Ferner werden wir, um die gebräuchlichen Aus-drücke beizubehalten, die Erregungen des menschli-chen Körpers, deren Ideen uns die äußern Körper dar-stellen, als ob sie uns gegenwärtig wären, Bilder(Vorstellungen der Dinge) nennen, wenn sie auch dieGestalten der Dinge nicht wiedergeben. Und wenn derGeist auf diese Weise die Körper betrachtet, so wer-den wir sagen, daß er sie (sinnlich) vorstellt. Und hiermöchte ich - um mit der Erklärung des Irrtums zu be-ginnen - darauf aufmerksam machen, daß die Vorstel-lungen des Geistes, an und für sich betrachtet, keinenIrrtum enthalten oder daß der Geist in dem, was ervorstellt, nicht irrt, sondern nur, sofern er betrachtetwird als der Idee ermangelnd, welche die Existenzjener Dinge, die er sich als gegenwärtig vorstellt,

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ausschließt. Denn wenn der Geist, während er nichtexistierende Dinge als sich gegenwärtig vorstellt, zu-gleich wüßte, daß jene Dinge tatsächlich nicht existie-ren, so würde er sicherlich dieses Vorstellungsvermö-gen einem Vorzug seiner Natur, nicht einem Fehlerderselben zuschreiben; zumal wenn diese Fähigkeitdes Vorstellens von seiner Natur allein abhinge, d.h.(nach Definition 7, Teil 1), wenn diese Vorstellungs-fähigkeit des Geistes frei wäre.

Achtzehnter Lehrsatz

Wenn der menschliche Körper einmal von zwei odermehreren Körpern zugleich erregt worden ist, sowird der Geist, wenn er später einen derselben sichvorstellt, sich sogleich auch der andern erinnern.

Beweis

Der Geist stellt sich (nach dem vorigen Zusatz) ir-gendeinen Körper deshalb vor, weil der menschlicheKörper von den Eindrücken (Spuren) des äußernKörpers auf die gleiche Weise erregt und disponiertwird, wie er erregt worden ist, als einige Teile dessel-ben von dem äußern Körper selbst einen Anstoß er-halten haben. Nun war (der Voraussetzung zufolge)

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der Körper damals so disponiert, daß der Geist zweiKörper zugleich vorstellte. Folglich wird er auch jetztzwei zugleich vorstellen, und der Geist wird, wenn erden einen vorstellt, sich sofort auch des andern erin-nern. - W.z.b.w.

Anmerkung

Damit verstehen wir klar, was das Gedächtnis (dieErinnerung) ist. Es ist nämlich nichts anderes als einegewisse Verkettung von Ideen, welche die Natur deraußerhalb des menschlichen Körpers befindlichenDinge in sich schließen; welche Verkettung im Geistder Ordnung und Verkettung der Erregungen desmenschlichen Körpers entspricht.

Ich sage erstens, es sei eine Verkettung nur solcherIdeen, welche die Natur der außerhalb des menschli-chen Körpers befindlichen Dinge in sich schließen,nicht aber von Ideen, welche die Natur dieser Dingeerklären. Denn es sind tatsächlich (nach Lehrsatz 16dieses Teils) die Ideen der Erregungen des menschli-chen Körpers, welche die Natur sowohl dieses, desmenschlichen Körpers, als auch der äußern Körper insich schließen.

Ich sage zweitens: diese Verkettung entspreche derOrdnung und Verkettung der Erregungen des mensch-lichen Körpers, um diese von der Verkettung der

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Ideen zu unterscheiden, welche der Ordnung des Ver-standes entspricht, vermöge welcher der Geist dieDinge nach ihren ersten Ursachen erfaßt und welchebei allen Menschen dieselbe ist.

Hieraus erkennen wir ferner klar, warum der Geistvon dem Gedanken eines Dinges sofort auf den Ge-danken eines andern Dinges überspringt, das mit demersten gar keine Ähnlichkeit hat. Zum Beispiel wennman das Wort »Apfel« denkt, so denkt man auch so-gleich an die Frucht Apfel, die doch mit jenem artiku-lierten Laut keinerlei Ähnlichkeit noch sonst etwasgemein hat, als daß der Körper des Menschen häufigvon diesen beiden erregt wurde, d.h., daß der Menschhäufig das Wort Apfel gehört hat, während er zu-gleich die Frucht sah. So wird jeder von einem Ge-danken auf einen andern verfallen je nachdem seineGewohnheit die Bilder der Dinge im Körper geordnethat. Der Soldat z.B. wird beim Anblick der Spureneines Pferdes sogleich von dem Gedanken eines Pfer-des auf den Gedanken eines Reiters und von diesemauf den Gedanken des Krieges usw. kommen. DerDauer dagegen wird von dem Gedanken des Pferdesauf den Gedanken eines Pflugs, Ackers usw. verfal-len. So wird jeder, je nachdem er gewohnt ist, die Bil-der der Dinge auf die eine oder andere Weise zu ver-knüpfen und zu verketten, von einem Gedanken aufdiesen oder jenen Gedanken kommen.

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Neunzehnter Lehrsatz

Der menschliche Geist erkennt den (eigenen)menschlichen Körper und weiß, daß er existiert, nurdurch die Ideen der Erregungen, womit der Körpererregt wird.

Beweis

Denn der menschliche Geist ist eben die Idee oderdie Erkenntnis des menschlichen Körpers (nach Lehr-satz 13 dieses Teils), welche (nach Lehrsatz 19 diesesTeils) in Gott zwar ist, sofern er als von einer andernIdee eines Einzeldinges erregt betrachtet wird. Oderweil (nach Postulat 4) der menschliche Körper vielerKörper bedarf, von welchen er beständig gleichsamwiedererzeugt wird und die Ordnung und Verknüp-fung der Ideen dieselbe ist wie die Ordnung und Ver-knüpfung der Ursachen (nach Lehrsatz 7 diesesTeils), so wird diese Idee in Gott sein, sofern er alsvon den Ideen vieler Einzeldinge erregt betrachtetwird. Gott hat darum eine Idee des menschlichen Kör-pers oder erkennt den menschlichen Körper, sofern ervon vielen andern Ideen erregt ist, und nicht, sofern erdie Natur des menschlichen Geistes ausmacht; d.h.(nach Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), der

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menschliche Geist erkennt den menschlichen Körpernicht. Aber die Ideen der Körpererregungen sind inGott, sofern er die Natur des menschlichen Geistesausmacht, oder der menschliche Geist erfaßt diese Er-regungen (nach Lehrsatz 12 dieses Teils) und folglich(nach Lehrsatz 16 dieses Teils) den menschlichenKörper selbst, und zwar (nach Lehrsatz 17 diesesTeils) als wirklich existierend. Folglich erfaßt dermenschliche Geist nur insofern den eigenen menschli-chen Körper. - W.z.b.w.

Zwanzigster Lehrsatz

Es gibt in Gott auch eine Idee oder eine Erkenntnisdes menschlichen Geistes, welche auf dieselbe Weisein Gott folgt und sich auf dieselbe Weise auf Gottbezieht wie die Idee oder Erkenntnis des menschli-chen Körpers.

Beweis

Das Denken ist ein Attribut Gottes (nach Lehrsatz1 dieses Teils), daher muß es (nach Lehrsatz 3 diesesTeils) notwendig sowohl von ihm als auch von allenseinen Erregungen und demzufolge auch (nach Lehr-satz 11 dieses Teils) vom menschlichen Geiste eine

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Idee in Gott geben. Es folgt ferner nicht, daß es dieseIdee oder Erkenntnis des Geistes in Gott gibt, sofernderselbe unendlich ist, sondern sofern er von einer an-dern Idee eines Einzeldinges erregt ist (nach Lehrsatz9 dieses Teils). Aber die Ordnung und Verknüpfungder Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüp-fung der Ursachen (nach Lehrsatz 7 dieses Teils). Esfolgt somit diese Idee oder Erkenntnis des Geistes inGott und bezieht sich auf dieselbe Weise auf Gott wiedie Idee oder Erkenntnis des Körpers. - W.z.b.w.

Einundzwanzigster Lehrsatz

Diese Idee des Geistes ist auf dieselbe Weise mitdem Geiste vereinigt, wie der Geist selbst mit demKörper vereinigt ist.

Beweis

Daß der Geist mit dem Körper vereinigt ist, habenwir daraus erwiesen, daß der Körper das Objekt desGeistes ist (s. die Lehrsätze 12 und 13 dieses Teils).Daher muß aus demselben Grunde die Idee des Gei-stes mit ihrem Objekt, d.h. mit dem Geist selbst, aufdieselbe Weise vereinigt sein, wie der Geist selbst mitdem Körper vereinigt ist. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Dieser Satz wird weit deutlicher aus dem, was inder Anmerkung zu Lehrsatz 7 dieses Teils gesagt ist,eingesehen. Denn dort haben wir gezeigt, daß die Ideedes Körpers und der Körper, d.h. (nach Lehrsatz 13dieses Teils) der Geist und der Körper, eins und das-selbe Individuum ist, welches bald unter dem Attributdes Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begrif-fen wird. Darum ist die Idee des Geistes und der Geistselbst ein und dasselbe Ding, welches unter einemund demselben Attribut, nämlich des Denkens, begrif-fen wird. Daß die Idee des Geistes und der Geistselbst in Gott vorhanden, folgt, sage ich, mit dersel-ben Notwendigkeit aus derselben Fähigkeit des Den-kens. Denn tatsächlich ist die Idee des Geistes, d.h.die Idee der Idee, nichts anderes als die Form derIdee, sofern diese als Daseinsform des Denkens ohneBeziehung zum Objekt betrachtet wird. Denn sobaldjemand etwas weiß, weiß er eben damit, daß er diesesweiß; und zugleich weiß er, daß er weiß, was er weiß;und so ins unendliche. Doch hierüber später.

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Zweiundzwanzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist erfaßt nicht bloß die Erre-gungen des Körpers, sondern auch die Ideen dieserErregungen.

Beweis

Die Ideen von den Ideen der Erregungen folgen inGott auf dieselbe Weise und beziehen sich auf Gottauf dieselbe Weise wie die Ideen der Erregungenselbst; was auf die gleiche Weise bewiesen wird wieLehrsatz 20 dieses Teils. Aber die Ideen der Erregun-gen des Körpers sind im menschlichen Geiste (nachLehrsatz 12 dieses Teils), d.h. (nach Zusatz zu Lehr-satz 11 dieses Teils) in Gott, sofern er das Wesen desmenschlichen Geistes ausmacht. Folglich werden dieIdeen dieser Ideen in Gott sein, sofern er die Erkennt-nis oder Idee des menschlichen Geistes hat, d.h. (nachLehrsatz 21 dieses Teils) im menschlichen Geisteselbst, der darum nicht bloß die Erregungen des Kör-pers, sondern auch die Ideen derselben erfaßt. -W.z.b.w.

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Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Der Geist erkennt sich selbst nur, sofern er dieIdeen der Körpererregungen erfaßt

Beweis

Die Idee oder die Erkenntnis des Geistes folgt inGott auf dieselbe Weise und wird auf Gott auf diesel-be Weise bezogen wie die Idee oder die Erkenntnisdes Körpers (nach Lehrsatz 20 dieses Teils). Aber da(nach Lehrsatz 19 dieses Teils) der menschliche Geistden menschlichen Körper selbst nicht erkennt, d.h.(nach Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), da die Er-kenntnis des menschlichen Körpers sich auf Gottnicht bezieht, sofern er das Wesen des menschlichenGeistes ausmacht, so bezieht sich also die Erkenntnisdes Geistes auf Gott nicht, sofern er das Wesen desmenschlichen Geistes ausmacht; somit (nach demsel-ben Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils) erkennt inso-fern der menschliche Geist sich selbst nicht. Fernerschließen die Ideen der Erregungen, von denen derKörper erregt wird, die Natur des menschlichen Kör-pers selbst in sich (nach Lehrsatz 16 dieses Teils),d.h. (nach Lehrsatz 13 dieses Teils), sie stimmen mitder Natur des Geistes überein. Daher schließt die

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Erkenntnis dieser Ideen die Erkenntnis des Geistesnotwendig in sich. Aber die Erkenntnis dieser Ideenist (nach dem vorigen Lehrsatz) im menschlichen Gei-ste selbst. Folglich erkennt der menschliche Geist nurinsofern sich selbst. - W.z.b.w.

Vierundzwanzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist schließt keine adäquate Er-kenntnis der Teile in sich, welche den menschlichenKörper bilden.

Beweis

Die Teile, welche den menschlichen Körper bilden,gehören zum Wesen des Körpers selbst nur, sofern sieihre Bewegungen in irgendeinem bestimmten Verhält-nis einander mitteilen (s. die Definition nach dem Zu-satz zu Hilfssatz 3), nicht aber, sofern sie als Indivi-duen ohne Beziehung zum menschlichen Körper be-trachtet werden können. Denn die Teile des menschli-chen Körpers sind (nach Postulat 1) sehr zusammen-gesetzte Individuen, deren Teile (nach Hilfssatz 4)vom menschlichen Körper, ohne daß seine Natur undForm eine Änderung erlitten, getrennt werden könnenund die ihre Bewegungen (s. Axiom I nach Hilfssatz

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3) andern Körpern in einer andern Weise mitteilenkönnen. Es wird daher (nach Lehrsatz 3 dieses Teils)die Idee oder die Erkenntnis jedes Teils in Gott sein,und zwar (nach Lehrsatz 9 dieses Teils) sofern er be-trachtet wird als erregt von einer andern Idee einesEinzeldinges, welches Einzelding, der Ordnung derNatur gemäß, früher ist als der Teil selbst (nach Lehr-satz 9 dieses Teils). Dasselbe gilt außerdem auch vonjedem Teil des Individuums selbst, das den menschli-chen Körper bildet. Daher ist die Erkenntnis einesjeden Teils, der den menschlichen Körper bildet, inGott, sofern er von vielen Ideen der Dinge erregt ist,und nicht, sofern er nur die Idee des menschlichenKörpers hat, d.h. (nach Lehrsatz 13 dieses Teils) dieIdee, welche die Natur des menschlichen Körpers aus-macht. Also (nach Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils)schließt der menschliche Geist keine adäquate Er-kenntnis der Teile in sich, welche den menschlichenKörper bilden. - W.z.b.w.

Fünfundzwanzigster Lehrsatz

Die Idee einer jeden Erregung des menschlichenKörpers schließt eine adäquate Erkenntnis des äu-ßern Körpers nicht in sich.

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Beweis

Wir haben gezeigt, daß die Idee einer Erregung desmenschlichen Körpers insofern die Natur des äußernKörpers in sich schließt (s. Lehrsatz 16 dieses Teils),sofern derselbe den äußern menschlichen Körperselbst in irgendeiner gewissen Weise bestimmt. Abersofern der äußere Körper ein Individuum ist, das sichauf den menschlichen Körper nicht bezieht, ist seineIdee oder seine Erkenntnis in Gott (nach Lehrsatz 9dieses Teils), sofern Gott betrachtet wird als erregtvon der Idee eines andern Dinges, welche (nach Lehr-satz 7 dieses Teils) von Natur früher ist als der äußereKörper selbst. Daher ist eine adäquate Idee des äu-ßern Körpers in Gott nicht, sofern er eine Idee der Er-regung des menschlichen Körpers hat; oder die Ideeder Erregung des menschlichen Körpers schließt eineadäquate Erkenntnis des äußern Körpers nicht insich. - W.z.b.w.

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Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist erfaßt einen äußern Körperals wirklich existierend nur durch die Ideen der Er-regungen seines Körpers.

Beweis

Wenn der menschliche Körper von keinem äußernKörper auf irgendeine Weise erregt ist, so ist auch(nach Lehrsatz 7 dieses Teils) die Idee des menschli-chen Körpers, d.h. der menschliche Geist, von keinerIdee der Existenz jenes Körpers auf irgendeine Weiseerregt, oder er erfaßt die Existenz jenes äußern Kör-pers auf keine Weise. Aber sofern der menschlicheKörper von einem äußern Körper auf irgendeineWeise erregt wird, insofern erfaßt er den äußern Kör-per (nach Lehrsatz 16 dieses Teils mit seinem Zu-satz). - W.z.b.w.

Zusatz

Sofern der menschliche Geist einen äußern Körpersich (sinnlich) vorstellt, insofern hat er keine adäquateErkenntnis desselben.

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Beweis

Wenn der menschliche Geist durch die Ideen derErregungen seines Körpers die äußern Körper be-trachtet, so sagen wir, er stellt sie sich (sinnlich) vor(s. Zusatz zu Lehrsatz 7 dieses Teils). Der Geist kannaber auf keine andere Weise (nach dem vorigen Lehr-satz) die äußern Körper als wirklich existierend sichvorstellen. Daher hat der menschliche Geist (nachLehrsatz 25 dieses Teils), sofern er die äußern Körpersich (sinnlich) vorstellt, keine adäquate Erkenntnisderselben. - W.z.b.w.

Siebenundzwanzigster Lehrsatz

Die Idee einer jeden Erregung des menschlichenKörpers schließt eine adäquate Erkenntnis desmenschlichen Körpers selbst nicht in sich.

Beweis

Jede Idee einer jeden Erregung des menschlichenKörpers schließt insofern die Natur des menschlichenKörpers in sich, sofern der menschliche Körper selbstals auf gewisse Weise erregt betrachtet wird (s. Lehr-satz 16 dieses Teils). Aber sofern der menschliche

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Körper ein Individuum ist, das auf viele andere Wei-sen erregt werden kann, schließt dessen Idee etc.Siehe den Beweis zu Lehrsatz 25 dieses Teils.

Achtundzwanzigster Lehrsatz

Die Ideen der Erregungen des menschlichen Kör-pers sind, sofern sie bloß auf den menschlichenGeist bezogen werden, nicht klar und deutlich, son-dern verworren.

Beweis

Denn die Ideen der Erregungen des menschlichenKörpers schließen die Natur sowohl der äußern Kör-per als auch des menschlichen Körpers selbst in sich(nach Lehrsatz 16 dieses Teils). Sie müssen aber dieNatur nicht bloß des menschlichen Körpers, sondernauch seiner Teile in sich schließen. Denn die Erregun-gen sind Daseinsformen (nach Postulat 3), womit dieTeile des menschlichen Körpers und demzufolge derganze Körper erregt werden. Nun ist aber (nach denLehrsätzen 24 und 25 dieses Teils) eine adäquate Er-kenntnis der äußern Körper und der den menschlichenKörper bildenden Teile in Gott nicht, sofern er als

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vom menschlichen Geiste erregt, sondern sofern er alsvon andern Ideen erregt betrachtet wird. Es sind folg-lich diese Ideen der Erregungen, sofern sie auf denmenschlichen Geist allein bezogen werden, wieSchlußfolgerungen ohne die Vordersätze, d.h. (wie ansich klar) verworrene Ideen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Von der Idee, welche die Natur des menschlichenGeistes ausmacht, wird auf dieselbe Art bewiesen,daß sie, für sich selbst betrachtet, nicht klar und deut-lich ist; desgleichen von der Idee des menschlichenGeistes und von den Ideen der Ideen der menschlichenKörpererregungen, sofern sie auf den Geist allein be-zogen werden; was jedermann leicht einsehen kann.

Neunundzwanzigster Lehrsatz

Die Idee der Idee einer jeden Erregung des mensch-lichen Körpers schließt eine adäquate Erkenntnisdes menschlichen Geistes nicht in sich.

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Beweis

Denn die Idee einer Erregung des menschlichenKörpers schließt (nach Lehrsatz 27 dieses Teils) dieadäquate Erkenntnis des Körpers selbst nicht ein oderdrückt dessen Natur nicht adäquat aus; d.h. (nachLehrsatz 13 dieses Teils), sie stimmt mit der Naturdes Geistes nicht adäquat überein. Also (nach AxiomVI, Teil 1) drückt die Idee dieser Idee die Natur desmenschlichen Geistes nicht aus, oder sie schließt eineadäquate Idee desselben nicht in sich. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der menschliche Geist, sooft erdie Dinge nach der gewöhnlichen Ordnung der NaturErfaßt, weder von sich selbst noch von seinem Kör-per, noch von den äußern Körpern eine adäquate Er-kenntnis hat, sondern nur eine verworrene und ver-stümmelte Erkenntnis. Denn der Geist erkennt sichselbst nur, sofern er die Ideen der Körpererregungenerfaßt (nach Lehrsatz 23 dieses Teils). Aber seinenKörper erfaßt er (nach Lehrsatz 19 dieses Teils) nurdurch eben die Ideen der Erregungen, durch welche erauch nur (nach Lehrsatz 26 dieses Teils) die äußernKörper erfaßt. Er hat also, sofern er diese hat, weder

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von sich selbst (nach Lehrsatz 29 dieses Teils) nochvon seinem Körpern (nach Lehrsatz 27 dieses Teils),noch von den äußern Körpern (nach Lehrsatz 25 die-ses Teils) eine adäquate Erkenntnis, sondern nur eineverstümmelte und verworrene Erkenntnis. - W.z.b.w.

Anmerkung

Ich sage ausdrücklich, der Geist hat weder von sichselbst noch von seinem Körper, noch von den äußernKörpern eine adäquate, sondern nur eine verworreneErkenntnis, sooft er die Dinge nach der gewöhnlichenOrdnung der Natur erfaßt, d.h., sooft er äußerlich,nämlich wie ihm die Dinge zufällig aufstoßen, be-stimmt wird, dies oder jenes zu betrachten; nicht aber,sooft er innerlich, nämlich dadurch, daß er mehrereDinge zugleich betrachtet, bestimmt wird, das Über-einstimmende, das Verschiedene und das Gegensätzli-che an ihnen zu verstehen. Denn sooft et auf dieseoder andere Weise innerlich dazu disponiert wird, als-dann betrachtet er die Dinge klar und deutlich, wie ichunten zeigen werde.

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Dreißigster Lehrsatz

Wir können von der Dauer unseres Körpers keineandere als eine höchst inadäquate Erkenntnishaben.

Beweis

Die Dauer unseres Körpers hängt von dessenWesen nicht ab (nach Axiom I dieses Teils) und auchnicht von der absoluten Natur Gottes (nach Lehrsatz21, Teil 1). Vielmehr wird er zum Existieren undWirken bestimmt von solchen Ursachen, welche auchwieder von andern bestimmt sind zu existieren undauf gewisse und bestimmte Weise zu wirken, unddiese wiederum von andern, und so ins unendliche. Eshängt also die Dauer unseres Körpers von der allge-meinen Ordnung der Natur und der Beschaffenheit derDinge ab. Auf welche Weise aber die Dinge beschaf-fen sind, davon gibt es eine adäquate Erkenntnis inGott, sofern er die Ideen von ihnen allen, und nicht,sofern er nur die Idee des menschlichen Körpers hat(nach Zusatz zu Lehrsatz 9 dieses Teils). Daher istdie Erkenntnis der Dauer unseres Körpers in Gotthöchst inadäquat, sofern er nur als die Natur desmenschlichen Geistes ausmachend betrachtet wird;

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d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), dieseErkenntnis ist in unserm Geiste höchst inadäquat. -W.z.b.w.

Einunddreißigster Lehrsatz

Wir können von der Dauer der Einzeldinge, welcheaußer uns sind, keine andere als eine höchst inadä-quate Erkenntnis haben.

Beweis

Denn jedwedes Einzelding, wie der menschlicheKörper muß von einem andern Einzelding bestimmtwerden zu existieren und auf gewisse und bestimmteWeise zu wirken, und dieses wieder von einem ande-ren, und so ins unendliche (nach Lehrsatz 28, Teil 1).Da wir aber im vorigen Lehrsatz aus dieser gemein-schaftlichen Eigenschaft der Einzeldinge bewiesenhaben, daß wir von der Dauer unseres Körpers nureine höchst inadäquate Erkenntnis haben, so muß dasgleiche auch in bezug auf die Dauer der Einzeldingegeschlossen werden, nämlich daß wir nur eine höchstinadäquate Erkenntnis von ihr haben können. -W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt, daß alle einzelnen Dinge zufälligund zerstörbar sind. Denn wir können von ihrer Dauerkeine adäquate Erkenntnis haben (nach dem vorigenLehrsatz), und das ist es, was wir unter Zufälligkeitund Zerstörbarkeit der Dinge zu verstehen haben (s.Anmerkung 1 zu Lehrsatz 33, Teil 1). Denn (nachLehrsatz 29, Teil 1) gibt es keine andere Zufälligkeitals diese.

Zweiunddreißigster Lehrsatz

Alle Ideen sind, sofern sie auf Gott bezogen werden,wahr.

Beweis

Denn alle Ideen, welche in Gott sind, stimmen mitihrem Gegenstand vollständig überein (nach Zusatzzu Lehrsatz 7 dieses Teils); folglich (nach Axiom VI,Teil 1) sind sie alle wahr.

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Dreiunddreißigster Lehrsatz

Es ist in den Ideen nichts Positives, wegen dessen siefalsch heißen.

Beweis

Verneint man dieses, so nehme man, wenn es mög-lich, eine positive Art des Denkens an, welche dieForm des Irrtums oder des Falschen ausmacht. DieseArt des Denkens kann nicht in Gott sein (nach demvorigen Lehrsatz). Außerhalb Gottes aber kann sieauch weder sein noch begriffen werden (nach Lehrsatz15, Teil 1). Daher kann es nichts Positives geben inden Ideen, wegen dessen sie falsch heißen. - W.z.b.w.

Vierunddreißigster Lehrsatz

Jede Idee, welche in uns absolut oder adäquat undvollkommen ist, ist wahr.

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156Spinoza: Ethik

Beweis

Wenn wir sagen, es gibt in uns eine adäquate undvollkommene Idee, so sagen wir nichts anderes (nachZusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), als daß es inGott, sofern er das Wesen unseres Geistes ausmacht,eine adäquate und vollkommene Idee gibt. Folglich(nach Lehrsatz 32 dieses Teils) sagen wir damitnichts anderes, als daß eine solche Idee wahr ist. -W.z.b.w.

Fünfunddreißigster Lehrsatz

Die Falschheit besteht in einem Mangel an Erkennt-nis, welchen die inadäquaten oder verstümmeltenund verworrenen Ideen in sich schließen.

Beweis

Es gibt in den Ideen nichts Positives, das die Formder Falschheit bildet (nach Lehrsatz 33 dieses Teils).Im absoluten Mangel aber kann die Falschheit nichtbestehen (denn vom Geiste sagt man, er irrt odertäuscht sich, nicht vom Körper). Aber auch nicht inabsoluter Unwissenheit, denn Nichtwissen und Irren

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ist zweierlei. Sonach besteht sie in einem Mangel anErkenntnis welchen die inadäquate Erkenntnis derDinge oder die inadäquaten und verworrenen Ideen insich schließen. - W.z.b.w.

Anmerkung

In der Anmerkung zu Lehrsatz 17 dieses Teils habeich auseinandergesetzt, auf welche Weise der Irrtumin einem Mangel an Erkenntnis besteht; doch will ichzu größerer Verdeutlichung der Sache ein Beispiel an-führen. Die Menschen täuschen sich darin, daß sieglauben, sie seien frei. Diese Meinung besteht bloßdarin, daß sie ihrer Handlungen sich bewußt sind, dieUrsachen aber, von welchen sie bestimmt werden,nicht kennen. Das also ist die Idee ihrer Freiheit, daßsie keine Ursache ihrer Handlungen kennen. Dennwenn sie sagen, die menschlichen Handlungen hängenvom Willen ab, so sind das Worte, von welchen siekeine Idee haben. Was der Wille ist und wie er denKörper bewegt, wissen sie ja alle nicht, und diejeni-gen, welche sich brüsten, es ja zu wissen, und einenSitz und Aufenthalt der Seele aushecken, erregendamit nur Lachen oder Verdruß.

So auch, wenn wir die Sonne anblicken, stellen wiruns vor, sie sei etwa zweihundert Fuß von uns ent-fernt. In dieser Vorstellung allein besteht dieser

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Irrtum nicht, sondern darin, daß wir, während wir sieso betrachten, ihre wahre Entfernung und die Ursachedieser Vorstellung nicht kennen. Denn wenn wir auchnachher erkennen, daß sie mehr als sechshundert Erd-durchmesser von uns entfernt ist, so werden wir des-senungeachtet die Vorstellung haben, daß sie nahesei. Denn nicht deswegen stellen wir uns die Sonne sonahe vor, weil wir ihre wahre Entfernung nicht ken-nen, sondern deswegen, weil die Erregung unseresKörpers das Wesen der Sonne in sich schließt, sofernder Körper selbst von ihr erregt wird.

Sechsunddreißigster Lehrsatz

Die inadäquaten und verworrenen Ideen folgen mitderselben Notwendigkeit wie die adäquaten oder dieklaren und deutlichen Ideen.

Beweis

Alle Ideen sind in Gott (nach Lehrsatz 15, Teil 1)und sind, sofern sie auf Gott bezogen werden, wahr(nach Lehrsatz 32 dieses Teils) und adäquat (nachZusatz zu Lehrsatz 7 dieses Teils). Daher sind sie in-adäquat oder verworren nur insofern, als sie auf deneinzelnen Geist von jemand bezogen werden (s.

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hierüber die Lehrsätze 24 und 28 dieses Teils). Somitfolgen alle, die adäquaten wie die inadäquaten, mitgleicher Notwendigkeit (nach Zusatz zu Lehrsatz 6dieses Teils). - W.z.b.w.

Siebenunddreißigster Lehrsatz

Das, was allen Dingen gemeinsam ist (s. hierüberoben Hilfssatz 2) und was gleicherweise im Teil wieim Ganzen ist, macht das Wesen keines Einzeldingesaus.

Beweis

Verneint man dieses, so nehme man, wenn mög-lich, an, es mache das Wesen eines Einzeldinges jaaus, z.B. das Wesen von B. Es wird also (nach Defi-nition 2 dieses Teils) ohne B weder sein noch begrif-fen werden können. Dies ist aber gegen die Voraus-setzung. Folglich gehört es nicht zum Wesen des B,noch macht es das Wesen eines andern Einzeldingesaus. - W.z.b.w.

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Achtunddreißigster Lehrsatz

Das, was allen Dingen gemeinsam ist und was glei-cherweise im Teil wie im Ganzen ist, kann nicht an-ders begriffen werden als adäquat.

Beweis

Gesetzt, A sei etwas, das allen Körpern gemeinsamist und das gleicherweise im Teile jedes Körpers wieim Ganzen ist. Ich sage nun, A kann nicht anders be-griffen werden als adäquat. Denn die Idee desselbenwird (nach Zusatz zu Lehrsatz 7 dieses Teils) notwen-dig in Gott adäquat sein, sowohl sofern er die Ideedes menschlichen Körpers als auch sofern er die Ideender Erregungen desselben hat, welche (nach den Lehr-sätzen 1G, 25 und 27 dieses Teils) die Natur sowohldes menschlichen Körpers als auch der äußern Körperteilweise in sich schließen: Das heißt (nach den Lehr-sätzen 12 und 13 dieses Teils), diese Idee wird not-wendig in Gott adäquat sein, sofern er den menschli-chen Geist bildet oder sofern er Ideen hat, welche immenschlichen Geiste sind. Also erfaßt der Geist (nachZusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils) A notwendig ad-äquat, und zwar sowohl sofern er sich als auch soferner seinen oder irgendeinen äußern Körper erfaßt, und

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A kann auf keine andere Weise begriffen werden. -W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß es gewisse Ideen oder Begriffegibt, die allen Menschen gemeinsam sind. Denn alleKörper stimmen (nach Hilfssatz 2) in manchen Punk-ten überein welche (nach dem vorigen Lehrsatz) vonjedermann adäquat oder klar und deutlich begriffenwerden müssen.

Neununddreißigster Lehrsatz

Von dem, was dem menschlichen Körper und eini-gen äußern Körpern, von welchen der menschlicheKörper erregt zu werden pflegt, und das dem Teileines jeden von diesen Körpern, ebenso wie demGanzen, gemeinsam und eigen ist, davon wird esauch im Geiste eine adäquate Idee geben.Beweis

Gesetzt, A sei das, was dem menschlichen Körperund einigen äußern Körpern gemeinsam und eigen istund das ebenso im menschlichen Körper wie in jenenäußern Körpern und auch im Teil jedes äußern

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162Spinoza: Ethik

Körpers wie im Ganzen ist. Von A selbst wird es inGott eine adäquate Idee geben (nach Zusatz zu Lehr-satz 7 dieses Teils), sowohl sofern er die Idee desmenschlichen Körpers als auch sofern er die Ideen derbetreffenden äußern Körper hat. Man nehme nun an,der menschliche Körper werde von einem äußern Kör-per durch das erregt, was er mit demselben gemeinhat, d.h. von A. Dann wird die Idee dieser Erregungdie Eigenschaft A in sich schließen (nach Lehrsatz 16dieses Teils). Folglich (nach demselben Zusatz zuLehrsatz 7 dieses Teils) wird die Idee dieser Erre-gung, sofern sie die Eigenschaft A in sich schließt, inGott adäquat sein, sofern er von der Idee des mensch-lichen Körpers erregt ist; d.h. (nach Lehrsatz 13 die-ses Teils), sofern er die Natur des menschlichen Gei-stes bildet. Also (nach Zusatz zu Lehrsatz 11 diesesTeils) ist diese Idee auch im menschlichen Geiste ad-äquat. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Geist um so fähiger ist, vie-les adäquat zu erfassen, je mehr sein Körper mit an-dern Körpern gemein hat.

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Vierzigster Lehrsatz

Alle Ideen, weiche im Geiste aus Ideen folgen, die inihm adäquat sind, sind gleichfalls adäquat.

Beweis

Natürlich. Denn wenn wir sagen, im menschlichenGeiste folge eine Idee aus Ideen, die adäquat in ihmsind, so sagen wir nichts anderes (nach Zusatz zuLehrsatz 11 dieses Teils), als daß es im göttlichenVerstande selbst eine Idee gibt, deren Ursache Gottist, nicht sofern er unendlich ist, noch sofern er vonden Ideen vieler Einzeldinge erregt ist, sondern soferner nur das Wesen des menschlichen Geistes ausmacht.

1. Anmerkung

Damit habe ich die Ursache der Begriffe dargelegt,welche Gemeinbegriffe genannt werden und welchedie Grundlage unseres Schließens sind.

Es gibt aber von einigen Axiomen oder Begriffennoch andere Ursachen, welche nach dieser unsererMethode dargelegt zu werden verdienten; denn eswürde sich aus ihnen ergeben, welche Begriffe nützli-cher sind als alle übrigen und welche hinwiederum

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von kaum irgendeinem Nutzen sind. Ferner würdesich daraus ergeben, welche Begriffe allen Menschengemeinsam sind, welche Begriffe nur von vorurteils-freien Menschen klar und gründlich erfaßt werden undendlich, welche Begriffe schlecht begründet sind. Au-ßerdem würde sich ergeben, woher jene Begriffe, dieman Begriffe zweiter Ordnung nennt und demzufolgedie Axiome, die sich auf sie gründen, ihren Ursprunggenommen haben; und noch anderes was ich beimNachdenken darüber gefunden. Da ich dies aber füreine andere Abhandlung bestimmt habe, auch umnicht durch allzu große Weitläufigkeit des Gegenstan-des unangenehm zu werden, habe ich vorgezogen,darüber wegzugehen.

Um aber nichts von dem zu übergehen, was zu wis-sen nötig ist, will ich in Kürze die Ursachen angeben,aus welchen die sogenannten transzendentalen Aus-drücke ihren Ursprung genommen haben, wie »dasSeiende«, »das Ding«, »Etwas«. Diese Ausdrückeentstehen daraus, daß der menschliche Körper, weil erbeschränkt ist, nicht fähig ist, mehr als eine bestimm-te Zahl von Bildern (was ein Bild ist, habe ich in derAnmerkung zu Lehrsatz 17 dieses Teils erklärt) zugleicher Zeit deutlich in sich zu bilden. Wird dieseZahl überschritten, so fangen diese Bilder an, sich zuverwirren. Wird aber diese Zahl von Bildern, welcheder Körper zu gleicher Zeit deutlich in sich zu bilden

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vermag, erheblich überschritten, so werden alle sichgänzlich untereinander verwirren. Bei diesem Sach-verhalt ergibt sich aus Zusatz zu Lehrsatz 17 und ausLehrsatz 18 dieses Teils, daß der menschliche Geistso viel Körper zu gleicher Zeit deutlich wird vorstel-len können, so viel Bilder zu gleicher Zeit in seinemKörper gebildet werden können. Sobald sich aber dieBilder im Körper gänzlich verwirren, wird auch derGeist alle Körper verworren, ohne irgendeine Unter-scheidung, vorstellen und sie gleichsam unter EinemAttribut zusammenfassen, nämlich unter dem Attributdes »Seienden«, des »Dinges« usw. - Es läßt sich diesauch daraus ableiten, daß die Bilder nicht immergleich kräftig sind und noch aus andern verwandtenUrsachen, die hier nicht auseinandergesetzt zu werdenbrauchen; denn für den Zweck, den ich hier im Augehabe, genügt es, Eine zu wissen. Denn alle laufen dar-auf hinaus, daß diese Ausdrücke Ideen bezeichnen,die im höchsten Grade verworren sind.

Aus ähnlichen Ursachen sind jene Begriffe entstan-den, die man Gattungsbegriffe (Universalbegriffe)nennt, wie »Mensch«, »Pferd«, »Hund« usw., nämlichweil im menschlichen Körper so viel Bilder, z.B. vonMenschen, zu gleicher Zeit sich bilden, daß sie dieVorstellungskraft zwar nicht gänzlich, aber doch soweit übersteigen, daß der Geist die geringen Unter-schiede der Einzelnen (wie die Farbe, die Größe usw.

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eines jeden) und ihre bestimmte Zahl nicht vorstellenkann und nur das, worin alle - sofern der Körper vonihnen erregt wird - übereinstimmen, deutlich vorstellt,denn von dieser gemeinschaftlichen Eigenschaft istder Körper am meisten, nämlich von jedem einzelnen,erregt gewesen. Dies drückt er mit dem Namen»Mensch« aus, und diese Eigenschaft legt er den un-endlichen einzelnen Menschen bei; denn die bestimm-te Zahl der einzelnen kann er, wie gesagt, nicht vor-stellen.

Es ist jedoch zu beachten, daß diese Begriffe nichtvon jedermann auf gleiche Weise gebildet werden,sondern bei jedem wieder anders, je nachdem derKörper von dem betreffenden Ding öfter oder wenigeroft erregt gewesen ist; denn je öfter dies der Fall war,desto leichter stellt der Geist das Ding vor und erin-nert er sich desselben. Menschen z.B., welche öfterdie aufrechte Gestalt des Menschen mit Bewunderungbetrachtet haben, verstehen unter dem Namen»Mensch« ein lebendes Wesen vorn aufrechter Ge-stalt. Andere dagegen, welche gewohnt sind, am Men-schen etwas anderes ins Auge zu fassen, werden eineandere Gattungsvorstellung vom Menschen bilden,etwa: der Mensch ist ein lachendes Geschöpf; derMensch ist ein federloser Zweifüßler; der Mensch istein vernünftiges Geschöpf. Und so wird auch beiallem andern jedermann der Disposition seines

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167Spinoza: Ethik

Körpers entsprechend die Gattungsvorstellungen derDinge bilden.

Es ist daher kein Wunder, daß unter den Philoso-phen, welche die natürlichen Dinge durch die bloßenBilder der Dinge erklären wollten, so viel Meinungs-streitigkeiten entstanden sind.

2. Anmerkung

Aus allem, was im vorstehenden gesagt ist, erhelltdeutlich, daß wir vieles erfassen und allgemeine Be-griffe bilden.

1. Aus den Einzeldingen, die durch die Sinne ver-stümmelt, verworren und ohne Ordnung sich demVerstand darstellen (s. Zusatz zu Lehrsatz 29 diesesTeils). Daher pflege ich eine solche Auffassung »Er-kenntnis aus vager Erfahrung« zu nennen;

2. aus Zeichen, z.B. daraus, daß wir beim Hörenoder Lesen von Worten uns der betreffenden Dingeerinnern und gewisse Ideen von ihnen bilden, denenähnlich, durch welche wir die Dinge vorstellen (s. Zu-satz zu Lehrsatz 18 dieses Teils).

Diese beiden Arten, die Dinge zu betrachten, werdeich künftig Erkenntnis erster Gattung, Meinung oderVorstellung nennen;

3. endlich daraus, daß wir Gemeinbegriffe und ad-äquate Ideen von den Eigenschaften der Dinge haben

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168Spinoza: Ethik

(s. Zusatz zu Lehrsatz 38, Lehrsatz 39 und dessen Zu-satz und Lehrsatz 40 dieses Teils).

Diese Art werde ich Vernunft oder Erkenntniszweiter Gattung nennen.

Außer diesen zwei Erkenntnisgattungen gibt es,wie ich im folgenden zeigen werde, noch eine anderedritte welche ich das intuitive Wissen nennen werde.Diese Gattung des Erkennens schreitet von der ad-äquaten Idee des formalen Wesens einiger AttributeGottes zur adäquaten Erkenntnis des Wesens derDinge. Das alles will ich an einem Beispiel erläutern.Es sind z.B. drei Zahlen gegeben, um eine vierte zuerhalten, welche sich zur dritten verhält wie die zweitezur ersten. Ein Kaufmann wird ohne Bedenken diezweite mit der dritten multiplizieren und das Produktmit der ersten dividieren. Er hat nämlich noch nichtvergessen, was er vom Lehrer, ohne irgendeinen Be-weis, gehört hat; oder er hat es an sehr einfachen Zah-len erprobt; oder auf Grund des Beweises im 7. Buch,Lehrsatz 19 des Euklid, nämlich aus der allgemeinenEigenschaft der Proportionen. Bei sehr einfachen Zah-len dagegen bedarf es dergleichen nicht. Wenn z.B.die Zahlen 1, 2, 3 gegeben sind, so sieht jeder, daßdie vierte Proportionszahl 6 ist, und das viel deutli-cher, weil wir aus dem Verhältnis selbst zwischen derersten und der zweiten Zahl, das wir auf den erstenBlick (intuitiv) wahrnehmen, die vierte folgern.

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169Spinoza: Ethik

Einundvierzigster Lehrsatz

Die Erkenntnis erster Gattung ist die einzige Ursa-che der Falschheit, die zweiter und dritter Gattungaber ist notwendig wahr.

Beweis

Zur Erkenntnis erster Gattung, sagten wir in dervorigen Anmerkung, gehören alle jene Ideen, welcheinadäquat und verworren sind. Daher ist (nach Lehr-satz 35 dieses Teils) diese Erkenntnis die einzige Ur-sache der Falschheit. - Zur Erkenntnis zweiter unddritter Gattung, sagten wir weiter, gehören jene Ideen,welche adäquat sind. Folglich (nach Lehrsatz 34 die-ses Teils) ist sie notwendig wahr. - W.z.b.w.

Zweiundvierzigster Lehrsatz

Die Erkenntnis zweiter und dritter Gattung, nichtdie Erkenntnis erster Gattung, lehrt uns das Wahrevom Falschen unterscheiden.

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170Spinoza: Ethik

Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt von selbst. Denn wer zwi-schen dem Wahren und Falschen zu unterscheidenweiß, muß eine adäquate Idee des Wahren und Fal-schen haben; d.h. (nach der 2. Anmerkung zu Lehr-satz 40 dieses Teils), er muß das Wahre und Falschenach der zweiten oder dritten Erkenntnisgattung er-kennen.

Dreiundvierzigster Lehrsatz

Wer eine wahre Idee hat, der weiß zugleich, daß ereine wahre Idee hat, und kann nicht an der Wahr-heit der Sache zweifeln.

Beweis

Eine wahre Idee in uns ist eine solche, welche inGott, sofern er durch die Natur des menschlichen Gei-stes erklärt wird, adäquat ist (nach Zusatz zu Lehrsatz11 dieses Teils). Gesetzt also, es gibt in Gott, soferner durch die Natur des menschlichen Geistes ausge-drückt wird, eine adäquate Idee A. Von dieser Ideemuß es in Gott notwendig ebenfalls eine Idee geben,

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welche sich auf Gott auf dieselbe Weise bezieht wiedie Idee A (nach Lehrsatz 20 dieses Teils, dessen Be-weis ein allgemeiner ist). Aber von der Idee A wirdangenommen, daß sie sich auf Gott bezieht, sofern erdurch die Natur des menschlichen Geistes erklärtwird. Folglich muß sich auch die Idee der Idee A aufdieselbe Weise auf Gott beziehen; d.h. (nach demsel-ben Zusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils), diese ad-äquate Idee der Idee A wird in eben dem Geiste sein,welcher die adäquate Idee A hat. Daher muß, wer eineadäquate Idee hat oder (nach Lehrsatz 34 diesesTeils) wer ein Ding wahrhaft erkennt, zugleich eineadäquate Idee oder eine wahre Erkenntnis seiner Er-kenntnis haben; d.h. (wie von selbst einleuchtend), ermuß zugleich dessen gewiß sein. - W.z.b.w.

Anmerkung

In der Anmerkung zu Lehrsatz 21 dieses Teils habeich auseinandergesetzt, was die Idee einer Idee ist.

Es ist aber darauf aufmerksam zu machen, daß dervorige Lehrsatz an sich einleuchtend genug ist. Dennjeder, der eine wahre Idee hat, weiß, daß eine wahreIdee die höchste Gewißheit in sich schließt. Einewahre Idee haben heißt auch nichts anderes als: einDing vollständig und bestens erkennen. Dies kann si-cherlich niemand bezweifeln; es müßte denn sein, daß

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er glaubt, eine Idee sei etwas Stummes, wie ein Ge-mälde auf der Tafel, und nicht eine Form des Den-kens, also das Erkennen selbst. Und, frage ich, werkann wissen, daß er ein Ding erkennt, wenn er nichtvorher das Ding erkennt? Das heißt: Wer kann wis-sen, daß er über ein Ding Gewißheit hat, wenn ernicht vorher über dieses Ding Gewißheit hat? Waskann es ferner Klareres und Gewisseres geben, um alsNorm der Wahrheit zu dienen, als eine wahre Idee? -Wahrlich, so wie das Licht sich selbst und die Fin-sternis offenbart, so ist die Wahrheit die Norm vonsich selbst und von dem Falschen.

Damit glaube ich auch auf einige Fragen geantwor-tet zu haben, nämlich: Wenn eine wahre Idee voneiner falschen sich nur insofern unterscheiden soll,daß jene mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, so hatdie wahre Idee an Realität oder Vollkommenheitnichts vor der falschen voraus (da sich beide ja bloßdurch ein äußerliches Merkmal unterscheiden), folg-lich hätte auch der Mensch, welcher wahre Ideen hat,an Realität oder Vollkommenheit nichts vor dem vor-aus, der nur falsche Ideen hat? - Ferner: Woherkommt es, daß die Menschen falsche Ideen haben? -Endlich: Woher kann jemand gewiß wissen, daß erIdeen hat, welche mit ihren Gegenständen überein-stimmen?

Auf diese Fragen glaube ich, wie gesagt, schon

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geantwortet zu haben. Denn was den Unterschiedzwischen einer wahren und einer falschen Idee anbe-langt, so geht aus dem Lehrsatz 35 dieses Teils her-vor, daß sich jene zu dieser verhält wie das Seiendezum Nichtseienden. Die Ursachen der Falschheit aberhabe ich von Lehrsatz 19 an bis zu Lehrsatz 35 mitdessen Anmerkung sehr klar gezeigt; woraus auchklar wird, wie sich ein Mensch, der wahre Ideen hat,von einem Menschen, der nur falsche hat, unterschei-det. Was endlich das letzte betrifft, nämlich woherdenn der Mensch wissen könne, daß er eine Idee hat,welche mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, so habeich soeben aufs allerdeutlichste gezeigt, daß diesdavon allein herrührt, weil er eine Idee hat, welchemit ihrem Gegenstand übereinstimmt, oder weil dieWahrheit ihre eigene Norm ist. Hierzu kommt noch,daß unser Geist, sofern er ein Ding wahr Erfaßt, einTeil ist von dem unendlichen Verstand Gottes (nachZusatz zu Lehrsatz 11 dieses Teils); daher müssen dieklaren und deutlichen Ideen des Geistes ebenso wahrsein wie die Ideen Gottes.

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174Spinoza: Ethik

Vierundvierzigster Lehrsatz

In der Natur der Vernunft liegt es nicht, die Dingeals zufällige, sondern als notwendige zu betrachten.

Beweis

In der Natur der Vernunft liegt es, die Dinge alswahr zu erfassen (nach Lehrsatz 41 dieses Teils),nämlich (nach Axiom VI, Teil I) wie sie an sich sind,d.h. (nach Lehrsatz 29, Teil 1) nicht als zufällig, son-dern als notwendig. - W.z.b.w.

Zusatz I

Hieraus folgt, daß es von der Vorstellung allein ab-hängt, wenn wir die Dinge sowohl rücksichtlich desVergangenen wie des Zukünftigen als zufällige be-trachten.

Anmerkung

Auf welche Weise aber dies geschieht, will ich mitwenigen Worten erklären. Ich habe oben gezeigt (inLehrsatz 17 dieses Teils, mit seinem Zusatz), daß derGeist die Dinge, auch wenn sie nicht existieren,

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175Spinoza: Ethik

immer als sich gegenwärtig vorstellt, wenn nicht Ur-sachen eintreten, welche ihre gegenwärtige Existenzausschließen. Weiter habe ich gezeigt (in Lehrsatz 18dieses Teils), daß, wenn der menschliche Körper ein-mal von zwei äußern Körpern zugleich erregt gewe-sen ist, der Geist, wenn er später einen von beidenvorstellt, sich sofort auch des andern erinnern wird,d.h., beide als sich gegenwärtig betrachten wird, wennnicht Ursachen eintreten, welche die gegenwärtigeExistenz derselben ausschließen. Außerdem bezwei-felt niemand, daß wir auch die Zeit vorstellen, wasdavon herrührt, daß wir uns gewisse Körper langsa-mer oder schneller oder ebenso schnell als andere be-wegt vorstellen. - Nehmen wir also einen Knaben,welcher gestern zum erstenmal in der Morgenstundeden Peter gesehen hat, in der Mittagsstunde den Paul,in der Abendstunde den Simon und heute wiederum inder Morgenstunde den Peter. Aus Lehrsatz 18 diesesTeils erhellt, daß, sobald er das Morgenlicht erblickt,er alsbald auch die Sonne, dieselbe Himmelsbahn wiegestern durchlaufend, oder den ganzen Tag vorstellenwird und gleichzeitig mit der Morgenstunde denPeter, mit der Mittagsstunde den Paul und mit derAbendstunde den Simon; d.h., er wird die Existenzdes Paul und des Simon in Beziehung auf die künftigeZeit vorstellen. Umgekehrt, wenn er in der Abend-stunde den Simon sieht, wird er den Paul und Peter

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176Spinoza: Ethik

auf die vergangene Zeit beziehen, indem er sie näm-lich zugleich mit der vergangenen Zeit vorstellt. Undzwar wird dies um so regelmäßiger geschehen, je öfterer diese Personen in dieser Reihenfolge gesehen hat.Träfe es sich nun einmal, daß er an einem andernAbend statt des Simon den Jakob sieht, so würde eram folgenden Morgen zugleich mit der Abendstundebald den Simon, bald den Jakob, aber nicht beide zu-gleich vorstellen. Denn es wird vorausgesetzt, daß ernur einen von beiden, nicht aber beide zugleich, in derAbendstunde gesehen hat. Seine Vorstellung wirdalso schwanken, und er wird mit der künftigenAbendstunde bald diesen, bald jenen vorstellen; d.h.,er wird keinen mit Bestimmtheit, sondern jeden zufäl-lig als künftig betrachten. Und dieses Schwanken derVorstellung wird die gleiche sein, wenn die Vorstel-lung Dinge betrifft, die wir auf dieselbe Weise mitBeziehung auf die vergangene oder die gegenwärtigeZeit betrachten. Somit werden wir die sowohl auf dieGegenwart wie auf die Vergangenheit wie auf die Zu-kunft bezogenen Dinge als zufällige vorstellen.

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177Spinoza: Ethik

Zusatz II

Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge untereinem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu erfassen.

Beweis

Denn es liegt in der Natur der Vernunft, die Dingeals notwendige und nicht als zufällige zu betrachten(nach dem vorigen Lehrsatz). Diese Notwendigkeitder Dinge aber erfaßt sie (nach Lehrsatz 41 diesesTeils) wahr, d.h. (nach Axiom VI, Teil 1), wie sie ansich ist. Nun ist diese Notwendigkeit der Dinge (nachLehrsatz 16, Teil 1) die Notwendigkeit der ewigenNatur Gottes selbst. Folglich liegt es in der Natur derVernunft, die Dinge unter diesem Gesichtspunkt derEwigkeit zu betrachten. Hierzu kommt noch, daß dieGrundlagen der Vernunft Begriffe sind (nach Lehrsatz38 dieses Teils), welche das ausdrücken, was allenDingen gemeinsam ist, und welche (nach Lehrsatz 37dieses Teils) nicht das Wesen eines Einzeldinges aus-drücken. Daher müssen sie, ohne irgendeine Bezie-hung auf die Zeit, bloß unter einem Gesichtspunkt derEwigkeit begriffen werden. - W.z.b.w.

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Fünfundvierzigster Lehrsatz

Jede Idee eines jeden wirklich existierenden Körpersoder Einzeldinges schließt das ewige und unendli-che Wesen Gottes notwendig in sich.

Beweis

Die Idee eines wirklich existierenden Einzeldingesschließt notwendig sowohl das Wesen als auch dieExistenz des Dinges selbst in sich (nach Zusatz zuLehrsatz 8 dieses Teils). Aber die Einzeldinge können(nach Lehrsatz 15, Teil 1) ohne Gott nicht begriffenwerden; sondern weil sie (nach Lehrsatz 6 diesesTeils) Gott zur Ursache haben, sofern er unter einemAttribut betrachtet wird, dessen Daseinsformen dieDinge selbst sind, müssen notwendig ihre Ideen (nachAxiom IV, Teil 1) den Begriff ihres Attributs, d.h.(nach Definition 6, Teil 1) das ewige und unendlicheWesen Gottes, in sich schließen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Unter Existenz verstehe ich hier nicht die Dauer,d.h. die Existenz, sofern sie abstrakt begriffen wird,gleichsam als eine Art Quantität. Ich spreche vielmehrvon der eigentlichen Natur der Existenz, welche den

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Einzeldingen deshalb beigelegt wird, weil aus derewigen Notwendigkeit der Natur Gottes Unendlichesauf unendliche Weisen folgt (s. Lehrsatz 16, Teil 1).Ich spreche, sage ich, von der eigentlichen Existenzder Einzeldinge, sofern sie in Gott sind. Denn wennauch jedes Einzelding von einem andern Einzeldingbestimmt wird, auf gewisse Weise zu existieren, sofolgt doch die Kraft, durch welche jedes in der Exi-stenz verharrt, aus der ewigen Notwendigkeit derNatur Gottes. Siehe hierüber Zusatz zu Lehrsatz 24im ersten Teil.

Sechsundvierzigster Lehrsatz

Die Erkenntnis des ewigen und unendlichen WesensGottes, welche jede Idee in sich schließt, ist adäquatund vollkommen.

Beweis

Der Beweis des vorigen Lehrsatzes gilt allgemein.Mag ein Ding als Teil oder als Ganzes betrachtet wer-den, so schließt die Idee desselben, ob des Ganzenoder eines Teils (nach dem vorigen Lehrsatz), dasewige und unendliche Wesen Gottes in sich. Daher istdas, was die Erkenntnis des ewigen und unendlichen

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Wesens Gottes gewährt, allen gemeinsam und glei-cherweise im Teil wie im Ganzen. Also wird diese Er-kenntnis (nach Lehrsatz 38 dieses Teils) adäquatsein. - W.z.b.w.

Siebenundvierzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist hat eine adäquate Erkenntnisdes ewigen und unendlichen Wesens Gottes.

Beweis

Der menschliche Geist hat (nach Lehrsatz 22 diesesTeils) Ideen, vermöge deren er (nach Lehrsatz 23 die-ses Teils) sich und seinen Körper (nach Lehrsatz 19dieses Teils) und (nach Zusatz I zu Lehrsatz 16 undnach Lehrsatz 17 dieses Teils) die äußern Körper alswirklich existierend erfaßt. Mithin hat er (nach denLehrsätzen 45 und 46 dieses Teils) eine adäquate Er-kenntnis des ewigen und unendlichen Wesens Got-tes. - - W.z.b.w.

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Anmerkung

Hieraus sehen wir, daß das unendliche Wesen Got-tes und seine Ewigkeit allen bekannt sind.

Da aber alles in Gott ist und durch Gott begriffenwird, so folgt, daß wir aus dieser Erkenntnis sehr vieladäquate Erkenntnis ableiten und so jene dritte Er-kenntnisgattung bilden können, von welcher in der 2.Anmerkung zu Lehrsatz 40 dieses Teils die Rede warund deren Vorzug und Nutzen darzulegen im fünftenTeil Gelegenheit sein wird. Daß aber die Menschenkeine ebenso klare Erkenntnis von Gott wie von denGemeinbegriffen haben, kommt daher, weil sie Gottnicht wie die Körper vorstellen können und weil sieden Namen »Gott« mit Vorstellungen von Dingenverknüpfen, welche sie zu sehen gewöhnt sind; wasdie Menschen kaum vermeiden können, da sie fort-während von äußern Körpern erregt werden.

In der Tat bestehen die meisten Irrtümer darin al-lein, daß wir den Dingen ihre Benennungen nichtgenau anpassen. Wenn z.B. jemand sagt, daß die ausdem Mittelpunkt des Kreises nach der Peripherie ge-zogenen Linien ungleich seien, so versteht et offenbarunter Kreis - hier wenigstens - etwas anderes als dieMathematiker. Ebenso wenn die Menschen im Rech-nen irren, haben sie andere Zahlen im Kopfe, andere

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auf dem Papier. In Betracht ihres Geistes also irrensie keineswegs. Sie scheinen aber zu irren, weil wirmeinen, sie hätten dieselben Zahlen im Kopfe, die aufdem Papier stehen. Wäre dies nicht der Fall, so wür-den wir nicht glauben, daß sie irren, so wie ich nichtglaubte, daß sich der Mann irrte, den ich neulich aus-rufen hörte, sein Hof sei auf das Huhn seines Nach-bars geflogen; weil ich nämlich wohl verstand, was ermeinte.

Daher rühren auch die meisten Meinungsstreitig-keiten, indem die Menschen ihre Meinung nicht rich-tig ausdrücken oder die Meinung des andern falschdeuten. Denn tatsächlich ist es so, daß, während sieeinander heftig widersprechen, entweder der eine ge-radeso denkt wie du andere oder der eine an etwas an-deres denkt als der andere; so daß die Irrtümer undWidersinnigkeiten, welche bei den andern angenom-men werden, gar nicht bestehen.

Achtundvierzigster Lehrsatz

Es gibt im Geiste keinen absoluten oder freien Wil-len; sondern der Geist wird zu diesem oder jenemWollen von einer Ursache bestimmt, welche auchwieder von einer andern bestimmt worden ist, unddiese wieder von einer andern, und so ins

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unendliche.

Beweis

Der Geist ist eine gewisse und bestimmte Daseins-form des Denkens (nach Lehrsatz 11 dieses Teils).Daher kann er (nach Zusatz II zu Lehrsatz 17, Teil 1)die freie Ursache seiner Handlungen nicht sein, oderer kann keine absolute Fähigkeit des Wollens undNichtwollens haben; sondern er muß zu diesem oderjenem Wollen (nach Lehrsatz 28, Teil 1) von einerUrsache bestimmt werden, welche auch wieder voneiner andern bestimmt wird, und diese wieder voneiner andern usw. - W.z.b.w.

Anmerkung

Auf eben diese Weise wird bewiesen, daß es imGeiste keine absolute Fähigkeit gibt, zu verstehen, zubegehren, zu lieben usw. Woraus folgt, daß diese undähnliche Fähigkeiten entweder reine Einbildungenoder nichts als metaphysische oder allgemeine Wesensind, die wir von den besonderen zu bilden gewohntsind. Es verhalten sich daher Verstand und Wille zudieser und jener Idee beziehungsweise zu diesem undjenem Wollen geradeso wie die Gattung Stein zu die-sem oder jenem Stein oder wie Mensch zu Peter und

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Paul. Die Ursache aber, weshalb die Menschen frei zusein glauben, habe ich im Anfang zum ersten Teilauseinandergesetzt.

Bevor ich indes weitergehe, muß ich bemerken, daßich unter Willen die Fähigkeit zu bejahen und zu ver-neinen, nicht aber die Begierde verstehe. Ich verstehe,sage ich, hierunter die Fähigkeit, vermöge welcher derGeist, was wahr und was falsch ist, bejaht oder ver-neint, nicht aber die Begierde, vermöge welcher derGeist die Dinge begehrt oder abstößt.

Nachdem ich aber bewiesen habe, daß jene Fähig-keiten allgemeine Begriffe sind, die sich von den ein-zelnen, aus denen wir sie bilden, nicht unterscheiden,ist nun zu untersuchen, ob das Wollen selbst nochetwas anderes sei als die Ideen der Dinge selbst. Ichsage, wir müssen untersuchen, ob es im Geiste nocheine andere Bejahung und Verneinung gibt als jene,welche die Idee, sofern sie Idee ist, in sich schließt;worüber man den folgenden Lehrsatz nachsehen magwie auch die Definition 3 dieses Teils, damit das Den-ken nicht zum (bildlichen) Vorstellen herabsinke.Denn unter Ideen verstehe ich nicht Bilder, wie sie aufdem Grunde des Auges oder, wenn man will, im In-nern des Gehirns sich bilden, sondern Begriffe desDenkens.

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Neunundvierzigster Lehrsatz

Im Geiste gibt es kein anderes Wollen oder keine an-dere Bejahung und Verneinung als jene, welche dieIdee, sofern sie Idee ist, in sich schließt.

Beweis

Im Geiste gibt es (nach dem vorigen Lehrsatz)keine absolute Fähigkeit, zu wollen und nicht zu wol-len, sondern nur einzelne Willensakte, nämlich dieseund jene Bejahung und diese und jene Verneinung.Nehmen wir daher ein einzelnes Wollen oder eine Da-seinsform des Denkens, womit der Geist bejaht, daßdie drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten Winkelngleich seien. Diese Bejahung schließt den Begriff oderdie Idee des Dreiecks in sich, d.h., ohne die Idee desDreiecks kann sie nicht begriffen werden. Denn es isteinerlei, ob ich sage, daß A den Begriff B in sichschließen muß, oder ob ich sage, daß A ohne B nichtbegriffen werden kann. Ferner kann diese Bejahung(nach Axiom III dieses Teils) auch nicht ohne die Ideedes Dreiecks sein. Es kann also diese Bejahung ohnedie Idee des Dreiecks weder sein noch begriffen wer-den. Weiter muß diese Idee des Dreiecks eben dieseBejahung in sich schließen, d.h., sie muß in sich

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schließen, daß seine drei Winkel zwei rechten Win-keln gleich sind. Daher kann auch umgekehrt dieseIdee des Dreiecks ohne diese Bejahung weder seinnoch begriffen werden. Es gehört also (nach Definiti-on 2 dieses Teils) diese Bejahung zum Wesen derIdee des Dreiecks und ist nichts anderes als eben die-ses selbst. - Und was ich von diesem Wollen (das ichja nur willkürlich gewählt) gesagt habe, gilt auch vonjedem andern Wollen, nämlich daß es nichts anderesist als die Idee. - W.z.b.w.

Zusatz

Der Wille und der Verstand sind eins und dasselbe.

Beweis

Der Wille und der Verstand sind nichts anderes alsdie einzelnen Willensakte und Vorstellungen (nachLehrsatz 48 dieses Teils und dessen Anmerkung).Aber das einzelne Wollen und die einzelne Idee sind(nach dem vorigen Lehrsatz) eins und dasselbe. Alsosind Wille und Verstand eins und dasselbe. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Damit habe ich die Ursache, aus der man gewöhn-lich den Irrtum entspringen läßt, gehoben.

Ich habe aber oben gezeigt, daß die Falschheit ineinem bloßen Mangel besteht, welchen die verstüm-melten und verworrenen Ideen in sich schließen.Daher schließt die falsche Idee, sofern sie falsch ist,keine Gewißheit in sich. Wenn ich also sage, derMensch beruhige sich bei dem Falschen und Zweifelenicht daran, so sage ich darum nicht, daß er dessengewiß sei, sondern nur, daß er nicht daran zweifleoder daß er sich bei dem Falschen beruhigt, weilkeine Ursache vorhanden ist, welche bewirkt, daßseine Vorstellung schwankend wird. Siehe hierüberdie Anmerkung zu Lehrsatz 44 dieses Teils. Wennalso der Mensch noch so zäh an dem Falschen hängt,so werden wir darum doch nicht sagen, er sei dessengewiß. Denn unter Gewißheit verstehen wir etwas Po-sitives (s. Lehrsatz 43 dieses Teils mit der Anmer-kung), nicht aber den Mangel des Zweifels. UnterMangel an Gewißheit aber verstehen wir Falschheit.

Es ist jedoch zur näheren Erklärung des vorigenSatzes etliches zu erinnern. Ferner habe ich noch aufdie Einwürfe zu antworten, welche gegen diese meineLehre erhoben werden können. Endlich halte ich es

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der Mühe wert, um alle Bedenken zu beseitigen, aufeinige nützliche Seiten dieser Lehre hinzuweisen. Aufeinige, sage ich; denn die wichtigsten werden besseraus dem, was im fünften Teil ausgeführt wird, erkanntwerden.

Ich fange also mit dem ersten an und erinnere dieLeser, scharf zu unterscheiden zwischen der Idee oderdem Begriff des Geistes und zwischen den Bildernder Dinge, die wir vorstellen. Weiter ist es notwendig,zu unterscheiden zwischen den Ideen und den Wor-ten, mit welchen wir die Dinge bezeichnen. Denn weildiese drei, nämlich Bilder, Worte und Ideen, von vie-len entweder ganz miteinander vermengt werden odernicht scharf genug oder auch nicht vorsichtig genugunterschieden werden, ist ihnen diese Lehre vom Wil-len, die doch zu wissen geradezu notwendig ist, so-wohl zum reinen Denken als auch zur weisen Einrich-tung des Lebens, gänzlich unbekannt geblieben. Weildiejenigen, welche glauben, die Ideen bestünden inBildern, die in uns durch die Begegnung der Körperentstehen, sich einreden, daß jene Ideen der Dinge,von denen wir uns kein ähnliches Bild machen kön-nen, keine Ideen wären, sondern nur Erdichtung, diewir aus freier Willensentscheidung ersinnen; darumbetrachten sie die Ideen wie stumme Gemälde an einerTafel und sehen, von diesem Vorurteil eingenommen,nicht, daß die Idee, sofern sie Idee ist, eine Bejahung

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oder Verneinung in sich schließt. Diejenigen ferner,welche die Worte mit den Ideen oder mit der Beja-hung selbst, welche die Idee in sich schließt, vermen-gen, glauben, sie könnten etwas wollen, was mit ihrerWahrnehmung im Widerspruch steht, weil sie etwas,das mit ihrer Wahrnehmung im Widerspruch steht,mit bloßen Worten bejahen oder verneinen.

Diese Vorurteile wird aber der leicht ablegen kön-nen, der auf die Natur des Denkens achtet, welche denBegriff der Ausdehnung keineswegs in sich schließtund der demnach klar einsieht, daß die Idee (die jaeine Daseinsform des Denkens ist) weder in dem Bildeines Dinges noch in Worten besteht. Denn dasWesen der Worte und der Bilder wird von bloßenkörperlichen Bewegungen gebildet, welche das Be-greifen des Geistes keineswegs in sich schließen.

Diese wenigen Erinnerungen hierüber mögen genü-gen ich gehe darum zu den erwähnten Einwürfenüber.

Der erste Einwurf ist, daß man als ausgemacht an-nimmt, der Wille erstrecke sich weiter als der Ver-stand und sei daher von ihm verschieden. - Der Grundaber, wegen dessen man glaubt, daß der Wille sichweiter erstrecke als der Verstand, ist folgender: Wirmachen, sagt man, an uns selbst die Erfahrung, daßwir, um unendlich vielen Dingen, welche wir nicht er-fassen, beizustimmen, keiner größeren Fähigkeit

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beizustimmen oder zu bejahen und zu verneinen be-dürfen, als wir bereits haben, wohl aber einer größe-ren Fähigkeit des Verstehens. Es unterscheidet sichalso der Wille vom Verstand, indem dieser beschränktist, jener aber unbeschränkt.

Zweitens kann uns eingewendet werden, daß dieErfahrung nichts deutlicher zu lehren scheint, als daßwir unsere Meinung zurückhalten und den Dingen,die wir begreifen, nicht beistimmen können. Dieswird auch dadurch bestätigt, daß man von niemandsagt, er werde getäuscht, sofern er etwas begreift, son-dern nur sofern er beistimmt oder nicht beistimmt.Wer z.B. ein geflügeltes Pferd erdichtet, gibt darumnoch nicht zu, daß es ein geflügeltes Pferd gibt; d.h.,er hat sich nicht getäuscht, wenn er nicht zugleich an-nimmt, daß es ein geflügeltes Pferd gibt. Daherscheint die Erfahrung nichts deutlicher zu lehren, alsdaß der Wille oder die Fähigkeit beizustimmen frei istund von der Fähigkeit des Erkennens verschieden.

Drittens kann entgegengehalten werden, daß eineBejahung nicht mehr Realität zu enthalten scheint alseine andere; d.h., daß wir keines größeren Vermögenszu bedürfen scheinen, um zu bejahen, daß etwas wahrsei, was wahr ist, als zu bejahen, daß etwas wahr sei,was falsch ist. Wir machen aber die Wahrnehmung,daß eine Idee mehr Realität oder Vollkommenheit hatals eine andere; denn um so viel ein Objekt die andern

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an Vorzügen übertrifft, um so viel übertrifft auchseine Idee die Ideen der andern an Vollkommenheit.Auch hieraus scheint sich ein Unterschied zwischenWille und Verstand zu ergeben.

Viertens kann eingewendet werden: Wenn derMensch nicht aus freiem Willen handelt, was wirddann geschehen, wenn er im Gleichgewicht ist, wieBuridans Esel? Wird er verhungern und verdursten?Gebe ich dieses zu, so scheine ich einen Esel oderMenschen von Stein, nicht aber einen wirklichenMenschen zu begreifen; leugne ich es aber, so folgt,daß der Mensch sich selbst bestimmt, und er hat alsodie Fähigkeit, zu gehen und zu tun, wohin und was erwill. - Außerdem kann vielleicht noch manches andereeingewendet werden. Da ich aber nicht verpflichtetbin, alle möglichen Träumereien zusammenzutragen,so werde ich nur die erwähnten Einwürfe zu beant-worten suchen, und zwar so kurz als möglich.

In bezug auf den ersten sage ich: Ich gebe zu, daßder Wille sich weiter erstreckt als der Verstand, wennman unter Verstand nur klare und deutliche Ideen ver-steht. Ich bestreite aber, daß der Wille sich weiter er-streckt als die Auffassung oder die Fähigkeit des Be-greifens; und ich sehe wahrlich nicht ein, warum dieFähigkeit des Wollens mehr eine unendliche zu nen-nen ist als die Fähigkeit des Meinens. Denn so wiewir unendlich vieles (jedoch eins nach dem andern,

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denn auf einmal kann man Unendliches nicht bejahen)mit derselben Fähigkeit des Wollens bejahen können,so auch können wir mit derselben Fähigkeit desWahrnehmens unendlich viele Körper (einen nachdem andern nämlich) wahrnehmen oder erfassen. Sagtman aber, es gebe unendlich vieles, das man nicht er-fassen kann, so erwidere ich, daß wir eben diesesdurch kein Denken und folglich auch durch keine Fä-higkeit des Wollens erreichen können. Man sagt je-doch, wenn Gott bewirken wollte, daß wir auch daserfassen, so müßte er uns zwar eine größere Fähigkeitder Auffassung, nicht aber eine größere Fähigkeit desWollens geben, als er uns bereits gegeben hat. Das istdasselbe, als wenn man sagte: Wenn Gott bewirkenwollte, daß wir unendliche andere Wesen verstünden,so wäre es zwar nötig, daß er uns einen größeren Ver-stand gäbe, nicht aber eine allgemeinere Idee desSeins, als er gegeben hat, um dieselben unendlichenWesen zu umfassen, denn ich habe gezeigt, daß derWille ein allgemeines Wesen ist oder eine Idee, mitwelcher wir alle einzelnen Willensakte, das ist das,was allen gemeinsam ist, ausdrücken. Da man alsodiese allen Willensakten gemeinschaftliche oder allge-meine Idee für eine Fähigkeit hält, so ist es durchauskein Wunder, wenn man sagt, diese Fähigkeit er-strecke sich über die Grenzen des Verstandes hinausins unendliche. Denn das allgemeine gilt ebenso von

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einem wie von vielen und von unendlichen Individu-en.

Auf den zweiten Einwand antworte ich damit, daßich bestreite, daß wir die freie Macht haben, unser Ur-teil zurückzuhalten. Denn wenn wir sagen, ein Urteilzurückhalten, so sagen wir nichts anderes, als daß derBetreffende sieht, daß er die Sache nicht adäquat er-faßt. Das Zurückhalten des Urteils ist also in Wirk-lichkeit ein Auffassen und kein freies Wollen. Umdies deutlicher einzusehen, wollen wir einen Knabenannehmen, der ein Pferd vorstellt, aber sonst nichtsanderes erfaßt. Da nun diese Vorstellung des Pferdesdie Existenz in sich schließt (nach Zusatz zu Lehrsatz17 dieses Teils) und der Knabe nichts anderes erfaßt,was die Existenz des Pferdes aufhebt, so wird er not-wendig das Pferd als gegenwärtig betrachten, und erwird an dessen Existenz nicht zweifeln können, ob-gleich er derselben nicht gewiß ist. Dies erfahren wirauch tagtäglich im Traum, und ich glaube nicht, daßirgend jemand glaubt, er habe, während er träumt, diefreie Macht, sein Urteil über das, wovon er träumt,zurückzuhalten und zu bewirken, daß er das, was erzu sehen träumt, nicht träume. Dennoch kommt esvor, daß wir auch im Traum das Urteil zurückhalten,nämlich wenn wir träumen, daß wir träumen. - Ichgebe ferner zu, daß niemand getäuscht wird, sofern erauffaßt, d.h., ich gebe zu, daß die Vorstellungen des

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Geistes, an sich betrachtet, keinen Irrtum in sichschließen (s. Anmerkung zu Lehrsatz 17 diesesTeils); aber ich bestreite, daß der Mensch nichts beja-he, sofern er auffaßt. Denn was ist ein geflügeltesPferd auffassen anders, als bejahen, daß ein PferdFlügel habe. Denn wenn der Geist außer dem geflü-gelten Pferde nichts anderes auffassen würde, sowürde er dasselbe als sich gegenwärtig. betrachten,und er hätte weder eine Ursache, an dessen Existenzzu zweifeln, noch auch die Fähigkeit, anderer Mei-nung zu sein, es wäre denn, daß die Vorstellung einesgeflügelten Pferdes mit einer Idee verbunden ist, wel-che die Existenz eines solchen Pferdes aufhebt oderauch, daß er merkt, daß die Idee des geflügelten Pfer-des, welche er hat, nicht adäquat ist. In diesem Falleaber wird er entweder die Existenz eines solchen Pfer-des notwendig leugnen oder notwendig an derselbenzweifeln.

Damit glaube ich auch auf den dritten Einwand ge-antwortet zu haben, nämlich daß der Wille etwas All-gemeines ist, welches allen Ideen beigelegt wird undnur das bezeichnet, was allen Ideen gemein ist, näm-lich die Bejahung, deren adäquates Wesen, sofern sieso abstrakt begriffen wird, deshalb in jeder Idee seinmuß und nur in dieser Hinsicht in allen dieselbe; nichtaber, sofern sie als das Wesen der Idee ausmachendbetrachtet wird, denn insofern unterscheiden sich die

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einzelnen Bejahungen ebenso untereinander wie dieIdeen selbst. Zum Beispiel die Bejahung, welche dieIdee des Kreises in sich schließt, unterscheidet sichvon jener, welche die Idee des Dreiecks in sichschließt, ebenso wie die Idee des Kreises von der Ideedes Dreiecks. Weiter bestreite ich entschieden, daßwir des gleichen Denkvermögens bedürfen, um zu be-jahen, daß wahr sei, was wahr ist, als zu bejahen, daßwahr sei, was falsch ist. Denn diese beiden Bejahun-gen verhalten sich, wenn man auf den Geist sieht, zu-einander wie Sein zu Nichtsein. Denn es ist in denIdeen nichts Positives, was die Form der Falschheitausmacht (s. Lehrsatz 35 dieses Teils mit seiner An-merkung und die Anmerkung zu Lehrsatz 47 diesesTeils). Es ist hier deshalb besonders darauf aufmerk-sam zu machen, wie leicht man sich täuscht, wennman das Allgemeine mit dem Einzelnen und dieDinge, welche nur in der Vernunft sind, das Abstrak-te, mit den wirklichen Dingen vermengt.

Was endlich den vierten Einwand anbelangt, sosage ich, daß ich vollständig zugebe, daß ein Mensch,der sich in einer solchen Gleichgewichtlage befindet(nämlich der nichts anderes als Hunger und Durst undsolche Speise und solchen Trank wahrnimmt, diegleich weit von ihm entfernt sind), vor Hunger undDurst umkommen wird. Fragt man mich aber, ob einsolcher Mensch nicht eher für einen Esel als für einen

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Menschen zu halten ist, so sage ich, daß ich es nichtwisse, wie ich auch nicht weiß, für was ein Menschzu halten ist, der sich erhängt, und für was Kinder,Toren und Wahnsinnige zu halten sind.

Es erübrigt noch anzugeben, wie nützlich die Er-kenntnis dieser Lehre für das praktische Leben ist. Esist dies leicht aus folgendem ersichtlich:

1. Lehrt sie, daß wir nach der bloßen Willensmei-nung Gottes handeln und der göttlichen Natur teilhaf-tig sind, und das um so mehr, je mehr Vollkommen-heit unsere Handlungen haben und je mehr und mehrwir Gott erkennen. Diese Lehre hat also neben dem,daß sie dem Gemüt vollständige Beruhigung ver-schafft, auch noch das Gute, daß sie uns das lehrt,worin unser höchstes Glück oder unsere Glückselig-keit besteht, nämlich in der bloßen Erkenntnis Gottes,durch welche wir veranlagt werden nur das zu tun,was Liebe und Frömmigkeit heischen. Daraus ersehenwir klar, wie weit jene von der wahren Schätzung derTugend entfernt sind, die für Tugend und gute Hand-lungen wie für sehr schwere Dienstleistungen diehöchsten Belohnungen von Gott erwarten; als ob dieTugend und der Dienst Gottes nicht selbst schon dasGlück und die höchste Freiheit wären.

2. Lehrt sie, wie wir uns gegen die Fügungen desSchicksals oder das, was nicht in unserer Macht steht,das ist, gegen die Dinge, die nicht aus unserer Natur

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folgen, verhalten müssen, nämlich: das eine wie dasandere Antlitz des Schicksals mit Gleichmut erwartenund ertragen; weil ja alles aus dem ewigen RatschlußGottes mit derselben Notwendigkeit folgt, wie ausdem Wesen des Dreiecks folgt, daß seine Winkelzwei rechten Winkeln gleich sind.

3. Fördert diese Lehre das gesellschaftliche Leben,sofern sie lehrt, niemand zu hassen, zu verachten, zuverspotten, auf niemand zu zürnen, niemand zu benei-den; und sofern sie weiter lehrt, daß jeder sich mitdem Seinigen begnüge und dem Nebenmenschen hilf-reich beistehe, nicht aus weibischem Mitleid, aus Par-teilichkeit oder aus Aberglauben, sondern lediglichnach Anleitung der Vernunft, je nachdem es Zeit undUmstände erfordern, wie ich im dritten Teil zeigenwerde.

4. Endlich fördert diese Lehre auch nicht wenig dasstaatliche Gemeinwesen, sofern sie lehrt, auf welcheWeise die Bürger zu regieren und zu leiten sind, näm-lich so, daß sie nicht knechtisch gehorchen, sondernaus freiem Antrieb das Gute tun.

Damit habe ich erledigt, was ich in dieser Anmer-kung zu behandeln mir vorgesetzt hatte, und soschließe ich hiermit diesen unsern zweiten Teil. Ichglaube, darin die Natur des menschlichen Geistes undseine Eigenschaften ausführlich genug und, soweit esdie Schwierigkeit des Gegenstandes gestattet, klar

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auseinandergesetzt und damit solche Sätze aufgestelltzu haben, aus welchen viel Treffliches, höchst Nützli-ches und zum Wissen Notwendiges geschlossen wer-den kann; wie sich teilweise aus dem Nachfolgendenergehen wird.

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Dritter Teil

Über den Ursprung und die Natur der Affekte

Vorwort

Viele, die über die Affekte und über die Lebens-weise der Menschen geschrieben haben, scheinennicht von natürlichen Dingen zu reden, welche denallgemeinen Naturgesetzen folgen, sondern von Din-gen außerhalb der Natur. Ja, sie scheinen den Men-schen in der Natur wie einen Staat im Staate anzuse-hen. Denn sie glauben, daß der Mensch die Ordnungder Natur mehr stört als befolgt und daß er über seineHandlungen eine absolute Macht hat und von nie-mand bestimmt wird als von sich selbst. Ferner su-chen sie die Ursache der menschlichen Schwäche undUnbeständigkeit nicht in der gewöhnlichen Natur-kraft, sondern ich weiß nicht in welchem Gebrechender menschlichen Natur, welche sie daher beweinen,verlachen, verachten oder, was am häufigsten ge-schieht, verwünschen. Und wer die Schwäche desmenschlichen Geistes recht beredt oder scharf durch-zuhecheln versteht, der wird wie ein göttliches Wesenangesehen.

Indessen hat es doch auch an hervorragenden

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Männern nicht gefehlt (und ich gestehe, daß ich derenArbeit und Fleiß viel zu verdanken habe), die über dierechte Lebensweise viel Treffliches geschrieben undden Sterblichen Ratschläge voll Klugheit gegebenhaben. Die Natur und die Kräfte der Affekte aber, undwas hinwiederum der Geist vermag, sie zu mäßigen,das hat, soviel ich weiß, noch niemand angegeben.Ich weiß zwar, daß der hochberühmte Cartesius, ob-schon auch er glaubte, der Geist habe über seineHandlungen eine absolute Macht, dennoch versuchthat, die menschlichen Affekte nach ihren ersten Ursa-chen zu erklären und zugleich den Weg zu zeigen, wieder Geist über die Affekte eine absolute Herrschaft er-langen könne. Er hat aber damit, nach meiner Mei-nung wenigstens, nichts als den Scharfsinn seinesgroßen Geistes gezeigt, was ich an der geeignetenStelle beweisen werde.

Hier will ich mich wieder zu jenen wenden, welchedie menschlichen Affekte und Handlungen lieber ver-wünschen oder verlachen, als verstehen wollen. Die-sen wird es ohne Zweifel sonderbar vorkommen, daßich die menschlichen Fehler und Torheiten auf geome-trische Weise zu behandeln unternehme und nacheiner vernünftigen Methode Dinge entwickeln will,welche sie jahraus, jahrein als vernunftwidrig und alseitel, albern und schrecklich verschreien.

Mein Grund aber ist folgender: Es geschieht in der

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201Spinoza: Ethik

Natur nichts, was ihr als Fehler angerechnet werdenkönnte. Denn die Natur ist immer dieselbe, und ihreKraft und ihr Vermögen zu wirken ist überall gleich.Das heißt: Die Gesetze und Regeln der Natur, nachwelchen alles geschieht und Formen in Formen ver-wandelt werden, sind überall und immer die gleichen.Daher kann es auch nur Eine Methode geben, nachwelcher die Natur aller Dinge, welche es immer seien,erkannt wird, nämlich durch die allgemeinen Gesetzeund Regeln der Natur. Es erfolgen darum die Affekte,wie Haß, Zorn, Neid, an sich betrachtet, aus derselbenNotwendigkeit und Kraft der Natur wie alles andere.Hiernach haben sie ihre bestimmten Ursachen, durchwelche sie erkannt werden, und haben bestimmte Ei-genschaften, die unseres Erkennens ebenso würdigsind wie die Eigenschaften eines jeden andern Dinges,an dessen bloßer Betrachtung wir uns erfreuen.

Ich werde daher die Natur und die Kräfte der Af-fekte und die Macht des Geistes über dieselben nachderselben Methode behandeln, nach welcher ich inden vorigen Teilen Gott und den Geist behandelthabe, und die menschlichen Handlungen und Begier-den geradeso betrachten, als handelte es sich um Lini-en, Flächen oder Körper.

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202Spinoza: Ethik

Definitionen

1. Adäquate Ursache nenne ich eine Ursache,deren Wirkung klar und bestimmt durch diese Ursa-che erkannt werden kann. Inadäquate aber oder par-tiale Ursache nenne ich eine solche, deren Wirkungdurch diese Ursache allein nicht erkannt werden kann.

2. Ich sage, daß wir tätig sind (handeln), wennetwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäqua-te Ursache wir sind, d.h. (nach der vorigen Definiti-on), wenn etwas in uns oder außer uns aus unsererNatur erfolgt, das durch sie allein klar und deutlicherkannt werden kann. Dagegen sage ich, daß wir lei-den wenn in uns etwas geschieht oder aus unsererNatur etwas folgt, wovon wir nur die partiale Ursachesind.

3. Unter Affekte verstehe ich die Erregungen desKörpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen desKörpers vergrößert oder verringert, gefördert oder ge-hemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregun-gen.

Wenn wir also die adäquate Ursache dieser Erre-gungen sein können, verstehe ich unter Affekt eineTätigkeit (Handlung), im andern Fall ein Leiden.

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Postulate

1. Der menschliche Körper kann auf viele Weisenerregt werden, durch welche sein Tätigkeitsvermögenvermehrt oder vermindert wird, aber auch auf vieleandere Weisen durch welche sein Tätigkeitsvermögenweder vermehrt noch vermindert wird.

Dieses Postulat oder dieses Axiom stützt sich aufPostulat 1 und die Hilfssätze 5 und 7, Siehe diesenach Lehrsatz 13 im zweiten Teil.

2. Der menschliche Körper kann viele Veränderun-gen erleiden und dabei doch die Eindrücke oder Spu-ren der Objekte behalten (s. hierüber Postulat 5, Teil2) und folglich auch dieselben Bilder der Dinge.Siehe deren Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz17 im zweiten Teil.

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Erster Lehrsatz

Unser Geist tut manches, manches aber leidet er.Sofern et nämlich adäquate Ideen hat, insofern tuter notwendig manches; und sofern er inadäquateIdeen hat, insofern leidet er notwendig manches.

Beweis

Die Ideen eines jeden menschlichen Geistes sindteils adäquate, teils verstümmelte und verworreneIdeen (nach Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2). DieIdeen aber, welche im Geiste eines Menschen adäquatsind, sind in Gott adäquat, sofern er das Wesen ebendieses Geistes ausmacht (nach Zusatz zu Lehrsatz 11,Teil 2). Diejenigen ferner, welche im Geiste inadäquatsind, sind in Gott ebenfalls adäquat (nach demselbenZusatz); nicht sofern er das Wesen bloß dieses Gei-stes ausmacht; sondern sofern er auch die Geister an-derer Dinge zugleich in sich enthält. Ferner muß ausjeder gegebenen Idee notwendig irgendeine Wirkungfolgen (nach Lehrsatz 36, Teil 1), deren adäquate Ur-sache Gott ist (s. Definition 1 dieses Teils), nicht so-fern er unendlich ist, sondern sofern er als von diesergegebenen Idee erregt betrachtet wird (s. Lehrsatz 19,Teil 2). Von dieser Wirkung aber, deren Ursache Gott

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ist, sofern er von einer Idee erregt ist, welche im Gei-ste eines Menschen adäquat ist, ist eben dieser Geistdie adäquate Ursache (nach Zusatz zu Lehrsatz 11,Teil 2) Folglich tut unser Geist (nach Definition 2dieses Teils), sofern er adäquate Ideen hat, notwendigetwas. Damit ist das erste bewiesen. - Was ferner not-wendig aus einer Idee folgt, welche in Gott adäquatist, nicht sofern er nur den Geist eines Menschen aus-macht, sondern sofern er die Geister anderer Dingezugleich mit dem Geiste dieses Menschen in sich hat,davon ist (nach demselben Zusatz zu Lehrsatz 11,Teil 2) der Geist jenes Menschen nicht die adäquateUrsache, sondern die partiale. Folglich leidet derGeist (nach Definition 2 dieses Teils), sofern er in-adäquate Ideen hat, notwendig etwas. Damit ist daszweite bewiesen. - Also tut unser Geist usw. -W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Geist um so mehr den Lei-den unterworfen ist, je mehr inadäquate Ideen er hat,und daß er dagegen um so mehr tätig ist, je mehr ad-äquate Ideen er hat.

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Zweiter Lehrsatz

Der Körper kann weder den Geist Zum Denken nochder Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruheoder zu etwas anderem (wenn es ein solches gibt)bestimmen.

Beweis

Alle Daseinsformen des Denkens haben Gott zurUrsache, sofern er ein denkendes Ding ist, nicht aber,sofern er durch ein anderes Attribut ausgedrückt wird(nach Lehrsatz 6, Teil 2). Dasjenige also, was denGeist zum Denken bestimmt, ist eine Daseinsform desDenkens, nicht aber der Ausdehnung; d.h. (nach Defi-nition 1, Teil 2), es ist kein Körper. Damit ist daserste bewiesen. - Ferner, die Bewegung und die Ruhedes Körpers muß von einem andern Körper herrühren,welcher auch wieder zur Bewegung oder Ruhe voneinem andern bestimmt worden ist. Überhaupt mußtealles, was in einem Körper vorgeht, von Gott herrüh-ren, sofern er als durch eine Daseinsform der Ausdeh-nung, nicht aber, sofern er als durch eine Daseinsformdes Denkens erregt betrachtet wird (nach demselbenLehrsatz 6, Teil 2); d.h., es kann vom Geiste, welcher(nach Lehrsatz 11, Teil 2) eine Daseinsform des

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Denkens ist, nicht herrühren. Damit ist das zweite be-wiesen. - Also kann weder der Körper den Geistusw. - W.z.b.w.

Anmerkung

Noch deutlicher ist dies aus dem in der Anmerkungzu Lehrsatz 7, Teil 2, Gesagten ersichtlich, wonachGeist und Körper ein und dasselbe Ding sind, wel-ches bald unter dem Attribut des Denkens, bald unterdem der Ausdehnung begriffen wird. Daher kommt es,daß die Ordnung oder Verkettung der Dinge dieselbeist, ob die Natur unter diesem oder unter jenem Attri-but begriffen wird und folglich auch, daß die Ordnungder Tätigkeiten und der Leiden unseres Körpers vonNatur aus der Ordnung der Tätigkeiten und der Lei-den unseres Geistes genau entspricht. Dies erhelltauch aus dem, womit ich den 12. Lehrsatz des 2.Teils bewiesen habe.

Aber obgleich sich dies so verhält und durchauskein Grund vorliegt, daran zu zweifeln, glaube ichdoch kaum, daß die Menschen dazu bewogen werdenkönnen, die Sache unbefangen zu erwägen, wenn ichsie nicht mit der Erfahrung belege; so fest sind sieüberzeugt, daß der Körper auf einen bloßen Wink desGeistes bald in Bewegung, bald in Ruhe versetzt wirdund zahlreiche Handlungen verübt, die allein vom

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Willen des Geistes und von der Kunst des Denkensabhängen. Was freilich der Körper alles vermag, hatbis jetzt noch niemand festgestellt; d.h., niemand hatsich bis jetzt auf dem Wege der Erfahrung darüberunterrichtet, was der Körper nach den bloßen Geset-zen seiner Natur, sofern sie nur als eine körperlichebetrachtet wird, tun kann und was er nicht tun kann,wenn er nicht vom Geiste dazu bestimmt wird. Dennniemand hat bis jetzt die Werkstätte des Körpers sogenau kennengelernt, um alle seine Verrichtungen er-klären zu können; ganz abgesehen davon, daß manbei Tieren vieles beobachtet, was die menschlicheSinnesschärfe weit überragt, und daß Nachtwandlerim Schlafe vieles tun, was sie im wachen Zustandnicht wagen würden. Das zeigt doch zur Genüge, daßder Körper an sich nach den bloßen Gesetzen seinerNatur vieles vermag, worüber sich sein eigener Geistwundert. - Es weiß ferner niemand anzugeben, aufwelche Weise und mit welchen Mitteln der Geist denKörper bewegt, noch auch, wieviel Grade der Bewe-gung er dem Körper mitteilen könne und wie groß dieSchnelligkeit ist, mit welcher er ihn zu bewegen ver-möge.

Daraus folgt, daß, wenn die Menschen sagen, dieseoder jene Körpertätigkeit entspringe aus dem Geiste,welcher die Herrschaft über den Körper hat, sie nichtwissen, was sie sagen, und bloß mit blendenden

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Worten eingestehen, daß sie die wahre Ursache jenerTätigkeit nicht wissen, ohne sich über dieselbe zuwundern.

Allein man wird sagen, ob man wisse oder nichtwisse, mit welchen Mitteln der Geist den Körper be-wege, so mache man doch die Erfahrung, daß derKörper schlaff sein würde, wenn der Geist nicht zumDenken fähig wäre Ferner mache man die Erfahrung,daß es in der bloßen Macht des Geistes stehe, entwe-der zu reden oder zu schweigen, und noch vieles ande-re, was man deshalb von der Entschließung des Gei-stes abhängig glaubt.

Was nun das erste anbelangt, so frage ich die Geg-ner selbst, ob nicht die Erfahrung ebenfalls lehrt, daßauch umgekehrt, wenn der Körper schlaff ist, auch derGeist zugleich unfähig zum Denken ist? Denn wennder Körper im Schlafe ruht, ist auch der Geist mit ihmin Schlaf versenkt und hat nicht, wie im wachen Zu-stand, die Macht zu denken. Ferner wird wohl jederschon die Erfahrung gemacht haben, daß der Geistnicht immer gleich befähigt ist, über ein Objekt zudenken, daß vielmehr, je fähiger der Körper ist, dasBild von diesem oder jenem Objekt in sich zu erzeu-gen, um so fähiger auch der Geist ist, dieses oderjenes Objekt zu betrachten.

Aber, wird man sagen, aus den bloßen Gesetzender Natur, sofern sie nur als körperliche betrachtet

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wird, können doch die Ursachen von Gebäuden, Ge-mälden und andern Dingen dieser Art, welche bloßder menschlichen Kunst ihre Entstehung verdanken,unmöglich hergeleitet werden; und der menschlicheKörper ist ja nicht imstande, einen Tempel zu erbau-en, wenn er nicht im Geiste dazu bestimmt und ange-leitet werde. - Ich habe aber bereits gezeigt, daß dieGegner selbst nicht wissen, was der Körper vermagund was aus der bloßen Betrachtung seiner Natur ab-geleitet werden kann, und daß sie selbst die Erfahrungmachen, daß vieles nach den bloßen Gesetzen derNatur geschieht, wovon sie nie geglaubt hätten, daßes ohne die Leitung des Geistes geschehen könne, soz.B. was die Nachtwandler im Schlafe tun und wor-über sie selbst im wachen Zustand verwundert sind.Ich will noch auf den künstlichen Bau des menschli-chen Körpers hinweisen, der an Künstlichkeit allesweit übertrifft, was von menschlicher Kunst gebautworden ist, ganz zu schweigen davon daß, wie schonoben ausgeführt wurde, aus der Natur, unter welchemAttribut sie auch betrachtet werde, Unendliches folgt.

Was ferner das zweite betrifft, so stünde es aller-dings weit besser um die menschlichen Zustände,wenn das Schweigen ebenso wie das Reden in derMacht des Menschen stünde. Die Erfahrung aber lehrtgenug und übergenug, daß die Menschen nichts weni-ger in ihrer Gewalt haben als die Zunge und daß sie

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nichts weniger vermögen, als ihre Begierden im Zaumzu halten. Daher kommt es, daß viele glauben, wirtäten nur das freiwillig, was wir nicht heftig begehren;denn die Begierde nach solchen Dingen kann leichtbeschränkt werden durch die Erinnerung an etwas an-deres, dessen wir häufig gedenken. Dasjenige dage-gen, glauben sie, täten wir nicht freiwillig, was wirmit heftigem Affekt begehren, der also durch die Erin-nerung an etwas anderes nicht gedämpft werden kann.Und würden sie nicht die Erfahrung gemacht haben,daß der Mensch vieles tut, was er später bereut, unddaß er oft, wenn er von entgegengesetzten Affektenbestürmt wird, das Bessere sieht und das Schlechterebefolgt, so würden sie keinen Anstand nehmen zuglauben, daß wir alles freiwillig tun. So glaubt dasKind, es begehre die Milch freiwillig; der erzürnteKnabe, er wolle die Rache; der Furchtsame dieFlucht. Der Betrunkene glaubt, er rede aus freier Ent-schließung des Geistes, was er, wieder ernüchtert,verschwiegen zu haben wünscht. So meint der Irrsin-nige, der Schwätzer, der Knabe und viele diesesSchlags aus freier Entschließung des Geistes zu redenwährend sie doch den Antrieb zum Reden, den siehaben nicht bezähmen können.

Somit lehrt die Erfahrung selbst nicht minder deut-lich als die Vernunft, daß die Menschen nur darumglauben, sie wären frei, weil sie ihrer Handlungen

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bewußt, der Ursachen aber, von denen sie bestimmtwerden, unkundig sind. Und außerdem lehrt sie, daßdie Entschlüsse des Geistes nichts anderes sind als dieBegierden selbst, die je nach der verschiedenen Dis-position des Körpers verschieden sind. Denn jederentscheidet sich in allem gemäß seinem Affekt. Dieje-nigen also, welche von entgegengesetzten Affektenbestürmt werden, wissen nicht, was sie wollen; dieaber von gar keinem Affekt erregt sind, werden durcheinen geringfügigen Anlaß dahin und dorthin getrie-ben.

Alles dies zeigt gewiß klar, daß sowohl der Ent-schluß des Geistes als auch die Begierde und die Be-stimmung des Körpers von Natur einander entspre-chen oder vielmehr ein und dasselbe Ding sind, wel-ches wir, wenn es unter dem Attribut des Denkens be-trachtet und durch dieses ausgedrückt wird, Entschlußnennen, und wenn es unter dem Attribut der Ausdeh-nung betrachtet und aus den Gesetzen der Bewegungund Ruhe abgeleitet wird, Bestimmung heißen.

Es wird dies aus den bald folgenden Ausführungennoch deutlicher erhellen. Hier möchte ich noch aufetwas anderes besonders aufmerksam machen: daßwir nämlich durch einen Entschluß des Geistes nichtstun können, dessen wir uns nicht erinnern. Wir kön-nen z.B. ein Wort, dessen wir uns nicht erinnern,nicht aussprechen. Ferner, daß es nicht in der freien

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Macht des Geistes steht, sich einer Sache zu erinnernoder sie zu vergessen. Daher glaubt man, es stehe nurin der Macht des Geistes, über eine Sache, an die wiruns erinnern, zu schweigen oder zu reden. Alleinwenn wir träumen, daß wir reden, so glauben wir ausfreier Entschließung des Geistes zu reden und redendoch gar nicht, oder wenn wir reden, so geschieht esdurch eine willkürliche Bewegung des Körpers. Wirträumen ferner auch, daß wir andern etwas verheimli-chen, und zwar nach derselben Entschließung desGeistes, nach welcher wir im wachen Zustande etwasverschweigen, was wir wissen. Wir träumen endlichauch, daß wir nach der Entschließung des Geistesetwas tun, was wir im wachen Zustande nicht zu tunwagen. Ich möchte also fragen, ob es im Geiste zwei-erlei Arten von Entschlüssen gibt, phantastische undfreie?

Wem nun aber diese alberne Annahme zu weitgeht, der muß notwendig zugeben, daß diese Ent-schließung des Geistes, die man für eine freie hält,sich von der eigentlichen Vorstellung oder der Erinne-rung nicht unterscheidet und nichts ist als jene Beja-hung, welche die Idee, sofern sie Idee ist, notwendigin sich schließt (s. Lehrsatz 49, Teil 2). Also entste-hen diese Entschlüsse des Geistes nach derselbenNotwendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklichexistierenden Dinge.

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214Spinoza: Ethik

Wer also glaubt, daß er nach freiem Entschluß desGeistes rede oder schweige oder irgend etwas tue, derträumt mit offenen Augen.

Dritter Lehrsatz

Die Tätigkeiten (Handlungen) des Geistes rührenvon adäquaten Ideen allein her; die Leiden aberhängen von inadäquaten Ideen allein ab.

Beweis

Das erste, was das Wesen des Geistes ausmacht, istnichts anderes als die Idee des wirklich existierendenKörpers (nach den Lehrsätzen 11 und 13, Teil 2),welche (nach Lehrsatz 15, Teil 2) aus vielen andernzusammengesetzt wird, von denen manche (nach Zu-satz zu Lehrsatz 38, Teil 2) adäquat, manche aber(nach Zusatz zu Lehrsatz 29, Teil 2) inadäquat sind.Alles dasjenige also, was aus der Natur des Geistesfolgt und dessen nächste Ursache, durch die es er-kannt werden muß, der Geist ist, muß notwendig auseiner adäquaten oder inadäquaten Idee folgen. Sofernaber der Geist (nach Lehrsatz 1 dieses Teils) inadä-quate Ideen hat, insofern leidet er notwendig. Somitfolgen die Tätigkeiten des Geistes aus adäquaten

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Ideen allein, und der Geist leidet nur deshalb, weil erinadäquate Ideen hat. - W.z.b.w.

Anmerkung

Wir sehen also, daß die Leiden auf den Geist nurbezogen werden, sofern er etwas hat, was eine Vernei-nung in sich schließt oder sofern er als ein Teil derNatur betrachtet wird, der für sich allein, ohne andereDinge, nicht klar und deutlich erfaßt werden kann.Ebenso könnte ich noch zeigen, daß die Leiden glei-cherweise auf die Einzeldinge wie auf den Geist bezo-gen werden und nicht anders erfaßt werden können.Ich beabsichtige indes, nur den menschlichen Geist zubehandeln.

Vierter Lehrsatz

Jedes Ding kann nur von einer äußern Ursache zer-stört werden.

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216Spinoza: Ethik

Beweis

Dieser Satz versteht sich von selbst. Denn die Defi-nition jedes Dinges bejaht das Wesen dieses Dinges,verneint sie aber nicht; oder sie setzt das Wesen desDinges, hebt es aber nicht auf. Wenn wir also nur dasDing selbst, nicht aber eine äußere Ursache ins Augefassen, werden wir an ihm nichts finden können, wases zerstören könnte. - W.z.b.w.

Fünfter Lehrsatz

Die Dinge sind insofern entgegengesetzter Natur,d.h., sie können in einem und demselben Subjektnicht sein, sofern das eine das andere zerstörenkann.

Beweis

Denn wenn sie untereinander übereinstimmen oderin demselben Subjekt zugleich sein könnten, so könn-te es also in demselben Subjekt etwas geben, welchesdasselbe zerstören könnte, und das wäre (nach demvorigen Lehrsatz) widersinnig. Also sind die Dingeusw. - W.z.b.w.

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Sechster Lehrsatz

Jedes Ding strebt, soweit es in sich ist, in seinemSein zu verharren.

Beweis

Denn die Einzeldinge sind Daseinsformen, durchwelche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimm-te Weise ausgedrückt werden (nach Zusatz zu Lehr-satz 25, Teil 1) d.h. (nach Lehrsatz 34, Teil 1) Dinge,welche die Macht Gottes, durch welche Gott ist undhandelt, auf gewisse und bestimmte Weise aus-drücken. Auch hat kein Ding etwas in sich, von demes zerstört werden könnte oder das seine Existenz auf-hebt (nach Lehrsatz 4 dieses Teils); vielmehr setzt esallem, was seine Existenz aufheben könnte, Wider-stand entgegen (nach dem vorigen Lehrsatz). Alsostrebt es, soweit es kann und in sich ist, in seinemSein zu verharren. - W.z.b.w.

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Siebenter Lehrsatz

Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zuverharren strebt,- ist nichts als das wirkliche Wesendes Dinges selbst.

Beweis

Aus dem gegebenen Wesen eines jeden Dingesfolgt not. wendig manches (nach Lehrsatz 36, Teil 1).Auch vermögen die Dinge nichts anderes als das, wasaus ihrer bestimmten Natur notwendig erfolgt (nachLehrsatz 29, Teil 1). Daher ist das Vermögen oderBestreben jedes Dinges, womit es entweder alleinoder mit andern etwas tut oder zu tun strebt, d.h.(nach Lehrsatz 6 dieses Teils) das Vermögen oder Be-streben, womit es in seinem Sein zu verharren strebt,nichts anderes als das gegebene oder wirkliche Wesendes Dinges selbst. - W.z.b.w.

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Achter Lehrsatz

Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zuverharren strebt, schließt keine bestimmte, sonderneine unbestimmte Zeit in sich.

Beweis

Denn würde es eine begrenzte Zeit in sich schlie-ßen, welche die Dauer des Dinges bestimmt, so würdeaus dem bloßen Vermögen selbst, womit das Dingexistiert, folgen, daß das Ding nach jener begrenztenZeit nicht existieren könnte, sondern der Zerstörunganheimfallen müßte. Nun ist dies aber (nach Lehrsatz4 dieses Teils) widersinnig. Folglich schließt das Be-streben, womit ein Ding existiert, keine bestimmteZeit in sich; sondern weil im Gegenteil (nach demsel-ben Lehrsatz 4 dieses Teils), wenn ein Ding von kei-ner äußern Ursache zerstört wird, es mit demselbenVermögen, womit es bereits existiert, zu existierenimmer fortfährt, darum schließt dieses Bestreben eineunbestimmte Zeit in sich. - W.z.b.w.

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Neunter Lehrsatz

Der Geist sterbt, sowohl sofern er klare und be-stimmte als auch sofern er verworrene Ideen hat, inseinem Sein auf unbestimmte Dauer zu verharren,und er ist sich dieses seines Strebens bewußt.

Beweis

Das Wesen des Geistes besteht aus adäquaten undinadäquaten Ideen (wie ich in Lehrsatz 3 dieses Teilsbewiesen habe). Daher strebt er (nach Lehrsatz 7 die-ses Teils), sowohl sofern er diese als auch sofern erjene Ideen hat, in seinem Sein zu verharren, und zwar(nach Lehrsatz 8 dieses Teils) auf unbestimmteDauer. Da aber der Geist (nach Lehrsatz 23, Teil 2)durch die Ideen der Körpererregungen notwendig sichseiner bewußt ist, so ist folglich (nach Lehrsatz 7 die-ses Teils) der Geist sich seines Strebens bewußt. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Dieses Bestreben wird, wenn es auf den Geist al-lein bezogen wird, Wille genannt; wird es aber aufGeist und Körper zugleich bezogen, so heißt es Ver-langen; welches also nichts anderes ist als des Men-schen Wesen selbst, aus dessen Natur das, was zu sei-ner Erhaltung dient, notwendig folgt, weshalb derMensch bestimmt ist, es zu tun. Auch ist zwischenVerlangen und Begierde kein Unterschied; nur daßBegierde meistenteils auf den Menschen bezogenwird, sofern er seines Verlangens bewußt ist. Mankann es daher so definieren: Die Begierde ist ein Ver-langen mit dem Bewußtsein desselben. - Aus demallem geht darum hervor, daß wir nichts erstreben,wollen, verlangen oder begehren, weil wir es für guthalten, sondern daß wir umgekehrt darum etwas fürgut halten, weil wir es erstreben, wollen, verlangenoder begehren.

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Zehnter Lehrsatz

Eine Idee, welche die Existenz unseres Körpers aus-schließt, kann es in unserm Geiste nicht geben, son-dern steht mit ihm in Widerspruch.

Beweis

Was unsern Körper zerstören kann, kann es in ihmnicht geben (nach Lehrsatz 5 dieses Teils). Es kannalso auch keine Idee eines solchen Dinges in Gottgeben, sofern er die Idee unseres Körpers hat (nachZusatz zu Lehrsatz 9, Teil 2); d.h. (nach den Lehrsät-zen 11 und 13, Teil 2), es kann keine Idee eines sol-chen Dinges in unserm Geiste geben. Vielmehr, da(nach den Lehrsätzen 11 und 13, Teil 2) das erste,was das Wesen des Geistes ausmacht, die Idee deswirklich existierenden Körpers ist, so ist es das ersteund hauptsächliche Streben unseres Geistes (nachLehrsatz 7 dieses Teils), die Existenz unseres Körperszu bejahen. Folglich steht eine Idee, welche die Exi-stenz unseres Körpers verneint, mit unserm Geiste imWiderspruch. - W.z.b.w.

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Elfter Lehrsatz

Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpersvermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, des-sen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oderhemmt das Denkvermögen unseres Geistes.

Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt aus dem Lehrsatz 7, Teil 2,oder auch aus dem Lehrsatz 14, Teil 2.

Anmerkung

Wir sehen daher, daß der Geist große Veränderun-gen erleiden und bald zu größerer, bald zu geringererVollkommenheit übergehen kann. Diese Leiden erklä-ren uns die Affekte der Lust und Unlust. Unter Lustverstehe ich daher im nachstehenden ein Leiden,durch welches der Geist zu größerer Vollkommenheitübergeht; unter Unlust dagegen ein Leiden, durchwelches der Geist zu geringerer Vollkommenheitübergeht.

Ferner nenne ich den Affekt der Lust, der sich aufGeist und Körper zugleich bezieht, Wollust oderWohlbehagen; den Affekt der Unlust aber Schmerz

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oder Mißbehagen. Doch ist zu bemerken, daß Wol-lust und Schmerz auf den Menschen bezogen werden,wenn einer seiner Teile mehr als die übrigen erregtist, Wohlbehagen und Mißbehagen aber, wenn allegleichmäßig erregt sind.

Was ferner Begierde ist, habe ich in der Anmer-kung zu Lehrsatz 9 dieses Teils erklärt.

Außer diesen dreien erkenne ich keinen Haupteffektan; und ich werde im folgenden zeigen, daß alle übri-gen aus diesen dreien entstehen.

Bevor ich aber weitergehe, möchte ich den 10.Lehrsatz dieses Teils ausführlicher erläutern, um bes-ser verständlich zu machen, auf welche Weise eineIdee mit einer andern in Widerspruch steht.

In der Anmerkung zu Lehrsatz 17, Teil 2, habe ichgezeigt, daß die Idee, welche das Wesen des Geistesausmacht, die Existenz des Körpers so lange in sichschließt, als der Körper selbst existiert. Ferner folgtaus dem, was ich im Zusatz zu Lehrsatz 8, Teil 2, undin dessen Anmerkung ausgeführt habe, daß die gegen-wärtige Existenz unseres Geistes davon allein ab-hängt, daß der Geist die wirkliche Existenz des Kör-pers in sich schließt. Endlich habe ich gezeigt, daßdas Vermögen des Geistes, wodurch er die Dinge vor-stellt und sich ihrer erinnert, auch davon abhängt (s.die Lehrsätze 17 und 18 des 2. Teils mit der Anmer-kung), daß er die wirkliche Existenz des Körpers in

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sich schließt. Hieraus folgt, daß die gegenwärtigeExistenz des Geistes und sein Vorstellungsvermögenaufgehoben wird, sobald der Geist die gegenwärtigeExistenz des Körpers zu bejahen aufhört. Die Ursacheaber, weshalb der Geist diese Existenz des Körpers zubejahen aufhört, kann nicht der Geist selbst sein (nachLehrsatz 4 dieses Teils). Auch daß der Körper zu seinaufhört, kann nicht die Ursache sein. Denn (nachLehrsatz 6, Teil 2) ist die Ursache, weshalb der Geistdie Existenz des Körpers bejaht, nicht die, daß derKörper zu existieren angefangen hat; somit hört er,aus demselben Grunde, nicht auf, die Existenz desKörpers zu bejahen, weil der Körper zu sein aufhört.Dies rührt vielmehr (nach Lehrsatz 17, Teil 2) voneiner andern Idee her, welche die gegenwärtige Exi-stenz unseres Körpers und folglich auch unseres Gei-stes ausschließt und welche mithin mit der Idee, wel-che das Wesen unsres Geistes ausmacht, im Wider-spruch steht.

Zwölfter Lehrsatz

Der Geist ist bestrebt, soviel er vermag, das vorzu-stellen, was das Tätigkeitsvermögen des Körpersvermehrt oder fördert.

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226Spinoza: Ethik

Beweis

Solange der menschliche Körper auf eine Weise er-regt ist, welche die Natur eines äußern Körpers insich schließt, solange wird der menschliche Geist den-selben Körper als gegenwärtig betrachten (nach Lehr-satz 17, Teil 2). Demgemäß ist (nach Lehrsatz 7, Teil2), solange der menschliche Geist einen äußern Kör-per als gegenwärtig betrachtet, d.h. (nach der Anmer-kung zu Lehrsatz 17, Teil 2), ihn vorstellt, auch dermenschliche Körper solange auf eine Weise erregt,welche die Natur dieses äußern Körpers in sichschließt. Solange also der Geist sich das vorstellt, wasdas Tätigkeitsvermögen unsres Körpers vermehrt oderfördert, solange ist der Körper auf eine Weise erregt,welche sein Tätigkeitsvermögen vermehrt oder fördert(s. Postulat 1 dieses Teils); und demgemäß (nachLehrsatz 11 dieses Teils) wird auch so lange dasDenkvermögen des Geistes vermehrt oder gefördert.Folglich wird (nach Lehrsatz 6 oder 9 dieses Teils)der Geist, soviel er vermag, dasselbe vorzustellen be-strebt sein. - W.z.b.w.

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227Spinoza: Ethik

Dreizehnter Lehrsatz

Wenn der Geist etwas vorstellt, was das Tätigkeits-vermögen des Körpers vermindert oder hemmt, soist er bestrebt, soviel er vermag, sich solcher Dingezu erinnern, welche die Existenz von jenem aus-schließen.

Beweis

Solange der Geist etwas Derartiges vorstellt, solan-ge wird das Tätigkeitsvermögen des Geistes oderKörpers vermindert oder gehemmt (wie ich im vori-gen Lehrsatz bewiesen habe). Dennoch wird es derGeist so lange vorstellen, bis er etwas anderes vor-stellt, was die gegenwärtige Existenz von jenem aus-schließt (nach Lehrsatz 17, Teil 2). Das heißt (wie ichsoeben gezeigt), das Vermögen des Geistes und Kör-pers wird so lange vermindert oder gehemmt, bis derGeist etwas anderes vorstellt, was die Existenz vonjenem ausschließt und welches daher der Geist (nachLehrsatz 9 dieses Teils), solange er vermag, vorzu-stellen oder ins Gedächtnis zu rufen bestrebt seinwird. - W.z.b.w.

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228Spinoza: Ethik

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Geist abgeneigt sein wird,sich etwas vorzustellen, was sein Vermögen und dasdes Körpers vermindert oder hemmt.

Anmerkung

Hieraus ist klar ersichtlich, was Liebe und wasHaß ist. Nämlich Liebe ist nichts anderes als Lust,verbunden mit der Idee einer äußern Ursache, undHaß nichts anderes als Unlust, verbunden mit derIdee einer äußern Ursache. - Wir sehen auch, daß derLiebende notwendig bestrebt ist, den geliebten Ge-genstand gegenwärtig zu haben und zu erhalten, unddaß dagegen der Hassende bestrebt ist, den verhaßtenGegenstand zu entfernen und zu zerstören. Doch hier-über später ausführlicher.

Vierzehnter Lehrsatz

Wenn der Geist einmal von zwei Affekten zugleicherregt gewesen ist, so wird er, wenn er später voneinem derselben wieder erregt wird, auch von demandern wieder erregt werden.

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229Spinoza: Ethik

Beweis

Wenn der menschliche Körper einmal von zweiKörpern zugleich erregt gewesen ist, so wird derGeist, wenn er später einen derselben vorstellt, sichsofort auch des andern erinnern (nach Lehrsatz 18,Teil 2). Die Vorstellungen des Geistes aber zeigenmehr die Erregungen unseres Körpers an als die Naturder äußern Körper (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16,Teil 2). Wenn also der Körper und folglich auch derGeist (s. Definition 3 dieses Teils) einmal von zweiAffekten zugleich erregt gewesen ist, so wird er, wenner später von einem derselben wieder erregt wird,auch von dem andern wieder erregt werden. -W.z.b.w.

Fünfzehnter Lehrsatz

Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einenNebenumstand) Ursache der Lust, Unlust oder Be-gierde sein.

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230Spinoza: Ethik

Beweis

Angenommen, der Geist würde von zwei Affektenzugleich erregt, nämlich von einem, der sein Tätig-keitsvermögen weder vermehrt noch vermindert, undvon einem andern, der es vermehrt oder vermindert (s.Postulat 1 dieses Teils). Aus dem vorigen Lehrsatz er-hellt, daß, wenn der Geist später von jenem Affektdurch seine wahre Ursache, welche an sich (nach derVoraussetzung) sein Denkvermögen weder vermehrtnoch vermindert, erregt wird, er sofort auch von die-sem andern, welcher sein Denkvermögen vermehrtoder vermindert, d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz11 dieses Teils) von Lust oder Unlust, erregt wird.Also wird jenes Ding nicht durch sich, sondern zufäl-lig Ursache der Lust oder Unlust sein. Und mit die-sem Verfahren kann auch leicht gezeigt werden, daßjenes Ding zufällig Ursache der Begierden seinkann. - W.z.b.w.

Zusatz

Deshalb allein schon, weil wir ein Ding mit demAffekt der Lust oder Unlust betrachtet haben, könnenwir es lieben oder hassen, obgleich es nicht selbst diewirkende Ursache dieser Affekte ist.

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231Spinoza: Ethik

Beweis

Denn bloß daher kommt es (nach Lehrsatz 14 die-ses Teils), daß der Geist, wenn er dieses Ding spätervorstellt, vom Affekt der Lust oder Unlust erregt wird,d. Il. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils),daß das Vermögen des Geistes und Körpers vermehrtoder vermindert wird etc. Daraus folgt weitet (nachLehrsatz 12 dieses Teils), daß der Geist geneigt oder(nach Zusatz zu Lehrsatz 13 dieses Teils) abgeneigtist, dasselbe vorzustellen, d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 13 dieses Teils), daß er es liebt oder haßt. -W.z.b.w.

Anmerkung

Daraus ersehen wir, wie es kommen kann, daß wiretwas lieben oder hassen ohne eine uns bekannte Ur-sache; bloß aus Sympathie oder Antipathie (wie mansagt).

Hierher gehören auch die Gegenstände, die unsbloß deshalb mit Lust oder Unlust erregen, weil siemit Gegenständen die uns mit diesen Affekten zu erre-gen pflegen, irgendeine Ähnlichkeit haben, wie ich imfolgenden Lehrsatz zeigen werde. Zwar weiß ichwohl, daß die Schriftsteller, welcher diese WorteSympathie und Antipathie zuerst eingeführt haben,

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gewisse geheime Eigenschaften der Dinge damit be-zeichnen wollten gleichwohl wird es mir, denke ich,gestattet sein, auch bekannte oder offenbare Eigen-schaften darunter zu verstehen.

Sechzehnter Lehrsatz

Deshalb allein schon, weil wir uns vorstellen, daßein Ding irgendeine Ähnlichkeit mit einem Gegen-stand hat, welcher den Geist mit Lust oder Unlust zuerregen pflegt, werden wir dasselbe lieben oder has-sen, auch wenn das, worin das Ding dem Gegen-stand ähnlich ist, nicht die wirkende Ursache dieserAffekte ist.

Beweis

Das, worin es dem Gegenstand ähnlich ist, habenwir in diesem Gegenstand selbst (nach der Vorausset-zung) mit dem Affekt der Lust oder Unlust betrachtet.Wenn also (nach Lehrsatz 14 dieses Teils) der Geistvon der Vorstellung dieser Eigenschaft erregt wird, sowird er sogleich auch von diesem oder jenem Affekterregt werden. Folglich wird ein Ding, in dem wirdiese Eigenschaft wieder wahrnehmen (nach Lehrsatz15 dieses Teils), zufällig die Ursache der Lust oder

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Unlust sein. Also werden wir (nach dem vorigen Zu-satz) das Ding lieben oder hassen, obgleich das,worin es dem Objekt ähnlich ist, nicht die wirkendeUrsache dieser Affekte ist. - W.z.b.w.

Siebzehnter Lehrsatz

Wenn wir uns vorstellen, daß ein Ding, das uns mitdem Affekt der Unlust zu erregen pflegt, eine Ähn-lichkeit mit einem andern Ding hat, das uns mit demgleich starken Affekt der Lust zu erregen pflegt, sowerden wir es zugleich hassen und lieben.

Beweis

Denn dieses Ding ist (nach der Voraussetzung) ansich Ursache der Unlust, und (nach der Anmerkung zuLehrsatz 13 dieses Teils) sofern wir es mit diesem Af-fekt vorstellen, werden wir es hassen. Sofern wir unsaußerdem vorstellen, daß es mit einem andern DingÄhnlichkeit hat, das uns mit dem gleich starken Af-fekt der Lust zu erregen pflegt, werden wir es mitgleich starkem Gefühl der Lust lieben (nach dem vori-gen Lehrsatz). Folglich werden wir es hassen und lie-ben zugleich. - W.z.b.w.

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234Spinoza: Ethik

Anmerkung

Dieser Zustand des Geistes, welcher nämlich auszwei entgegengesetzten Affekten entsteht, heißtSchwanken des Gemüts, und es verhält sich zum Af-fekt wie der Zweifel zur Vorstellung (s. Anmerkungzu Lehrsatz 44, Teil 2). Beide, das Schwanken desGemüts und der Zweifel, unterscheiden sich vonein-ander nur nach dem Mehr oder Weniger.

Es ist nun noch zu beachten, daß ich im vorigenLehrsatz diese Schwankungen des Gemüts aus Ursa-chen abgeleitet habe, wovon die eine an sich die Ursa-che des einen Affekts, die andere zufällig die Ursachedes andern Affekts ist. Ich habe dies deshalb getan,weil ich sie so leichter aus dem Vorhergehenden ab-leiten konnte; nicht aber, weil ich bestreite, daß dieSchwankungen des Gemüts häufig von Einem Gegen-stand herrühren, welcher die wirkende Ursache beiderAffekte ist. Denn der menschliche Körper ist (nachPostulat 1, Teil 2) aus vielen Individuen von verschie-dener Natur zusammengesetzt und kann daher (nachAxiom I hinter Hilfssatz 3, der auf Lehrsatz 13, Teil2, folgt) von einem und demselben Körper auf man-nigfaltige und verschiedene Weisen erregt werden.Und ebenso umgekehrt: Weil ein und dasselbe Dingauf viele Weisen erregt werden kann, wird er folglich

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235Spinoza: Ethik

auch einen und denselben Körperteil auf verschiedeneWeisen erregen können. Hieraus können wir leicht er-sehen, daß ein und derselbe Gegenstand die Ursachevieler einander entgegengesetzter Affekte sein kann.

Achtzehnter Lehrsatz

Der Mensch wird durch die Vorstellung eines ver-gangenen oder zukünftigen Dinges mit dem gleichenAffekt der Lust und Unlust erregt wie durch die Vor-stellung eines gegenwärtigen Dinges.

Beweis

Solange der Mensch von der Vorstellung einesDinges erregt ist, wird er das Ding, wenn es auchnicht existiert, als gegenwärtig betrachten (nach Lehr-satz 17, Teil 2, und dessen Zusatz), und er wird es alsvergangen oder zukünftig nur vorstellen, sofern dieVorstellung des Dinges mit der Vorstellung der ver-gangenen oder zukünftigen Zeit verbunden ist (s. An-merkung zu Lehrsatz 44, Teil 2). Die Vorstellungeines Dinges ist daher, an sich allein betrachtet, die-selbe, ob sie auf die zukünftige oder vergangene oderob sie auf die gegenwärtige Zeit bezogen wird. Dasheißt (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16, Teil 2), der

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Zustand oder Affekt des Körpers ist der gleiche, obdie Vorstellung ein vergangenes oder zukünftigesoder ob sie ein gegenwärtiges Ding betrifft. Also istder Affekt der Lust und Unlust derselbe, mag die Vor-stellung ein vergangenes oder zukünftiges oder magsie ein gegenwärtiges Ding betreffen. - W.z.b.w.

1. Anmerkung

Ich nenne hier ein Ding insofern vergangen oderzukünftig, sofern wir von ihm erregt gewesen sindoder erregt werden; z.B. sofern wir es gesehen habenoder sehen werden, sofern es uns gelabt hat oderlaben wird, verletzt hat oder verletzen wird etc. Dennsofern wir es so vorstellen, insofern bejahen wir seineExistenz; d.h., der Körper wird von keinem Affekt er-regt, welcher die Existenz des Dinges ausschließt.Daher wird der Körper (nach Lehrsatz 17, Teil 2)durch die Vorstellung dieses Dinges auf dieselbeWeise erregt, als ob das Ding selbst gegenwärtigwäre.

Weil es nun aber häufig vorkommt, daß Menschen,welche viele Erfahrungen gemacht haben, schwanken,solange sie ein Ding (eine Sache) als zukünftig odervergangen betrachten und über den Ausgang des Din-ges (der Sache) häufig im Zweifel sind (s. Anmerkungzu Lehrsatz 44 Teil 2), so kommt es, daß die Affekte,

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welche aus solchen Vorstellungen der Dinge entste-hen nicht sehr anhaltend sind, sondern häufig von denVorstellungen anderer Dinge verdunkelt werden, bisdie Menschen über den Ausgang des Dinges Gewiß-heit erlangt haben.

2. Anmerkung

Durch das soeben Gesagte verstehen wir, was Hoff-nung, Furcht, Zuversicht, Verzweiflung, Freude undGewissensbiß sind. Hoffnung ist nämlich nichts an-deres als unbeständige Lust, entsprungen aus der Vor-stellung eines zukünftigen oder vergangenen Dinges,über dessen Ausgang wir im Zweifel sind. Furcht da-gegen ist unbeständige Unlust, ebenfalls entsprungenaus der Vorstellung eines zweifelhaften Dinges. Wennnun der Zweifel bei diesen Affekten schwindet, sowird aus Hoffnung Zuversicht, aus Furcht Verzweif-lung, nämlich Lust oder Unlust, entsprungen aus derVorstellung eines Dinges, das wir gehofft oder ge-fürchtet haben. Freude sodann ist Lust, entsprungenaus der Vorstellung eines vergangenen Dinges, überdessen Ausgang wir im Zweifel waren. Gewissensbißendlich ist Unlust, welche der Lust entgegengesetztist.

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238Spinoza: Ethik

Neunzehnter Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß das, was er liebt, zerstörtwird, der wird Unlust empfinden; stellt er sich abervor, daß es erhalten wird, so wird er Lust empfin-den.

Beweis

Der Geist ist bestrebt, soviel er vermag, das vorzu-stellen was das Tätigkeitsvermögen des Körpers ver-mehrt oder fördert (nach Lehrsatz 12 dieses Teils);d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13 dieses Teils)das, was er liebt. Die Vorstellung aber wird von demgefördert, was die Existenz des Dinges setzt, und um-gekehrt, von dem gehemmt, was die Existenz des Din-ges ausschließt (nach Lehrsatz 17, Teil 2). Demnachfördern die Vorstellungen der Dinge, welche die Exi-stenz des geliebten Dinges setzen, das Bestreben desGeistes, sich das geliebte Ding vorzustellen, d.h.(nach Anmerkung zu Lehrsatz 1I dieses Teils), sie er-regen den Geist mit Lust.

Die Vorstellungen dagegen, welche die Existenzdes geliebten Dinges ausschließen, hemmen diesesBestreben des Geistes, d.h. (nach derselben Anmer-kung), sie erregen den Geist mit Unlust. Folglich

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239Spinoza: Ethik

wird, wer sich vorstellt, daß das, was er liebt, zerstörtwird, Unlust empfinden. - W.z.b.w.

Zwanzigster Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß das, was er haßt, zerstörtwird, der wird Lust empfinden.

Beweis

Der Geist ist bestrebt (nach Lehrsatz 13 diesesTeils), sich das vorzustellen, was die Existenz derDinge, durch welche das Tätigkeitsvermögen desKörpers vermindert oder gehemmt wird, ausschließt.Das heißt (nach Anmerkung zu dem angeführtenLehrsatz), er ist bestrebt, sich das vorzustellen, wasdie Existenz der Dinge, welche er haßt, ausschließt.Die Vorstellung eines Dinges, welche die Existenzvon dem, was der Geist haßt, ausschließt, fördertsomit dieses Bestreben des Geistes, d.h. (nach An-merkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils), sie erregt denGeist mit Lust. Folglich wird, wer sich vorstellt, daßdas, was er haßt, zerstört wird, Lust empfinden. -W.z.b.w.

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240Spinoza: Ethik

Einundzwanzigster Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß das, was er liebt, mit Lustoder Unlust erregt wird, der wird selbst ebenfallsmit Lust oder Unlust erregt werden; und jeder die-ser beiden Affekte wird im Liebenden stärker oderschwächer sein, je nachdem der Affekt in dem ge-liebten Gegenstand stärker oder schwächer ist.

Beweis

Die Vorstellungen der Dinge (wie ich im Lehrsatz19 dieses Teils gezeigt habe), welche die Existenz desgeliebten Dinges setzen, fördern das Bestreben desGeistes, das geliebte Ding sich vorzustellen. Die Lustaber setzt die Existenz des Lust empfindenden Gegen-standes, und das um so mehr, je stärker der Affekt derLust ist; denn sie ist (nach Anmerkung zu Lehrsatz 1I dieses Teils) Übergang zu größerer Vollkommen-heit. Mithin fördert die Vorstellung der Lust des ge-liebten Gegenstandes in dem Liebenden jenes Bestre-ben seines Geistes, d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz11 dieses Teils), sie erregt den Liebenden mit Lust,und um so mehr, je stärker dieser Affekt in dem ge-liebten Gegenstand ist. Damit ist das erste bewiesen. -Ferner, sofern ein Gegenstand mit Unlust erregt wird,

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insofern wird es zerstört, und um so mehr, mit je stär-kerer Unlust er erregt wird (nach derselben Anmer-kung zu Lehrsatz 11 dieses Teils). Also wird (nachLehrsatz 19 dieses Teils), wer sich vorstellt, daß das,was er liebt, mit Unlust erregt wird ebenfalls mit Un-lust erregt, und um so mehr, je stärker dieser Affekt indem geliebten Gegenstand ist. - W.z.b.w.

Zweiundzwanzigster Lehrsatz

Wenn wir uns vorstellen, daß jemand einen Gegen-stand, den wir lieben, mit Lust erregt, so werden wirmit Liebe zu ihm erregt werden. Umgekehrt, wennwir uns vorstellen, daß er denselben mit Unlust er-regt, so werden wir mit Haß gegen ihn erregt wer-den.

Beweis

Wer einen Gegenstand, den wir lieben, mit Lustoder Unlust erregt, der erregt zugleich uns selbst mitLust oder Unlust, wenn wir uns nämlich den geliebtenGegenstand mit diesem Gefühl der Lust oder Unlusterregt vorstellen (nach dem vorigen Lehrsatz). DieseLust oder Unlust aber ist, der Annahme gemäß, eine

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solche, welche mit der Idee einer äußern Ursache ver-bunden ist. Also werden wir (nach Anmerkung zuLehrsatz 13 dieses Teils) gegen jemand mit Liebeoder Haß erregt werden, von dem wir uns vorstellen,daß er einen Gegenstand, den wir lieben, mit Lustoder Unlust erregt. - W.z.b.w.

Anmerkung

Der 21. Lehrsatz erklärt uns, was Mitleid ist; wirkönnen es definieren als Unlust, entsprungen aus demUnglück eines andern. Mit welchem Namen aber dieLust zu nennen ist, die aus dem Glück eines andernentspringt, weiß ich nicht.

Ferner wollen wir die Liebe zu dem, der einem an-dern Gutes getan, Gunst, dagegen den Haß gegen den,der einem andern Böses getan, Entrüstung nennen.Endlich ist darauf aufmerksam zu machen, daß wirnicht bloß einen Gegenstand, den wir lieben, bemitlei-den (wie in Lehrsatz 21 gezeigt worden), sondernauch einen solchen, für den wir vorher von keinemAffekt ergriffen waren, wenn wir ihn nur für unseres-gleichen halten (wie ich später zeigen werde). Daherfühlen wir auch gegen denjenigen Gunst, der jemandunseresgleichen Gutes getan, und sind über denjeni-gen entrüstet, der jemand unseresgleichen Böses zu-fügt.

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243Spinoza: Ethik

Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß das, was er haßt, von Unlusterregt ist, wird Lust empfinden. Stellt er sich dage-gen vor, daß es von Lust erregt ist, so wird er Un-lust empfinden. Und jeder dieser beiden Affekte wirdstärker oder schwächer sein, je nachdem der entge-gengesetzte Affekt in dem gehaßten Gegenstandstärker oder schwächer ist.

Beweis

Sofern ein gehaßter Gegenstand von Unlust erregtwird, insofern wird er zerstört, und zwar um so mehr,je stärker die Unlust ist, von welcher er erregt wird(nach Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils). Weralso (nach Lehrsatz 20 dieses Teils) einen Gegen-stand, den er haßt, von Unlust erregt sich vorstellt,der wird umgekehrt von Lust erregt werden; und zwarum so mehr, je stärker die Unlust ist, von welcher erden gehaßten Gegenstand erregt sich vorstellt. Damitist das erste bewiesen. - Ferner setzt die Lust die Exi-stenz des Lust empfindenden Gegenstands (nachderselben Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils),und um so mehr, je stärker die Lust gedacht wird.Wenn nun jemand den, welchen er haßt, von Lust

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erregt sich vorstellt, so wird diese Vorstellung (nachLehrsatz 13 dieses Teils) sein Streben hemmen; d.h.(nach Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils) der,welcher haßt, wird von Unlust erregt werden. -W.z.b.w.

Anmerkung

Diese Lust kann kaum eine innige und vom Zwie-spalt des Gemüts frei sein. Denn (wie ich bald inLehrsatz 27 dieses Teils zeigen werde) sofern sich je-mand vorstellt, daß ein Gegenstand seinesgleichenvon dem Affekt der Unlust erregt wird, insofern mußer Unlust empfinden, und das Gegenteil, wenn er ihnvon Lust erregt sich vorstellt. Doch habe ich hier nurden Haß im Auge.

Vierundzwanzigster Lehrsatz

Wenn wir uns vorstellen, daß jemand einen Gegen-stand, den wir hassen, mit Lust erregt, so werdenwir auch gegen ihn von Haß erregt werden. Stellenwir uns dagegen vor, daß er diesen Gegenstand mitUnlust erregt, so werden wir gegen ihn von Liebeerregt werden.

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Beweis

Dieser Lehrsatz wird auf die gleiche Weise bewie-sen wie Lehrsatz 22 dieses Teils; siehe diesen.

Anmerkung

Diese und ähnliche Affekte des Hasses gehören zurMißgunst. Diese ist daher nichts anderes als der Haßselbst, sofern er betrachtet wird als den Menschen sodisponierend, daß er sich über das Unglück eines an-dern freut und sich dagegen über dessen Glück be-trübt.

Fünfundzwanzigster Lehrsatz

Wir sind bestrebt, von uns und von einem geliebtenGegenstand alles das zu bejahen, wovon wir unsvorstellen, daß es uns oder den geliebten Gegen-stand mit Lust erregt, und dagegen alles das zu ver-neinen, wovon wir uns vorstellen, daß es uns oderden geliebten Gegenstand mit Unlust erregt.

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246Spinoza: Ethik

Beweis

Das, wovon wir uns vorstellen, daß es uns oder dengeliebten Gegenstand mit Lust oder Unlust erregt, daserregt uns selbst mit Lust oder Unlust (nach Lehrsatz21 dieses Teils). Der Geist aber strebt (nach Lehrsatz12 dieses Teils) das, was uns mit Lust erregt, sovieler vermag, sich vorzustellen, d.h. (nach Lehrsatz 17,Teil 2, und seinem Zusatz), es als gegenwärtig zu be-trachten; dagegen von dem, was uns mit Unlust erregt(nach Lehrsatz 13 dieses Teils), die Existenz auszu-schließen. Folglich sind wir bestrebt, von uns und voneinem geliebten Gegenstand alles das zu bejahen,wovon wir uns vorstellen, daß es uns oder den gelieb-ten Gegenstand mit Lust erregt; und umgekehrt. -W.z.b.w.

Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Wir sind bestrebt, von einem Gegenstand, den wirhassen, alles das zu bejahen, wovon wir uns vorstel-len, daß es ihn mit Unlust erregt, und dagegen allesdas zu verneinen, wovon wir uns vorstellen, daß esihn mit Lust erregt.

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Beweis

Dieser Lehrsatz folgt aus Lehrsatz 23 wie der vori-ge Lehrsatz aus Lehrsatz 21 dieses Teils.

Anmerkung

Hieraus ersehen wir, wie leicht es geschieht, daßder Mensch von sich und dem geliebten Gegenstandeine größere Meinung hat, als recht ist, dagegen voneinem verhaßten Gegenstand eine geringere Meinung,als recht ist. Diese Vorstellung heißt, soweit sie sichauf den Menschen selbst bezieht, der also von sichselbst eine größere Meinung hat, als recht ist, Hoch-mut und ist eine Art Wahnwitz, weil ein solcherMensch mit offenen Augen träumt, er vermöge alles,was er bloß in der Einbildung erreicht. Er betrachtetdaher dies alles als Wirklichkeit und bläht sich darob,solange er sich das nicht vorstellen kann, was die Exi-stenz seiner Einbildungen ausschließt und sein Tätig-keitsvermögen beschränkt. Hochmut ist also Lust,daraus entsprungen, daß der Mensch eine größereMeinung von sich hat, als recht ist. - Die Lust ferner,welche daraus entspringt, daß der Mensch von einemandern eine größere Meinung hat, als recht ist, wirdÜberschätzung, diejenige endlich, welche daraus ent-springt, daß er von einem andern eine geringere

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248Spinoza: Ethik

Meinung hat, als recht ist, wird Unterschätzung ge-nannt.

Siebenundzwanzigster Lehrsatz

Wenn wir einen Gegenstand unseresgleichen, fürden wir keinen Affekt empfinden, von irgendeinemAffekt erregt vorstellen, so werden wir eben dadurchvon dem gleichen Affekt erregt.

Beweis

Die Vorstellungen der Dinge sind Erregungen desmenschlichen Körpers, deren Ideen die äußern Körperuns darstellen, als ob sie uns gegenwärtig wären(nach Anmerkung zu Lehrsatz 17, Teil 2); d.h. (nachLehrsatz 16, Teil 2), deren Ideen die Natur unseresKörpers und zugleich die gegenwärtige Natur des äu-ßern Körpers in sich schließen. Wenn also die Naturdes äußern Körpers der Natur unseres Körpers ähn-lich ist, so wird die Idee des äußern Körpers, den wirvorstellen, eine Erregung unseres Körpers in sichschließen, welche der Erregung des äußern Körpersähnlich ist. Wenn wir uns daher vorstellen, daß je-mand unseresgleichen von einem Affekt erregt ist, sowird diese Vorstellung eine Erregung unseres Körpers

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ausdrücken, welche diesem Affekt ähnlich ist. Da-durch also, daß wir einen Gegenstand unseresgleichenvon irgendeinem Affekt erregt vorstellen, werden wirvon dem gleichen Affekt erregt wie dieser Gegen-stand. Denn wenn wir einen Gegenstand unseresglei-chen hassen, so werden wir insofern (nach Lehrsatz23 dieses Teils) von einem dem seinigen entgegenge-setzten Affekt erregt werden, nicht aber von dem glei-chen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Diese Nachahmung der Affekte heißt, wenn sie Un-lust betrifft, Mitleid (s. darüber die Anmerkung zuLehrsatz 22 dieses Teils). Betrifft sie aber die Begier-de, so heißt sie Wetteifer. Diese ist also nichts andersals die Begierde nach einem Ding, welche in unsdurch die Vorstellung erzeugt wird, daß andere unse-resgleichen diese Begierde haben.

Zusatz I

Wenn wir uns vorstellen, daß jemand, für den wirkeinen Affekt empfinden, einen Gegenstand unseres-gleichen mit Lust erregt, so werden wir von Liebe zuihm erregt werden. Stellen wir uns dagegen vor, daßer ihn mit Unlust erregt, so werden wir von Haß

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gegen ihn erregt werden.

Beweis

Dieser Satz wird ebenso aus dem vorigen Lehrsatzbewiesen wie Lehrsatz 22 dieses Teils aus Lehrsatz21.

Zusatz II

Einen Gegenstand, den wir bemitleiden, könnenwir nicht deshalb hassen, weil sein Leid uns mit Un-lust erregt.

Beweis

Denn wenn wir ihn deshalb hassen könnten, sowürden wir uns (nach Lehrsatz 23 dieses Teils) überseine Unlust freuen, was gegen die Voraussetzung ist.

Zusatz III

Einen Gegenstand, den wir bemitleiden, werdenwir, soviel wir können, von seinem Leid zu befreiensuchen.

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Beweis

Das, was einen Gegenstand, den wir bemitleiden,mit Unlust erregt, erregt uns selbst mit gleicher Un-lust (nach dem vorigen Lehrsatz). Daher werden wirbestrebt sein, alles zu ersinnen, was die Existenz die-ses Dinges aufhebt oder was das Ding zerstört (nachLehrsatz 13 dieses Teils); d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 9 dieses Teils), wir werden das Verlangenhaben, es zu zerstören, oder wir werden bestimmtwerden, es zu zerstören. Somit werden wir einen Ge-genstand, den wir bemitleiden, von seinem Leid zubefreien suchen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Wille oder dieses Verlangen, wohlzutun,welches daraus entspringt, daß wir den Gegenstandbemitleiden, dem wir die Wohltat erweisen wollen,heißt Wohlwollen, welches also nichts anderes ist alseine aus Mitleid entsprungene Begierde. Siehe übri-gens über Liebe und Haß gegen jemand, der einemGegenstand, den wir uns als unseresgleichen vorstel-len, Gutes oder Böses tut, die Anmerkung zu Lehrsatz22 dieses Teils.

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Achtundzwanzigster Lehrsatz

Alles, wovon wir uns vorstellen, daß es zur Lust bei-trägt, suchen wir zu fördern, um seine Verwirkli-chung herbeizuführen. Alles hingegen, wovon wiruns vorstellen, daß es jenem widerstrebt oder daß eszur Unlust beiträgt, suchen wir zu entfernen und zuzerstören.

Beweis

Das, wovon wir uns vorstellen, daß es zur Lust bei-trägt, suchen wir, soviel wir vermögen, uns vorzustel-len (nach Lehrsatz 12 dieses Teils); d.h. (nach Lehr-satz 17, Teil 2), wir werden bestrebt sein, soviel wirvermögen, es als gegenwärtig oder als wirklich exi-stierend zu betrachten. Aber das Bestreben des Gei-stes oder sein Vermögen im Denken ist von Naturgleich und gleichzeitig mit dem Bestreben des Kör-pers und seinem Vermögen im Handeln (was deutlichhervorgeht aus Zusatz zu Lehrsatz 7 und Zusatz zuLehrsatz 11, Teil 2). Wir suchen also absolut, oder(was nach Anmerkung zu Lehrsatz 9 dieses Teils das-selbe ist) wir verlangen und streben, daß es existiere.Damit ist das erste bewiesen. - Ferner: wenn wir unsvorstellen, daß das, was wir für die Ursache der Un-lust halten, d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13

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dieses Teils), daß das, was wir hassen, zerstört wird,so werden wir Lust empfinden (nach Lehrsatz 12 die-ses Teils). Also werden wir es (nach dem ersten Teildieses Beweises) zu zerstören oder (nach Lehrsatz 13dieses Teils) von uns zu entfernen suchen, damit wires nicht als gegenwärtig betrachten. Damit ist daszweite bewiesen. - Folglich werden wir alles, wovonwir uns vorstellen, daß es zur Lust etc. - W.z.b.w.

Neunundzwanzigster Lehrsatz

Alles das, wovon wir uns vorstellen, daß es die Men-schen1 mit Lust ansehen, werden wir ebenfalls zutun bestrebt sein; dagegen das, wovon wir uns vor-stellen, daß die Menschen ihm abgeneigt sind, wer-den wir zu tun abgeneigt sein.

Beweis

Dadurch, daß wir uns etwas von den Menschen ge-liebt oder gehaßt vorstellen, werden wir es ebenfallslieben oder hassen (nach Lehrsatz 27 dieses Teils);d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13 dieses Teils),eben dadurch werden wir über die Gegenwart diesesDinges Lust oder Unlust empfinden. Folglich (nachdem vorigen Lehrsatz) werden wir alles das, wovon

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wir uns vorstellen, daß es die Menschen lieben odermit Lust ansehen, zu tun bestrebt sein etc. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieses Bestreben, etwas zu tun wie auch zu unter-lassen, bloß aus dem Grunde, damit wir den Men-schen gefallen, heißt Ehrgeiz, besonders wenn wir soübermäßig der Menge zu gefallen streben, daß wiretwas tun oder unterlassen, selbst wenn es uns oderandern zum Schaden gereicht; andernfalls pflegt manes Menschenfreundlichkeit zu nennen.

Die Lust, womit wir uns die Tat eines andern vor-stellen, mit welcher er uns zu erfreuen bestrebt war,nenne ich Lob; die Unlust dagegen, womit wir die Tateines andern mißbilligen, nenne ich Tadel.

Dreißigster Lehrsatz

Wenn jemand etwas getan hat, wovon er sich vor-stellt, daß es andere mit Lust erregt, so wird er vonLust, verbunden mit der Idee seiner selbst als derenUrsache, erregt werden, oder er wird sich selbst mitLust betrachten. Wenn dagegen jemand etwas tut,wovon er sich vorstellt, daß es andere mit Unlust er-regt, so wird er sich selbst mit Unlust betrachten.

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Beweis

Wer sich vorstellt, daß er andere mit Lust oder Un-lust erregt, der wird eben dadurch (nach Lehrsatz 27dieses Teils) von Lust oder Unlust erregt werden. Daaber der Mensch (nach den Lehrsätzen 19 und 23,Teil 2) sich seiner bewußt ist durch die Erregungen,von denen er zum Handeln bestimmt wird, so wird,wer etwas getan hat, wovon er sich vorstellt, daß esandere mit Lust erregt, von Lust, mit dem Bewußtseinseiner selbst als Ursache, erregt werden, oder er wirdsich selbst mit Lust betrachten; und umgekehrt. -W.z.b.w.

Anmerkung

Da die Liebe (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13 die-ses Teils) Lust ist, verbunden mit der Idee einer äu-ßern Ursache, und der Haß Unlust, verbunden mit derIdee einer äußern Ursache, so wird demnach dieseLust und Unlust eine Art Liebe und Haß sein. Weilsich aber Liebe und Haß auf die äußern Gegenständebeziehen, so wollen wir diese Affekte mit andernNamen bezeichnen. Wir wollen nämlich diese mit derIdee einer äußern Ursache verbundene Lust Ehre(Ehrfreude), die ihr entgegengesetzte Unlust Scham

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nennen. Ich meine hier die Fälle, wo die Lust oderUnlust daraus entsteht, daß sich der Mensch gelobtoder getadelt glaubt; andernfalls nenne ich diese mitder Idee einer äußern Ursache verbundene LustSelbstzufriedenheit, die ihr entgegengesetzte Unlustaber Reue.

Weil es ferner (nach Zusatz zu Lehrsatz 17, Teil 2)vorkommen kann, daß die Lust, womit jemand anderezu erregen sich vorstellt, nur eine eingebildete ist und(nach Lehrsatz 25 dieses Teils) jeder von sich allesdas vorzustellen sucht, wovon er sich vorstellt, daß esihn mit Lust erregt, so kann es leicht geschehen, daßder Ehrsüchtige hochmütig wird und sich einbildet, ersei allen angenehm, während er allen widerwärtig ist.

Einunddreißigster Lehrsatz

Wenn wir uns vorstellen, daß jemand etwas liebtoder begehrt oder haßt, was wir selbst lieben, be-gehren oder hassen, so werden wir eben dadurchdieses Ding beharrlicher lieben usw. Stellen wir unsdagegen vor, daß jemand ein Ding, das wir lieben,verschmäht, oder umgekehrt, so werden wir einSchwanken des Gemüts erleiden.

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Beweis

Dadurch allein schon, daß wir uns vorstellen, daßjemand etwas liebt, werden wir es lieben (nach Lehr-satz 27 dieses Teils). Wir nehmen aber an, daß wir esauch ohne dem lieben. Es tritt also eine neue Ursachezur Liebe hinzu, durch welche sie genährt wird. Daherwerden wir das was wir lieben, eben dadurch beharrli-cher lieben. Ferner werden wir dadurch, daß wir unsvorstellen, daß jemand etwas verschmäht, dasselbegleichfalls verschmähen (nach demselben Lehrsatz).Wenn wir aber annehmen, daß wir es zu gleicher Zeitlieben, so werden wir demnach dieses selbe Dinggleichzeitig lieben und verschmähen, oder (s. Anmer-kung zu Lehrsatz 17 dieses Teils) wir werden einSchwanken des Gemüts erleiden. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus und aus Lehrsatz 28 dieses Teils folgt, daßjeder, soviel er vermag, darnach strebt, daß alle daslieben, was er selbst liebt, und alle das hassen, was erselbst haßt. Darum singt der Dichter2:

»Hoffen zugleich und fürchten zugleich muß jeder,der liebet;

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Eisern ist, wer da liebt, das, was der andre verließ.«

Anmerkung

Dieses Streben, es dahin zu bringen, daß alle unsbeistimmen, wenn wir etwas lieben oder hassen, isteigentlich Ehrgeiz (s. Anmerkung zu Lehrsatz 29).

Wir sehen daher, daß von Natur aus jeder verlangt,andere sollen nach Seinem Sinn leben. Wenn freilichalle dieses gleicherweise verlangen, so sind sich alleeinander gleich hinderlich, und während alle von allengelobt oder geliebt werden wollen, werden sie sichvielmehr gegenseitig hassen.

Zweiunddreißigster Lehrsatz

Wenn wir uns vorstellen, daß jemand sich eines Din-ges erfreut, das nur Einer allein besitzen kann, sowerden wir zu bewirken suchen, daß jener diesesDing nicht besitzt.

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Beweis

Dadurch allein schon, daß wir uns vorstellen, daßjemand sich eines Dinges erfreut, werden wir (nachLehrsatz 27 dieses Teils und dessen Zusatz II) diesesDing lieben und uns seiner zu erfreuen suchen. Aberden Umstand, daß jener sich eben dieses Dinges er-freut, stellen wir uns (nach der Voraussetzung) alsHindernis dieser Lust vor. Folglich werden wir (nachLehrsatz 28 dieses Teils) dahin streben, daß jener die-ses Ding nicht besitzt. - W.z.b.w.

Anmerkung

Wir sehen daher, daß die Natur des Menschenmeist so beschaffen ist, daß man diejenigen, denen esschlecht geht, bemitleidet und die, denen es gut geht,beneidet, und zwar (nach dem vorigen Lehrsatz) umso stärker, je mehr man das Ding liebt, in dessen Be-sitz man sich einen andern vorstellt. - Wir sehen fer-ner, daß aus derselben Eigenschaft der menschlichenNatur, aus welcher folgt, daß die Menschen mitleidigsind, auch folgt, daß sie neidisch und ehrgeizig sind.

Wenn wir die Erfahrung selbst befragen, so werdenwir finden, daß sie dies alles bestätigt, besonderswenn wir unsere Jugendjahre ins Auge fassen. Denn

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wir machen die Erfahrung, daß die Kinder, weil ihrKörper fortwährend wie im Gleichgewicht ist, des-halb allein schon lachen oder weinen, weil sie anderelachen oder weinen sehen. Auch suchen sie das, wassie andere tun sehen, sofort nachzuahmen, und ebensobegehren sie alles für sich, wovon sie sich vorstellen,daß sich andere daran erfreuen. Der Grund ist, weildie Vorstellung der Dinge, wie gesagt, Erregungendes menschlichen Körpers selbst sind oder die Arten,wie der menschliche Körper von äußern Ursachen er-regt und disponiert wird, dies oder jenes zu tun.

Dreiunddreißigster Lehrsatz

Wenn wir einen Gegenstand unseresgleichen lieben,so suchen wir, soviel wir vermögen, zu bewirken,daß er uns wiederum liebt.

Beweis

Einen Gegenstand, den wir lieben, suchen wir, so-viel wir vermögen, uns vor allen andern vorzustellen(nach Lehrsatz 12 dieses Teils). Wenn also der Ge-genstand unseresgleichen ist, so werden wir ihn vorallen andern mit Lust zu erregen suchen (nach Lehr-satz 29 dieses Teils), oder wir werden, soviel wir

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vermögen, zu bewirken suchen, daß der geliebte Ge-genstand von Lust erregt werde, verbunden mit derIdee unserer selbst; d.h. (nach Anmerkung zu Lehr-satz 13 dieses Teils), daß er uns wiederliebe. -W.z.b.w.

Vierunddreißigster Lehrsatz

Je stärker wir uns den Affekt vorstellen, von dem dergeliebte Gegenstand gegen uns erregt ist, destomehr werden wir uns geehrt fühlen.

Beweis

Wir streben, soviel wir vermögen (nach dem vori-gen Lehrsatz), daß der geliebte Gegenstand uns wie-derum liebe; d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13dieses Teils), daß der geliebte Gegenstand von Lusterregt werde, verbunden mit der Idee unserer selbst.Je stärker wir uns also die Lust vorstellen, von wel-cher der geliebte Gegenstand um unseretwillen erregtist, desto mehr wird dieses Streben gefördert; d.h.(nach Lehrsatz 11 dieses Teils mit seiner Anmerkung)von desto stärkerer Lust werden wir erregt. Wenn wiraber darüber Lust empfinden, daß wir einen andernunseresgleichen mit Lust erregt haben, so betrachten

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wir uns selbst mit Lust (nach Lehrsatz 30 diesesTeils). Je stärker wir uns also den Affekt vorstellen,von dem der geliebte Gegenstand gegen uns erregt ist,mit um so stärkerer Lust werden wir uns selbst be-trachten oder (nach Anmerkung zu Lehrsatz 30 diesesTeils) desto mehr werden wir uns geehrt fühlen. -W.z.b.w.

Fünfunddreißigster Lehrsatz

Wenn sich jemand vorstellt, daß der geliebte Gegen-stand mit einem andern durch ein gleiches oder en-geres Band der Freundschaft, als das war, wodurcher allein dasselbe in Besitz hatte, sich verbindet. sowird er von Haß gegen den geliebten Gegenstanderregt werden und jenen andern Gegenstand benei-den.

Beweis

Je stärker sich einer die Liebe vorstellt, von wel-cher ein von ihm geliebter Gegenstand gegen ihn er-regt ist, desto mehr wird er sich geehrt fühlen (nachdem vorigen Lehrsatz), d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 30 dieses Teils) sich freuen. Er wird daher(nach Lehrsatz 28 dieses Teils), soviel er vermag,

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sich vorzustellen suchen, daß der geliebte Gegenstandauf das engste mit ihm verbunden sei. Dieses Bestre-ben oder Verlangen wird noch gesteigert, wenn er sichvorstellt, daß ein anderer denselben Gegenstand fürsich begehrt (nach Lehrsatz 31 dieses Teils). Es wirdaber angenommen, daß dieses Bestreben oder Verlan-gen von der Vorstellung des geliebten Gegenstandesselbst, verbunden mit der Vorstellung dessen, wel-chen der geliebte Gegenstand mit sich verbindet, ge-hemmt wird. Folglich wird er (nach Anmerkung zuLehrsatz 11 dieses Teils) eben dadurch von Unlust er-regt werden, verbunden mit der Idee des geliebten Ge-genstandes als deren Ursache und zugleich mit derVorstellung jenes andern. Das heißt (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 13 dieses Teils), er wird von Haßgegen den geliebten Gegenstand erregt werden undzugleich auch gegen jenen andern (nach Zusatz zuLehrsatz 15 dieses Teils), den er daher (nach Lehrsatz23 dieses Teils), weil er sich des geliebten Gegenstan-des erfreut, beneiden wird. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Haß gegen den geliebten Gegenstand, dermit Neid verbunden ist, heißt Eifersucht. Sie ist alsonichts anderes als ein Schwanken des Gemüts, ent-sprungen aus Liebe und Haß zugleich, verbunden mit

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der Idee eines andern, den man beneidet. Dieser Haßgegen den geliebten Gegenstand wird in bezug aufseine Stärke im Verhältnis stehen zur Lust, von wel-cher der Eifersüchtige durch die Gegenliebe des ge-liebten Gegenstandes erregt zu werden pflegte; wieauch zu dem Affekt, von welchem er gegen den erregtwar, von dem er sich vorstellt, daß der geliebte Ge-genstand sich mit ihm verbindet. Denn wenn er ihngehaßt hatte, so wird er eben dadurch den geliebtenGegenstand (nach Lehrsatz 24 dieses Teils) hassen,weil er sich vorstellt, daß derselbe das, was er selbsthaßt, mit Lust erregt; wie auch (nach Zusatz zu Lehr-satz 15 dieses Teils) deshalb, weil er gezwungenwird, die Vorstellung des geliebten Gegenstandes mitder Vorstellung dessen, den er haßt, zu verbinden.

Dieses Verhältnis findet meistens in der Liebe zuFrauen statt. Denn wer sich vorstellt, daß eine Frau,die er liebt, sich einem andern preisgibt, wird nichtbloß Unlust empfinden, weil sein Verlangen gehemmtwird, sondern er verabscheut auch diese Frau, weil ergezwungen wird, die Vorstellung der Geliebten mitden geheimen Körperteilen und Exkrementen einesandern zu verbinden.

Hierzu kommt endlich noch, daß der Eifersüchtigevon dem geliebten Gegenstand nicht mit der gleichenMiene empfangen wird, die er ihm sonst zeigte; einweiterer Grund, weshalb der Liebende von Unlust

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erregt wird wie ich gleich zeigen werde.

Sechsunddreißigster Lehrsatz

Wer sich eines Gegenstands erinnert, woran er sicheinmal erfreut hat, begehrt denselben unter dengleichen Umständen zu besitzen, als da er sich zumerstenmal daran erfreute.

Beweis

Alles, was der Mensch zugleich mit dem Ding ge-sehen hat, das ihn erfreute, ist (nach Lehrsatz 15 die-ses Teils) zufällige Ursache der Lust. Also wird er(nach Lehrsatz 28 dieses Teils) das alles zugleich mitdem Ding, das ihn erfreute, zu besitzen begehren;oder er wird das Ding unter den gleichen Umständenzu besitzen begehren, als da er sich zum erstenmaldaran erfreute. - W.z.b.w.

Zusatz

Wenn daher der Liebende die Wahrnehmungmacht, daß einer dieser Umstände fehlt, so wird erUnlust empfinden.

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Beweis

Denn sofern er die Wahrnehmung macht, daß einerdieser Umstände fehlt, insofern stellt er sich etwasvor, was die Existenz dieses Dinges ausschließt. Daer aber dieses Ding oder diesen Umstand (nach demvorigen Lehrsatz) aus Liebe begehrt, so wird er folg-lich (nach Lehrsatz 19 dieses Teils), sofern er sichvorstellt, daß er fehlt, Unlust empfinden. - W.z.b.w.

Anmerkung

Diese Unlust, welche die Abwesenheit dessen, waswir lieben, betrifft, heißt Sehnsucht.

Siebenunddreißigster Lehrsatz

Die Begierde, welche aus Unlust oder Lust, aus Haßoder Liebe entspringt, ist um so stärker, je stärkerder Affekt ist.

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Beweis

Die Unlust vermindert oder hemmt das menschli-che Tätigkeitsvermögen (nach Anmerkung zu Lehr-satz 11 dieses Teils), d.h. (nach Lehrsatz 7 diesesTeils), sie vermindert oder hemmt das Bestreben, wo-nach der Mensch in seinem Sein zu verharren strebt.Sie ist also (nach Lehrsatz 5 dieses Teils) diesemStreben entgegengesetzt, und alles, was der von Un-lust erregte Mensch anstrebt, ist, die Unlust zu entfer-nen. Je stärker aber (nach der Definition der Unlust)die Unlust ist, einem desto größeren Teil des mensch-lichen Tätigkeitsvermögen steht sie notwendig entge-gen. Je stärker also die Unlust ist, mit desto größeremTätigkeitsvermögen wird der Mensch bestrebt sein,die Unlust zu entfernen; d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 9 dieses Teils), mit desto stärkerer Begierdeoder mit desto stärkerem Verlangen wird der Menschbestrebt sein, die Unlust zu entfernen. - Weil fernerdie Lust (nach derselben Anmerkung zu Lehrsatz 11dieses Teils) das Tätigkeitsvermögen des Menschenvermehrt oder fördert, so wird auf dieselbe Art leichtbewiesen, daß der von Lust erregte Mensch nichts an-deres begehrt, als dieselbe sich zu erhalten, und zwarmit um so stärkerer Begierde, je stärker die Lust ist. -Weil endlich Haß und Liebe die Affekte der Unlust

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und Lust selbst sind, so folgt auf gleiche Weise, daßdas Streben, Verlangen oder Begehren, welches ausHaß oder Liebe entspringt, in bezug auf ihre Stärke,zur Stärke des Hasses und der Liebe im Verhältnisstehen wird. - W.z.b.w.

Achtunddreißigster Lehrsatz

Wenn jemand einen geliebten Gegenstand zu hassenbegonnen hat, so daß die Liebe vollständig ver-drängt wird, so wird er denselben, bei gleicher Ur-sache, stärker hassen, als wenn er ihn niemals ge-liebt hätte, und zwar um so stärker, je stärker vorherdie Liebe gewesen ist.

Beweis

Denn wenn jemand einen geliebten Gegenstand zuhassen beginnt, so wird sein Verlangen in mehr Hin-sichten eingeschränkt, als wenn er ihn nicht geliebthätte. Denn Liebe ist Lust (nach Anmerkung zu Lehr-satz 13 dieses Teils), welche der Mensch, soviel ervermag (nach Lehrsatz 28 dieses Teils), sich zu erhal-ten sucht; und zwar (nach derselben Anmerkung) da-durch, daß er den geliebten Gegenstand als gegenwär-tig betrachtet und ihn (nach Lehrsatz 21 dieses Teils),

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soviel er vermag, mit Lust erregt. Dieses Streben ist(nach dem vorigen Lehrsatz) um so stärker, je stärkerdie Liebe ist und je stärker auch das Bestreben ist, zubewirken, daß der geliebte Gegenstand ihn wieder-liebt (s. Lehrsatz 33 dieses Teils). Aber dieses Bestre-ben wird durch den Haß gegen den geliebten Gegen-stand gehemmt (nach Zusatz zu Lehrsatz 13 und nachLehrsatz 23 dieses Teils). Folglich wird der Liebende(nach Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils) auchaus dieser Ursache von Unlust erregt, und um so stär-ker, je stärker die Liebe gewesen war; d.h., außer derUnlust, welche die Ursache des Hasses gewesen, ent-springt noch eine andere Unlust daraus, daß er denGegenstand geliebt hatte. Demnach wird er den ge-liebten Gegenstand mit stärkerem Affekt der Unlustbetrachten; d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13 die-ses Teils), er wird stärkeren Haß gegen ihn empfin-den, als wenn er ihn vorher nicht geliebt hätte, unddieser Haß wird um so stärker sein, je stärker vorherseine Liebe gewesen ist. - W.z.b.w.

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Neununddreißigster Lehrsatz

Wer jemand haßt, wird bestrebt sein, ihm Übles zu-zufügen, wenn er nicht fürchtet, daß daraus für ihnselbst ein größeres Übel entsteht. Umgekehrt wird,wer jemand liebt, bestrebt sein, ihm nach demselbenGesetz Gutes zuzufügen.

Beweis

Jemand hassen ist (nach Anmerkung zu Lehrsatz31 dieses Teils), ihn als die Ursache der Unlust vor-stellen. Also wird (nach Lehrsatz 28 dieses Teils) der-jenige, der jemand haßt, bestrebt sein, ihn zu entfer-nen oder zu zerstören. Wenn er aber fürchtet, daß ihmdaraus mehr Unlust oder (was dasselbe ist) ein größe-res Übel erwächst, das er verhüten zu können glaubt,wenn er dem Gehaßten das ihm zugedachte Übel nichtzufügt, so wird er (nach demselben Lehrsatz 28 diesesTeils) von dem Vorhaben, ihm Übles zuzufügen, ab-zustehen begehren; und zwar wird (nach Lehrsatz 37dieses Teils) dieses Bestreben stärker sein als das,welches ihn antrieb, jenem das Übel zuzufügen, undes wird daher die Oberhand haben, wie ich behaup-te. - Der Beweis des zweiten Teils wird ebenso ge-führt. - Somit wird, wer jemand haßt, etc. - W.z.b.w.

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271Spinoza: Ethik

Anmerkung

Unter Gut verstehe ich hier jede Art von Lust undferner alles, was zur Lust beiträgt, und hauptsächlichdas, was einen Wunsch, welcher Art er immer sei, be-friedigt. Unter Übel dagegen jede Art von Unlust undhauptsächlich das, was die Befriedigung eines Wun-sches vereitelt. Denn oben (in der Anmerkung zuLehrsatz 9 dieses Teils) habe ich gezeigt, daß wirnicht etwas begehren, weil wir es für gut halten, son-dern daß wir umgekehrt das gutheißen, was wir be-gehren; und demgemäß nennen wir schlecht (übel)das, was wir verabscheuen. Daher beurteilt oderschätzt jeder nach seinem Affekt, was gut und wasschlecht, was das Bessere und das Schlimmere, wasdas Beste und das Schlechteste sei. So hält der Hab-süchtige einen Haufen Gold für das Beste, dagegenden Mangel daran für das Schlimmste. Der Ehrgeizigehingegen begehrt nichts so sehr als den Ruhm und zit-tert vor nichts mehr als vor der Schande. Dem Neidi-schen ist nichts angenehmer als das Unglück eines an-dern, nichts unangenehmer als fremdes Glück. Und sohält jeder nach seinem Affekt ein Ding für gut oderschlecht, nützlich oder schädlich.

Übrigens heißt dieser Affekt, von welchem derMensch so disponiert wird, daß er das, was er möch-te, nicht will oder das, was er nicht möchte, will,

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Scheu, welche demnach nichts anderes ist als Furcht,sofern der Mensch von ihr disponiert wird, ein künfti-ges Übel, das er befürchtet, durch ein anderes gerin-geres zu vermeiden (s. Lehrsatz 28 dieses Teils). -Wenn das Übel, das er befürchtet, die Schande ist, soheißt diese Befürchtung Ehrgefühl (Scheu vor Schan-de). - Wenn endlich das Verlangen, ein künftigesÜbel zu vermeiden, durch die Furcht vor einem an-dern Übel gehemmt wird, so daß man nicht weiß, wasman vorziehen soll, so heißt die Furcht Bestürzung,namentlich wenn beide Übel, die man fürchtet, zu dengroßen gehören.

Vierzigster Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß er von jemand gehaßt wird,ohne daß er ihm einen Grund zum Haß gegeben zuhaben glaubt, der wird denselben wiederum hassen.

Beweis

Wer sich vorstellt, daß jemand von Haß erregt ist,der wird eben dadurch auch von Haß erregt werden(nach Lehrsatz 27 dieses Teils), d.h. (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 13 dieses Teils) von Unlust, ver-bunden mit der Idee einer äußern Ursache. Nun stellt

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273Spinoza: Ethik

er sich aber (nach der Voraussetzung) keine andereUrsache dieser Unlust vor als jenen, der ihn habt.Folglich wird er dadurch, daß er sich vorstellt, erwerde von jemand gehaßt, von Unlust erregt, verbun-den mit der Idee dessen, der ihn haßt, oder (nachderselben Anmerkung) er wird ihn hassen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Wenn er sich aber vorstellt, daß er jenem eine ge-rechte Ursache zum Haß gegeben habe, so wird er(nach Lehrsatz 30 dieses Teils und seiner Anmer-kung) von Scham erregt werden. Doch kommt dies(nach Lehrsatz 25 dieses Teils) selten vor.

Übrigens kann diese Gegenseitigkeit des Hassesauch dadurch entstehen, daß aus dem Haß das Bestre-ben folgt, dem Gehaßten Übles zuzufügen (nachLehrsatz 39 dieses Teils). Wer sich also vorstellt, daßer von jemand gehaßt wird, der wird sich diesen alsUrsache eines Übels oder einer Unlust vorstellen. Erwird also von Unlust oder Furcht erregt werden, ver-bunden mit der Idee dessen, der ihn haßt, als derenUrsache; d.h., er wird von Gegenhaß erregt werden,wie oben.

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274Spinoza: Ethik

Zusatz I

Wer sich vorstellt, daß jemand, den er liebt, vonHaß gegen ihn erregt ist, der wird von Haß und Liebezugleich bestürmt werden. Denn sofern er sich vor-stellt, daß er von ihm gehaßt wird, wird er (nach demvorigen Lehrsatz) bestimmt, ihn wiederzuhassen.Aber dessenungeachtet liebt er ihn (nach der Voraus-setzung). Also wird er von Haß und Liebe zugleichbestürmt werden.

Zusatz II

Wer sich vorstellt, daß ihm von jemand, für den ervorher keinen Affekt empfunden hat, aus Haß einÜbel zugefügt worden sei, so wird er ihm sofort das-selbe Übel wieder zuzufügen suchen.

Beweis

Wer sich vorstellt, daß jemand von Haß gegen ihnerregt ist, der wird denselben (nach dem vorigen Lehr-satz) wiederhassen, und er wird (nach Lehrsatz 26dieses Teils) bestrebt sein, alles zu ersinnen, was ihnmit Unlust erregen kann, und es ihm (nach Lehrsatz39 dieses Teils) zuzufügen suchen. Das erste dieser

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Art, woran er denkt, ist aber (nach der Vorausset-zung) das ihm selbst von jenem zugefügte Übel.Daher wird er es ihm sofort zuzufügen suchen.-W.z.b.w.

Anmerkung

Das Bestreben, dem, den wir hassen, Übles zuzufü-gen, heißt Zorn. Das Bestreben aber, ein uns zugefüg-tes Übel wieder zu vergelten, heißt Rachsucht.

Einundvierzigster Lehrsatz

Wer sich vorstellt, daß er von jemand geliebt wird,ohne daß er ihm einen Grund zur Liebe gegeben zuhaben glaubt (was nach Zusatz zu Lehrsatz 15 undnach Lehrsatz 16 dieses Teils möglich ist), der wirddenselben wiederum lieben.

Beweis

Dieser Lehrsatz wird auf gleiche Weise bewiesenwie der vorige (s. dessen Anmerkung).

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Anmerkung

Wenn er sich aber vorstellt, daß er jenem eine ge-rechte Ursache zur Liebe gegeben habe, so wird ersich geehrt fühlen (nach Lehrsatz 30 dieses Teils mitseiner Anmerkung). Dieser Fall kommt häufiger vor(nach Lehrsatz 25 dieses Teils), während dessen Ge-genteil, wie ich sagte, dann eintrifft, wenn man sichvorstellt, man werde von jemand gehaßt (s. Anmer-kung zum vorigen Lehrsatz). - Diese Gegenliebe unddemgemäß (nach Lehrsatz 39 dieses Teils) das Be-streben, demjenigen wohlzutun, der uns liebt und der(nach demselben Lehrsatz 39 dieses Teils) uns wohl-zutun sucht, heißt Dank oder Dankbarkeit.

Es erhellt hieraus, daß die Menschen viel eher zurRache als zur Vergeltung der Wohltaten bereit sind.

Zusatz

Wer sich vorstellt, daß er von jemand, den er haßt,geliebt wird, der wird von Haß und Liebe zugleichbestürmt werden. - Dies wird auf gleiche Weise be-wiesen wie Zusatz I zum vorigen Lehrsatz.

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Anmerkung

Überwiegt der Haß, so wird er demjenigen, vondem er geliebt wird, Übles zuzufügen suchen. DieserAffekt heißt Grausamkeit, besonders wenn der Lie-bende keine Ursache zum Haß gegeben zu habenscheint.

Zweiundvierzigster Lehrsatz

Wer aus Liebe oder in der Hoffnung auf Ehre je-mand eine Wohltat erwiesen hat, der wird Unlustempfinden wenn er sieht, daß die Wohltat mit un-dankbarer Gesinnung empfangen wird.

Beweis

Wer einen Gegenstand seinesgleichen liebt, der istbestrebt, soviel er vermag, zu bewirken, daß er vonihm wiedergeliebt werde (nach Lehrsatz 33 diesesTeils). Wer also jemand aus Liebe eine Wohltat er-weist, der tut es mit dem Wunsche, wiedergeliebt zuwerden, d.h. (nach Lehrsatz 34 dieses Teils) mit derHoffnung auf Ehre oder (nach Anmerkung zu

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Lehrsatz 30 dieses Teils) auf Lust. Er wird daher(nach Lehrsatz 12 dieses Teils) bestrebt sein, dieseUrsache der Ehre, soviel er vermag, sich vorzustellenoder als wirklich existierend zu betrachten. Er stelltsich aber (nach der Voraussetzung) etwas anderesvor, was die Existenz dieser Ursache ausschließt.Also wird er (nach Lehrsatz 19 dieses Teils) dadurchUnlust empfinden. - W.z.b.w.

Dreiundvierzigster Lehrsatz

Der Haß wird durch Erwiderung des Hasses ver-stärkt, kann dagegen durch Liebe getilgt werden.

Beweis

Wenn sich jemand vorstellt, daß derjenige, den erhaßt, von Gegenhaß gegen ihn erregt ist, so entspringtdaraus (nach Lehrsatz 40 dieses Teils) ein neuer Haß,während der erste (nach der Voraussetzung) dabeifortdauert. Stellt er sich dagegen vor, daß derselbevon Liebe gegen ihn erregt ist, so betrachtet er, soferner dies vorstellt, insofern (nach Lehrsatz 30 diesesTeils) sich selbst mit Lust, und insofern wird er (nachLehrsatz 29 dieses Teils) ihm zu gefallen suchen; d.h.(nach Lehrsatz 41 dieses Teils), insofern strebt er, ihn

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nicht zu hassen und ihn mit keiner Unlust zu erregen.Dieses Bestreben wird (nach Lehrsatz 37 diesesTeils) stärker oder schwächer sein, je nach dem Af-fekt, aus dem es entspringt. Ist es nun stärker als jenesBestreben, das aus dem Haß entspringt und wonachder Betreffende den Gehaßten (nach Lehrsatz 26 die-ses Teils) mit Unlust zu erregen sucht, so wird es dieOberhand haben und den Haß aus dem Gemüt ver-drängen. - W.z.b.w.

Vierundvierzigster Lehrsatz

Der Haß, welcher durch Liebe gänzlich besiegtwird, geht in Liebe über; und die Liebe ist dannstärker, als wenn ihr der Haß nicht vorausgegangenwäre.

Beweis

Derselbe wird ebenso geführt wie der des 38. Lehr-satzes dieses Teils. Denn wer einen Gegenstand, dener haßt oder den er mit Unlust zu betrachten pflegte,zu lieben anfängt, empfindet schon dadurch Lust, daßer liebt. Zu dieser Lust, welche die Liebe in sichschließt (s. deren Definition in der Anmerkung zuLehrsatz 13 dieses Teils), kommt noch jene hinzu,

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welche daraus entspringt, daß das Bestreben, die Un-lust zu entfernen, welche der Haß in sich schließt (wiein Lehrsatz 37 dieses Teils gezeigt wurde), sehr ge-fördert wird, in Verbindung mit der Idee desjenigen,den man gehaßt hatte, als Ursache.

Anmerkung

Obgleich sich die Sache so verhält, so wird dochniemand darnach streben, einen Gegenstand zu hassenoder mit Unlust erregt zu werden, nur damit er diesestärkere Lust genieße; d.h., niemand wird in der Hoff-nung des Schadenersatzes Schaden zu leiden wün-schen, noch wird sich jemand sehnen, krank zu sein inder Hoffnung auf Wiedergenesung. Denn jeder wirdimmer streben, sein Sein zu erhalten und Unlust, so-viel er vermag, zu entfernen. Wäre es indessen denk-bar, daß der Mensch die Begierde haben könnte, je-mand zu hassen, um ihm nachher mit stärkerer Liebezugetan zu sein, so müßte er die Begierde, ihn zu has-sen, fortwährend haben; denn je stärker der Haß ge-wesen sein wird, desto stärker wird die Liebe sein,weshalb er fortwährend wünschen müßte, daß derHaß mehr und mehr wachse. Aus demselben Grundemüßte der Mensch auch streben, mehr und mehrkrank zu sein, um später die größere Lust der Wieder-genesung zu genießen; er würde also immer streben,

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krank zu sein. Das aber ist (nach Lehrsatz 6 diesesTeils) widersinnig.

Fünfundvierzigster Lehrsatz

Wenn sich einer vorstellt, daß jemand seinesglei-chen gegen einen Gegenstand seinesgleichen, den erliebt, von Haß erregt ist, so wird er ihn hassen.

Beweis

Denn der geliebte Gegenstand haßt den wiederum,der ihn haßt (nach Lehrsatz 40 dieses Teils). Der Lie-bende also, der sich vorstellt, daß jemand den gelieb-ten Gegenstand haßt, stellt sich eben dadurch vor, daßder geliebte Gegenstand von Haß, d.h. (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 13 dieses Teils) von Unlust, erregtist. Er wird also (nach Lehrsatz 21 dieses Teils) Un-lust empfinden, und zwar verbunden mit der Idee des-sen, der den geliebten Gegenstand haßt, als Ursache.Das heißt (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13 diesesTeils), er wird ihn hassen. - W.z.b.w.

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Sechsundvierzigster Lehrsatz

Wenn jemand von einem Angehörigen eines andernStandes oder Volkes mit Lust oder Unlust erregtworden ist, verbunden mit der Idee desselben unterdem allgemeinen Namen seines Standes oder Volkesals Ursache, so wird er nicht nur ihn, sondern alleAngehörigen seines Standes oder Volkes lieben oderhassen.

Beweis

Der Beweis dieses Satzes erhellt aus Lehrsatz 16dieses Teils.

Siebenundvierzigster Lehrsatz

Die Lust, welche aus der Vorstellung entspringt, daßein gehaßter Gegenstand zerstört oder von einemandern Übel erregt wird, ist nicht ohne einige Un-lust des Gemüts.

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Beweis

Er erhellt aus Lehrsatz 27 dieses Teils. Denn sofernwir uns vorstellen, daß ein Gegenstand unseresglei-chen von Unlust erregt wird, insofern empfinden wirUnlust.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz kann auch aus Zusatz zu Lehrsatz17, Teil 2, bewiesen werden. Denn sooft wir uns desGegenstandes erinnern, auch wenn er nicht wirklichexistiert, betrachten wir ihn als gegenwärtig, und derKörper wird auf gleiche Weise erregt. Sofern daherdie Erinnerung an den Gegenstand lebendig ist, inso-fern wird der Mensch bestimmt, ihn mit Unlust zu be-trachten. Diese Bestimmung wird, solange die Vor-stellung des Gegenstandes noch währt, durch die Er-innerung jener Dinge, welche seine Existenz aus-schließen, zwar gehemmt, aber nicht aufgehoben. DerMensch empfindet also nur insofern Lust, sofern dieseBestimmung gehemmt wird. Daher kommt es, daßdiese Lust, welche aus dem Übel, das den verhaßtenGegenstand trifft, entspringt, so oft wiederkehrt, alswir uns dieses Gegenstandes erinnern. Denn wie ge-sagt, sobald die Vorstellung dieses Gegenstandes

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erweckt wird, bestimmt sie den Menschen, den Ge-genstand mit derselben Unlust zu betrachten, mit wel-cher er ihn zu betrachten pflegte, als er noch existier-te. Weil er aber mit der Vorstellung dieses Gegen-standes andere Vorstellungen verknüpft hat, welchedessen Existenz ausschließen, darum wird diese Be-stimmung zur Unlust sofort gehemmt, und derMensch empfindet von neuem Lust; und zwar so oft,als sich dies wiederholt.

Dies ist auch die Ursache, weshalb die MenschenLust empfinden, sooft sie sich eines bereits vergange-nen Übels erinnern, und weshalb sie Gefahren, ausdenen sie befreit worden sind, so gerne erzählen.Wenn sie sich nämlich die Gefahr vorstellen, betrach-ten sie dieselbe, als würden sie noch immer von ihrbedroht, und werden bestimmt, sie zu fürchten. DieseBestimmung aber wird wieder eingeschränkt durchdie Idee der Befreiung, die sie mit der Idee dieser Ge-fahr verknüpft haben, als sie von ihr befreit wurden,und welche sie wieder sicher macht, weshalb sie wie-der Lust empfinden.

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Achtundvierzigster Lehrsatz

Die Liebe und der Haß, z.B. gegen Peter, wird auf-gehoben, wenn die Unlust, welche diese, und dieLust, welche jene in sich schließt, mit der Idee einerandern Ursache verknüpft wird. Auch wird die einewie der andere insofern vermindert, sofern wir unsvorstellen, daß Peter nicht allein die Ursache davongewesen ist.

Beweis

Derselbe erhellt aus der bloßen Definition derLiebe und des Hasses; siehe diese in der Anmerkungzu Lehrsatz 13 dieses Teils. Denn die Lust heißt nurdeswegen Liebe zu Peter und die Unlust nur darumHaß gegen Peter, weil Peter als die Ursache des einenund des andern Affekts betrachtet wird. Wird also dieVorstellung ganz oder teilweise aufgehoben, so hörtauch dieser Affekt gegen Peter ganz oder teilweiseauf. - W.z.b.w.

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Neunundvierzigster Lehrsatz

Die Liebe und der Haß gegen einen Gegenstand,den wir uns als frei vorstellen, müssen bei gleicherUrsache stärker sein als gegen einen notwendigen(unfreien).

Beweis

Ein Gegenstand, den wir uns als frei vorstellen,muß (nach Definition 7, Teil 1) durch sich allein,ohne andere, erfaßt werden. Wenn wir uns ihn also alsUrsache der Lust oder Unlust vorstellen, so werdenwir ihn eben dadurch (nach Anmerkung zu Lehrsatz13 dieses Teil) lieben oder hassen, und zwar (nachdem vorigen Lehrsatz) mit der stärksten Liebe oderdem stärksten Haß, die aus dem gegebenen Affektentspringen können. Wenn wir uns aber den Gegen-stand, der die Ursache dieses Affekts ist, als notwen-dig vorstellen, so werden wir (nach derselben Defini-tion 7, Teil 1) ihn nicht allein, sondern mit andern alsUrsache dieses Affekts vorstellen. Also wird (nachdem vorigen Lehrsatz) die Liebe und der Haß gegendenselben schwächer sein. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Hieraus folgt, daß die Menschen, weil sie sich fürfrei halten, stärkere Liebe und stärkeren Haß gegen-einander hegen als gegen andere Dinge. Hierzukommt noch die Nachahmung der Affekte (s. hierüberdie Lehrsätze 27, 34, 40 und 43 dieses Teils).

Fünfzigster Lehrsatz

Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einenNebenumstand) Ursache der Hoffnung oder derFurcht sein.

Beweis

Dieser Lehrsatz wird ebenso bewiesen wie Lehr-satz 15 dieses Teils. Vergleiche diesen zugleich mitder Anmerkung zu Lehrsatz 18 dieses Teils.

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Anmerkung

Die Dinge, welche zufällig Ursache der Hoffnungoder der Furcht sind, werden gute oder schlechte Vor-zeichen genannt. Sofern ferner diese Vorzeichen Ur-sache der Hoffnung oder Furcht sind, insofern sind sie(nach der Definition von Hoffnung und Furcht, s.diese in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 18 diesesTeils) Ursache der Lust und Unlust, und insofernfolglich (nach Zusatz zu Lehrsatz 15 dieses Teils) lie-ben oder hassen wir sie und sind bestrebt (nach Lehr-satz 28 dieses Teils), sie als Mittel zu dem, was wirhoffen, anzuwenden oder als Hindernisse desselbenoder als Ursache der Furcht zu entfernen. Aus Lehr-satz 25 dieses Teils folgt außerdem, daß wir vonNatur so beschaffen sind, daß wir leicht glauben, waswir hoffen, aber schwer, was wir fürchten, und daßwir von dem einen mehr, von dem andern weniger, alsrecht ist, halten. Und hieraus ist allerlei Aberglaubenentstanden, von dem die Menschen allerorten aufge-regt werden.

Übrigens halte ich es hier nicht für nötig, dieSchwankungen des Gemüts zu erörtern, welche ausFurcht und Hoffnung entspringen, daß ja schon ausder bloßen Definition dieser Affekte folgt, daß eskeine Hoffnung ohne Furcht und keine Furcht ohne

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Hoffnung gibt (was ich an der geeigneten Stelle aus-führlicher auseinandersetzen werde), und da wir au-ßerdem insofern etwas lieben oder hassen, sofern wires hoffen oder fürchten; weshalb jeder alles, was vonLiebe und Haß gesagt wurde, leicht auf Hoffnung undFurcht wird anwenden können.

Einundfünfzigster Lehrsatz

Verschiedene Menschen können von einem und dem-selben Objekt auf verschiedene Weise erregt werden,und derselbe Mensch kann von einem und demsel-ben Objekt zu verschiedenen Zeiten auf verschie-dene Weise erregt werden.

Beweis

Der menschliche Körper wird (nach Postulat 3,Teil 2) von den äußern Körpern auf vielerlei Weisenerregt. Es können also zu derselben Zeit zwei Men-schen auf verschiedene Weise erregt sein, und folglichkönnen sie (nach Axiom I hinter Hilfssatz 3, s. dieseshinter Lehrsatz 13 Teil 2) von einem und demselbenObjekt auf verschiedene Weise erregt werden. - Fer-ner kann (nach demselben Postulat) der menschlicheKörper bald auf diese, bald auf andere Weise erregt

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sein und folglich (nach demselben Axiom) von einemund demselben Objekt zu verschiedenen Zeiten aufverschiedene Weise erregt werden.- W.z.b.w.

Anmerkung

Wir ersehen hieraus, wie es geschehen kann, daßder eine liebt, was der andere haßt, und daß der einefürchtet, was der andere nicht fürchtet; wie auch, daßderselbe Mensch jetzt liebt, was er früher gehaßt hat,und jetzt wagt, was er früher gefürchtet hat usw.

Weil ferner jeder nach seinem Affekt beurteilt, wasgut und was schlecht, was besser und was schlimmerist (s. Anmerkung zu Lehrsatz 39 dieses Teils), sofolgt, daß die Menschen sowohl in ihrem Urteil als inihrem Affekt verschieden sein können.3

Daher kommt es, daß, wenn wir die einen mit denandern vergleichen, wir sie nach der bloßen Verschie-denheit ihrer Affekte voneinander unterscheiden unddaß wir diese unerschrocken, jene furchtsam, anderewieder mit andern Namen benennen. So z.B. werdeich den unerschrocken nennen, der ein Übel gering-schätzt, das ich zu fürchten pflege. Fasse ich danebennoch ins Auge, daß seine Begierde, dem Schlimmeszuzufügen, den er haßt, und dem wohlzutun, den erliebt, durch die Furcht vor einem Übel, wegen dessenich manches unterlasse, nicht eingeschränkt wird, so

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werde ich ihn kühn nennen. Ferner wird mir derjenigeals furchtsam erscheinen, der ein Übel fürchtet, dasich geringzuschätzen pflege. Fasse ich daneben nochins Auge, daß seine Begierde durch die Furcht voreinem Übel, das mich nicht schrecken kann, einge-schränkt wird, so sage ich, er sei ängstlich; und sowird jeder urteilen.

Aus dieser Natur des Menschen und bei der Verän-derlichkeit seines Urteils, auch weil der Mensch häu-fig nach dem bloßen Affekt der Dinge beurteilt undweil die Dinge, die nach seiner Meinung zur Lust undUnlust beitragen und die er darum (nach Lehrsatz 28dieses Teils) zu verwirklichen oder zu entfernensucht, oft nur eingebildet sind - ganz abgesehen vonandern Umständen, die im zweiten Teil über die Un-gewißheit der Dinge dargelegt wurden -, begreift essich leicht, daß der Mensch oft die Ursache seiner ei-genen Unlust und Lust sein kann oder daß er die Ur-sache ist, daß er mit Unlust oder Lust, verbunden mitder Idee seiner selbst als Ursache, erregt wird. Wirverstehen dadurch leicht, was Reue und was Selbstzu-friedenheit ist. Reue ist nämlich Unlust, verbundenmit der Idee seiner selbst als Ursache; Selbstzufrie-denheit ist Lust, verbunden mit der Idee seiner selbstals Ursache. Diese Affekte sind sehr heftig, weil dieMenschen glauben, sie wären frei (s. Lehrsatz 49 die-ses Teils).

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292Spinoza: Ethik

Zweiundfünfzigster Lehrsatz

Ein Objekt, das wir früher zugleich mit andern Ob-jekten gesehen haben oder das nach unserer Mei-nung nichts an sich hat, was nicht auch, viele ande-re Objekte an sich haben, werden wir nicht so langebetrachten als ein Objekt, das nach unserer Mei-nung etwas Besonderes an sich hat.

Beweis

Sobald wir uns ein Objekt vorstellen, das wir mitandern Objekten gesehen haben, erinnern wir unsauch der andern (nach Lehrsatz 18, Teil 2, s. auchdessen Anmerkung), und so kommen wir von der Be-trachtung des einen sofort auf die Betrachtung des an-dern. Ebenso verhält es sich mit einem Objekt, dasnach unserer Meinung nichts an sich hat, was nichtauch viele andere Objekte an sich haben. Denn damitnehmen wir an, daß wir an ihm nichts wahrnehmen,was wir nicht vorher auch an andern Objekten gese-hen haben. Wenn wir aber annehmen, daß wir aneinem Objekt etwas Besonderes wahrnehmen, waswir vorher niemals gesehen haben, so sagen wirnichts anderes, als daß der Geist, während er diesesObjekt betrachtet, nichts anderes in sich hat, auf

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293Spinoza: Ethik

dessen Betrachtung er von der Betrachtung diesesObiekts kommen kann; und er ist daher bestimmt,dieses allein zu betrachten. Ein Objekt also etc. -W.z.b.w.

Anmerkung

Diese Erregung des Geistes oder Vorstellung einesbesonderen Dinges heißt, sofern sie bloß im Geistvorhanden ist, Bewunderung. Geht sie von einem Ob-jekt aus, das wir fürchten, so wird sie Bestürzung ge-nannt, weil die Verwunderung über dieses Übel denMenschen in dessen Betrachtung so fest hält, daß erdie Kraft nicht gewinnt, an etwas anderes zu denken,womit er jenes Übel abhalten könnte. Ist aber das,was wir bewundern, eines Menschen Klugheit, Fleißoder etwas Derartiges, indem wir sehen, daß uns derBetreffende darin weit übertrifft, so heißt die Bewun-derung Hochachtung (Verehrung, Ehrfurcht); andern-falls, wenn wir uns über eines Menschen Zorn, Miß-gunst usw. wundern, so heißt das Abscheu. - Wennwir ferner die Klugheit, den Fleiß usw. eines Men-schen bewundern, den wir lieben, so wird die Liebeeben dadurch (nach Lehrsatz 12 dieses Teils) stärkersein, und eine solche mit Bewunderung oder Hoch-achtung verbundene Liebe nennen wir Ergebenheit.Auf diese Weise können wir uns auch den Haß, die

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Hoffnung, die Zuversicht und andere Affekte mit derBewunderung verbunden denken und können so mehrAffekte ableiten, als es gebräuchliche Worte dafürgibt. Hieraus erhellt auch, daß die Namen der Affektenicht sowohl aus der genauen Erkenntnis der Affektegebildet wurden als vielmehr nach dem Bedürfnis dessprachlichen Verkehrs.

Der Bewunderung steht die Verachtung gegenüber,deren Ursache meistenteils folgende ist. Wenn wirsehen, daß jemand ein Ding bewundert, liebt, fürchtetusw. oder wenn ein Ding auf den ersten Anblick Ähn-lichkeit mit Dingen zeigt, die wir bewundern, lieben,fürchten usw., so werden wir bestimmt (nach Lehrsatz15 mit seinem Zusatz und Lehrsatz 27 dieses Teils),dieses Ding zu bewundern, zu lieben, zu fürchtenusw. Sind wir nun aber, wenn das Ding selbst uns ge-genwärtig ist oder wenn wir es genauer betrachten,gezwungen, ihm alles abzusprechen, was Ursache derBewunderung, Liebe, Furcht usw. sein kann, so bleibtder Geist durch die wirkliche Gegenwart des Dingesmehr bestimmt, an das zu denken, was nicht an ihmist, als an das, was ja an ihm ist; während er sonst,wenn ein Ding gegenwärtig ist, hauptsächlich an daszu denken pflegt, was an dem Ding ist. - Wie sodanndie Ergebenheit aus der Bewunderung eines Dinges,das wir lieben, entspringt, so entspringt die Verhöh-nung (der Spott) aus der Verachtung eines Dinges,

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295Spinoza: Ethik

das wir hassen oder fürchten; ebenso die Gering-schätzung aus der Verachtung der Dummheit wie dieErgebenheit aus der Bewunderung der Klugheit. - Wirkönnen endlich auch die Liebe, die Hoffnung, dieEhre mit der Verachtung verbunden denken und dar-aus noch andere Affekte ableiten, die man ebenfallsmit keinem besonderen Namen von andern zu unter-scheiden pflegt.

Dreiundfünfzigster Lehrsatz

Wenn der Geist sich selbst und sein Tätigkeitsver-mögen betrachtet, empfindet er Lust; und um somehr, je deutlicher er sich und sein Tätigkeitsvermö-gen vorstellt.

Beweis

Der Mensch kennt sich selbst nur durch die Erre-gung seines Körpers und die Ideen derselben (nachdem Lehrsatz 19 und 23, Teil 2). Wenn es also ge-schieht, daß der Geist sich selbst. betrachten kann, sowird angenommen, daß er eben dadurch zu größererVollkommenheit übergeht, d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 11 dieses Teils), daß er von Lust erregtwird; und um so mehr, je deutlicher er sich und sein

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Tätigkeitsvermögen vorstellen kann. - W.z.b.w.

Zusatz

Diese Lust wird mehr und mehr genährt, je mehrder Mensch sich von andern gelobt vorstellt. Denn jemehr er sich von andern gelobt vorstellt, um so stär-ker stellt er sich die Lust vor von welcher andre durchihn erregt werden, und zwar in Verbindung mit derIdee seiner selbst (nach Anmerkung zu Lehrsatz 29dieses Teils). Daher wird er selbst (nach Lehrsatz 27dieses Teils) von stärkerer Lust, verbunden mit derIdee seiner selbst, erfüllt. - W.z.b.w.

Vierundfünfzigster Lehrsatz

Der Geist strebt, nur das sich vorzustellen, was sei1‹Tätigkeitsvermögen setzt.

Beweis

Das Streben oder das Vermögen des Geistes ist dasWesen des Geistes selbst (nach Lehrsatz 7 diesesTeils). Das Wesen des Geistes aber bejaht (wie ansich klar) nur das, was der Geist ist und vermag; nicht

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aber das, was er nicht ist und nicht vermag. Daherstrebt er, nur das sich vorzustellen, was sein Tätig-keitsvermögen bejaht oder setzt. - - W.z.b.w.

Fünfundfünfzigster Lehrsatz

Wenn sich der Geist sein Unvermögen vorstellt, soempfindet er eben dadurch Unlust.

Beweis

Das Wesen des Geistes bejaht nur das, was derGeist ist und vermag; oder es liegt in der Natur desGeistes, sich nur das vorzustellen, was sein Tätig-keitsvermögen setzt (nach dem vorigen Lehrsatz).Wenn wir also sagen, daß der Geist, während er sichselbst betrachtet, sich sein Unvermögen vorstellt, sosagen wir nichts anderes, als daß, wenn der Geist sichetwas vorzustellen strebt, was sein Tätigkeitsvermö-gen setzt, dieses sein Streben gehemmt wird oder(nach Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils) daß erUnlust empfindet. - W.z.b.w.

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Zusatz

Diese Unlust wird mehr und mehr genährt, wenn ersich von andern verachtet vorstellt; was auf gleicheWeise bewiesen wird wie der Zusatz zu Lehrsatz 53dieses Teils.

Anmerkung

Diese mit der Idee unserer Schwäche verbundeneUnlust wird Niedergeschlagenheit genannt. Die Lustdagegen, die aus der Betrachtung unserer selbst ent-springt, heißt Selbstliebe oder Selbstzufriedenheit.Und da diese Lust ebensooft wiederkehrt, sooft derMensch seine Vorzüge oder sein Tätigkeitsvermögenbetrachtet, so kommt es folglich auch daher, daß jederso gerne seine Taten erzählt und sowohl seine körper-lichen wie seine geistigen Kräfte an den Tag legt, sodaß die Menschen einander damit lästig werden. -Hieraus folgt wiederum, daß die Menschen von Naturmißgünstig sind (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 24und die Anmerkung zu Lehrsatz 32 dieses Teils) oderdaß sie sich über die Schwäche ihrer Nebenmenschenfreuen, über deren Vorzüge dagegen sich ärgern.Denn sooft jeder sich seine Taten vorstellt, ebensooftwird er von Lust erregt (nach Lehrsatz 53 dieses

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Teils), und um so mehr, je mehr Vollkommenheitseine Taten nach seiner Vorstellung ausdrücken undje deutlicher er sich dieselben vorstellt, d.h. (nachdem, was in der 1. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2,ausgeführt ist), je mehr er dieselben von andern unter-scheiden und als etwas Besonderes betrachten kann.Deshalb wird jeder bei der Betrachtung seiner selbstsich dann am meisten freuen, wenn er etwas an sichbetrachtet, was er von andern verneint. Wenn aberdas, was er von sich bejaht, zur allgemeinen Idee desMenschen oder der lebenden Wesen gehört, so wird ersich nicht so sehr freuen. Umgekehrt wird er Unlustempfinden, wenn er sich vorstellt, daß seine Handlun-gen im Vergleich mit den Handlungen anderer schwä-cher sind. Von dieser Unlust wird er sich zwar (nachLehrsatz 28 dieses Teils) zu befreien suchen, undzwar dadurch, daß er die Handlungen seiner Neben-menschen mißdeutet oder seine eigenen, soviel er ver-mag, herausstreicht.

Es erhellt demnach, daß die Menschen von Naturzu Haß und Mißgunst geneigt sind. Diese Neigungwird noch durch die Erziehung gefördert. Denn dieEltern pflegen ihre Kinder nur durch den Stachel desEhrgeizes und des Neids zur Tugend anzueifern. -Vielleicht bleibt aber noch der Einwand, daß wirnicht selten die Tugenden der Menschen bewundernund dieselben hochschätzen. Um diesen Einwand zu

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beseitigen, will ich noch folgenden Zusatz beifügen.

Zusatz

Der Mensch beneidet nur seinesgleichen um einenVorzug.

Beweis

Der Neid ist Haß (s. Anmerkung zu Lehrsatz 24dieses Teils) oder (nach Anmerkung zu Lehrsatz 13dieses Teils) Unlust, d.h. (nach Anmerkung zu Lehr-satz 11 dieses Teils) eine Erregung, durch welche dasTätigkeitsvermögen des Menschen oder sein Bestre-ben gehemmt wird. Der Mensch aber strebt oder be-gehrt nichts zu tun, als was aus seiner gegebenenNatur erfolgen kann (nach Anmerkung zu Lehrsatz 9dieses Teils). Also wird der Mensch nicht begehren,daß ihm ein Tätigkeitsvermögen oder (was dasselbeist) eine Tugend beigelegt werde, welche der Natureines andern eigentümlich und der seinigen fremd ist.Es kann folglich ein Begehren nicht deshalb einge-schränkt werden, d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz11 dieses Teils), er kann nicht deshalb Unlust empfin-den, weil er an jemand, der nicht seinesgleichen ist,einen Vorzug bemerkt, und folglich wird er ihn nichtdarum beneiden können; wohl aber seinesgleichen,

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bei dem er eine der seinen gleiche Natur voraussetzt. -W.z.b.w.

Anmerkung

Wenn ich also oben, in der Anmerkung zu Lehrsatz52 dieses Teils, gesagt habe, daß wir einen Menschendeshalb hochachten, weil wir seine Klugheit, Tapfer-keit usw. bewundern, so kommt dies daher (wie ausdem Lehrsatz selbst erhellt), weil wir uns vorstellen,daß diese Tugenden ihm eigentümlich und nicht ge-meinsame Eigenschaften der Menschennatur sind.Daher werden wir ihn um dieselbe ebensowenig be-neiden wie die Bäume um ihre Höhe, die Löwen umihre Stärke usw.

Sechsundfünfzigster Lehrsatz

Von der Lust, der Unlust und der Begierde und folg-lich auch von jedem Affekt, der aus diesen zusam-mengesetzt ist, wie das Schwanken des Gemüts, oderder von diesen abgeleitet ist, wie Liebe, Haß, Hoff-nung, Furcht usw., gibt es ebenso viele Arten, als esArten von Objekten gibt, von denen wir erregt wer-den.

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Beweis

Lust und Unlust und folglich auch die Affekte, wel-che aus diesen zusammengesetzt sind oder von diesenabgeleitet werden, sind Leiden (nach Anmerkung zuLehrsatz 11 dieses Teils). Wir leiden aber notwendig(nach Lehrsatz 1 dieses Teils), sofern wir inadäquateIdeen haben; und nur insofern leiden wir, sofern wirdiese haben (nach Lehrsatz 3 dieses Teils). Das heißt(s. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), nur insofernleiden wir notwendig, sofern wir (sinnliche) Vorstel-lungen haben oder (s. Lehrsatz 17, Teil 2, mit seinerAnmerkung) sofern wir von einem Affekt erregt wer-den, welcher die Natur unseres Körpers und die Naturdes äußern Körpers in sich schließt. Die Natur einesjeden Leidens muß also notwendig so erklärt werden,daß die Natur des Objekts, von dem wir erregt wer-den, damit ausgedrückt wird. Nämlich die Lust, wel-che aus einem Objekt, z.B. A, entspringt, schließt dieNatur des Objekts A selbst in sich, und die Lust, dieaus dem Objekt B entspringt, schließt die Natur desObjekts B in sich. Daher sind diese beiden Affekteder Lust ihrer Natur nach verschieden, weil sie vonUrsachen verschiedener Natur herrühren. So ist auchder Affekt der Unlust, welcher aus dem einen Objektentspringt, seiner Natur nach verschieden von der

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Unlust, die von einer andern Ursache herrührt. Das-selbe gilt auch von der Liebe, dem Haß, der Hoff-nung, der Furcht, dem Schwanken des Gemüts usw.Also gibt es notwendig ebenso viele Arten von Lust,Unlust, Liebe, Haß usw., als es Arten von Objektengibt, von denen wir erregt werden.

Die Begierde aber ist eines jeden Wesen oder Naturselbst, sofern sie als durch irgendeinen gegebenen Zu-stand derselben zu irgendeiner Tätigkeit bestimmt be-griffen wird (s. Anmerkung zu Lehrsatz 9 diesesTeils). Je nachdem also jemand durch äußere Ursa-chen von dieser oder jener Art der Lust, der Unlust,der Liebe, des Hasses usw. erregt wird, d.h. je nachdem Zustand seiner Natur, muß seine Begierde not-wendig bald so, bald anders sein, und die Natur dereinen muß notwendig von der Natur der andern ge-nauso verschieden sein, wie die Affekte, aus denenjede entspringt, sich voneinander unterscheiden. Alsogibt es ebenso viele Arten von Begierden, als es Artenvon Lust, Unlust, Liebe usw. gibt, und folglich auch(nach dem bereits Gezeigten) so viele, als es Artenvon Objekten gibt, von denen wir erregt werden. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Unter den verschiedenen Arten von Affekten, derenes (nach dem vorigen Lehrsatz) sehr viele geben muß,sind die hervorragendsten: die Schwelgerei, dieTrunksucht, die (geschlechtliche) Lüsternheit, dieHabsucht und der Ehrgeiz. Sie sind nichts anderes alsBegriffe der Liebe und der Begierde, welche die Naturdieser beiden Affekte durch die Objekte erklären, aufwelche sie sich beziehen. Denn unter Schwelgerei,Trunksucht, Lüsternheit und Ehrsucht verstehen wirnichts andere. als die unmäßige Liebe und Begierdezum Schmausen, zum Zechen, zum Begatten, zumReichtum und zur Ehre. Im übrigen stehen diesen Af-fekten, sofern wir sie bloß nach dem Objekt, woraufsie sich beziehen, von andern unterscheiden, keine ge-genteiligen Affekte gegenüber. Denn die Mäßigkeit,die wir der Schwelgerei, die Nüchternheit, die wir derTrunksucht, endlich die Keuschheit, die wir der Lü-sternheit gegenüberzustellen pflegen, sind keine Af-fekte oder Leiden, sondern sie zeigen die Macht desGeistes an, welche diese Affekte zügelt.

Auf die übrigen Arten von Affekten kann ich hiernicht eingehen (da es so viele gibt, als es Arten vonObjekten gibt), und wenn ich es auch könnte, so wärees nicht nötig. Denn für das, was ich bezwecke, die

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Bestimmung der Kräfte der Affekte und der Machtdes Geistes über dieselben, genügt die allgemeine De-finition eines jeden Affekts. Es genügt, sage ich, diegemeinsamen Eigenschaften der Affekte und des Gei-stes zu verstehen, um bestimmen zu können, welcherArt und wie groß die Macht des Geistes ist, die Affek-te zu bezähmen und einzuschränken. Obgleich daherzwischen diesem und jenem Affekt der Liebe, desHasses oder der Begierde ein großer Unterschied ist,wie z.B. zwischen der Liebe zu den Kindern und derLiebe zur Frau, so haben wir hier nicht nötig, dieseVerschiedenheiten zu kennen und die Natur und denUrsprung der Affekte weiter zu untersuchen.

Siebenundfünfzigster Lehrsatz

Jeder Affekt eines jeden Individuums ist von dem Af-fekt eines andern um so viel unterschieden, als dasWesen des einen von dem Wesen des andern unter-schieden ist.

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Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt aus Axiom I. Siehe diesesnach Hilfssatz 3 zur Anmerkung bei Lehrsatz 13 imzweiten Teil. Gleichwohl will ich ihn auch aus denDefinitionen der drei Hauptaffekte beweisen.

Alle Affekte beziehen sich auf Begierde, Lust oderUnlust, wie die aufgestellten Definitionen derselbenzeigen. Die Begierde ist aber eben die Natur oder dasWesen eines jeden (s. deren Definition in der Anmer-kung zu Lehrsatz 9 dieses Teils). Folglich ist die Be-gierde eines jeden Individuums von der Begierdeeines andern um so viel unterschieden, als die Naturoder das Wesen des einen von dem Wesen des andernsich unterscheidet. - Lust und Unlust ferner sind Lei-den, durch welche das Vermögen oder Bestrebeneines jeden vermehrt oder vermindert, gefördert odergehemmt wird (nach Lehrsatz 11 dieses Teils und sei-ner Anmerkung). Unter dem Bestreben aber, in sei-nem Sein zu verharren, verstehen wir, sofern es aufGeist und Körper zugleich bezogen wird, das Verlan-gen oder die Begierde (s. Anmerkung zu Lehrsatz 9dieses Teils). Folglich sind Lust und Unlust die Be-gierde oder das Verlangen selbst, sofern es von äu-ßern Ursachen vermehrt oder vermindert, gefördertoder gehemmt wird; d.h. (nach derselben

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Anmerkung), sie sind eben die Natur eines jeden. Mit-hin ist auch die Lust oder Unlust eines jeden von derLust oder Unlust eines andern um so viel unterschie-den, als die Natur oder das Wesen des einen von demWesen des andern verschieden ist. - Also ist jeder Af-fekt eines jeden Individuums von dem Affekt einesandern um so viel unterschieden usw. - W.z.b.w.

Anmerkung

Hieraus folgt, daß die Affekte der Geschöpfe, dieman vernunftlos nennt (denn daß die Tiere Empfin-dung haben, können wir durchaus nicht bezweifeln,nachdem wir den Ursprung des Geistes kennengelernthaben), von den Affekten der Menschen sich um soviel unterscheiden, als sich ihre Natur von dermenschlichen Natur unterscheidet. Das Pferd wirdzwar wie der Mensch von der Zeugungslust angetrie-ben; aber jenes von der pferdemäßigen, dieser von dermenschlichen Zeugungslust. So müssen auch dieLüste und Begierden der Insekten, der Fische und derVögel untereinander verschieden sein.

Wenn daher auch jedes Individuum mit SeinerNatur, aus welcher es besteht, zufrieden lebt und sichderselben erfreut, so ist doch dieses Leben, mit demjedes zufrieden ist, und diese Freude nichts anderesals die Idee oder die Seele des betreffenden

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Individuums, und darum ist die Freude des einen vonder Freude des andern von Natur um so viel unter-schieden, als sich das Wesen des einen von demWesen des andern unterscheidet.

Endlich folgt aus dem vorstehenden Lehrsatz, daßauch ein bedeutender Unterschied ist zwischen derFreude, von der z.B. ein Betrunkener erfaßt wird, undder Freude, von welcher ein Philosoph erfüllt ist; wasich hier im Vorbeigehen bemerken wollte.

Soviel von den Affekten, welche sich auf den Men-schen beziehen, sofern er leidet. Es erübrigt noch, we-niges hinzuzufügen über diejenigen, die sich auf ihnbeziehen, sofern er tätig ist.

Achtundfünfzigster Lehrsatz

Außer der Lust und der Begierde, welche Leidensind, gibt es noch andere Affekte der Lust und derBegierde, die sich auf uns beziehen, sofern wir tätigsind.

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Beweis

Wenn der Geist sich selbst und sein Tätigkeitsver-mögen begreift, empfindet er Lust (nach Lehrsatz 53dieses Teils). Der Geist aber betrachtet sich selbstnotwendig, wenn er eine wahre oder adäquate Idee be-greift (nach Lehrsatz 43 Teil 2). Nun begreift derGeist einige adäquate Ideen (nach 2. Anmerkung zuLehrsatz 40, Teil 2). Folglich empfindet er auch inso-fern Lust, sofern er adäquate Ideen begreift, d.h. (nachLehrsatz 1 dieses Teils) sofern er tätig ist. - Fernerstrebt der Geist, sowohl sofern er klare und deutlicheals auch sofern er verworrene Ideen hat, in seinemSein zu verharren (nach Lehrsatz 9 dieses Teils).Unter Bestreben verstehen wir aber die Begierde(nach der Anmerkung zu demselben Lehrsatz). Folg-lich bezieht sich die Begierde auf uns, auch sofern wirerkennen oder (nach Lehrsatz 1 dieses Teils) sofernwir tätig sind. - W.z.b.w.

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Neunundfünfzigster Lehrsatz

Unter allen Affekten, die sich auf den Geist, soferner tätig ist, beziehen, gibt es keine andern als sol-che, die sich auf die Lust oder die Begierde bezie-hen.

Beweis

Alle Affekte beziehen sich auf die Begierde, dieLust oder die Unlust, wie die aufgestellten Definitio-nen derselben zeigen. Unter Unlust aber verstehen wirdas, daß das Denkvermögen des Geistes vermindertoder gehemmt wird (nach Lehrsatz 1I dieses Teils undseiner Anmerkung). Daher empfindet der Geist inso-fern Unlust, sofern sein Erkenntnisvermögen, d.h.sein Tätigkeitsvermögen (nach Lehrsatz 1 diesesTeils), vermindert oder gehemmt wird. Es könnenalso keine Affekte der Unlust auf den Geist bezogenwerden, sofern er tätig ist; sondern nur Affekte derLust und der Begierde, welche (nach dem vorigenLehrsatz) sich insofern auch auf den Geist beziehen. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Alle Tätigkeiten, welche aus Affekten folgen, diesich auf den Geist beziehen, sofern er erkennt, rechneich zur Geisteskraft, an welcher ich die Seelenstärkeund den Edelmut unterscheide. Unter Seelenstärkeverstehe ich die Begierde, wonach jemand bestrebt ist,sein eigenes Sein nach dem bloßen Gebot der Ver-nunft zu erhalten. Unter Edelmut aber verstehe ich dieBegierde, wonach jemand bestrebt ist, nach dem blo-ßen Gebot der Vernunft seinen Mitmenschen wohlzu-tun und sie sich durch Freundschaft zu verbinden. DieHandlungen also, welche den Nutzen des Handelndenallein bezwecken, rechne ich zur Seelenstärke, die,welche den Nutzen eines andern bezwecken, zumEdelmut. Mäßigkeit, Nüchternheit, Geistesgegen-wart in Gefahren usw. sind also Arten der Seelen-stärke; Leutseligkeit, Milde usw. hingegen sind Artendes Edelsinns.

Damit glaube ich, die wichtigsten Affekte und dieSchwankungen des Gemüts, welche aus der Verbin-dung der drei Hauptaffekte: Begierde, Lust und Un-lust, entspringen, erklärt und auf ihre ersten Ursachenzurückgeführt zu haben. Es erhellt daraus, daß wirvon äußern Ursachen auf vielerlei Arten hin und herbewegt werden und wie die von entgegengesetzten

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Winden aufgeregten Meereswellen dahin und dorthinschwanken, unkundig unseres Verhängnisses undSchicksals.

Ich habe indes schon gesagt, daß ich nur die wich-tigsten Erregungen des Gemüts erörtert habe, nichtalle, die es geben kann. Denn wir könnten, auf dem-selben Wege wie bisher weitergehend, leicht zeigen,daß sich die Liebe mit der Reue, der Geringschät-zung, der Scham usw. verbindet. Ja, es wird sich, wieich glaube, einem jeden aus den bisherigen Ausfüh-rungen klar ergeben, daß die Affekte auf so vielerleiWeisen sich miteinander verbinden und daß daraus somannigfaltige Arten von Affekten entstehen können,daß es keine Zahl dafür gibt. Für meinen Zweck ge-nügt es aber, nur die wichtigsten aufgezählt zu haben;denn die übrigen, die ich unerwähnt ließ, hätten mehrihrer Seltsamkeit als ihres Nutzens wegen Interesse.

Von der Liebe ist jedoch noch etwas zu bemerken.Es kommt nämlich sehr oft vor, daß, wenn wir denGegenstand, nach welchem wir Verlangen hatten, ge-nießen, der Körper durch diesen Genuß eine Verände-rung seines Zustandes (Verfassung, Beschaffenheit)erfährt, so daß er anders bestimmt wird, und Vorstel-lungen anderer Dinge in ihm wachgerufen werden;womit zugleich der Geist sich etwas anderes vorzu-stellen und etwas anderes zu wünschen beginnt.Wenn wir uns z.B. etwas vorstellen, was uns durch

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seinen Geschmack zu ergötzen pflegt, begehren wir,es zu genießen, d.h., zu essen. Während wir es abergenießen, wird der Magen angefüllt, und der Körpergelangt damit in einen andern Zustand. Wenn also,während der Zustand des Körpers bereits ein anderergeworden, die Vorstellung dieser Speise, weil sieselbst gegenwärtig ist, noch lebhafter wird und folg-lich auch das Bestreben oder die Begierde, sie zuessen, so wird dieser Begierde oder diesem Bestrebendieser neue Zustand widerstreben, und folglich wirddie Gegenwart der Speise, nach der wir Verlangenhatten, verhaßt. Das ist es, was man Überdruß undEkel nennt.

Übrigens habe ich die äußern Körpererregungen,welche bei den Affekten beobachtet werden, wie dasZittern, das Erbleichen, das Schluchzen, das Lachenusw., beiseite gelassen, weil sie den Körper allein be-treffen und keinerlei Beziehungen zum Geiste haben.

Schließlich ist noch einiges über die Definitionender Affekte zu bemerken. Ich werde sie daher hier derReihe nach wiederholen und was bei jedem noch zubeachten ist einfügen.

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Definitionen der Affekte

I

Begierde ist des Menschen Wesen selbst, sofern esals durch irgendeine gegebene Erregung desselben zueiner Tätigkeit bestimmt begriffen wird.

Erläuterung

Ich habe oben in der Anmerkung zu Lehrsatz 9 die-ses Teils gesagt, die Begierde sei ein Verlangen mitdem Bewußtsein desselben. das Verlangen aber seides Menschen Wesen selbst, sofern es bestimmt ist,das zu tun, was zu seiner Erhaltung dient. In dersel-ben Anmerkung habe ich aber auch bemerkt, daß ichzwischen dem menschlichen Verlangen und der Be-gierde keinen Unterschied anerkenne. Denn mag derMensch sich seines Verlangens bewußt sein odernicht, so bleibt doch das Verlangen eins und dasselbe.Darum habe ich, um mich nicht einer scheinbarenTautologie schuldig zu machen, die Begierde nichtdurch Verlangen erklären wollen, sondern sie in einerWeise zu definieren gesucht, daß damit alle Bestre-bungen der menschlichen Natur, die wir mit demNamen Verlangen Wille, Begierde oder Trieb

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bezeichnen, zusammengefaßt sind. Denn ich hättesagen können: »Die Begierde ist des MenschenWesen selbst, sofern es als zu irgendeiner Tätigkeitbestimmt begriffen wird.« Aber aus dieser Definitionwürde (nach Lehrsatz 23, Teil 2) nicht folgen, daß derGeist seiner Begierde oder seines Verlangens sich be-wußt sein könne. Um daher die Ursache dieses Be-wußtseins einzuschließen, war es nötig (nach demsel-ben Lehrsatz) hinzuzufügen: »durch irgendeine gege-bene Erregung desselben«. Denn unter Erregung desmenschlichen Wesens verstehen wir jeden Zustand(Verfassung, Beschaffenheit) seines Wesens, magderselbe angeboren sein, mag er durch das bloße At-tribut des Denkens oder durch das bloße Attribut derAusdehnung begriffen werden oder mag er sich aufbeide zugleich beziehen. - Hier also verstehe ich unterdem Namen Begierde jedes Streben, jeden Trieb,jedes Verlangen und jedes Wollen, die nach den ver-schiedenen Zuständen desselben Menschen verschie-den und nicht selten einander so sehr entgegengesetztsind, daß der Mensch nach verschiedenen Richtungengezogen wird und nicht weiß, wohin er sich wendensoll.

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316Spinoza: Ethik

II

Lust ist Übergang des Menschen von geringerer zugrößerer Vollkommenheit.

III

Unlust ist Übergang des Menschen von größerer zugeringerer Vollkommenheit.

Erläuterung

Ich sage Übergang. Denn Lust ist nicht selbst Voll-kommenheit. Denn wenn der Mensch mit der Voll-kommenheit, zu welcher er übergeht, geboren würde,so wäre er ohne den Affekt der Lust im Besitzederselben. Dies ergibt sich deutlicher aus dem Affektder Unlust, welcher dem Affekt der Lust gegenüber-steht. Denn daß die Unlust im Übergang zu geringererVollkommenheit besteht, nicht aber in der geringerenVollkommenheit selbst, kann niemand bestreiten, daja der Mensch insofern nicht Unlust empfinden kann,sofern er irgendeiner Vollkommenheit teilhaftig ist.Auch können wir nicht sagen, daß die Unlust imMangel einer größeren Vollkommenheit besteht.

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Denn Mangel ist nichts, der Affekt der Unlust aber istein Vorgang und kann daher nichts anderes sein alsder Vorgang des Übergangs zu geringerer Vollkom-menheit, d.h. der Vorgang, durch welchen das Tätig-keitsvermögen des Menschen vermindert oder ge-hemmt wird (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 11 diesesTeils).

Die Definitionen von Wohlbehagen und Wollust,Mißbehagen und Schmerz übergehe ich, weil sie sichhauptsächlich auf den Körper beziehen und nichtssind als Arten der Lust und Unlust.

IV

Bewunderung ist die Vorstellung eines Dinges, inwelcher der Geist deshalb versunken bleibt, weil diesebesondere Vorstellung keine Verbindung mit den son-stigen Vorstellungen hat (s. Lehrsatz 52 dieses Teilsmit seiner Anmerkung).

Erläuterung

In der Anmerkung zu Lehrsatz 18 im zweiten Teilhabe ich gezeigt, welche Ursache es bewirkt, daß derGeist aus der Betrachtung eines Dinges sofort auf denGedanken eines andern Dinges verfällt: weil nämlich

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die Vorstellungen dieser Dinge miteinander verkettetund so geordnet sind, daß die eine auf die anderefolgt. Dies ist aber nicht denkbar, wenn die Vorstel-lung eines Dinges eine neue ist, dann wird vielmehrder Geist in der Betrachtung dieses Dinges festgehal-ten, bis er von andern Ursachen bestimmt wird, etwasanderes zu denken.

Die Vorstellung eines neuen Dinges ist also, ansich betrachtet, von gleicher Natur wie die übrigenVorstellungen. Aus diesem Grunde zähle ich die Be-wunderung nicht zu den Affekten. Ich sehe auch garkeinen Grund, dies zu tun, da ja dieses Abgezogen-sein des Geistes nicht aus irgendeiner positiven Ursa-che entspringt, die den Geist von andern Dingen ab-zieht, sondern nur daraus, daß keine Ursache vorhan-den ist, durch welche der Geist bestimmt wird, bei derBetrachtung eines Dinges an andere Dinge zu denken.

Ich erkenne also (wie ich in der Anmerkung zuLehr. satz 11 dieses Teils bemerkt habe) nur dreiHaupt- oder primäre Affekte an, nämlich Lust, Unlustund Begierde, und ich sah mich nur deshalb veran-laßt, von der Bewunderung zu reden, weil es ge-bräuchlich geworden ist, daß gewisse Affekte, welchevon den drei Hauptaffekten abgeleitet werden, mit an-dern Namen bezeichnet werden, wenn sie sich auf Ob-jekte beziehen, die wir bewundern. Der gleiche Grundveranlaßt mich, hier noch die Definition der

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Verachtung beizufügen.

V

Verachtung ist die Vorstellung eines Dinges, wel-che den Geist so wenig berührt, daß der Geist durchdie Gegenwart des Dinges mehr bewegt wird, das vor-zustellen, was an dem Ding nicht ist, als was an ihmist (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils).

Die Definitionen der Hochachtung und der Gering-schätzung lasse ich hier beiseite, weil meines Wissenskeine Affekte ihren Namen von ihnen ableiten.

VI

Liebe ist Lust, verbunden mit der Idee einer äußernUrsache.

Erläuterung

Diese Definition drückt das Wesen der Liebe voll-ständig klar aus. Die Definition jener Schriftstelleraber, welche lautet: Liebe ist der Wille des Lieben-den, sich mit dem geliebten Gegenstand zu verbinden,drückt nicht das Wesen der Liebe, sondern eine

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Eigenschaft derselben aus. Und weil das Wesen derLiebe von diesen Schriftstellern nicht genügenddurchschaut wurde, konnten sie auch von ihrer Eigen-schaft keinen klaren Begriff haben. Daher kommt es,daß man ihre Definition allgemein für eine sehr dunk-le hält.

Wenn ich nun sage, es sei eine Eigenschaft des Lie-benden, daß er den Willen habe, sich mit dem gelieb-ten Gegenstand zu verbinden, so ist zu beachten, daßich unter Willen nicht etwa die Zustimmung oder dieÜberlegung oder einen freien Entschluß verstehe (daßdies letztere eine reine Einbildung sei, habe ich imLehrsatz 48, Teil 2, bewiesen). Auch meine ich damitnicht die Begierde, sich mit dem geliebten Gegen-stand zu verbinden, wenn er abwesend ist, oder in sei-ner Gegenwart zu verharren, wenn er anwesend ist;denn die Liebe kann auch ohne diese Begierde ge-dacht werden. Unter Willen verstehe ich hier die Be-friedigung, welche den Liebenden bei der Gegenwartdes geliebten Gegenstandes erfüllt und durch welchedie Lust des Liebenden verstärkt oder mindestens ge-nährt wird.

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VII

Haß ist Unlust, verbunden mit der Idee einer äu-ßern Ursache.

Erläuterung

Was hier zu bemerken ist, kann dem, was in derErläuterung zur vorigen Definition gesagt ist, leichtentnommen werden (s. außerdem die Anmerkung zuLehrsatz 13 dieses Teils).

VIII

Zuneigung ist Lust, verbunden mit der Idee einesDinges, welches zufällig (gelegentlich, durch einenNebenumstand) Ursache der Lust ist.

IX

Abneigung ist Unlust, verbunden mit der Idee einesDinges, welches zufällig Ursache der Unlust ist (s.darüber die Anmerkung zu Lehrsatz 15 dieses Teils).

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X

Ergebenheit ist Liebe zu jemand, den wir bewun-dern.

Erläuterung

Daß die Bewunderung aus der Neuheit eines Ge-genstandes entspringt, habe ich im Lehrsatz 52 diesesTeils gezeigt. Wenn wir uns nun das, was wir bewun-dern, oft vorstellen, so hören wir auf, es zu bewun-dern. Darum sehen wir, daß der Affekt der Ergeben-heit leicht in einfache Liebe übergeht.

XI

Verhöhnung (Spott) ist Lust, daraus entsprungen,daß wir uns vorstellen, es sei etwas, das wir verach-ten, an einem Gegenstand, den wir hassen.

Erläuterung

Sofern wir einen Gegenstand, den wir hassen, ver-achten, insofern sprechen wir ihm Existenz ab (s. An-merkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils) und insofern(nach Lehrsatz 20 dieses Teils) empfinden wir Lust.

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Da wir aber annehmen, daß der Mensch das, was erverhöhnt, auch haßt, so folgt, daß diese Lust keine in-nige ist (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 47 diesesTeils).

XII

Hoffnung ist unbeständige Lust, entsprungen ausder Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges(Sache), über dessen Ausgang wir in gewisser Hin-sicht im Zweifel sind.

XIII

Furcht ist unbeständige Unlust, entsprungen ausder Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges(Sache), über dessen Ausgang wir in gewisser Hin-sicht im Zweifel sind (s. hierüber die 2. Anmerkungzu Lehrsatz 18 dieses Teils).

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324Spinoza: Ethik

Erläuterung

Aus diesen Definitionen folgt, daß es keine Hoff-nung gibt ohne Furcht und keine Furcht ohne Hoff-nung. Denn von jemand, der in Hoffnung schwebt undüber den Ausgang einer Sache zweifelt, wird ange-nommen, daß er sich etwas vorstellt, was die Existenzdieser zukünftigen Sache ausschließt und also inso-fern Unlust empfindet (nach Lehrsatz 19 dieses Teils)und folglich, während er in Hoffnung schwebt, fürch-tet, die Sache möchte nicht eintreffen. - Wer hingegenin Furcht ist, d.h., über den Ausgang einer Sache, dieer haßt, zweifelt, stellt sich ebenfalls etwas vor, wasdie Existenz dieser zukünftigen Sache ausschließt,und folglich (nach Lehrsatz 20 dieses Teils) empfin-det er Lust und hat also insofern Hoffnung, daß dieSache nicht eintreffen werde.

XIV

Zuversicht ist Lust, entsprungen aus der Idee eineszukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchemdie Ursache des Zweifelns geschwunden ist.

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325Spinoza: Ethik

XV

Verzweiflung ist Unlust, entsprungen aus der Ideeeines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei wel-chem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.

Erläuterung

Aus Hoffnung wird also Zuversicht und aus FurchtVerzweiflung, wenn die Ursache des Zweifelns überden Ausgang der Sache schwindet, entweder weil derMensch sich das vergangene oder zukünftige Ding alsseiend vorstellt und als gegenwärtig betrachtet, oderweil er sich etwas vorstellt, was die Existenz derDinge, die ihm Zweifel erregen, ausschließt. Dennwenn wir auch über den Ausgang (Verlauf) der Ein-zeldinge (nach Zusatz zu Lehrsatz 31, Teil 2) niemalsgewiß sein können, so kann doch das der Fall sein,daß wir über ihren Ausgang nicht zweifeln. Denn wieich gezeigt habe (s. Anmerkung zu Lehrsatz 49, Teil2), ist es ein anderes, über ein Ding nicht zweifeln,und ein anderes, über ein Ding Gewißheit haben.Daher ist es wohl möglich, daß wir durch die Vorstel-lung eines vergangenen oder zukünftigen Dinges vongleichem Affekt der Lust oder Unlust erregt werdenwie durch die Vorstellung eines gegenwärtigen Din-ges, wie ich im Lehrsatz 18 dieses Teils bewiesen

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326Spinoza: Ethik

habe; s. diesen samt seiner Anmerkung.

XVI

Freude ist Lust, verbunden mit der Idee eines ver-gangenen Dinges, welches unverhofft eingetroffen ist.

XVII

Gewissensbiß ist Unlust, verbunden mit der Ideeeines vergangenen Dinges, welches unerwartet einge-troffen ist.

XVIII

Mitleid ist Unlust, verbunden mit der Idee einesÜbels, das einem andern, den wir uns als unseresglei-chen vorstellen, begegnet ist (s. die Anmerkung zuLehrsatz 22 und die Anmerkung zu Lehrsatz 27 die-ses Teils).

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327Spinoza: Ethik

Erläuterung

Zwischen Mitleid und Mitgefühl (Barmherzigkeit)scheint kein Unterschied zu sein, wenn nicht vielleichtder, daß Mitleid den einzelnen Affekt bezeichnet,Barmherzigkeit aber die entsprechende Gemütsan-lage.

XIX

Gunst ist Liebe zu jemand, der einem andern Gutesgetan.

XX

Entrüstung ist Haß gegen jemand, der einem an-dern Böses getan.

Erläuterung

Ich weiß, daß diese Namen im gewöhnlichenSprachgebrauch etwas anderes bedeuten. Meine Ab-sicht ist aber nicht, die Bedeutung der Wörter, son-dern die Natur der Dinge zu erläutern und sie mit

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328Spinoza: Ethik

solchen Ausdrücken zu bezeichnen, deren gebräuchli-cher Sinn von demjenigen, in welchem ich sie gebrau-che, nicht ganz abweicht. Diese Bemerkung mag einfür allemal genügen.

Über die Ursache dieser Affekte s. Zusatz zu Lehr-satz 27 und Anmerkung zu Lehrsatz 22 dieses Teils.

XXI

Überschätzung ist, von jemand aus Liebe einegrößere Meinung haben, als recht ist.

XXII

Unterschätzung ist, von jemand aus Haß eine ge-ringere Meinung haben, als recht ist.

Erläuterung

Sonach ist Überschätzung eine Wirkung oder Ei-genschaft der Liebe, Unterschätzung eine Wirkungoder Eigenschaft des Hasses. Man kann daher dieÜberschätzung auch definieren als Liebe, sofern sieden Menschen so erregt, daß er von dem geliebtenGegenstand eine größere Meinung hat, als recht ist:

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329Spinoza: Ethik

die Unterschätzung als Haß, sofern sie den Menschenso erregt, daß er von dem gehaßten Gegenstand einegeringere Meinung hat, als recht ist (s. hierüber dieAnmerkung zu Lehrsatz 26 dieses Teils).

XXIII

Mißgunst ist Haß, sofern er den Menschen so er-regt, daß er sich über das Glück eines andern betrübtund sich dagegen über das Unglück eines andernfreut.

Erläuterung

Der Mißgunst wird gewöhnlich das Mitgefühl(Barmherzigkeit) gegenübergestellt, welches daher,gegen die wörtliche Bedeutung, wie folgt definiertwerden kann.

XXIV

Mitgefühl (Barmherzigkeit) ist Liebe, sofern sieden Menschen so erregt, daß er sich über das Glückeines andern freut und sich dagegen über das Unglückeines andern betrübt.

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330Spinoza: Ethik

Erläuterung

Siehe übrigens über Mißgunst die Anmerkung zuLehrsatz 24 und die Anmerkung zu Lehrsatz 32 die-ses Teils.

Dies sind die Affekte der Lust und Unlust, welchedie Idee eines äußern Dinges als eigentliche oder alszufällige (gelegentliche) Ursache begleitet.

Ich gehe nunmehr zu andern Affekten über, welchedie Idee eines innern Dinges als Ursache begleitet.

XXV

Selbstzufriedenheit ist Lust, daraus entsprungen,daß der Mensch sich selbst und sein Tätigkeitsvermö-gen betrachtet.

XXVI

Niedergeschlagenheit ist Unlust, daraus entsprun-gen, daß der Mensch sein Unvermögen oder seineSchwäche betrachtet.

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331Spinoza: Ethik

Erläuterung

Selbstzufriedenheit ist der Gegensatz zu Niederge-schlagenheit, sofern wir darunter Lust verstehen, wel-che daraus entspringt, daß wir unser Tätigkeitsvermö-gen betrachten. Sofern wir darunter aber Lust verste-hen, die von der Idee einer Tat begleitet ist, welchewir aus freier Entschließung des Geistes getan zuhaben glauben, ist sie Gegensatz zur Reue, welchevon mir wie folgt definiert wird.

XXVII

Reue ist Unlust, begleitet von der Idee einer Tat,die wir aus freier Entschließung des Geistes getan zuhaben glauben.

Erläuterung

Die Ursache dieser Affekte habe ich in der Anmer-kung zu Lehrsatz 51 dieses Teils und in den Lehrsät-zen 53, 54 und 55 dieses Teils nebst der Anmerkungdazu dargetan. Über den freien Entschluß des Geistesaber siehe die Anmerkung zu Lehrsatz 35 des zweitenTeils.

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332Spinoza: Ethik

Es muß hier außerdem noch bemerkt werden, daßman sich nicht darüber zu wundern braucht, daß über-haupt auf alle Taten, welche man für unrecht hält, Un-lust, auf solche aber, die man für recht hält, Lustfolgt. Es hängt dies nämlich hauptsächlich von derErziehung ab, was wir dem Obigen leicht entnehmenkönnen. Denn da die Eltern die ersteren tadelten unddie Kinder ihretwegen häufig schalten, wogegen siedie andern empfahlen und lobten, bewirkten sie, daßsich mit den ersteren die Regungen der Unlust, mitden andern die der Lust verbanden. Dies wird auchdurch die Erfahrung bestätigt. Denn Gewohnheit undReligion sind nicht bei allen Menschen gleich, viel-mehr ist dem einen heilig, was dem andern unheiligist, und was bei diesem für ehrbar gilt, gilt jenem fürschändlich. Je nachdem also der Mensch erzogen istbereut er eine Tat oder rühmt er sich derselben.

XXVIII

Hochmut (Stolz) ist, aus Liebe zu sich selbst einegrößere Meinung von sich haben, als recht ist.

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333Spinoza: Ethik

Erläuterung

Hochmut unterscheidet sich also dadurch von derÜberschätzung, daß sich diese auf ein äußeres Objektbezieht, jener aber auf den Menschen selbst, der einegrößere Meinung von sich hat, als recht ist. Wie übri-gens die Überschätzung eine Wirkung oder Eigen-schaft der Liebe ist, so ist der Hochmut eine Wirkungoder Eigenschaft der Selbstliebe. Man kann ihn alsoauch definieren als: Liebe zu sich selbst oder Selbst-zufriedenheit, sofern sie den Menschen so erregt, daßer von sich eine größere Meinung hat, als recht ist (s.Anmerkung zu Lehrsatz 26 dieses Teils).

Zu diesem Affekt gibt es keinen Gegensatz. Dennniemand hat aus Haß gegen sich selbst eine geringereMeinung von sich, als recht ist. Ja, es hat auch dannniemand eine zu geringe Meinung von sich, wenn ersich vorstellt, daß er dies oder jenes nicht vermag.Denn wenn sich der Mensch vorstellt, daß er etwasnicht vermag, so beruht diese Vorstellung auf Not-wendigkeit, und diese Vorstellung disponiert ihn so,daß er tatsächlich nichts zu tun vermag, wovon er sichvorstellt, daß er es nicht vermag. Denn solange er sichvorstellt, daß er das oder jenes nicht vermag, solangeist er nicht bestimmt, es zu tun, und folglich ist es ihmso lange auch nicht möglich, dies zu tun.

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334Spinoza: Ethik

Wenn wir freilich nur das ins Auge fassen, was vonder Meinung allein abhängt, so werden wir allerdingsdie Möglichkeit denken können, daß der Mensch einezu geringe Meinung von sich hat. Ist es doch möglich,daß ein Trauriger, indem er seine Schwäche betrach-tet, sich vorstellt, er werde von jedermann verachtet,während kein Mensch daran denkt, ihn zu verachten. -Außerdem kann der Mensch eine zu geringe Meinungvon sich haben, wenn er sich in der Gegenwart eineFähigkeit abspricht in bezug auf die Zukunft, über dieer keine Gewißheit hat, z.B. wenn er sich die Fähig-keit abspricht, etwas als gewiß begreifen zu können,oder wenn er sich einbildet, nur schändliche und ver-ächtliche Dinge begehren und tun zu können usw. -Ferner können wir sagen, daß jemand zu gering vonsich denkt, wenn wir sehen, daß er aus übertriebenerFurcht vor Schande sich nicht zu tun getraut, was an-dere seinesgleichen zu tun sich getrauen. Diesen Af-fekt können wir dem Hochmut gegenüberstellen, undich werde ihn Kleinmut nennen. Denn wie aus derSelbstzufriedenheit Hochmut entspringt, so entspringtaus der Niedergeschlagenheit Kleinmut, den ich daheralso definiere:

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335Spinoza: Ethik

XXIX

Kleinmut ist, aus Unlust eine geringere Meinungvon sich haben, als recht ist.

Erläuterung

Wir pflegen aber häufig dem Hochmut die Demutgegenüberzustellen; dann aber haben wir mehr dieWirkung dieser beiden Affekte als ihre Natur imAuge. Denn wir pflegen jemand hochmütig zu nen-nen, der sich übermäßig rühmt (s. Anmerkung zuLehrsatz 30 dieses Teils), der von sich nur Vorzüge,von andern nur Fehler erzählt, der vor allen den Vor-rang haben will und der endlich so gravitätisch undprunkvoll auftritt wie Leute von weit höherer Stel-lung. Umgekehrt nennen wir jemand demütig, derhäufig errötet, der seine Fehler bekennt und die Vor-züge anderer erzählt, der gegen andere zurückstehtund der endlich mit gesenktem Haupt einhergeht undallen Prunk verschmäht.

Übrigens kommen diese Affekte, nämlich Demutund Kleinmut, sehr selten vor. Denn die menschlicheNatur, an sich betrachtet, widerstrebt ihnen in hohemGrade (s. die Lehrsätze 13 und 54 dieses Teils).Daher sind die, welche für die Kleinmütigsten und

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336Spinoza: Ethik

Demütigsten gehalten werden, häufig die ehrgeizig-sten und neidischsten.

XXX

Ehre (Ehrfreude) ist Lust, verbunden mit der Ideeeiner eigenen Handlung, die wir uns von andern ge-lobt vorstellen.

XXXI

Scham ist Unlust, verbunden mit der Idee einer ei-genen Handlung, die wir uns von andern getadelt vor-stellen.

Erläuterung

Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 30 die-ses Teils. Hier ist auf den Unterschied zwischenScham und Schamhaftigkeit aufmerksam zu machen.Scham ist nämlich Unlust, welche auf eine Handlungfolgt, der man sich schämt. Schamhaftigkeit aber istFurcht oder Besorgnis vor Scham, durch welche derMensch abgehalten wird, etwas Schimpfliches zu be-gehen. - Der Schamhaftigkeit pflegt man die

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337Spinoza: Ethik

Schamlosigkeit (Unverschämtheit) gegenüberzustel-len, welche eigentlich kein Affekt ist, wie ich an ge-eigneter Stelle zeigen werde. - Indessen beziehen sichdie Namen der Affekte (wie ich schon erinnert) mehrauf den Gebrauch als auf die Natur derselben.

Damit habe ich die Affekte der Lust und Unlust,deren Erklärung ich mir vorgesetzt, erledigt.

Ich gehe nun zu denen über, die ich auf die Begier-de beziehe.

XXXII

Sehnsucht ist Begierde oder Verlangen nach demBesitze eines Dinges, welches durch die Erinnerungan das betreffende Ding genährt wird, aber durch dieErinnerung an andere Dinge, welche die Existenz desverlangten Dinges ausschließen, eingeschränkt wird.

Erläuterung

Wenn wir uns an ein Ding erinnern, werden wir,wie schon oft bemerkt wurde, hierdurch disponiert, esmit gleichem Affekt zu betrachten, wie wenn dasDing gegenwärtig wäre. Aber diese Disposition oderdieses Streben wird im wachen Zustand vielfach zu-rückgedrängt von den Vorstellungen der Dinge,

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338Spinoza: Ethik

welche die Existenz des Dinges, dessen wir uns erin-nern, ausschließen. Wenn wir uns also eines Dingeserinnern, das uns mit irgendeiner Art von Lust erregt,streben wir eben dadurch, es mit demselben Affektder Lust zu betrachten, als wäre es gegenwärtig; wel-ches Streben aber sofort durch die Erinnerung anDinge, welche die Existenz jenes Dinges ausschlie-ßen, zurückgedrängt wird. Darum ist Sehnsucht ei-gentlich Unlust, welche jener Lust gegenübersteht, dieaus der Abwesenheit eines Dinges, das wir hassen,entspringt (s. hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 47dieses Teils). Weil aber der Name Sehnsucht sich aufdie Begierde zu beziehen scheint, darum rechne ichdiesen Affekt zu den Affekten der Begierde.

XXXIII

Wetteifer ist Begierde nach einem Ding, welche inuns dadurch erzeugt wird, daß wir uns vorstellen, an-dere hätten diese Begierde.

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339Spinoza: Ethik

Erläuterung

Wenn jemand flieht, weil er andere fliehen sieht,oder wenn jemand fürchtet, weil er andere fürchtensieht, oder auch wenn jemand, der sieht, wie ein ande-rer die Hand verbrannt hat, seine Hand deshalb zu-rückzieht und Körperbewegungen macht, als ob erseine eigene Hand verbrannt hätte, so sagen wir, daßer den Affekt eines andern nachahmt, aber nicht, daßer mit ihm wetteifert. Nicht etwa, weil uns eine beson-dere Ursache für die Nachahmung und eine besonderefür den Wetteifer bekannt wäre, sondern weil sich derGebrauch eingebürgert hat, daß wir mit Wetteifer nurdie Nachahmung von solchen Handlungen bezeich-nen, die wir für anständig, nützlich oder angenehmhalten.

Siehe übrigens über die Ursache des WetteifersLehrsatz 27 dieses Teils mit seiner Anmerkung. Überden Umstand aber, daß mit diesem Affekt häufig derNeid verbunden ist, s. Lehrsatz 32 dieses Teils mitseiner Anmerkung.

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340Spinoza: Ethik

XXXIV

Dank oder Dankbarkeit ist die Begierde oder dasBestreben der Liebe, dem wohlzutun, der uns ausgleichem Affekt der Liebe wohlgetan hat (s. Lehrsatz39 mit der Anmerkung zu Lehrsatz 41 dieses Teils).

XXXV

Wohlwollen ist die Begierde, dem wohlzutun, denwir bemitleiden (s. die Anmerkungen zu Lehrsatz 27dieses Teils).

XXXVI

Zorn ist die Begierde, durch welche wir aus Haßgegen jemand angetrieben werden, dem Böses zuzufü-gen, den wir hassen (s. Lehrsatz 39 dieses Teils).

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341Spinoza: Ethik

XXXVII

Rachsucht ist die Begierde, durch welche wir ausGegenhaß angetrieben werden, dem Böses zuzufügen,der uns aus Haß Böses zugefügt hat (s. Zusatz II zuLehrsatz 40 dieses Teils mit seiner Anmerkung).

XXXVIII

Grausamkeit oder Wut ist die Begierde, durch wel-che jemand angetrieben wird, dem Böses zuzufügen,den wir lieben oder den wir bemitleiden.

Erläuterung

Der Grausamkeit wird die Milde gegenübergestellt,welche aber kein Leiden ist, sondern die Macht desGemüts, mit welcher der Mensch den Zorn oder dieRachsucht bändigt.

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342Spinoza: Ethik

XXXIX

Scheu ist die Begierde, ein größeres Übel, das wirbefürchten, durch ein geringeres zu vermeiden (s. An-merkung zu Lehrsatz 39 dieses Teils).

XL

Kühnheit ist die Begierde, durch welche jemandangetrieben wird, etwas zu tun, trotz einer damit ver-bundenen Gefahr, die andere seinesgleichen von die-ser Tat abhält.

XLI

Ängstlichkeit wird dem beigelegt, dessen Begierdeeingeschränkt wird durch die Furcht vor einer Gefahr,welcher sich andere seinesgleichen beherzt unterzie-hen.

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343Spinoza: Ethik

Erläuterung

Ängstlichkeit ist also nichts anderes als Furcht voreinem Übel, das die meisten nicht zu fürchten pflegen.Ich rechne sie daher nicht zu den Affekten der Begier-de. Dennoch wollte ich sie hier nicht unerklärt lassen,weil sie, sofern wir die Begierde ins Auge fassen, demAffekt der Kühnheit in der Tat entgegengesetzt ist.

XLII

Bestürzung wird dem beigelegt, dessen Begierde,ein Übel zu vermeiden, eingeschränkt wird durch dieVerwunderung über ein Übel, das er fürchtet.

Erläuterung

Die Bestürzung ist daher eine Art der Ängstlich-keit. Weil aber die Bestürzung aus einer doppeltenFurcht entspringt, so kann man sie treffender definie-ren als: Furcht, die den verblüfften und schwankendenMenschen so erfaßt, daß er das Übel nicht abwendenkann. Ich sage den »verblüfften«, sofern wir in derVerwunderung den Grund erblicken, daß seine Be-gierde, das Übel abzuwenden eingeschränkt wird. Ich

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344Spinoza: Ethik

sage aber den »schwankenden« sofern wir erkennen,daß diese Begierde durch die Furcht vor einem andernÜbel eingeschränkt wird, das ihn ebenso schreckt, sodaß er nicht weiß, welches von beiden er abwendensoll.

Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 39 unddie Anmerkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils. ÜberÄngstlichkeit und Kühnheit s. die Anmerkung zuLehrsatz 51 dieses Teils.

XLIII

Menschenfreundlichkeit oder Leutseligkeit ist dieBegierde zu tun, was den Menschen gefällt, und zuunterlassen, was ihnen mißfällt.

XLIV

Ehrgeiz ist unmäßige Begierde nach Ehre.

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345Spinoza: Ethik

Erläuterung

Ehrgeiz ist eine Begierde, durch welche alle Affek-te (nach den Lehrsätzen 27 und 31 dieses Teils) ge-nährt oder verstärkt werden. Daher ist dieser Affektbeinahe unüberwindlich. Denn solange der Menschvon irgendeiner andern Begierde erfaßt ist, ist er not-wendig zugleich von dieser erfaßt. »Die besten Men-schen«, sagt Cicero4, »werden sehr stark von Ruhm-begierde geleitet. Sogar die Philosophen setzen ihreNamen auf die Bücher, die sie über Verachtung desRuhms schreiben usw.«

XLV

Schwelgerei ist die unmäßige Begierde oder auchLiebe zum Schmausen.

XLVI

Trunksucht ist unmäßige Begierde und Liebe zumZechen.

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346Spinoza: Ethik

XLVII

Habsucht (Geiz) ist unmäßige Begierde und Liebezu Reichtümern.

XLVIII

Lüsternheit ist Begierde und Liebe zur fleischli-chen Vermischung.

Erläuterung

Man pflegt diese Begierde zur Begattung, mag sieeine mäßige oder unmäßige sein, Lüsternheit zu nen-nen.

Diese fünf Affekte haben (wie ich in der Anmer-kung zu Lehrsatz 56 erinnert habe) keinen Gegensatz.Denn die Leutseligkeit ist eine Art des Ehrgeizes; s.darüber die Anmerkung zu Lehrsatz 29 dieses Teils.Die Mäßigkeit, die Nüchternheit und die Keuschheitbezeichnen eine Macht des Geistes, nicht aber einLeiden, wie ich ebenfalls bereits erwähnt habe. Undobgleich es vorkommt, daß ein habsüchtiger, ehrgei-ziger oder furchtsamer Mensch sich des Übermaßesim Essen, Trinken und Beischlaf enthält, so sind dochHabsucht Ehrgeiz und Furcht keine Gegensätze zu

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347Spinoza: Ethik

Schwelgerei Trunksucht und Lüsternheit. Denn derHabsüchtige (Geizige) möchte in der Regel gern anfremder Tafel schwelgen. Der Ehrgeizige aber wird,wenn er hoffen kann, daß es verborgen bleibt, sich inkeiner Sache mäßigen; ja, wenn er unter Zechern undLüstlingen lebt, wird er, eben weil er ehrgeizig ist,sich diesen Lastern nur um so mehr hingeben. DerFurchtsame endlich tut das, was er nicht tun möchte.Denn wenn auch der Geizige, um dem Tod zu entge-hen, seine Reichtümer ins Meer wirft, bleibt er dochein Geiziger. Und wenn der Lüstling betrübt ist, weiler seinem Hang nicht frönen kann, so hört er damitnicht auf, lüstern zu sein. Überhaupt beziehen sichdiese Affekte nicht sowohl auf die eigentlichen Hand-lungen des Schmausens, Zechens usw. als auf dasVerlangen und die Liebe. Es kann somit diesen Affek-ten nichts gegenübergestellt werden als der Edelsinnund die Selbstbeherrschung; darüber im folgenden.

Über die Definitionen der Eifersucht und der übri-gen Gemütsschwankungen gehe ich hinweg, sowohldeswegen, weil sie durch eine Verbindung der bereitsdefinierten Affekte entstehen, als auch darum, weil diemeisten keine Namen haben; was zeigt, daß für daspraktische Leben schon eine allgemeine Kenntnisderselben genügt.

Aus den Definitionen der Affekte, die wir erläutert

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haben, geht übrigens mit Klarheit hervor, daß sie alleaus der Begierde, der Lust oder der Unlust entsprin-gen, oder vielmehr, daß alle nichts anderes sind alseben diese drei Affekte, von denen jeder mit verschie-denen Namen belegt wird, je nach den verschiedenenäußerlichen Beziehungen und Benennungen.

Wenn wir nun diese drei Hauptaffekte wie auchdas, was oben über die Natur des Geistes ausgeführtwurde, ins Auge fassen, so werden wir die Affekte,sofern sie sich nur auf den Geist beziehen, folgender-maßen definieren können.

Allgemeine Definition der Affekte

Ein Affekt, auch Leidenschaft genannt, ist eine ver-worrene Idee, durch welche der Geist von seinemKörper oder einem Teil desselben eine größere odergeringere Existenzkraft bejaht als vorher und durchderen Vorhandensein der Geist selbst bestimmt wird,mehr an dies als an jenes zu denken.

Erläuterung

Ich sage zuerst, ein Affekt, auch Leidenschaft ge-nannt, sei eine verworrene Idee. Denn ich habe ge-zeigt (s. Lehrsatz 3 dieses Teils), daß der Geist nurinsofern leidet, sofern er inadäquate oder verworrene

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Ideen hat. - Ich sage ferner, durch welche der Geistvon seinem Körper oder einem Teil desselben einegrößere oder geringere Existenzkraft bejaht als vor-her. Denn alle Ideen, welche wir von Körpern haben,zeigen (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16, Teil 2) mehrden wirklichen Zustand unseres Körpers als die Naturdes äußern Körpers an. Diejenige Idee aber, welchedie Form des Affekts ausmacht, muß denjenigen Zu-stand des Körpers oder eines Teils desselben anzeigenoder ausdrücken, welchen der Körper oder ein Teildesselben dadurch hat, daß sein Tätigkeitsvermögenoder seine Existenzkraft vermehrt oder vermindert,gefördert oder gehemmt wird.

Es ist aber zu beachten, daß, wenn ich sage: »einegrößere oder geringere Existenzkraft als vorher«, ichnicht meine, daß der Geist den gegenwärtigen Zustanddes Körpers mit dem vergangenen vergleicht, sonderndaß die Idee, welche die Form des Affekts ausmacht,vom Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oderweniger Realität in sich schließt als vorher. Und weildas Wesen des Geistes darin besteht (nach den Lehr-sätzen 11 und 13, Teil 2), daß er die wirkliche Exi-stenz seines Körpers bejaht und wir unter Vollkom-menheit das eigentliche Wesen eines Dinges verste-hen, so folgt, daß der Geist zu größerer oder geringe-rer Vollkommenheit übergeht, sobald es geschieht,daß er von seinem Körper oder von einem Teil

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desselben etwas bejaht, was mehr oder weniger Reali-tät in sich schließt als vorher. Wenn ich also obensagte, daß das Denkvermögen des Geistes vermehrtoder vermindert werde, so wollte ich nichts anderessagen, als daß der Geist von seinem Körper oder voneinem Teil desselben eine Idee gebildet habe, welchemehr oder weniger Realität ausdrückt, als er von sei-nem Körper vorher bejaht hatte. Denn die Vorzüg-lichkeit der Ideen und das wirkliche Denkvermögenwird nach der Vorzüglichkeit des Objekts geschätzt.

Ich habe endlich noch hinzugefügt: und durchderen Vorhandensein der Geist selbst bestimmtwird, mehr an dies als an jenes zu denken, um damitaußer der Natur der Lust und der Unlust, welche dererste Teil der Definitionen erläutert, auch die Naturder Begierde auszudrücken.

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351Spinoza: Ethik

Vierter Teil

Über die menschliche Unfreiheit,oder die Macht der Affekte

Vorwort

Die menschliche Ohnmacht im Mäßigen und Ein-schränken der Affekte nenne ich Unfreiheit. Denn derden Affekten unterworfene Mensch steht nicht unterseinen eigenen Gesetzen, sondern unter denen desSchicksals, dessen Macht er dermaßen unterworfenist, daß er oft gezwungen ist, dem Schlimmeren zufolgen, obgleich er das Bessere sieht. Die Ursachehiervon, und was außerdem die Affekte Gutes undSchlimmes haben, will ich in diesem Teil auseinan-dersetzen. Bevor ich aber beginne, möchte ich einigesüber Vollkommenheit und Unvollkommenheit undüber das Gute und Schlechte vorausschicken.

Wenn jemand sich vorsetzt, irgendeinen Gegen-stand zu machen, und er hat ihn vollendet, so wirdnicht nur er selbst, sondern jeder, der den Geist desVerfertigers dieses Werkes und seinen Zweck genaukennt oder zu kennen glaubt, sagen, der Gegenstandsei vollkommen. Angenommen z.B., jemand habe ir-gendein Werk gesehen (und zwar ein unfertiges), und

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er weiß, daß der Zweck des Verfertigers ist, ein Hauszu bauen, so wird er das Haus für unvollkommen er-klären; für vollkommen dagegen, sobald er das Werkso weit gediehen sieht, als es der Verfertiger beab-sichtigte. Sieht aber jemand irgendein Werk, dessen-gleichen er niemals gesehen hat, und kennt er denGeist des Verfertigers nicht, so wird er natürlich nichtwissen können, ob dieses Werk vollkommen oder un-vollkommen ist. Dies scheint die ursprüngliche Be-deutung dieser Wörter gewesen zu sein.

Als nun aber die Menschen anfingen, allgemeineIdeen zu bilden und Musterbilder von Häusern, Bau-ten, Türmen usw. zu errinnen und dann die einen Mu-sterbilder den andern vorzuziehen, kam es, daß jederdas vollkommen nannte, was er mit der allgemeinenIdee, die er von dem betreffenden Gegenstand gebildethatte, übereinstimmen sah, unvollkommen hingegen,was er mit dem Urbild, das er sich gebildet, nichtganz übereinstimmen sah, wenn es auch der Absichtdes Verfertigers nach ganz und gar vollendet war.

Aus keinem andern Grunde scheint man auch ge-meiniglich die Naturgegenstände, die nämlich nichtvon Menschenhand gemacht sind, vollkommen oderunvollkommen genannt zu haben. Denn sowohl vonden natürlichen Dingen wie von den künstlichen pfle-gen die Menschen allgemeine Ideen zu bilden, dieihnen als Musterbilder der Dinge gelten und welche,

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wie sie glauben, die Natur (die nach ihrer Meinungnichts ohne einen Zweck tut) vor Augen hat und sichals Musterbilder aufstellt. Wenn sie daher in derNatur etwas entstehen sehen, was mit dem angenom-menen Musterbild des betreffenden Dinges nicht ganzübereinstimmt, so glauben sie, die Natur selbst habeda einen Fehler gemacht oder ein Versehen begangenund das betreffende Ding. sei unvollkommen.

Wir sehen daher, daß die Menschen gewöhnt sind,die natürlichen Dinge mehr im vorurteilsvollen Sinneals im Sinne wahrer Erkenntnis vollkommen oder un-vollkommen zu nennen. Denn im Anhang zum erstenTeil habe ich gezeigt, daß die Natur nicht um einesZweckes willen handelt. Jenes ewige und unendlicheWesen, das wir Gott oder Natur nennen, handelt viel-mehr mit derselben Notwendigkeit, mit welcher esexistiert. Denn ich habe gezeigt (Lehrsatz 16, Teil 1),daß dieses Wesen durch dieselbe Notwendigkeit sei-ner Natur handelt, durch welche es existiert. DerGrund also oder die Ursache, weshalb Gott oder dieNatur handelt und weshalb Gott oder die Natur exi-stiert, ist eine und dieselbe. Wie sie also um keinesZweckes willen existiert, so handelt sie auch um kei-nes Zweckes willen; vielmehr, wie es für ihre Exi-stenz keinen Anfangsgrund oder Endzweck gibt, soauch für ihr Handeln.

Was man aber Endursache (Zweck) nennt, ist

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nichts anderes als das menschliche Verlangen selbst,sofern es als der Anfangsgrund oder die erste Ursacheeines Dinges betrachtet wird. Wenn wir z.B. sagen,das Bewohnen sei die Endursache dieses oder jenesHauses gewesen, so verstehen wir doch gewiß nichtsanderes darunter, als daß der Mensch darum, weil ersich die Annehmlichkeiten eines häuslichen Lebensvorstellte, das Verlangen hatte, ein Haus zu bauen.Daher ist das Bewohnen, sofern es als Endursache be-trachtet wird, nichts als dieses einzelne Verlangen,welches tatsächlich die wirkende Ursache ist; die des-wegen als erste Ursache betrachtet wird, weil dieMenschen die Ursachen ihres Verlangens in der Regelnicht kennen. Denn die Menschen sind, wie ich schonoft gesagt habe, wohl ihres Tuns und ihres Verlan-gens bewußt, aber der Ursachen, von denen sie be-stimmt werden, etwas zu verlangen, unkundig. -Überdies zähle ich die Redensarten, daß die Naturmanchmal Fehler mache oder Versehen begehe undunvollkommene Dinge hervorbringe, zu den Fiktio-nen, von denen ich im Anhang zum ersten Teil ge-sprochen habe.Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind alsotatsächlich nur Formen des Denkens, nämlich Begrif-fe, die wir dadurch zu bilden pflegen, daß wir Indivi-duen derselben Art oder Gattung miteinander verglei-chen. Aus diesem Grunde habe ich oben (Definition 6

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Teil 2) gesagt, daß ich unter Realität und Vollkom-menheit eins und dasselbe verstehe. Denn wir pflegenalle Individuen der Natur unter Eine Gattung zu brin-gen, die man die allgemeinste nennt, nämlich den Be-griff Sein, welcher allen Individuen der Natur über-haupt zukommt. Sofern wir daher die Individuen derNatur unter diese Gattung bringen und miteinandervergleichen und wahrnehmen, daß die einen mehrSein oder Realität haben als die andern, insofernsagen wir, daß die einen vollkommener sind als dieandern. Und sofern wir ihnen etwas beilegen, waseine Verneinung in sich schließt, wie Grenze, Ende,Ohnmacht u. dgl., insofern nennen wir sie unvollkom-men; weil sie unsern Geist nicht ebenso erregen wiejene, die wir vollkommen nennen, nicht aber darum,weil ihnen etwas fehlt, was zu ihnen gehört oder weildie Natur ein Versehen begangen hätte. Denn nichtskommt der Natur eines Dinges zu als das, was aus derNotwendigkeit der Natur der wirkenden Ursachefolgt; und alles, was aus der Notwendigkeit der Naturder wirkenden Ursache folgt, das geschieht notwen-dig.

Was das Gute und Schlechte anbelangt, so be-zeichnen auch diese Namen nichts Positives in denDingen, wenn man nämlich die Dinge an und für sichbetrachtet, sondern sie sind nur Formen des Denkensoder Begriffe, die wir dadurch bilden, daß wir die

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Dinge miteinander vergleichen. Denn ein und dassel-be Ding kann zu gleicher Zeit gut und schlecht undauch indifferent sein. Zum Beispiel die Musik ist fürden Schwermütigen gut, für den Trauernden schlecht,für den Tauben weder gut noch schlecht.

Obgleich sich nun aber die Sache so verhält, müs-sen wir doch diese Wörter beibehalten. Denn weil icheine Idee des Menschen bilden will, die wir als Mu-ster der menschlichen Natur vor Augen haben, wird esuns von Nutzen sein, diese Wörter im erwähntenSinne beizubehalten.

Unter gut werde ich daher im folgenden das verste-hen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist,uns dem Muster der menschlichen Natur, das wir unsaufstellen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlechtdagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es unshindert, diesem Muster ähnlich zu sein.

Ferner werde ich die Menschen vollkommener oderunvollkommener nennen, sofern sie sich diesem Ex-emplar mehr oder weniger nähern. Denn es muß be-sonders darauf aufmerksam gemacht werden, daß,wenn ich sage, jemand geht von geringerer zu größe-rer Vollkommenheit über und umgekehrt, ich nichtmeine, daß er in ein anderes Wesen oder in eine ande-re Form verwandelt wird - denn ein Pferd z.B. hörtauf, ein Pferd zu sein, ob es in einen Menschen oderin ein Insekt verwandelt würde -, sondern daß wir

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sein Tätigkeitsvermögen, sofern es aus seiner eigenenNatur erkannt wird, als vermehrt oder vermindert be-greifen.

Endlich werde ich unter Vollkommenheit im allge-meinen, wie schon gesagt, die Realität begreifen, d.h.das Wesen eines jeden Dinges, sofern es auf gewisseWeise existiert und wirkt, ohne dabei auf seine DauerRücksicht zu nehmen. Denn kein Einzelding kanndeswegen vollkommener genannt werden, weil es län-gere Zeit im Dasein verharrt hat. Denn die Dauer derDinge kann aus ihrem Wesen nicht bestimmt werden,weil ja das Wesen der Dinge keine sichere und be-stimmte Zeit der Existenz in sich schließt. Jedes Dingvielmehr, mag es mehr oder weniger vollkommensein, wird mit derselben Kraft, mit der es zu existierenangefangen hat, immer in der Existenz verharren kön-nen, so daß in dieser Hinsicht alle Dinge einandergleich sind.

Definitionen

1. Unter gut verstehe ich das, von dem wir gewißwissen, daß es uns nützlich ist.

2. Unter schlecht aber verstehe ich das, von demwir gewiß wissen, daß es uns hindert, ein Gutes zu er-langen (s. hierüber das vorstehende Vorwort am

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Schluß).

3. Ich nenne die Einzeldinge zufällige, sofern wir,wenn wir bloß ihr Wesen ins Auge fassen, nichts fin-den was ihre Existenz notwendig setzt oder was sienotwendig ausschließt.

4. Ich nenne die Einzeldinge mögliche, wenn wir,sofern wir die Ursachen, durch welche sie hervorge-bracht werden müssen, ins Auge fassen, nicht wissen,ob diese bestimmt sind, sie hervorzubringen.(In der 1. Anmerkung zu Lehrsatz 33, Teil 1, habe ichzwischen möglich und zufällig keinen Unterschied ge-macht, weil es dort nicht nötig war, dies scharf zu un-terscheiden.)

5. Unter entgegengesetzten Affekten werde ich imfolgenden diejenigen verstehen, welche den Menschennach verschiedenen Richtungen treiben, obgleich siederselben Gattung angehören; wie Verschwendungund Geiz, welche Arten der Liebe sind, und nicht vonNatur, sondern durch einen Nebenumstand Gegen-sätze sind.

6. Was ich unter Affekt für ein zukünftiges, gegen-wärtiges und vergangenes Ding verstehe, habe ich inden beiden Anmerkungen zu Lehrsatz 18 im dritten

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Teil auseinandergesetzt; siehe diese.(Es muß hier aber besonders darauf aufmerksam ge-macht werden, daß wir uns die zeitliche Entfernungebenso wie die räumliche nur bis zu einer gewissenGrenze deutlich vorstellen können; d.h., so wie alleObjekte, welche mehr als zweihundert Fuß von unsentfernt sind oder deren Abstand von unserem Stand-ort die Entfernung überschreitet, die wir uns deutlichvorstellen, in gleich weiter Entfernung und auf dergleichen Fläche sich zu befinden scheinen, ebensoscheinen auch die Objekte, deren Existenz in einenZeitpunkt fällt, der von der Gegenwart durch einenlängeren Zeitraum getrennt ist, als wir deutlich vorzu-stellen pflegen, sämtlich gleich fern von der Gegen-wart abzuliegen, und sie kommen uns wie gleichzeiti-ge Dinge vor.)

7. Unter Zweck, um dessentwillen wir etwas tun,verstehe ich das Verlangen darnach.

8. Unter Tugend und Vermögen (Fähigkeit, Macht,Kraft) verstehe ich eins und dasselbe. Das heißt (nachLehrsatz 7, Teil 3), die Tugend, sofern sie auf denMenschen bezogen wird, ist das eigentliche Wesenoder die eigentliche Natur des Menschen, sofern er dieMacht hat, etwas zu bewirken, was durch die bloßenGesetze seiner eigenen Natur begriffen werden kann.

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Axiom

Es gibt in der Natur kein Einzelding, das nicht voneinem andern mächtigeren und stärkeren übertroffenwürde. Es gibt vielmehr immer ein anderes mächtige-res als das gegebene, von dem dieses zerstört werdenkann.

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Erster Lehrsatz

Nichts von dem, was eine falsche Idee Positives ent-hält, wird durch die Gegenwart des Wahren, sofernes wahr ist, aufgehoben.

Beweis

Die Falschheit besteht in dem bloßen Mangel derErkenntnis, welche die inadäquaten Ideen in sichschließen (nach Lehrsatz 35, Teil 2); sie haben aberselbst nichts Positives, wegen dessen sie falsch heißen(nach Lehrsatz 33, Teil 2), sondern sind im Gegenteil,sofern sie auf Gott bezogen sind, wahr (nach Lehrsatz32, Teil 2). Wenn also das, was die falsche Idee Posi-tives hat, durch die Gegenwart des Wahren, sofern eswahr ist, aufgehoben würde, so würde demnach diewahre Idee durch sich selbst aufgehoben werden, was(nach Lehrsatz 4, Teil 3) widersinnig wäre. Folglichwird nichts von dem, was eine falsche Idee usw. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Dieser Lehrsatz erhellt noch deutlicher aus ZusatzII zu Lehrsatz 16 im zweiten Teil. Denn die Vorstel-lung ist eine Idee, welche mehr den gegenwärtigenZustand des menschlichen Körpers als die Natur desäußern Körpers anzeigt; zwar nicht deutlich, sondernverworren. Daher kommt es, daß man sagt, der Geistirrt. Wenn wir z.B. die Sonne betrachten, stellen wiruns vor, sie sei ungefähr zweihundert Fuß von unsentfernt, und hierin täuschen wir uns so lange, als wirihren wahren Abstand nicht kennen. Durch die Er-kenntnis ihres Abstands wird nun zwar der Irrtum ge-hoben, nicht aber die Vorstellung, d.h. die Idee derSonne, welche deren Natur nur insofern ausdrückt, so-fern der Körper von ihr erregt wird. Daher werdenwir, auch wenn wir ihren wahren Abstand kennen,dennoch die Vorstellung haben, daß sie uns nahe sei.Denn wie ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 35 deszweiten Teils gesagt habe, nicht deswegen stellen wiruns die Sonne so nahe vor, weil wir ihren wahren Ab-stand nicht kennen, sondern weil der Geist insoferndie Größe der Sonne begreift, sofern der Körper vorihr erregt wird. - So auch, wenn die auf die Oberflä-che des Wassers fallenden Sonnenstrahlen nach un-sern Augen zurückgeworfen werden, haben wir die

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Vorstellung, als wären sie im Wasser, obgleich wirihren wahren Ort kennen. - Und so sind auch die übri-gen Vorstellungen, durch welche der Geist getäuschtwird, mögen sie den natürlichen Zustand des Körpersoder die Vermehrung oder Verminderung seines Tä-tigkeitsvermögens anzeigen, dem Wahren nicht entge-gengesetzt, noch verschwinden sie durch dessen Ge-genwart. - Zwar geschieht es, daß, wenn wir fälsch-lich ein Übel fürchten, die Furcht verschwindet, so-bald wir die wahre Sachlage erfahren haben. Umge-kehrt aber geschieht es ebenfalls, daß, wenn wir einÜbel fürchten, welches sicher kommen wird, dieFurcht gleichfalls verschwindet, wenn uns die Sachla-ge falsch dargestellt wird. - Die Vorstellungen ver-schwinden also nicht durch die Gegenwart des Wah-ren, sofern es wahr ist, sondern weil ihnen anderestärkere entgegentreten, welche die gegenwärtige Exi-stenz der vorgestellten Dinge ausschließen, wie ich imzweiten Teil, Lehrsatz 17, gezeigt habe.

Zweiter Lehrsatz

Wir leiden insofern, sofern wir ein Teil der Natursind, welcher für sich allein, ohne andere, nicht be-griffen werden kann.

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Beweis

Wir heißen leidend, wenn etwas in uns entsteht,wovon wir nur die partielle Ursache sind (nach Defi-nition 2, Teil 3), d.h. (nach Definition 1, Teil 3)etwas, das aus den bloßen Gesetzen unserer Naturnicht abgeleitet werden kann. Also leiden wir, sofernwir ein Teil der Natur sind, der für sich allein, ohneandere, nicht begriffen werden kann. - W.z.b.w.

Dritter Lehrsatz

Die Macht (Kraft), mit welcher der Mensch im Exi-stieren verharrt, ist eine beschränkte und wird vondem Vermögen der äußern Ursachen unendlichübertroffen.

Beweis

Der Satz erhellt aus dem Axiom dieses Teils.Denn, ist der Mensch gegeben, so gibt es etwas ande-res, etwa A, das mächtiger ist, und ist A gegeben, sogibt es wieder etwas anderes, etwa B, das mächtigerist als A, und so ins unendliche. Also wird das Ver-mögen des Menschen durch das Vermögen eines

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andern Dinges beschränkt und von dem Vermögender äußern Ursachen unendlich überragt. - W.z.b.w.

Vierter Lehrsatz

Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil derNatur sei und daß er keine andere Veränderungenerleiden könne als solche, die aus seiner Natur al-lein begriffen werden können und deren adäquateUrsache er ist.

Beweis

Das Vermögen, womit die Einzeldinge und folglichauch der Mensch sein Sein erhält, ist das VermögenGottes oder der Natur selbst (nach Zusatz zu Lehrsatz24, Teil 1), nicht sofern er unendlich ist, sondern so-fern er durch das wirkliche menschliche Wesen ausge-drückt werden kann (nach Lehrsatz 7, Teil 3). Also istdas Vermögen des Menschen, sofern es durch dessenwirkliches Wesen ausgedrückt wird, ein Teil des un-endlichen Vermögens, d.h. (nach Lehrsatz 34, Teil 1)Wesens Gottes oder der Natur. Damit ist das erste be-wiesen. - Ferner, wenn es möglich wäre, daß derMensch keine andere Veränderungen erleiden könneals solche, die aus seiner Natur allein begriffen werten

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können, so würde daraus folgen (nach Lehrsatz 4 und6, Teil 3), daß er nicht vergehen könne, sondern daßer notwendig immer existiere. Und zwar müßte diesentweder aus einer Ursache folgen, deren Vermögenendlich ist, oder aus einer Ursache, deren Vermögenunendlich ist. Nämlich, entweder aus dem bloßenVermögen des Menschen, der bei dieser Annahme dieFähigkeit haben müßte, alle Veränderungen, die vonäußeren Ursachen herrühren könnten, von sich fernzu-halten oder aus dem unendlichen Vermögen derNatur, von welcher alles einzelne so geleitet würde,daß der Mensch keine anderen Veränderungen erlei-den könnte als solche, welche zu seiner Erhaltung die-nen. Das erste aber ist (nach dem vorigen Lehrsatz,dessen Beweis ein allgemeiner und auf alle Einzeldin-ge anwendbar ist) widersinnig. Wenn es also möglichwäre, daß der Mensch keine andere Veränderungenerlitte als solche, die durch die Natur des Menschenallein begriffen werden können, und daß er folglich(wie bereits gezeigt) immer existierte, so müßte diesaus dem unendlichen Vermögen Gottes folgen. Folg-lich müßte (nach Lehrsatz 16, Teil 1) aus der Not-wendigkeit der göttlichen Natur, sofern sie als durchdie Idee eines Menschen erregt betrachtet wird, dieOrdnung der ganzen Natur, sofern sie unter den Attri-buten des Denkens und der Ausdehnung begriffenwird, abgeleitet werden. Daraus würde dann folgen

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(nach Lehrsatz 21, Teil 1), daß der Mensch unendlichwäre, was (nach dem ersten Teil dieses Beweises) wi-dersinnig ist. Es ist also nicht möglich, daß derMensch keine andere Veränderungen erleidet als sol-che, deren adäquate Ursache er selbst ist. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Mensch notwendig immerden Leiden unterworfen ist und daß er der gemeinsa-men Ordnung der Natur folgt und ihr gehorcht undihr, soweit es die Natur der Dinge erfordert, sich an-paßt.

Fünfter Lehrsatz

Die Macht und das Wachstum eines jeglichen Lei-dens und sein Verharren in der Existenz erklärt sichnicht durch das Vermögen, womit wir in der Exi-stenz zu verharren streben, sondern aus dem Vermö-gen der äußern Ursache, verglichen mit dem unseri-gen.

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Beweis

Das Wesen des Leidens kann nicht durch unserWesen allein ausgedrückt werden (nach den Definitio-nen 1 und 2, Teil 3), d.h. (nach Lehrsatz 7, Teil 3),das Vermögen des Leidens kann nicht erklärt werdendurch das Vermögen, womit wir in unserem Sein zuverharren streben, sondern muß (wie in Lehrsatz 16,Teil 2, gezeigt ist) notwendig durch das Vermögender äußern Ursache, verglichen mit dem unsrigen, er-klärt werden. - W.z.b.w.

Sechster Lehrsatz

Die Macht irgendeines Leidens oder Affekts kanndie übrigen Handlungen des Menschen oder seinVermögen übertreffen, derart, daß der Affekt demMenschen hartnäckig anhaftet.

Beweis

Die Macht und das Wachstum eines jeglichen Lei-dens und sein Beharren in der Existenz erklärt sichaus dem Vermögen der äußern Ursache, verglichenmit dem unsrigen (nach dem vorigen Lehrsatz). Sie

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kann daher (nach Lehrsatz 3 dieses Teils) das Vermö-gen des Menschen übertreffen usw. - W.z.b.w.

Siebenter Lehrsatz

Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder aufgeho-ben werden als durch einen andern, entgegengesetz-ten und stärkeren Affekt.

Beweis

Ein Affekt ist, sofern er auf den Geist bezogenwird, eine Idee, durch welche der Geist eine größereoder geringere Existenzkraft als vorher von seinemKörper bejaht (nach der allgemeinen Definition derAffekte, die man am Schluß des dritten Teils findet).Wenn also der Geist von irgendeinem Affekt bestürmtwird, wird zugleich der Körper von einer Erregung er-griffen, durch welche sein Tätigkeitsvermögen ver-mehrt oder vermindert wird. Nun erhält diese Körper-erregung (nach Lehrsatz 5 dieses Teils) die Macht, inihrem Sein zu beharren, von ihrer Ursache. Sie kanndaher nicht anders gehemmt oder aufgehoben werdenals durch eine körperliche Ursache (nach Lehrsatz 6,Teil 2), durch welche der Körper von einer entgegen-gesetzten (nach Lehrsatz 5, Teil 3) und stärkeren

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(nach dem Axiom dieses Teils) Erregung ergriffenwird. Es wird also der Geist (nach Lehrsatz 12, Teil2) von der Idee einer stärkeren und der ersten entge-gengesetzten Erregung erregt; d.h. (nach der allgemei-nen Definition der Affekte), der Geist wird von einemstärkeren und dem ersten entgegengesetzten Affekt er-regt, der also die Existenz des ersten ausschließt oderaufhebt. Mithin kann ein Affekt nicht anders gehemmtoder aufgehoben werden als durch einen entgegenge-setzten und stärkeren Affekt. - W.z.b.w.

Zusatz

Ein Affekt kann, sofern er auf den Geist bezogenwird, nicht anders gehemmt oder aufgehoben werdenals durch die Idee einer entgegengesetzten Körpererre-gung, die stärker ist als die Erregung, die wir erleiden.Denn ein Affekt, den wir erleiden, kann nicht andersgehemmt oder aufgehoben werden als durch einen ihmentgegengesetzten und stärkeren Affekt (nach dem vo-rigen Lehrsatz), d.h. (nach der allgemeinen Definitionder Affekte) durch die Idee einer stärkeren Körperer-regung, welche jener Erregung, die wir erleiden, ent-gegengesetzt ist.

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Achter Lehrsatz

Die Erkenntnis des Guten und Schlechten ist nichtsanderes als der Affekt der Lust oder Unlust, sofernwir uns desselben bewußt sind.

Beweis

Wir nennen das gut oder schlecht, was der Erhal-tung unseres Seins nützt oder schadet (nach den Defi-nitionen 1 und 2 dieses Teils), d.h. (nach Lehrsatz 7,Teil 3), was unser Tätigkeitsvermögen vermehrt odervermindert, fördert oder hemmt. Sofern wir daher(nach der Definition von Lust und Unlust, s. dieselbein der Anmerkung zu Lehrsatz 11, Teil 3) wahrneh-men, daß uns irgendein Ding mit Lust oder Unlust er-regt, nennen wir es gut oder schlecht. Also ist die Er-kenntnis des Guten oder Schlechten nichts anderes alsdie Idee der Lust und Unlust, die aus dem Lust- oderUnlustaffekt selbst notwendig folgt (nach Lehrsatz22, Teil 2). Diese Idee ist aber in derselben Weise mitdem Affekt vereinigt, wie der Geist mit dem Körpervereinigt ist (nach Lehrsatz 21, Teil 2); d.h. (wie inder Anmerkung desselben Lehrsatzes gezeigt wor-den), diese Idee unterscheidet sich in Wirklichkeit vondem Affekt selbst oder (nach der allgemeinen

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Definition der Affekte) von der Idee der Körpererre-gung durch nichts als durch den bloßen Begriff. Folg-lich ist diese Erkenntnis des Guten und Schlechtennichts anderes als der Affekt selbst, sofern wir unsdesselben bewußt sind. - W.z.b.w.

Neunter Lehrsatz

Ein Affekt, von dessen Ursache wir uns vorstellen,daß sie in der Gegenwart bei uns ist, ist stärker, alswenn wir uns vorstellen, daß sie nicht bei uns ist.

Beweis

Die Vorstellung ist eine Idee, durch welche derGeist ein Ding als gegenwärtig betrachtet (s. derenDefinition in der Anmerkung zu Lehrsatz 17, Teil 2),die aber mehr den Zustand des menschlichen Körpersals die Natur des äußern Dinges anzeigt (nach ZusatzII zu Lehrsatz 16, Teil 2). Ein Affekt ist also (nachder allgemeinen Definition der Affekte) eine Vorstel-lung, sofern sie den Zustand des Körpers anzeigt.Eine Vorstellung ist aber (nach Lehrsatz 17, Teil 2)kräftiger, solange wir uns nichts vorstellen, was diegegenwärtige Existenz des äußern Dinges ausschließt.Folglich ist auch ein Affekt, von dessen Ursache wir

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uns vorstellen, daß sie in der Gegenwart bei uns ist,kräftiger oder stärker, als wenn wir uns vorstellen,daß sie nicht bei uns ist. - W.z.b.w.

Anmerkung

Als ich oben im dritten Teil, Lehrsatz 18, sagte,daß wir durch die Vorstellung eines zukünftigen odervergangenen Dinges von demselben Affekt erregtwerden, als wenn das Ding, das wir uns vorstellen,gegenwärtig wäre, bemerkte ich ausdrücklich, daßdies wahr sei, sofern wir bloß die Vorstellung desDinges selbst ins Auge fassen; denn diese ist vongleicher Natur, ob wir uns das Ding vorgestellt habenoder nicht. Ich habe jedoch nicht in Abrede gestellt,daß die Vorstellung schwächer wird, wenn wir andereDinge als uns gegenwärtig betrachten, welche die ge-genwärtige Existenz des zukünftigen Dinges aus-schließen. Ich habe dies dort zu bemerken unterlas-sen, weil ich die Macht der Affekte erst in diesemTeile behandeln wollte.

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Zusatz

Die Vorstellung eines zukünftigen oder vergange-nen Dinges, d.h. eines Dinges, das wir mit Beziehungauf die zukünftige oder vergangene Zeit, unter Aus-schluß der gegenwärtigen, betrachten, ist, bei sonstgleichen Umständen, schwächer als die Vorstellungeines gegenwärtigen Dinges. Dementsprechend istauch der Affekt für ein zukünftiges oder vergangenesDing, bei sonst gleichen Umständen, weniger heftigals der Affekt für ein gegenwärtiges Ding.

Zehnter Lehrsatz

Gegen ein zukünftiges Ding, von dem wir uns vor-stellen, daß es in Bälde gegenwärtig sein wird, wer-den wir kräftiger erregt, als wenn wir uns vorstellen,da die Zeit seiner Existenz von der Gegenwart wei-ter entfernt ist. Und durch die Erinnerung an einDing, von dem wir uns vorstellen, daß es noch nichtlange vergangen ist, werden wir ebenfalls kräftigererregt, als wenn wir uns vorstellen, daß es schonlange vergangen ist.

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Beweis

Denn sofern wir uns ein Ding als nahe bevorste-hend oder als noch nicht lange vergangen vorstellen,stellen wir uns eben dadurch etwas vor, was die Ge-genwart des Dinges weniger ausschließt, als wenn wiruns die Zeit seiner Existenz in der Zukunft oder in derVergangenheit weiter von der Gegenwart entfernt vor-stellen (wie von selbst klar). Daher werden wir (nachdem vorigen Lehrsatz) insofern kräftiger gegen es er-regt werden. - W.z.b.w.

Anmerkung

Aus dem, was ich zur Definition 6 dieses Teils be-merkt habe, folgt, daß wir gegen Objekte, welche vonder Gegenwart durch einen so großen Zeitraum ge-trennt sind, daß wir ihn durch die Vorstellung nichtgenau bestimmen können, gleich schwach erregt wer-den, auch wenn wir wissen, daß sie selbst voneinan-der durch einen großen Zeitraum getrennt sind.

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Elfter Lehrsatz

Der Affekt gegen ein Ding, das wir als notwendigvorstellen, ist bei sonst gleichen Umständen kräfti-ger als gegen ein mögliches oder zufälliges, d.h.nicht notwendiges.

Beweis

Sofern wir uns ein Ding als notwendig vorstellen,insofern bejahen wir seine Existenz. Umgekehrt ver-neinen wir die Existenz eines Dinges, sofern wir esuns als nicht notwendig vorstellen (nach Anmerkung1 zu Lehrsatz 33, Teil 1). Somit ist (nach Lehrsatz 9dieses Teils) der Affekt gegen ein notwendiges Ding,bei sonst gleichen Umständen, kräftiger als gegen einnicht notwendiges. - W.z.b.w.

Zwölfter Lehrsatz

Der Affekt gegen ein Ding, von dem wir wissen, daßes in der Gegenwart nicht existiert und das wir unsals möglich vorstellen, ist bei sonst gleichen Um-ständen kräftiger als gegen ein zufälliges.

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Beweis

Sofern wir uns ein Ding als zufällig vorstellen,werden wir durch keine Vorstellung eines andern Din-ges erregt, welche die Existenz jenes Dinges setzt(nach Definition 3 dieses Teils); vielmehr stellen wiruns (der Voraussetzung gemäß) manches vor, wasseine gegenwärtige Existenz ausschließt. Sofern wiruns aber ein Ding als in Zukunft möglich vorstellen,insofern stellen wir uns etwas vor was seine Existenzsetzt (nach Definition 4 dieses Teils), d.h. (nach Lehr-satz 18, Teil 3), was Hoffnung und Furcht nährt.Folglich ist der Affekt gegen ein mögliches Ding hef-tiger. - W.z.b.w.

Zusatz

Der Affekt gegen ein Ding, von dem wir wissen,daß es in der Gegenwart nicht existiert und das wiruns als zufällig vorstellen, ist um vieles schwächer,als wenn wir uns vorstellten, daß das Ding in der Ge-genwart bei uns sei.

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Beweis

Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns in der Ge-genwart existierend vorstellen, ist kräftiger, als wennwir es als zukünftig vorstellen würden (nach, Zusatzzu Lehrsatz 9 dieses Teils), und er ist noch um vielesheftiger als gegen ein zukünftig vorgestelltes Ding,wenn dieser zukünftige Zeitpunkt von der Gegenwartsehr fern vorgestellt wird (nach Lehrsatz 10 diesesTeils). Es ist also der Affekt gegen ein Ding, von demwir uns vorstellen, daß die Zeit seiner Existenz vonder Gegenwart sehr fern ist, viel schwächer, als wennwir es als gegenwärtig vorstellten; er ist aber gleich-wohl (nach dem obigen Lehrsatz) kräftiger, als wennwir dasselbe Ding als zufällig vorstellten. Somit istder Affekt gegen ein zufälliges Ding um vieles schwä-cher, als wenn wir uns vorstellen würden, daß dasDing in der Gegenwart bei uns sei. - W.z.b.w.

Dreizehnter Lehrsatz

Der Affekt gegen ein zukünftiges Ding, von dem wirwissen, daß es in der Gegenwart nicht existiert, istbei sonst gleichen Umständen schwächer als der Af-fekt gegen ein vergangenes Ding.

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Beweis

Sofern wir uns ein Ding als zufällig vorstellen,werden wir von keiner Vorstellung eines andern Din-ges erregt, welche die Existenz jenes Dinges setzt(nach Definition 3 dieses Teils), sondern stellen uns(nach der Voraussetzung) im Gegenteil etwas vor,was dessen gegenwärtige Existenz ausschließt. Sofernwir es uns aber mit Beziehung auf die Vergangenheitvorstellen, insofern nehmen wir an, daß wir etwasvorstellen, was dasselbe ins Gedächtnis ruft oder wasdie Vorstellung (das Bild) des Dinges weckt (s. Lehr-satz 18, Teil 2, mit seiner Anmerkung) und folglichinsofern bewirkt, daß wir es betrachten, als ob es ge-genwärtig wäre (nach Zusatz zu Lehrsatz 17, Teil 2).Folglich (nach Lehrsatz 9 dieses Teils) ist der Affektgegen ein zufälliges Ding, von dem wir wissen, daßes in der Gegenwart nicht existiert, bei sonst gleichenUmständen, schwächer als der Affekt gegen ein ver-gangenes Ding. - W.z.b.w.

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Vierzehnter Lehrsatz

Die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechtenkann, sofern sie zwar ist, keinen Affekt einschrän-ken, sondern nur, sofern sie als Affekt betrachtetwird.

Beweis

Der Affekt ist eine Idee, durch welche der Geisteine größere oder geringere Existenzkraft seines Kör-pers als vorher bejaht (nach der allgemeinen Definiti-on der Affekte). Er hat folglich (nach Lehrsatz 1 die-ses Teils) nichts Positives, was durch die Gegenwartdes Wahren aufgehoben werden könnte. Folglichkann die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten,sofern sie wahr ist, keinen Affekt einschränken. So-fern sie aber ein Affekt ist (s. Lehrsatz o dieses Teils),wird sie, wenn sie stärker ist als der einzuschränkendeAffekt, insofern nur (nach Lehrsatz 7 dieses Teils)diesen Affekt einschränken können. W.z.b.w.

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Fünfzehnter Lehrsatz

Die Begierde, welche aus der Erkenntnis des Gutenund Schlechten entspringt, kann durch viele andereBegierden, welche aus Affekten, die uns bestürmen,entspringen, erstickt oder eingeschränkt werden.

Beweis

Aus der wahren Erkenntnis des Guten und Schlech-ten, sofern dieselbe ein Affekt ist (nach Lehrsatz 8dieses Teils), entspringt notwendig eine Begierde(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I), welcheum so stärker ist, je stärker der Affekt ist, aus welchersie entspringt (nach Lehrsatz 37, Teil 3). Weil aberdiese Begierde (nach der Voraussetzung) daraus ent-springt, daß wir etwas wahrhaft erkennen, so erfolgtsie also in uns, sofern wir tätig sind (nach Lehrsatz 1,Teil 3), und muß also durch unser Wesen allein er-kannt werden (nach Definition 2, Teil 3); und folglich(nach Lehrsatz 7, Teil 3) muß ihre Macht und ihrWachstum aus dem menschlichen Vermögen alleinerklärt werden. Die Begierden ferner, welche aus denAffekten, die uns bestürmen, entspringen, sind auchum so stärker, je heftiger diese Affekte sind; und folg-lich muß ihre Macht und ihr Wachstum (nach

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Lehrsatz 5 dieses Teils) aus dem Vermögen der äu-ßern Ursachen erklärt werden, welches, im Vergleichmit unserm Vermögen, dieses unendlich übertrifft(nach Lehrsatz 3 dieses Teils). Also können die Be-gierden, welche aus solchen Affekten entspringen,heftiger sein als die Begierde, welche aus der wahrenErkenntnis des Guten und Schlechten entspringt, undsie werden daher (nach Lehrsatz 7 dieses Teils) dieseeinschränken oder ersticken können. - W.z.b.w.

Sechzehnter Lehrsatz

Die Begierde, welche aus der Erkenntnis des Gutenund Schlechten entspringt, sofern sich diese Er-kenntnis auf die Zukunft bezieht, kann leichter durchdie Begierde nach Dingen, die in der Gegenwart an-genehm sind, eingeschränkt oder erstickt werden.

Beweis

Der Affekt für ein Ding, das wir uns als zukünftigvorstellen, ist schwächer als für ein gegenwärtiges(nach Zusatz zu Lehrsatz 9 dieses Teils). Die Begier-de aber, welche aus der wahren Erkenntnis des Gutenund Schlechten entspringt, kann, selbst wenn diese

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Erkenntnis sich um Dinge dreht, die in der Gegenwartgut sind, durch irgendeine von ungefähr entstehendeBegierde erstickt oder gehemmt werden (nach demvorigen Lehrsatz, dessen Beweis ein allgemeiner ist).Folglich wird die Begierde, welche aus derselben Er-kenntnis entspringt, sofern sich diese auf die Zukunftbezieht, leichter eingeschränkt oder erstickt werdenkönnen usw. - W.z.b.w.

Siebzehnter Lehrsatz

Die Begierde, welche aus der wahren Erkenntnis desGuten und Schlechten entspringt, sofern sich dieseum zufällige Dinge dreht, kann noch um vieles leich-ter durch die Begierde nach Dingen, welche gegen-wärtig sind, gehemmt werden.

Beweis

Dieser Lehrsatz wird auf dieselbe Weise wie dervorige Lehrsatz aus dem Zusatz zu Lehrsatz 12 diesesTeils bewiesen.

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Anmerkung

Damit glaube ich die Ursache dargelegt zu haben,weshalb die Menschen mehr von ihrer Meinung alsvon der wahren Vernunft sich bewegen lassen undweshalb die wahre Erkenntnis des Guten und Schlech-ten in der Seele Aufregungen verursacht und häufigLüsten aller Art den Platz räumt; was jenen Dichter-vers5 eingegeben hat:

»... Das Bessere seh' ich und lob' ich,Schlechterem folg' ich jedoch..«

Dies scheint auch der Prediger Salomo im Sinnegehabt zu haben, wenn er sagt6:

»Wer das Wissen mehrt, mehrt den Schmerz.«

Indessen sage ich das nicht deshalb, um daraus denSchluß zu ziehen, daß das Nichtwissen vorteilhaftersei als das Wissen oder daß kein Unterschied sei zwi-schen dem Verständigen und dem Dummen in bezugauf die Bezähmung der Affekte; sondern deshalb, weiles notwendig ist, sowohl das Vermögen als das Un-vermögen unserer Natur zu kennen, um bestimmen zukönnen, was die Vernunft im Bezähmen der Affekte

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vermag und nicht vermag. In diesem Teil werde ich,wie schon gesagt, bloß das menschliche Unvermögenbehandeln; die Macht der Vernunft über die Affektewill ich in einem besondern Teil behandeln.

Achtzehnter Lehrsatz

Die Begierde, welche aus der Lust entspringt, ist,bei sonst gleichen Umständen, stärker als die Be-gierde, welche aus der Unlust entspringt.

Beweis

Die Begierde ist des Menschen Wesen selbst (nachden Definitionen der Affekte, Ziffer I), d.h. (nachLehrsatz 7, Teil 3) das Bestreben, womit der Menschin seinem Sein zu beharren strebt. Daher wird die Be-gierde, welche aus der Lust entspringt, durch denLustaffekt selbst (nach der Definition der Lust, s.diese in der Anmerkung zu Lehrsatz 11, Teil 3) geför-dert oder gehemmt. Die Begierde dagegen, welche ausder Unlust entspringt, wird durch den Unlustaffektselbst (nach derselben Anmerkung) vermindert odergehemmt. Folglich muß die Macht der Begierde, wel-che aus der Lust entspringt, aus dem menschlichenVermögen und zugleich auch aus dem Vermögen der

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äußern Ursache erklärt werden, die aber, welche ausder Unlust entspringt, bloß aus dem menschlichenVermögen. Somit ist jene stärker als diese. - W.z.b.w.

Anmerkung

Mit diesen wenigen Sätzen habe ich die Ursachendes menschlichen Unvermögens und der menschlichenUnbeständigkeit erklärt, und zugleich, weshalb dieMenschen die Vorschriften der Vernunft nicht befol-gen. - Es ist nun noch zu zeigen, was denn das sei,das uns die Vernunft vorschreibt, und welche Affektemit den Regeln der menschlichen Vernunft überein-stimmen und welche ihnen entgegengesetzt sind.Bevor ich aber dies in unserer ausführlichen geometri-schen Ordnung beginne, möchte ich zuvor noch dieVorschriften der Vernunft selbst hier kurz darlegen,damit jeder das, was ich meine, leichter verstehe.

Da die Vernunft nichts verlangt, was der Natur wi-derstrebt, so verlangt sie folglich selbst, daß jedersich selbst liebe, seinen Nutzen, d.h., was ihm wahr-haft nützlich ist, suche und alles, was den Menschenwahrhaft zu größerer Vollkommenheit führt, begehre;überhaupt, daß jedermann sein Sein, so gut er kann,zu erhalten strebe. Dies ist sicherlich so notwendigwahr, als daß das Ganze größer ist als sein Teil (s.Lehrsatz 4, Teil 3).

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Da nun ferner die Jugend (nach Definition 8 diesesTeils) nichts anderes ist, als nach den Gesetzen seinereigenen Natur handeln, und da niemand sein Sein(nach Lehrsatz 7, Teil 3) zu erhalten sucht als nachden Gesetzen seiner eigenen Natur, so folgt daraus:Erstens, daß die Grundlage der Tugend eben das Be-streben ist, sein eigenes Sein zu erhalten, und daß dasGlück darin besteht, daß der Mensch sein Sein zu er-halten vermag.Zweitens folgt, daß die Tugend um ihrer selbst willenerstrebt werden müsse und daß es nichts gibt, wasvortrefflicher und uns nützlicher wäre, um dessentwil-len man es erstreben müßte, als eben sie.Drittens endlich folgt, daß diejenigen, welche sichselbst ums Leben bringen, geistig unvermögend sindund daß sie von äußern Ursachen, welche ihrer Naturwiderstreben, gänzlich bezwungen werden.

Ferner folgt aus Postulat 4 im zweiten Teil, daß wires niemals dahin bringen können, für die Erhaltungunseres Seins keiner Außendinge zu bedürfen undohne allen Verkehr mit der Außenwelt zu leben. Zie-hen wir überdies unsern Geist in Betracht, so wäre si-cherlich unser Verstand weniger vollkommen, wennder Geist von außen abgesondert wäre und außer sichselbst nichts erkennen würde. - Es gibt also vielesaußer uns, was uns nützlich und daher erstrebenswertist. Unter diesen Dingen wiederum ist das denkbar

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Vorzüglichste das, was ganz und gar mit unsererNatur übereinstimmt. Denn wenn z.B. zwei Individu-en von ganz gleicher Natur sich miteinander verbin-den, so bilden sie Ein Individuum, das zweimal sovielvermag als das vereinzelte Individuum.

Es ist daher dem Menschen nichts nützlicher alsder Mensch. Nichts Vorzüglicheres, sage ich, könnensich die Menschen zur Erhaltung ihres Seins wün-schen, als daß alle in allem dermaßen miteinanderübereinstimmen, daß gleichsam alle Geister und Kör-per Einen Geist und Einen Körper bilden, alle zumal,soviel als möglich, ihr Sein zu erhalten suchen undalle zumal für sich suchen, was allen gemeinschaftlichnützlich ist.

Hieraus folgt, daß Menschen, die sich von der Ver-nunft regieren lassen, d.h. Menschen, die nach derLeitung der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts fürsich verlangen, was sie nicht auch für andere Men-schen begehren, und also, daß sie gerecht, treu undehrenhaft sind.

Das sind jene Gebote der Vernunft, die ich hier inKürze darlegen wollte, bevor ich beginne, sie weitläu-fig, der Reihe nach, zu beweisen. Ich habe dies ausdem Grunde getan, um mir, wo möglich, die Auf-merksamkeit derer zu verschaffen, welche glauben,daß dieses Prinzip, wonach jeder gehalten ist, seinenNutzen zu suchen, die Grundlage des Lasters, nicht

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der Tugend und guten Gesinnung sei. - Nachdem ichnun kurz gezeigt habe, daß sich die Sache gerade um-gekehrt verhält, fahre ich fort, dies auf dem bisher be-tretenen Wege zu beweisen.

Neunzehnter Lehrsatz

Jeder verlangt oder verschmäht nach den Gesetzenseiner Natur notwendig das, was er für gut oder fürschlecht hält.

Beweis

Die Erkenntnis des Guten und Schlechten ist (nachLehrsatz 8 dieses Teils) der Lust- oder Unlustaffektselbst, sofern wir uns desselben bewußt sind. Daher(nach Lehrsatz 28, Teil 3) verlangt jeder notwendigdas, was er für gut hält, und verschmäht das, was erfür schlecht hält. Dieses Verlangen aber ist nichts an-deres als des Menschen Wesen oder Natur selbst(nach der Definition des Verlangens, s. diese in derAnmerkung zu Lehrsatz 9, Teil 3, und in der Definiti-on der Affekte, Ziffer I). Folglich verlangt oder ver-schmäht jeder nach den bloßen Gesetzen seiner Naturnotwendig das usw. - W.z.b.w.

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Zwanzigster Lehrsatz

Je mehr jemand strebt und vermag, das ihm Nützli-che zu suchen, d.h., sein Sein zu erhalten, desto tu-gendhafter ist er; und umgekehrt, sofern jemand un-terläßt, das ihm Nützliche zu suchen, d.h., sein Seinzu erhalten, insofern ist er unvermögend.

Beweis

Die Tugend ist das menschliche Vermögen selbst,welches aus dem Wesen des Menschen allein erklärtwird (nach Definition 8 dieses Teils), d.h. (nach Lehr-satz 7, Teil 3), welches allein aus dem Bestreben,womit der Mensch in seinem Sein zu beharren strebt,erklärt wird. Je mehr also jemand sein Sein zu erhal-ten strebt und vermag, um so tugendhafter ist er, unddemgemäß (nach den Lehrsätzen 4 und 6, Teil 3), so-fern jemand sein Sein zu erhalten unterläßt, insofernist er unvermögend. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Niemand also, der nicht von äußern und seinerNatur entgegengesetzten Ursachen bezwungen ist, un-terläßt, das ihm Nützliche zu erstreben oder sein Seinzu erhalten. Niemand, sage ich, verschmäht die Nah-rung oder nimmt sich das Leben vermöge der Not-wendigkeit seiner Natur, sondern durch den Zwangäußerer Ursachen. Dies kann auf vielerlei Arten vor-kommen. Jemand kann einen Selbstmord begehen,weil ein anderer ihn dazu zwingt, indem er zufälligein Schwert in der rechten Hand hat und ein andererihm die Hand umdreht und ihn zwingt, das Schwertgegen das eigene Herz zu kehren. Ein anderer wird,wie Seneca, auf Befehl eines Tyrannen gezwungen,sich die Adern zu öffnen, d.h., er will sich einem grö-ßern Übel durch ein kleineres entziehen. Ein dritterendlich tut es, weil ihm unbekannte äußere Ursachendie Einbildung (Vorstellung) so disponieren und denKörper so erregen, daß dieser eine andere, der frühe-ren entgegengesetzten Natur annimmt, von der es imGeiste eine Idee nicht geben kann (nach Lehrsatz 10,Teil 3). Daß aber der Mensch vermöge der Notwen-digkeit seiner Natur bestrebt sein sollte, nicht zu exi-stieren oder sich in eine andere Gestalt zu verwan-deln, ist ebenso unmöglich, wie daß aus nichts etwas

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werde. Dies kann jeder bei einigem Nachdenken ein-sehen.

Einundzwanzigster Lehrsatz

Niemand kann begehren, glückselig zu sein, gut zuhandeln und gut zu leben, ohne daß er zugleich be-gehrt zu sein, zu handeln und zu leben, d.h. zu exi-stieren.

Beweis

Der Beweis dieses Lehrsatzes oder vielmehr dieSache selbst ist an sich klar, erhellt aber auch aus derDefinition der Begierde. Denn die Begierde, glückse-lig oder gut zu leben, zu handeln etc., ist (nach denDefinitionen der Affekte, Ziffer I) des MenschenWesen selbst, d.h. (nach Lehrsatz 7, Teil 3) das Be-streben, womit jeder sein Sein zu erhalten sucht.Folglich kann niemand begehren usw. - W.z.b.w.

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Zweiundzwanzigster Lehrsatz

Keine Tugend kann früher als diese (nämlich dasBestreben, sich zu erhalten) begriffen werden.

Beweis

Das Bestreben, sich zu erhalten, ist des MenschenWesen selbst (nach Lehrsatz 7, Teil 3). Wenn also ir-gendeine Tugend früher als diese, als dieses Bestre-ben nämlich, begriffen werden könnte, so würde also(nach Definition 8 dieses Teils) das Wesen eines Din-ges früher als das Ding begriffen werden, was (wie ansich klar) widersinnig ist. Folglich kann keine Tugendusw. - W.z.b.w.

Zusatz

Das Bestreben, sich zu erhalten, ist die erste undeinzige Grundlage der Tugend. Denn früher als diesesPrinzip kann kein anderes begriffen werden (nachdem obigen Lehrsatz), und ohne dasselbe kann (nachLehrsatz 21 dieses Teils) keine Tugend begriffen wer-den.

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Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Sofern ein Mensch zu irgendeiner Tätigkeit dadurchbestimmt wird, daß er inadäquate Ideen hat, kannnicht absolut von ihm gesagt werden, er handle ausTugend; sondern dies kann nur geschehen, sofern erdadurch bestimmt wird, daß er erkennt.

Beweis

Sofern der Mensch dadurch zu einer Tätigkeit be-stimmt wird, daß er inadäquate Ideen hat, insofern lei-det er (nach Lehrsatz 1, Teil 3), d.h. (nach den Defini-tionen 1 und 2, Teil 3), er tut etwas, was aus seinemWesen allein nicht erfaßt werden kann, d.h. (nach De-finition 8 dieses Teils), was nicht aus seiner Tugenderfolgt. Sofern er aber zu einer Tätigkeit dadurch be-stimmt wird, daß er erkennt, insofern (nach demsel-ben Lehrsatz 1, Teil 3) handelt er, d.h. (nach Definiti-on 2, Teil 3), er tut etwas, was durch sein Wesen al-lein erfaßt werden kann oder (nach Definition 8 diesesTeils) was aus seiner Tugend adäquat erfolgt. -W.z.b.w.

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395Spinoza: Ethik

Vierundzwanzigster Lehrsatz

Absolut aus Tugend handeln ist nichts anderes inuns, als nach, der Leitung der Vernunft handeln,leben, sein Sein erhalten (diese drei Ausdrücke be-zeichnen dasselbe) aus dem Grunde, daß man deneigenen Nutzen sucht.

Beweis

Absolut aus Tugend handeln ist nichts anderes(nach Definition 8 dieses Teils), als nach den Geset-zen seiner eigenen Natur handeln. Wir handeln abernur insofern, sondern wir erkennen (nach Lehrsatz 3,Teil 3). Folglich ist aus Tugend handeln nichts ande-res in uns, als nach der Leitung der Vernunft handeln,leben, sein Sein erhalten, und zwar (nach Zusatz zuLehrsatz 22 dieses Teils) aus dem Grunde, daß manden eigenen Nutzen sucht. - W.z.b.w.

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Fünfundzwanzigster Lehrsatz

Niemand strebt, sein Sein um eines andern Dingeswillen zu erhalten.

Beweis

Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Seinzu beharren strebt, erklärt sich allein aus dem Wesendes Dinges selbst (nach Lehrsatz 7, Teil 3); und nurdaraus, daß dieses gegeben ist, nicht aber aus demWesen eines andern Dinges, folgt notwendig (nachLehrsatz 6, Teil 3), daß jeder sein Sein zu erhaltenstrebt. - Außerdem erhellt dieser Lehrsatz aus demZusatz zu Lehrsatz 22 dieses Teils. Denn wenn derMensch sein Sein um eines andern Dinges willen zuerhalten streben würde, so würde jenes Ding die ersteGrundlage der Tugend sein (wie von selbst klar), was(nach dem angeführten Zusatz) absurd wäre. Folglichstrebt niemand, sein Sein usw. - W.z.b.w.

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Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Alles das, wonach -wir aus Vernunft streben, istnichts anderes als das Erkennen; und der Geist be-urteilt, sofern er von der Vernunft Gebrauch macht,nur das als für ihn nützlich, was zur Erkenntnisführt.

Beweis

Das Bestreben, sich zu erhalten, ist nichts anderesals das Wesen des Dinges selbst (nach Lehrsatz 7,Teil 3), welches, sofern es als solches existiert, begrif-fen wird als die Kraft besitzend, in der Existenz zubeharren (nach Lehrsatz 6, Teil 3) und das zu tun,was aus seiner gegebenen Natur notwendig erfolgt (s.die Definition des Verlangens in der Anmerkung zuLehrsatz 9, Teil 3). Aber das Wesen der Vernunft istnichts anderes als unser Geist, sofern er klar und deut-lich erkennt (s. dessen Definition in der 2. Anmer-kung zu Lehrsatz 40, Teil 2). Folglich ist (nach Lehr-satz 40, Teil 2) alles das, wonach wir aus Vernunftstreben, nichts anderes als das Erkennen. - Ferner, dadieses Bestreben des Geistes, womit der Geist, soferner vernunftgemäß denkt, sein Sein zu erhalten strebt,nichts anderes ist als das Erkennen (nach dem ersten

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Teil dieses Lehrsatzes), so ist also dieses Strebennach Erkenntnis (nach Zusatz zu Lehrsatz 22 diesesTeils) die erste und einzige Grundlage der Tugend,und wir werden nicht um irgendeines Zwecks willen(nach Lehrsatz 25 dieses Teils) die Dinge zu erkennenstreben; sondern der Geist wird vielmehr, sofern ervernunftgemäß denkt, nur das als für ihn gut begreifenkönnen, was zur Erkenntnis führt (nach Definition 1dieses Teils). - W.z.b.w.

Siebenundzwanzigster Lehrsatz

Nur von dem, was in Wahrheit zur Erkenntnis fahrtoder uns an der Erkenntnis hindert, wissen wirgewiß, daß es gut oder schlecht ist.

Beweis

Der Geist, sofern er vernunftgemäß denkt, verlangtnichts anderes als das Erkennen und beurteilt nur dasals für ihn nützlich, was zur Erkenntnis führt (nachdem vorigen Lehrsatz). Der Geist aber hat (nach denLehrsätzen 41 und 43, Teil 2, s. auch dessen Anmer-kung) nur Gewißheit über die Dinge, sofern er ad-äquate Ideen hat oder (was nach Zusatz zu Lehrsatz40, Teil 2, dasselbe ist) sofern er vernunftgemäß

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denkt. Also wissen wir nur von dem gewiß, daß es gutist, was in Wahrheit zur Erkenntnis führt, und umge-kehrt wissen wir nur von dem, daß es schlecht ist, wasuns an der Erkenntnis hindert. - W.z.b.w.

Achtundzwanzigster Lehrsatz

Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Got-tes, und die höchste Tugend des Geistes ist, Gott er-kennen.

Beweis

Das Höchste, was der Geist erkennen kann, istGott, d.h. (nach Definition 6, Teil 1) das absolut un-endliche Wesen, ohne welches (nach Lehrsatz 15,Teil 1) nichts sein noch begriffen werden kann. Daherist (nach den Lehrsätzen 26 und 27 dieses Teils) dashöchst Nützlichste für den Geist oder (nach Definiti-on 1 dieses Teils) das höchste Gut die ErkenntnisGottes. Ferner handelt der Geist nur insofern, soferner erkennt (nach den Lehrsätzen 1 und 3, Teil 3), undnur insofern (nach Lehrsatz 23 dieses Teils) kann manvon ihm sagen, daß er aus Tugend handelt. Die abso-lute Tugend des Geistes ist also das Erkennen. DasHöchste aber, was der Geist erkennen kann, ist Gott

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(wie wir eben bewiesen haben). Folglich ist die höch-ste Tugend des Geistes, Gott erkennen oder begrei-fen. - W.z.b.w.

Neunundzwanzigster Lehrsatz

Ein Einzelding, dessen Natur von der unsrigendurchaus verschieden ist, kann unser Tätigkeitsver-mögen weder fördern noch hemmen. Überhauptkann kein Ding für uns gut oder schlecht sein, wennes nicht etwas mit uns gemeinsam hat.

Beweis

Das Vermögen jedes Einzeldinges und folglichauch (nach Zusatz zu Lehrsatz 10, Teil 2) des Men-schen, durch welches er existiert und wirkt, wird nurdurch ein anderes Einzelding bestimmt (nach Lehrsatz28, Teil 1), dessen Natur (nach Lehrsatz 6, Teil 2)durch eben dieses Attribut erkannt werden muß, durchwelches die menschliche Natur begriffen wird. UnserTätigkeitsvermögen kann also, wie es auch begriffenwerden mag, bestimmt und folglich gefördert und ge-hemmt werden durch das Vermögen eines andern Ein-zeldinges, das etwas mit uns gemeinsam hat, nichtaber durch das Vermögen eines Dinges, dessen Natur

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von der unsrigen durchaus verschieden ist. Weil wirnun das gut oder schlecht nennen, was die Ursachevon Lust oder Unlust ist (nach Lehrsatz 8 diesesTeils), d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 11, Teil 3),was unser Tätigkeitsvermögen vermehrt oder vermin-dert, fördert oder hemmt, so kann folglich ein Ding,dessen Natur von der unserigen durchaus verschiedenist, weder gut noch schlecht für uns sein. - W.z.b.w.

Dreißigster Lehrsatz

Kein Ding kann durch das, was es mit unserer Naturgemeinsam hat, schlecht sein, sondern sofern es füruns schlecht ist, insofern ist es uns entgegengesetzt.

Beweis

Wir nennen das schlecht, was Ursache der Unlustist (nach Lehrsatz 8 dieses Teils), d.h. (nach der Defi-nition der Unlust, s. dieselbe in der Anmerkung zuLehrsatz 11, Teil 3), was unser Tätigkeitsvermögenvermindert oder hemmt. Wenn daher ein Ding durchdas, was es mit uns gemeinsam hat, schlecht für unswäre, so könnte also ein Ding eben das, was es mituns gemeinsam hat, vermindern oder hemmen, was(nach Lehrsatz 4, Teil 3) widersinnig wäre. Folglich

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kann kein Ding durch das, was es mit uns gemeinsamhat, schlecht für uns sein, vielmehr sofern es schlechtist, d.h. (wie oben gezeigt worden), sofern es unserTätigkeitsvermögen vermindern oder hemmen kann,insofern ist es (nach Lehrsatz 5, Teil 3) uns entgegen-gesetzt. - W.z.b.w.

Einunddreißigster Lehrsatz

Sofern ein Ding mit unserer Natur übereinstimmt,insofern ist es notwendig gut.

Beweis

Denn sofern ein Ding mit unserer Natur überein-stimmt, kann es (nach dem vorigen Lehrsatz) nichtschlecht sein. Es wird also notwendig entweder gutoder indifferent sein. Gesetzt, es wäre das letztere,nämlich weder gut noch schlecht, so würde also (nachDefinition 1 dieses Teils) aus seiner Natur nichts er-folgen, was zur Erhaltung unserer Natur dient, d.h.(nach der Voraussetzung), was zur Erhaltung derNatur des Dinges selbst dient. Aber das wäre (nachLehrsatz 6, Teil 3) widersinnig. Es wird also, sofernes mit unserer Natur übereinstimmt, notwendig gutsein. - W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt, daß ein Ding desto nützlicher oderbesser für uns ist, je mehr es mit unserer Natur über-einstimmt, und umgekehrt, je nützlicher ein Ding füruns ist, desto mehr stimmt es insofern mit unsererNatur überein. Denn sofern es mit unserer Natur nichtübereinstimmt, wird es notwendig von unserer Naturverschieden oder ihr entgegengesetzt sein. Ist es vonihr verschieden, so wird es (nach Lehrsatz 29 diesesTeils) weder gut noch schlecht sein; ist es ihr aberentgegengesetzt, so wird es also auch dem entgegen-gesetzt sein, was mit unserer Natur übereinstimmt,d.h. (nach dem obigen Lehrsatz), es wird dem Gutenentgegengesetzt oder schlecht sein. Es kann alsoetwas nur gut sein, sofern es mit unserer Natur über-einstimmt. Je mehr daher ein Ding mit unserer Naturübereinstimmt, desto nützlicher ist es, und umge-kehrt. - W.z.b.w.

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Zweiunddreißigster Lehrsatz

Sofern die Menschen den Leiden unterworfen sind,insofern kann man nicht sagen, daß sie von Naturübereinstimmen.

Beweis

Wenn man von Dingen sagt, daß sie von Naturübereinstimmen, so versteht man darunter, daß siedurch ihr Vermögen übereinstimmen (nach Lehrsatz7, Teil 3); nicht aber durch ihr Unvermögen oder ihreVerneinung und folglich auch nicht (s. die Anmer-kung zu Lehrsatz 3, Teil 3) durch ihr Leiden. Folglichkann von den Menschen, sofern sie den Leiden unter-worfen sind, nicht gesagt werden, daß sie von Naturübereinstimmen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Die Sache ist auch an sich einleuchtend. Denn wersagt, Weiß und Schwarz stimmen nur darin überein,daß beide nicht rot sind, der behauptet unbedingt, daßWeiß und Schwarz in keiner Hinsicht übereinstim-men. So auch, wenn jemand sagt, daß Stein undMensch nur darin übereinstimmen, daß beide endlich

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sind oder unvermögend, oder daß sie nicht vermögeder Notwendigkeit ihrer Natur existieren, oder end-lich, daß sie von der Macht der äußeren Ursachen un-endlich überragt werden, der behauptet damit über-haupt, daß Stein und Mensch in gar nichts überein-stimmen. Denn Dinge, die bloß in der Verneinungoder in dem, was sie nicht haben, übereinstimmen,stimmen tatsächlich in gar nichts überein.

Dreiunddreißigster Lehrsatz

Die Menschen können von Natur voneinander ab-weichen, sofern sie von Affekten, welche Leidensind, bestürmt werden; sofern ist auch ein und der-selbe Mensch veränderlich und unbeständig.

Beweis

Die Natur oder das Wesen der Affekte kann nichtdurch unser Wesen oder unsere Natur allein ausge-drückt werden (nach den Definitionen I und 2, Teil 3),sondern muß durch das Vermögen, d.h. (nach Lehr-satz 7, Teil 3) durch die Natur der äußeren Ursachen,verglichen mit unserer Natur, erklärt werden. Daherkommt es, daß es von jedem Affekt so viele Artengibt, als es Arten von Objekten gibt, von denen wir

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erregt werden (s. Lehrsatz 56, Teil 3), und daß dieMenschen von einem und demselben Objekt auf ver-schiedene Weise erregt werden (s. Lehrsatz 51, Teil3) und daß sie insofern von Natur voneinander abwei-chen; endlich auch, daß ein und derselbe Mensch(nach demselben Lehrsatz 51, Teil 3) gegen dasselbeObjekt auf verschiedene Weise erregt wird und inso-fern veränderlich ist usw. - W.z.b.w.

Vierunddreißigster Lehrsatz

Sofern die Menschen von Affekten, welche Leidensind, bestürmt werden, können sie einander entge-gengesetzt sein.

Beweis

Der Mensch, z.B. Peter, kann die Ursache sein, daßPaul Unlust empfindet; sei es, weil er mit einem DingÄhnlichkeit hat, welches Paul haßt, oder weil Peterallein ein Ding besitzt, welches Paul selbst auch liebt(s. Lehrsatz 32, Teil 3, mit seiner Anmerkung), oderwegen anderer Ursachen (s. die bedeutendsten dersel-ben in der Anmerkung zu Lehrsatz 55, Teil 3). Eswird also deshalb geschehen (nach den Definitionender Affekte, Ziffer VII), daß Paul den Peter haßt, und

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das kann leicht die weitere Folge haben, daß Peter denPaul wiederhaßt und daß sie also (nach Lehrsatz 39,Teil 3) einander Böses zuzufügen streben, d.h. (nachLehrsatz 30 dieses Teils), daß sie einander entgegen-gesetzt sind. Der Affekt der Unlust aber ist immer einLeiden (nach Lehrsatz 59, Teil 3). Folglich könnendie Menschen, sofern sie von Affekten bestürmt wer-den, welche Leiden sind, einander entgegengesetztsein. - W.z.b.w.

Anmerkung

Ich habe gesagt, Paul hasse den Peter, weil er sichvorstellt. daß er das besitzt, was Paul selbst auchliebt. Oberflächlich betrachtet, scheint daraus zu fol-gen, daß beide deswegen, weil sie lieben und alsoweil beide von Natur übereinstimmen, sich gegensei-tig schädlich sind. Wäre nun dies richtig, so müßtendie Lehrsätze 30 und 31 dieses Teils falsch sein. Gehtman aber der Sache tiefer auf den Grund, so wird sichzeigen, daß dies alles vollständig zusammenstimmt.Denn diese beiden sind einander nicht unangenehm,sofern sie von Natur übereinstimmen, d.h., sofernbeide dasselbe lieben, sondern sofern sie voneinanderabweichen. Denn sofern beide dasselbe lieben, wirdeben dadurch die Liebe eines jeden genährt (nachLehrsatz 31, Teil 3), d.h. (nach den Definitionen der

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Affekte Ziffer VI), die Lust eines jeden wird eben da-durch genährt. Weit entfernt also, daß sie einanderunangenehm sind, sofern sie dasselbe lieben und vonNatur übereinstimmen, ist vielmehr die Ursache hier-von, wie gesagt, keine andere als die, daß man an-nimmt, sie weichen voneinander ab. Denn wir nehmenja an, Peter habe die Idee eines geliebten Gegen-stands, den er besitzt, Paul dagegen die Idee eines ge-liebten Gegenstands, den er verloren hat. Daherkommt es, daß dieser von Unlust, jener dagegen vonLust erregt wird und daß sie einander insofern entge-gengesetzt sind.

Auf diese Weise kann leicht gezeigt werden, daßauch die übrigen Ursachen des Hasses allein davonabhängen, daß die Menschen voneinander abweichen,aber nicht davon, daß sie miteinander übereinstim-men.

Fünfunddreißigster Lehrsatz

Sofern die Menschen nach der Leitung der Vernunftleben, insofern allein stimmen sie von Natur immernotwendig überein.

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Beweis

Sofern die Menschen von Affekten, welche Leidensind, bestürmt werden, können sie von Natur ver-schieden (nach Lehrsatz 33 dieses Teils) und einanderentgegengesetzt sein (nach dem vorigen Lehrsatz).Aber die Menschen heißen nur insofern handelnd, so-fern sie nach der Leitung der Vernunft leben (nachLehrsatz 3, Teil 3). Also muß alles, was aus dermenschlichen Natur folgt, sofern sie durch die Ver-nunft definiert wird (nach Definition 2, Teil 3), durchdie menschliche Natur allein als ihre nächste Ursacheerkannt werden. Weil aber jeder nach den Gesetzenseiner Natur das verlangt, was er für gut hält, und daszu entfernen sucht, was er für schlecht hält (nachLehrsatz 19 dieses Teils), und da außerdem das, waswir nach dem Gebot der Vernunft für gut oderschlecht halten, notwendig gut oder schlecht ist (nachLehrsatz 41, Teil 2), so tun also die Menschen, sofernsie nach der Leitung der Vernunft leben, nur insoferndas notwendig, was für die menschliche Natur undfolglich für jeden Menschen notwendig gut ist, d.h.(nach Zusatz zu Lehrsatz 31 dieses Teils), was mitder Natur jedes Menschen übereinstimmt. Folglichstimmen die Menschen auch unter sich, sofern sienach der Leitung der Vernunft leben, notwendig

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immer überein. - W.z.b.w.

Zusatz I

Es gibt in der Natur nichts einzelnes, was denMenschen nützlicher wäre als der Mensch, der nachder Leitung der Vernunft lebt. Denn dem Menschenist das am nützlichsten, was mit seiner Natur am mei-sten übereinstimmt (nach Zusatz zu Lehrsatz 31 die-ses Teils), d.h. (wie an sich klar) der Mensch. DerMensch handelt aber absolut nach den Gesetzen sei-ner Natur, wenn er nach der Leitung der Vernunft lebt(nach Definition 2, Teil 3), und nur insofern stimmt ermit der Natur eines andern Menschen notwendigimmer überein (nach dem vorigen Lehrsatz). Folglichgibt es unter den Einzeldingen nichts nützlicher fürden Menschen als den Menschen usw. - W.z.b.w.

Zusatz II

Wenn die einzelnen Menschen am meisten dasihnen Nützliche suchen, dann sind die Menschen ein-ander am meisten nützlich. Denn je mehr einer dasihm Nützliche sucht und sich zu erhalten strebt, destotugendhafter ist er (nach Lehrsatz 20 dieses Teils)oder, was dasselbe ist (nach Definition 8 diesesTeils), desto größer ist sein Vermögen, nach den

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Gesetzen seiner Natur zu handeln, d.h. (nach Lehrsatz3, Teil 3) nach der Leitung der Vernunft zu leben. DieMenschen aber stimmen von Natur am meisten dannüberein, wenn sie nach der Leitung der Vernunftleben (nach obigem Lehrsatz). Folglich werden dieMenschen (nach dem vorigen Zusatz) dann am mei-sten einander nützlich sein, wenn jeder am meistendas ihm Nützliche sucht. - W.z.b.w.

Anmerkung

Was ich soeben dargetan habe, bestätigt auch dietägliche Erfahrung durch so viele und so offenkundigeZeugnisse, daß es zum Sprüchwort geworden ist: DerMensch ist dem Menschen ein Gott. - Dennoch ist esselten, daß die Menschen nach der Leitung der Ver-nunft leben; vielmehr steht es mit ihnen so, daß siemeistens mißgünstig und einander unangenehm sind.Nichtsdestoweniger können sie ein einsames Lebenkaum aushalten, so daß jene bekannte Definition, daßder Mensch ein geselliges Tier sei bei den meistenBeifall findet. Und in der Tat verhält sich die Sacheso, daß aus der gemeinsamen Vereinigung der Men-schen weit mehr Vorteile entspringen als Nachteile.Mögen daher die Satiriker die menschlichen Dingeverlachen, soviel sie wollen, und die Theologen sieverdammen, mögen die Melancholiker ein

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unzivilisiertes und bäuerisches Leben preisen, sovielsie können, die Menschen verachten und die Tiere be-wundern: sie werden dennoch die Erfahrung machen,daß die Menschen durch wechselseitige Hilfeleistungihren Bedarf sich viel leichter verschaffen und nur mitvereinten Kräften die Gefahren von denen sie überallbedroht sind, vermeiden können, ganz davon zuschweigen, daß es weit vortrefflicher und unserer Er-kenntnis würdiger ist, das menschliche Leben zu be-trachten als das tierische. Doch davon an einem an-dern Ort ausführlicher.

Sechsunddreißigster Lehrsatz

Das höchste Gut derjenigen, welche der Tugendnachwandeln, ist allen gemeinsam, und alle könnensich gleicherweise desselben erfreuen.

Beweis

Aus Tugend handeln ist, nach der Leitung der Ver-nunft handeln (nach Lehrsatz 24 dieses Teils), undalles, was wir aus Vernunft zu tun streben, ist Erken-nen (nach Lehrsatz 26 dieses Teils). Daher ist (nachLehrsatz 28 dieses Teils) das höchste Gut derjenigen,welche der Tugend nachwandeln, Gott erkennen, d.h.

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(nach Lehrsatz. 47, Teil 2, und seiner Anmerkung)ein Gut, welches allen Menschen gemeinsam ist undvon allen Menschen, sofern sie gleicher Natur sind, ingleicher Weise besessen werden kann. - W.z.b.w.

Anmerkung

Fragt aber jemand, wie nun, wenn das höchste Gutderjenigen, welche der Tugend nachwandeln, nichtallen gemeinsam wäre? Würde daraus nicht, wie oben(s. Lehrsatz 34 dieses Teils), folgen, daß die Men-schen, die nach der Leitung der Vernunft leben, d.h.(nach Lehrsatz 35 dieses Teils) die Menschen, sofernsie von Natur übereinstimmen, einander entgegenge-setzt wären?, so diene ihm zur Antwort, daß es nichtvon einem Zufall herrührt, sondern in der Natur derVernunft selbst begründet ist, daß das höchste Gutdes Menschen allen gemeinsam ist: weil es nämlichaus dem Wesen des Menschen selbst, sofern es durchdie Vernunft definiert wird, abgeleitet wird und weilder Mensch weder sein noch begriffen werden kann,wenn er nicht das Vermögen hätte, sich dieses höch-sten Guts zu erfreuen. Denn es gehört (nach Lehrsatz47, Teil 2) zum Wesen des menschlichen Geistes,eine adäquate Erkenntnis des ewigen und unendlichenWesens Gottes zu haben.

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Siebenunddreißigster Lehrsatz

Das Gut, welches jeder, der der Tugend nachwan-delt, für sich, begehrt, wünscht er auch den übrigenMenschen, und um so mehr, je größer seine Er-kenntnis Gottes ist.

Beweis

Die Menschen, sofern sie nach der Leitung der Ver-nunft leben, sind dem Menschen am nützlichsten(nach Zusatz zu Lehrsatz 35 dieses Teils). Nach derLeitung der Vernunft werden wir daher (nach Lehr-satz 19 dieses Teils) notwendig bestrebt sein zu be-wirken, daß die Menschen nach der Leitung der Ver-nunft leben. Das Gut aber, welches jeder, der nachdem Gebot der Vernunft lebt, d.h. (nach Lehrsatz 24dieses Teils), der der Tugend nachfolgt, für sich be-gehrt, ist das Erkennen (nach Lehrsatz 26 diesesTeils). Folglich wird jeder, der der Tugend nachfolgt,das Gut, das er für sich begehrt, auch anderen Men-schen wünschen. - Ferner ist die Begierde, sofern siesich auf den Geist bezieht, das Wesen des Geistesselbst (nach der Definition der Affekte, Ziffer I). DasWesen des Geistes aber besteht in der Erkenntnis(nach Lehrsatz 11, Teil 2), welche die Erkenntnis

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Gottes in sich schließt (nach Lehrsatz 47, Teil 2) undohne welche der Geist (nach Lehrsatz 15, Teil 1)weder sein noch begriffen werden kann. Je größer alsodie Erkenntnis Gottes ist, welche das Wesen des Gei-stes in sich schließt, desto größer wird auch die Be-gierde sein, womit jeder, der der Tugend nachwandelt,das Gut, was er für sich begehrt, andern wünscht. -W.z.b.w.

Anderer Beweis

Ein Gut, welches der Mensch für sich begehrt undliebt, wird er beharrlicher lieben, wenn er sieht, daßauch andere es lieben (nach Lehrsatz 31, Teil 3). Erwird also (nach dem Zusatz zu demselben Lehrsatz)bestrebt sein, daß auch die andern es lieben. Weilaber dieses Gut (nach dem vorigen Lehrsatz) allen ge-meinsam ist und alle sich desselben erfreuen können,so wird er folglich (aus demselben Grund) bestrebtsein, daß alle sich desselben erfreuen, und (nach Lehr-satz 37, Teil 3) um so mehr, je mehr er dieses Gut ge-nießt. - W.z.b.w.

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1. Anmerkung

Wer bloß aus Affekt darnach trachtet, daß die an-dern lieben, was er selbst liebt, und daß die andernnach Seinem Sinne leben, der handelt bloß ungestümund ist deshalb verhaßt, besonders denjenigen, dieetwas anderes gutheißen und die daher ebenfalls stre-ben und ebenso ungestüm darnach trachten, daß dieandern nach Ihrem Sinne leben. - Weil ferner dashöchste Gut, welches die Menschen aus Affekt begeh-ren, oft ein solches ist, daß es nur Einer besitzenkann, so kommt es vor, daß Menschen, welche etwaslieben, im Geiste mit sich selbst uneinig sind und,während es ihnen Vergnügen macht den geliebten Ge-genstand zu loben und herauszustreichen doch nichthaben wollen, daß man ihnen glaubt.

Wer dagegen aus Vernunft bestrebt ist, die andernzu leiten, der handelt nicht ungestüm, sondern men-schenfreundlich und milde und ist im Geiste mit sichvollkommen einig.

Alle Begierden und Handlungen sodann, deren Ur-sache wir sind, sofern wir eine Idee von Gott habenoder sofern wir Gott erkennen, rechne ich zur Religi-on. Aber die Begierde, gut zu handeln, welche darausentspringt daß wir nach der Leitung der Vernunftleben, nenne ich Frömmigkeit. Die Begierde sodann,

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durch welche der nach der Leitung der Vernunft le-bende Mensch angetrieben wird, sich die andern inFreundschaft zu verbinden, nenne ich Ehrbarkeit, undehrbar das, was die nach der Leitung der Vernunft le-benden Menschen loben, schändlich (unehrbar) dage-gen, was dieser freundschaftlichen Verbindung entge-gen ist. Außerdem habe ich auch gezeigt, was dieGrundlagen des Staats sind.

Aus dem oben Gesagten ist ferner der Unterschiedzwischen der wahren Tugend und dem Unvermögenleicht ersichtlich. Die wahre Tugend ist nämlichnichts anderes, als nach der Leitung der Vernunft al-lein leben. Somit besteht das Unvermögen darin al-lein, daß der Mensch von Dingen, die außer ihm sind,sich leiten läßt und von ihnen bestimmt wird, das zutun, was die gemeinschaftliche Beschaffenheit der äu-ßern Dinge fordert, nicht aber das, was seine eigeneNatur selbst, für sich allein betrachtet, fordert.

Dies ist es, was ich in der Anmerkung zu Lehrsatz18 dieses Teils zu beweisen versprochen habe. Esgeht daraus hervor, daß jenes Gesetz, welches verbie-tet, die Tiere zu schlachten, mehr in einem eitlenAberglauben und in weibischem Mitleid als in der ge-sunden Vernunft begründet ist. Wohl lehrt uns dieVernunft, daß es notwendig ist, um unseres Nutzenswillen uns mit den Menschen zu verbinden, aber kei-neswegs mit den Tieren oder mit andern Dingen,

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deren Natur von der menschlichen Natur verschiedenist; vielmehr haben wir dasselbe Recht auf sie, das sieauf uns haben. Ja, weil das Recht eines jeden nachseiner Tugend oder seinem Vermögen sich bestimmtso haben die Menschen ein weit größeres Recht aufdie Tiere als die Tiere auf die Menschen. - Ich bestrei-te aber darum nicht, daß die Tiere Empfindung haben;sondern ich bestreite nur, daß es deshalb verbotensein soll, sie zu unserm Nutzen beliebig zu gebrau-chen und sie so zu behandeln, wie es uns am bestenpaßt; da sie ja von Natur nicht mit uns übereinstim-men und ihre Affekte von den menschlichen Affektenvon Natur verschieden sind (s. die Anmerkung zuLehrsatz 57, Teil 3).

Es erübrigt nur noch zu erklären, was gerecht undwas ungerecht, was Verbrechen (Sünde) und wasVerdienst ist. Hierüber siehe die folgende Anmer-kung.

2. Anmerkung

Im Anhang zum ersten Teil habe ich zu erklärenversprochen, was Lob und Tadel, Verdienst und Ver-brechen (Sünde), gerecht und ungerecht sei. Wasnun Lob und Tadel betrifft, so habe ich diese schon inder Anmerkung zu Lehrsatz 29 im dritten Teil erklärt.Von den andern zu sprechen, ist hier die geeignete

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Stelle. Vorher aber will ich etwas über den natürli-chen und den bürgerlichen Zustand des Menschensagen.

Jeder existiert nach dem höchsten Recht der Natur,und folglich tut jeder nach dem höchsten Recht derNatur das, was aus der Notwendigkeit seiner Naturfolgt. Nach dem höchsten Recht der Natur bildet sichdaher jeder sein eigenes Urteil über gut und schlecht,sorgt jeder für seinen Nutzen nach Seinem Sinne (s.die Lehrsätze 19 und 20 dieses Teils), übt er Rache(s. Zusatz II zu Lehrsatz 40, Teil 3) und strebt, was erliebt, zu erhalten, und was er haßt, zu zerstören (s.Lehrsatz 28, Teil 3).

Lebten nun die Menschen nach der Leitung derVernunft. so würde jeder (nach Zusatz I zu Lehrsatz35 dieses Teils) dieses sein Recht behaupten ohne ir-gendeinen Schaden eines andern. Weil sie aber denAffekten unterworfen sind (nach Zusatz zu Lehrsatz 4dieses Teils), welche das menschliche Vermögen oderdie menschliche Tugend weit überragen (nach Lehr-satz 6 dieses Teils), so werden sie oft nach verschie-denen Richtungen getrieben (nach Lehrsatz 33 diesesTeils) und stehen sich einander feindselig gegenüber(nach Lehrsatz 34 dieses Teils), während sie doch zuwechselseitiger Hilfe einander bedürfen (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 35 dieses Teils).

Damit also die Menschen in Eintracht leben und

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hilfreich gegeneinander sein können, ist es notwendig,daß sie ihr natürliches Recht aufgeben und einanderSicherheit gewähren, daß keiner etwas tun werde, waseinem andern zum Schaden gereichen kann. - Aufwelche Weise das aber geschehen kann, daß nämlichdie Menschen, die doch den Affekten notwendig un-terworfen sind (nach Zusatz zu Lehrsatz 4 diesesTeils) und wankelmütig und veränderlich sind (nachLehrsatz 33 dieses Teils), einander Sicherheit gewäh-ren und einander vertrauen können, erhellt aus Lehr-satz 7 dieses Teils und Lehrsatz 39 im dritten Teil,wonach ein Affekt nicht anders eingeschränkt werdenkann als durch einen anderen stärkeren und dem er-sten entgegengesetzten Affekt, und jeder sich enthält,Schaden zu stiften, aus Furcht vor größerem Schaden.Durch dieses Gesetz nun kann ein Verein gegründetwerden, indem der Verein sich das Recht aneignet,welches jeder Einzelne hat, das Recht, sich zu rächenund über Gut und Schlecht sein Urteil zu fällen. Ermuß daher die Macht haben, über die Lebensweiseallgemeine Vorschriften zu erteilen und Gesetze zugeben und dieselben zur Geltung zu bringen; nichtdurch die Vernunft, welche die Affekte nicht ein-schränken kann (nach Anmerkung zu Lehrsatz 17 die-ses Teils), sondern durch Drohungen. Ein solcher, aufGesetze und die Macht, sich zu erhalten, sich grün-dender Verein heißt Staat, und diejenigen, welche

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durch dessen Recht geschützt werden, heißen Bürger.Hieraus ist leicht ersichtlich, daß es im Naturzu-

stand nichts gibt, was nach Übereinstimmung allergut oder schlecht ist, da ja im Naturzustand jeder nurfür Seinen Nutzen sorgt und nach Seinem Sinn, undnur sofern er auf seinen Nutzen Bedacht nimmt, ent-scheidet, was gut und was schlecht ist, und durch keinGesetz verbunden ist, irgend jemand zu gehorchen alsnur sich selbst. Im Naturzustand kann daher kein Ver-brechen begriffen werden, wohl aber im bürgerlichenLeben, wo durch allgemeine Übereinstimmung ent-schieden wird, was gut und was schlecht ist, und jederverbunden ist, dem Staat zu gehorchen.Verbrechen ist somit nichts anderes als Ungehorsam,welcher nur nach dem Staatsgesetze strafbar ist, wo-gegen der Gehorsam dem Bürger als Verdienst ange-rechnet wird, weil er durch denselben für würdig er-achtet wird, der Vorteile des Staats sich zu erfreuen.

Ferner ist im Naturzustand niemand nach gemein-schaftlicher Übereinkunft Herr irgendeines Dinges,und es gibt in der Natur nichts, was als Eigentum die-ses oder jenes Menschen bezeichnet werden könnte,sondern alles gehört allen. Daher kann auch im Natur-zustand der Wille, jemand das Seinige zu geben oderzu nehmen, nicht begriffen werden; d.h., im Naturzu-stand geschieht nichts, was gerecht oder ungerechtheißen könnte, wohl aber im bürgerlichen Leben, wo

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nach gemeinschaftlicher Übereinkunft festgestelltwird, was diesem und was jenem gehören soll.

Hieraus erhellt, daß gerecht und ungerecht, Sündeund Verdienst äußerliche Begriffe sind, nicht aber At-tribute, welche die Natur des Geistes ausdrücken.Doch nun genug davon.

Achtunddreißigster Lehrsatz

Das, was den menschlichen Körper so disponiert,daß er auf viele Weisen erregt werden kann, oderwas ihn fähig macht, äußere Körper auf viele Wei-sen zu erregen, das ist dem Menschen nützlich, undum so nützlicher, je fähiger der Körper dadurch ge-macht wird, auf viele Weisen erregt zu werden undandere Körper zu erregen. Umgekehrt ist das schäd-lich, was den Körper hiezu unfähiger macht.

Beweis

Je mehr der Körper hiezu fähig gemacht wird,desto fähiger wird der Geist gemacht zum Erkennen(nach Lehrsatz 14, Teil 2). Daher ist das, was denKörper auf diese Weise disponiert und ihn hiezu fähigmacht, notwendig gut oder nützlich (nach den Lehr-sätzen 26 und 27 dieses Teils), und um so nützlicher,

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je fähiges es den Körper hiezu machen kann; und um-gekehrt (nach demselben umgekehrten Lehrsatz 14,Teil 2, und den Lehrsätzen 26 und 27 dieses Teils)schädlich, wenn es den Körper hiezu minder fähigmacht. - W.z.b.w.

Neununddreißigster Lehrsatz

Das, was bewirkt, daß das Verhältnis von Bewegungund Ruhe, welches die Teile des menschlichen Kör-pers zueinander haben, erhalten wird, ist gut. Um-gekehrt ist das schlecht, was bewirkt, daß die Teiledes menschlichen Körpers ein anderes Verhältnisder Bewegung und Ruhe zueinander annehmen.

Beweis

Der menschliche Körper bedarf zu seiner Erhaltungwieder anderer Körper (nach Postulat 4, Teil 2). Aberdas, was die Gestalt des menschlichen Körpers aus-macht, besteht darin, daß seine Teile ihre Bewegun-gen auf bestimmte Weise einander mitteilen (nach derDefinition vor Hilfssatz 4, hinter Lehrsatz 13, Teil 2).Das also, was bewirkt, daß das Verhältnis von Bewe-gung und Ruhe, welches die Teile des menschlichenKörpers zueinander haben, erhalten wird, erhält die

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Gestalt des menschlichen Körpers und bewirkt folg-lich (nach den Postulaten 3 und 6 Teil 2), daß dermenschliche Körper auf viele Weisen erregt werdenund er selbst wieder die äußeren Körper auf vieleWeisen erregen kann. Es ist also (nach dem vorigenLehrsatz) gut. - Was hinwiederum bewirkt, daß dieTeile des menschlichen Körpers ein anderes Verhält-nis der Bewegung und Ruhe zueinander annehmen,das bewirkt (nach derselben Definition, Teil 2), daßder menschliche Körper eine andere Gestalt annimmt,d.h. (wie an sich klar ist und am Schluß des Vorwortszu diesem Teil bemerkt wurde), daß der menschlicheKörper zerstört wird, und folglich, daß er durchausunfähig gemacht wird, auf viele Weisen erregt zu wer-den. Es ist also (nach dem vorigen Lehrsatz)schlecht. - W.z.b.w.

Anmerkung

Wie viel dies dem Geiste schaden oder nützenkann, wird im fünften Teil erörtert werden. Hier istnur zu bemerken, daß ich das Sterben so verstehe:Der Körper stirbt dann, wenn seine Teile so dispo-niert werden, daß sie ein anderes Verhältnis von Be-wegung und Ruhe zueinander annehmen. Ich wagenämlich nicht in Abrede zu stellen, daß der menschli-che Körper, auch wenn der Kreislauf des Bluts und

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anderer Vorgänge, die als Merkmale des Lebens gel-ten, noch fortdauern, dennoch in eine andere, von derseinigen völlig verschiedene Natur verwandelt werdenkann. Denn kein Grund zwingt mich zu behaupten,daß der menschliche Körper erst dann stirbt, wenn erin eine Leiche verwandelt wird. Vielmehr überzeugtuns die Erfahrung selbst, wie mir scheint, eines an-dern. Kommt es doch mitunter vor, daß ein Menschsolche Veränderungen erleidet, daß man ihn kaum fürdenselben halten möchte. So habe ich von einem spa-nischen Dichter erzählen hören, der von einer Krank-heit befallen war und, obgleich von derselben gene-sen, doch die Erinnerung an sein vergangenes Lebenauf die Dauer vergessen hatte, dermaßen, daß er dieFabeln und Trauerspiele, die er selbst verfaßt hatte,nicht für die seinigen hielt und daß man ihn gewiß fürein großes Kind hätte halten können, wenn er auchseine Muttersprache vergessen hätte. - Wenn dies un-glaublich erscheint, was sollen wir von den Kindernsagen, deren Natur der erwachsene Mensch von derseinigen so verschieden ansieht, daß er sich nichtwürde überreden können, er sei jemals ein Kind ge-wesen, wenn er nicht von andern auf sich schließenmüßte. - Um jedoch abergläubischen Leuten keinenStoff zu neuen Querfragen zu geben, will ich hier lie-ber abbrechen.

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Vierzigster Lehrsatz

Was zur gemeinsamen Vereinigung der Menschenführt oder was bewirkt, daß die Menschen in Ein-fracht leben, ist nützlich, dagegen ist das schlecht,was Zwietracht in den Staat bringt.

Beweis

Denn was bewirkt, daß die Menschen in Eintrachtleben, bewirkt zugleich, daß sie nach der Leitung derVernunft leben (nach Lehrsatz 35 dieses Teils) und istdaher (nach den Lehrsätzen 26 und 27 dieses Teils)gut; dagegen ist (aus demselben Grund) das schlecht,was Zwietracht erregt.- W.z.b.w.

Einundvierzigster Lehrsatz

Lust ist an und für sich nicht schlecht, sondern gut;Unlust hingegen ist an und für sich schlecht.

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Beweis

Lust ist (nach Lehrsatz 11, Teil 3, mit seiner An-merkung) ein Affekt, durch welchen das Tätigkeits-vermögen des Körpers vermehrt oder gefördert wird.Unlust hingegen ist ein Affekt, durch welchen das Tä-tigkeitsvermögen des Körpers vermindert oder ge-hemmt wird. Daher ist (nach Lehrsatz 38 dieses Teils)Lust an und für sich gut usw. - W.z.b.w.

Zweiundvierzigster Lehrsatz

Wohlbehagenkann kein Übermaß haben, sondern istimmer gut; Mißbehagen dagegen ist. immerschlecht.

Beweis

Wohlbehagen (s. dessen Definition in der Anmer-kung zu Lehrsatz 11, Teil 3) ist Lust, welche, sofernsie sich auf den Körper bezieht, darin besteht, daßalle Teile des Körpers gleichmäßig erregt sind, d.h.(nach Lehrsatz 11, Teil 3), daß das Tätigkeitsvermö-gen vermehrt oder gefördert wird, so daß alle seineTeile dasselbe Verhältnis von Bewegung und Ruhe

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zueinander behalten. Darum ist (nach Lehrsatz 39dieses Teils) Wohlbehagen immer gut und kann keinÜbermaß haben. - Mißbehagen aber (dessen Definiti-on s. gleichfalls in derselben Anmerkung zu Lehrsatz11, Teil 3) ist Unlust, welche, sofern sie sich auf denKörper bezieht, darin besteht, daß das Tätigkeitsver-mögen des Körpers absolut vermindert oder gehemmtwird. Darum ist dasselbe (nach Lehrsatz 38 diesesTeils) immer schlecht. - W.z.b.w.

Dreiundvierzigster Lehrsatz

Wollust kann ein Übermaß haben und schlecht sein;Schmerz aber kann insofern gut sein, sofern Wollustoder Lust schlecht ist.

Beweis

Wollust ist Lust, welche, sofern sie sich auf denKörper bezieht, darin besteht, daß ein oder einigeTeile desselben mehr als die übrigen erregt werden (s.deren Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz 11,Teil 3). Und das Vermögen (die Macht) dieses Af-fekts kann so groß sein, daß es die übrigen Tätigkei-ten des Körpers übertrifft (nach Lehrsatz 6 diesesTeils) und ihm hartnäckig anhaftet und also die

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Fähigkeit des Körpers, auf viele andere Weisen erregtzu werden, beeinträchtigt. Also (nach Lehrsatz 38dieses Teils) kann sie schlecht sein. - Der Schmerzsodann, der dagegen Unlust ist, kann, für sich alleinbetrachtet, nicht gut sein (nach Lehrsatz 41 diesesTeils). Weil aber seine Macht und sein Wachstumdurch das Vermögen einer äußern Ursache, verglichenmit dem unsrigen, sich erklärt (nach Lehrsatz 5 diesesTeils), so können wir folglich von diesem Affekt un-endlich viele Grade und Arten begreifen (nach Lehr-satz 3 dieses Teils) und ihn also als einen solchen be-greifen, der die Wollust gegen Übermaß einzuschrän-ken und insofern (nach dem ersten Teil dieses Lehr-satzes) zu bewirken vermag, daß die Fähigkeit desKörpers nicht vermindert werde. Mithin wird er inso-fern gut sein. - W.z.b.w.

Vierundvierzigster Lehrsatz

Liebe und Begierde können ein Übermaß haben.

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Beweis

Liebe ist Lust (nach den Definitionen der Affekte,Ziffer VI), verbunden mit der Idee einer äußern Ursa-che. Wollust also (nach Anmerkung zu Lehrsatz 11,Teil 3), verbunden mit der Idee einer äußern Ursache,ist Liebe. Somit kann Liebe (nach dem vorigen Lehr-satz) ein Übermaß haben. - Die Begierde sodann istum so stärker, je stärker der Affekt ist, aus der sie ent-springt (nach Lehrsatz 37, Teil 3). Wie daher ein Af-fekt (nach Lehrsatz 6 dieses Teils) die übrigen Tätig-keiten des Menschen übertreffen kann, so wird aucheine Begierde, die aus einem solchen Affekt ent-springt, die übrigen Begierden übertreffen und mithindasselbe Übermaß haben können, welches im vorigenLehrsatz von der Wollust dargetan wurde. - W.z.b.w.

Anmerkung

Das Wohlbehagen, das ich für gut erklärt habe,wird leichter begriffen als beobachtet. Denn die Af-fekte, von denen wir täglich bestürmt werden, bezie-hen sich meistens auf irgendeinen Teil des Körpers,der mehr als die übrigen erregt wird. Daher haben dieAffekte meistens ein Übermaß und halten den Geist inder bloßen Betrachtung Eines Objekts so gefesselt,

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daß er nicht an andere zu denken vermag. Und ob-gleich die Menschen vielerlei Affekten unterworfensind und daher selten Menschen angetroffen werden,welche immer von einem und demselben Affekt be-stürmt werden, so fehlt es doch wieder nicht an sol-chen, welchen ein und derselbe Affekt hartnäckig an-haftet. Denn wir sehen, daß Menschen manchmal vonEinem Gegenstand so erregt werden, daß sie densel-ben vor sich zu haben meinen, obgleich er nicht ge-genwärtig ist, was, wenn es im wachenden Zustandvorkommt, den Betreffenden als irrsinnig oder ver-rückt erscheinen läßt. Nicht minder werden diejenigenfür verrückt gehalten, welche in Liebe entbrannt sindund Tag und Nacht nur von der Geliebten oder Dirneträumen; weil sie gewöhnlich die Lachlust erregen.Wenn aber der Habsüchtige an nichts anderes denktals an Profit oder Geld, der Ehrgeizige an Ruhm usw.,so hält man diese nicht für irrsinnig, weil sie gewöhn-lich lästig sind und für hassenswert erachtet werden.In Wahrheit aber sind Habsucht, Ehrsucht, Lüstern-heit usw. Arten des Irrsinns, obgleich sie nicht zu denKrankheiten gezählt werden.

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Fünfundvierzigster Lehrsatz

Der Haß kann niemals gut sein.

Beweis

Einen Menschen, den wir hassen, streben wir zuvernichten (nach Lehrsatz 39, Teil 3), d.h. (nachLehrsatz 37 dieses Teils), wir streben nach etwas, dasschlecht ist. Folglich usf. - W.z.b.w.

Anmerkung

Man beachte, daß ich unter Haß hier und im fol-genden nur den meine, der gegen Menschen gerichtetist.

Zusatz I

Mißgunst, Verhöhnung (Spott), Verachtung, Zorn,Rachsucht und die übrigen Affekte, die sich auf denHaß beziehen oder aus ihm entspringen, sindschlecht; was gleichfalls aus Lehrsatz 39 im drittenTeil und Lehrsatz 37 dieses Teils erhellt.

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Zusatz II

Alles, was wir deshalb begehren, weil wir von Haßerregt sind, ist unehrbar und im Staat ungerecht. Dieserhellt auch aus Lehrsatz 39 im dritten Teil und ausder Definition von unehrbar und ungerecht, s. dieselbein den Anmerkungen zu Lehrsatz 3, dieses Teils.

Anmerkung

Zwischen Verhöhnung (Spott), die ich in Zusatz Ials schlecht bezeichnet habe, und Lachen nehme icheinen großen Unterschied an. Denn das Lachen wieauch der Scherz ist reine Lust und ist daher, wofernnur Übermaß vermieden wird, an und für sich gut(nach Lehrsatz 41 dieses Teils). Wahrlich, nur ein fin-sterer und trübseliger Aberglaube verbietet, sich zuerheitern. Denn weshalb sollte es sich weniger gezie-men, den Trübsinn zu verscheuchen, als den Hungerund den Durst zu vertreiben?

Ich meinerseits denke so und habe folgende An-sicht gewonnen: Kein Gott und kein Mensch, außerein mißgünstiger, freut sich über mein Unvermögenund Unbehagen und rechnet uns Tränen, Stöhnen,Furcht und andere solche Merkmale geistiger Schwä-che zur Tugend an. Im Gegenteil, je mehr wir von

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Lust erregt werden, zu desto höherer Vollkommenheitgehen wir über, d.h., desto mehr sind wir der göttli-chen Natur notwendig teilhaftig.

Die Dinge zu genießen und sich an ihnen soviel alsmöglich zu vergnügen (nicht zwar bis zum Überdruß,denn das heißt nicht, sich vergnügen), ist darum einesweisen Mannes durchaus würdig. Des weisen Man-nes, sage ich, ist es durchaus würdig, an angenehmenSpeisen und Getränken sich mäßig zu erquicken undzu stärken wie nicht minder an Wohlgerüchen, an derSchönheit der Pflanzenwelt, an Schmuck, Musik,Kampf- und Schauspielen und anderen Dingen dieserArt, was jeder, ohne irgendeinen Nachteil für einenandern, genießen kann.

Denn der menschliche Körper ist aus vielen Teilenvon verschiedener Natur zusammengesetzt, welchefortwährend neuer und verschiedener Nahrung bedür-fen, damit der ganze Körper zu allem, was aus seinerNatur folgen kann, gleich befähigt sei und demgemäßauch der Geist gleich befähigt sei, mehreres zugleichzu erkennen.

Diese Einrichtung des Lebens stimmt daher sowohlmit meinen Prinzipien wie auch mit der allgemeinenPraxis vollkommen überein. Wenn irgendeine, istdaher diese Lebensweise die beste und in jeder Hin-sicht empfehlenswerteste, und es ist nicht nötig, nochdeutlicher und ausführlicher darüber zu sprechen.

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Sechsundvierzigster Lehrsatz

Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, strebt, so-viel er kann, den Haß, den Zorn, die Verachtungusw. anderer gegen ihn durch Liebe oder Edelsinnzu vergelten.

Beweis

Alle Affekte des Hasses sind schlecht (nach ZusatzI zum vorigen Lehrsatz). Daher wird, wer nach derLeitung der Vernunft lebt, soviel er kann zu bewirkenstreben, daß er nicht von Affekten des Hasses be-stürmt werde (nach Lehrsatz 19 dieses Teils), undfolglich (nach Lehrsatz 37 dieses Teils) wird er stre-ben, daß auch kein anderer diese Affekte erleide. DerHaß aber wird durch Gegenhaß vermehrt, kann aberdurch Gegenliebe erstickt werden (nach Lehrsatz 43,Teil 3), so daß der Haß in Liebe übergeht (nach Lehr-satz 44, Teil 3). Folglich wird, wer nach der Leitungder Vernunft lebt, bestrebt sein, den Haß usw. einesandern durch Liebe zu vergelten, d.h. durch Edelsinn(s. dessen Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz59, Teil 3).- W.z.b.w.

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Anmerkung

Wer Beleidigungen mit Haß erwidert und sich andem Beleidiger rächen will, verbittert sicherlich seineigenes Leben. Wer dagegen trachtet, den Haß durchLiebe zu bekämpfen, der kämpft unstreitig mit Freudeund Zuversicht, wehrt sich ebenso leicht gegen EinenMenschen wie gegen viele und bedarf der Hilfe desGlücks am wenigsten. Diejenigen aber, die er besiegthat, geben sich gerne besiegt, nicht aus Verlust anKräften, sondern aus Zuwachs daran. - Das alles folgtso klar aus den bloßen Definitionen der Liebe und desVerstandes, daß es nicht nötig ist, es im einzelnennachzuweisen.

Siebenundvierzigster Lehrsatz

Die Affekte der Hoffnung und Furcht können nichtan und für sich gut sein.

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Beweis

Es gibt keine Affekte der Hoffnung und Furchtohne Unlust. Denn Furcht ist (nach den Definitionender Affekte, Ziffer XIII) Unlust, und Hoffnung (s. dieErklärung in Ziffer XII und XIII der Definitionen derAffekte) gibt es nicht ohne Furcht. Folglich (nachLehrsatz 41 dieses Teils) können diese Affekte nichtan sich gut sein, sondern nur, sofern sie das Übermaßder Lust zu hemmen vermögen (nach Lehrsatz 43 die-ses Teils). - W.z.b.w.

Anmerkung

Hierzu kommt noch, daß diese Affekte einen Man-gel der Erkenntnis und ein Unvermögen des Geistesanzeigen. Aus diesem Grunde sind auch Zuversichtund Verzweiflung, Freude und Gewissensbiß Zeichengeistigen Unvermögens. Denn obgleich Zuversichtund Freude Affekte der Lust sind, so setzen sie dochvorangegangene Unlust voraus, nämlich Hoffnungund Furcht. Je mehr wir daher streben, nach der Lei-tung der Vernunft zu leben, desto mehr suchen wir,von der Hoffnung unabhängig zu sein, von der Furchtuns zu befreien, das Glück, soviel wir vermögen, zubeherrschen und unsere Handlungen nach der sicheren

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Weisung der Vernunft zu regeln.

Achtundvierzigster Lehrsatz

Die Affekte der Überschätzung und Unterschätzungsind immer schlecht.

Beweis

Denn diese Affekte widerstreiten (nach den Defini-tionen der Affekte, Ziffern XXI und XXII) der Ver-nunft. Also sind sie (nach den Lehrsätzen 26 und 27dieses Teils) schlecht. - W.z.b.w.

Neunundvierzigster Lehrsatz

Überschätzung macht leicht den Menschen, derüberschätzt wird, hochmütig.

Beweis

Wenn wir sehen, daß jemand aus Liebe einegrößere Meinung von uns hat, als recht ist, so ge-schieht es leicht, daß wir uns geehrt fühlen (nach An-merkung zu Lehrsatz 41, Teil 3) oder von Lust erregt

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werden (nach den Definitionen der Affekte, ZifferXXX) und daß wir das Gute, das wir uns zuschreibenhören, glauben (nach Lehrsatz 2S, Teil 3). Wir wer-den also aus Liebe zu uns eine größere Meinung vonuns haben, als recht ist, d.h. (nach den Definitionender Affekte, Ziffer XXVIII), wir werden leicht hoch-mütig werden. - W.z.b.w.

Fünfzigster Lehrsatz

Mitleid ist bei einem Menschen, der nach der Lei-tung der Vernunft lebt, an und für sich schlecht undunnütz.

Beweis

Denn Mitleid ist (nach den Definitionen der Affek-te, Ziffer XVIII) Unlust und daher (nach Lehrsatz 41dieses Teils) an und für sich schlecht. Das Gute aber,das aus ihm folgt, daß wir nämlich den bemitleidetenMenschen von seinem Leid zu befreien suchen (nachZusatz III zu Lehrsatz 27, Teil 3), suchen wir nachdem bloßen Gebot der Vernunft zu tun (nach Lehrsatz37 dieses Teils); und nur von dem, was wir nach demGebot der Vernunft tun können wir gewiß wissen,

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daß es gut ist (nach Lehrsatz 27 dieses Teils). Daherist Mitleid bei einem Menschen, der nach der Leitungder Vernunft lebt, an und für sich schlecht und un-nütz. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der Mensch, welcher nach derLeitung der Vernunft lebt, soviel als möglich zu be-wirken strebt, daß er nicht von Mitleid ergriffenwerde.

Anmerkung

Wer richtig erkannt hat, daß alles aus der Notwen-digkeit der göttlichen Natur folgt und nach den ewi-gen Gesetzen und Regeln der Natur geschieht, derwird sicherlich nichts finden, was Haß, Spott oderVerachtung verdient, noch wird er jemand bemitlei-den, sondern er wird streben, soweit die menschlicheTugend es vermag, gut zu handeln, wie man sagt, undfröhlich zu sein. - Hierzu kommt noch, daß, derjenige,welcher leicht vom Affekt des Mitleids ergriffen undvon dem Unglück und den Tränen eines andern be-wegt wird, oft etwas tut, was ihn selbst später reut;sowohl weil wir im Affekt nichts tun, wovon wir

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gewiß wissen, daß es gut ist, als auch, weil wir leichtdurch falsche Tränen betrogen werden.

Ich spreche jedoch hier ausdrücklich nur von einemMenschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt.Denn wer weder durch die Vernunft noch durch Mit-leid bewegt wird, andern Hilfe zu leisten, der wird mitRecht unmenschlich genannt, denn er scheint (nachLehrsatz 27, Teil 3) mit einem Menschen keine Ähn-lichkeit zu haben.

Einundfünfzigster Lehrsatz

Gunst widerstreitet der Vernunft nicht, sondernkann mit ihr übereinstimmen und aus ihr entsprin-gen.

Beweis

Denn Gunst ist Liebe zu jemand, der einem andernwohlgetan hat (nach den Definitionen der Affekte,Ziffer XIX), und kann sich also auf den Geist bezie-hen, sofern von ihm gesagt wird, daß er tätig ist (nachLehrsatz 59, Teil 3), d.h. (nach Lehrsatz 3, Teil 3),sofern er erkennt. Folglich stimmt sie mit der Ver-nunft überein usw. - W.z.b.w.

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Anderer Beweis

Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, wünschtdas Gute, das er für sich begehrt, auch andern (nachLehrsatz 37 dieses Teils). Wenn daher jemand einemandern wohltun sieht, so wird dadurch sein eigenesBestreben wohlzutun gefördert, d.h. (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 11, Teil 3), er wird Lust empfinden,und zwar (nach der Voraussetzung) verbunden mit derIdee dessen, der dem anderen wohlgetan hat. Folglichist er (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XIX)ihm zugeneigt. - W.z.b.w.

Anmerkung

Entrüstung, wie sie von mir definiert wurde (s. Defi-nitionen der Affekte, Ziffer XX), ist notwendigschlecht (nach Lehrsatz 45 dieses Teils). - Es ist je-doch zu bemerken, daß ich es nicht als Entrüstunggegen den Bürger bezeichne, wenn die höchste Ge-walt in der Absicht, den Bürgerfrieden zu sichern,diejenigen bestraft, welche andern Unrecht getan.Denn sie will nicht, von Haß gereizt, den Bürger ver-derben, sondern sie straft ihn aus guten Beweggrün-den.

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Zweiundfünfzigster Lehrsatz

Selbstzufriedenheit kann aus der Vernunft entsprin-gen, und nur diese aus der Vernunft entspringendeZufriedenheit ist die höchste, welche es geben kann.

Beweis

Selbstzufriedenheit ist Lust, daraus entsprungen,daß der Mensch sich selbst und sein Tätigkeitsvermö-gen betrachtet (nach den Definitionen der Affekte,Ziffer XXV). Aber das wahre Tätigkeitsvermögen desMenschen oder die Tugend ist die Vernunft selbst(nach Lehrsatz 3, Teil 3), welche der Mensch klar unddeutlich betrachtet (nach den Lehrsätzen 40 und 43,Teil 2). Folglich entspringt Selbstzufriedenheit ausder Vernunft. - Ferner erfaßt der Mensch, während ersich selbst betrachtet, nur das klar und deutlich oderadäquat, was aus seinem Tätigkeitsvermögen erfolgt(nach Definition 2, Teil 3), d.h. (nach Lehrsatz 3, Teil3), was aus seinem Erkenntnisvermögen folgt. Alsoentspringt aus dieser Betrachtung allein die höchsteZufriedenheit, die es geben kann. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Die Selbstzufriedenheit ist in Wahrheit das Höch-ste, was wir hoffen können. Denn (wie ich in Lehrsatz25 dieses Teils gezeigt) niemand strebt, sein Sein umirgendeines Zwecks willen zu erhalten. - Und weil Zu-friedenheit durch Lob mehr und mehr genährt undverstärkt (nach Zusatz zu Lehrsatz 53, Teil 3), durchTadel dagegen mehr und mehr geschwächt wird (nachZusatz zu Lehrsatz 55, Teil 3), darum übt der Ruhmeine so große Anziehungskraft auf uns aus und kön-nen wir ein Leben in Schande kaum ertragen.

Dreiundfünfzigster Lehrsatz

Niedergeschlagenheit ist keine Tugend oder ent-springt nicht aus der Vernunft.

Beweis

Niedergeschlagenheit ist Unlust, welche darausentspringt, daß der Mensch sein Unvermögen betrach-tet (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXVI).Sofern aber der Mensch sich selbst wahrhaft vernunft-gemäß erkennt, insofern wird er als ein solcher

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angenommen, der sein Wesen, d.h. (nach Lehrsatz 7,Teil 3) sein Vermögen, erkennt. Wenn daher derMensch, während er sich selbst betrachtet, irgendeinUnvermögen an sich wahrnimmt, so kommt das nichtdaher, daß er sich erkennt, sondern (wie ich in Lehr-satz 55, Teil 3, gezeigt habe) daher, daß sein Tätig-keitsvermögen gehemmt wird. Wenn wir aber anneh-men, daß der Mensch sein Unvermögen daraus be-greift, daß er etwas erkennt, was mehr Vermögen hatals er selbst, durch dessen Erkenntnis er sein Tätig-keitsvermögen bestimmt, so begreifen wir nichts an-deres, als daß der Mensch sich selbst deutlich erkennt(nach Lehrsatz 26 dieses Teils), wodurch sein Tätig-keitsvermögen gefördert wird. Niedergeschlagenheitoder die aus der Betrachtung des eigenen Unvermö-gens entspringende Unlust entspringt daher nicht ausder wahren Betrachtung oder aus der Vernunft und istdaher keine Tugend, sondern ein Leiden. - W.z.b.w.

Vierundfünfzigster Lehrsatz

Reue ist keine Tugend oder entspringt nicht aus derVernunft; sondern der, welcher eine Tat bereut, istdoppelt gedrückt oder unvermögend.

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Beweis

Der erste Teil dieses Lehrsatzes wird so bewiesenwie der vorige Lehrsatz. Der zweite Teil erhellt ausder bloßen Definition dieses Affekts (s. die Definitio-nen der Affekte, Ziffer XXVII). Denn wer eine Tatbereut, leidet doppelt, indem er sich zuerst durch eineverwerfliche Begierde und dann durch die Unlust dar-über besiegen läßt.

Anmerkung

Weil die Menschen selten nach dem Gebot der Ver-nunft leben, darum stiften diese beiden Affekte, näm-lich Niedergeschlagenheit und Reue und außer ihnenauch Hoffnung und Furcht, mehr Nutzen als Schaden;und wenn doch einmal gefehlt werden soll, so ist esimmerhin besser, nach dieser Richtung zu fehlen.Denn wenn die geistig schwachen Menschen gleichhochmütig wären, sich über nichts schämten und sichvor nichts fürchteten, wie sollten sie dann durch(staatliche) Bande vereinigt und zusammengehaltenwerden. Der Pöbel ist furchtbar, wenn er nicht fürch-tet. Kein Wunder daher, daß die Propheten, welchenicht auf den Nutzen weniger Menschen, sondern aufden allgemeinen Nutzen bedacht waren,

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Niedergeschlagenheit, Reue und Ehrfurcht so sehrempfohlen haben. Und wirklich können Menschen,welche diesen Affekten unterworfen sind, viel leichterals andere nach und nach dahin gebracht werden, nachder Leitung der Vernunft zu leben, d.h., frei zu seinund glückselig zu leben.

Fünfundfünfzigster Lehrsatz

Der größte Hochmut und der größte Kleinmut ist diegrößte Unkenntnis seiner selbst.

Beweis

Derselbe erhellt aus den Definitionen der Affekte,Ziffern XXVIII und XXIX.

Sechsundfünfzigster Lehrsatz

Der größte Hochmut und der größte Kleinmut be-kundet das größte geistige Unvermögen.

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Beweis

Die erste Grundlage der Tugend ist, sein Sein zuerhalten (nach Zusatz zu Lehrsatz 22 dieses Teils),und zwar nach der Leitung der Vernunft (nach Lehr-satz 24 dieses Teils). Wer also sich selbst nicht kennt,kennt nicht die Grundlage aller Tugenden und folglichauch nicht diese Tugenden selbst. Aus Tugend han-deln ist ferner nichts anderes, als nach der Leitung derVernunft handeln (nach Lehrsatz 24 dieses Teils).Wer aber nach der Leitung der Vernunft handelt, mußnotwendig wissen, daß er nach der Leitung der Ver-nunft handelt (nach Lehrsatz 43, Teil 2). Wer alsosich selbst und folglich (wie eben gezeigt worden)alle Tugenden am wenigsten kennt, der handelt amwenigsten aus Tugend, d.h. (wie aus Definition 8 die-ses Teils erhellt), er ist am meisten geistig unvermö-gend. Folglich bekundet (nach dem vorigen Lehrsatz)der größte Hochmut und der größte Kleinmut dasgrößte geistige Unvermögen. - W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt aufs deutlichste, daß die Hochmüti-gen und Kleinmütigen den Affekten am meisten unter-worfen sind.

Anmerkung

Kleinmut kann jedoch leichter überwunden werdenals Hochmut, da dieser ein Lustaffekt, jener aber einUnlustaffekt und daher (nach Lehrsatz 18 diesesTeils) ein stärkerer Affekt ist.

Siebenundfünfzigster Lehrsatz

Der Hochmütige liebt die Nähe von Schmarotzernoder Schmeichlern, haßt aber die der Edelgesinnten.

Beweis

Hochmut ist Lust, daraus entsprungen, daß derMensch eine bessere Meinung von sich hat, als rechtist (nach den Definitionen der Affekte, ZiffernXXVIII und VI). Diese Meinung strebt der hochmüti-ge Mensch, soviel er vermag, zu nähren (s.

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Anmerkung zu Lehrsatz 13, Teil 3). Daher wird derHochmütige die Nähe der Schmarotzer oderSchmeichler (deren Definitionen ich übergangen habe,weil sie allbekannt sind) lieben, die der Edelgesinntenaber, welche keine bessere Meinung von ihm haben,als recht ist, fliehen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Es würde zu weit führen, wenn ich hier alle Übeldes Hochmuts aufzählen wollte, da ja die Hochmüti-gen allen Affekten unterworfen sind, aber keinen Af-fekten weniger als denen der Liebe und Barmherzig-keit.

Indessen darf hier nicht verschwiegen werden, daßauch derjenige hochmütig genannt wird, der von an-deren Menschen eine geringere Meinung hat, als rechtist. In diesem Sinne also ist Hochmut zu definierenals: Lust, entsprungen aus der falschen Meinung, daßder Mensch sich über die andern erhaben dünkt. Derdiesem Hochmut gegenüberstehende Kleinmut wärezu definieren als: Unlust, entsprungen aus der fal-schen Meinung, daß der Mensch sich geringer als an-dere wähnt. Bei dieser Auffassung begreift es sichleicht, daß der Hochmütige notwendig mißgünstig ist(s. die Anmerkung zu Lehrsatz 55, Teil 3) und dieje-nigen besonders haßt, die wegen ihrer Tugend sehr

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gepriesen werden; daß sein Haß nicht leicht durchLiebe oder Wohltaten besiegt wird (s. Anmerkung zuLehrsatz 41, Teil 3) und daß ihm nur die Nähederjenigen Freude macht, die seine Geistesschwächehätscheln und ihn aus einem Toren vollends zum Nar-ren machen.

Obgleich nun Kleinmut der Gegensatz von Hoch-mut ist, so steht doch der Kleinmütige dem Hochmü-tigen sehr nahe. Denn, da seine Unlust daraus ent-springt, daß er sein Unvermögen nach dem Vermögenoder der Tugend anderer beurteilt, so wird seine Un-lust gemildert werden, d.h., er wird Lust empfinden,wenn seine Vorstellung sich mit der Betrachtung derFehler anderer Menschen befaßt. Daher das Sprüch-wort:

Trost für Unglückliche ist's, Genossen im Unglück zuhaben.

Umgekehrt wird er um so mehr Unlust empfinden,je geringer er sich gegen andere wähnt. Daher kommtes, daß niemand mehr zum Neid geneigt ist als dieKleinmütigen; daß sie mit Vorliebe das Tun und Las-sen anderer beobachten, mehr um zu nörgeln, als umzu bessern und daß sie endlich nur den Kleinmutloben und sich dessen rühmen, aber so, daß sie dabeidoch den Schein des Kleinmuts bewahren. Dies folgt

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aus diesem Affekt so notwendig, wie aus der Naturdes Dreiecks folgt, daß seine drei Winkel zwei rech-ten Winkeln gleich sind.

Ich habe schon gesagt, daß ich diese und ähnlicheAffekte als schlechte bezeichne, sofern ich nur denmenschlichen Nutzen ins Auge fasse. Die Naturgeset-ze aber richten sich nach der allgemeinen Ordnungder Natur, von welcher der Mensch nur ein Teil ist.Daran wollte ich hier im Vorbeigehen erinnern, damitman nicht etwa glaube, ich hätte hier die Laster undtörichten Handlungen der Menschen aufzählen undnicht vielmehr die Natur und die Eigenschaften derDinge erörtern wollen. Denn, wie ich im Vorwortzum dritten Teil gesagt habe, ich betrachte diemenschlichen Affekte und ihre Eigenschaften ganzwie die übrigen Dinge der Natur. Und sicherlich be-kunden die menschlichen Affekte das Vermögen unddie Geschicklichkeit wenn nicht des Menschen, sodoch der Natur nicht minder als vieles andere, das wirbewundern und an dessen Betrachtung wir uns erfreu-en.

Ich fahre aber nun fort, über die Affekte das hervor-zuheben, was den Menschen zum Nutzen und wasihnen zum Schaden gereicht.

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Achtundfünfzigster Lehrsatz

Ehre (Ehrfreude) widerstreitet der Vernunft nicht,sondern kann aus ihr entspringen.

Beweis

Derselbe erhellt aus den Definitionen der Affekte,Ziffer XXX, und aus der Definition von ehrbar, s. die-selbe in der 1. Anmerkung zu Lehrsatz 37 diesesTeils.

Anmerkung

Was man eitlen Ruhm nennt, ist Zufriedenheit mitsich selbst, welche bloß von der guten Meinung derMenge genährt wird, bei deren Schwinden auch dieZufriedenheit schwindet, d.h. (nach Anmerkung zuLehrsatz 52 dieses Teils) das höchste Gut, welchesjeder liebt. Daher kommt es, daß, wer sich der Mei-nung der Menge rühmt, in steter Sorge bangend sichabmüht, tut, probiert, um seinen Ruf zu erhalten.Denn die Menge ist wankelmütig und wetterwen-disch, darum vergeht der Ruf bald, wenn er nichtkünstlich erhalten wird. Ja, weil alle nach dem Beifallder Menge haschen, verdunkelt der eine leicht den Ruf

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des andern. In diesem Wettkampf um das vermeintli-che höchste Gut entwickelt sich ein gewaltiger Eifer,einander auf jegliche Weise zu verdunkeln und werschließlich als Sieger hervorgeht, gründet seinenRuhm mehr darauf, daß er anderen geschadet, als daßer sich selbst genützt hat. Dieser Ruhm oder diese Zu-friedenheit ist also in Wahrheit eitel, weil sie garkeine ist.

Was über Scham zu bemerken ist, läßt sich leichtaus dem abnehmen, was über Barmherzigkeit undReue gesagt wurde. Nur das sei noch hinzugefügt,daß die Scham, ebenso wie das Mitleid, zwar keineTugend, aber dennoch gut ist, sofern sie bekundet,daß dem Menschen, welcher Scham empfindet, dieBegierde innewohnt, ehrbar zu leben; ebenso wie derSchmerz, der insofern gutheißt, sofern er bekundet,daß der verletzte Teil noch nicht ganz verdorben ist.Der Mensch, der sich einer Handlung schämt, istdaher, obgleich er in Wahrheit Unlust empfindet, den-noch vollkommener als der Schamlose, dem die Be-gierde, ehrbar zu leben, abgeht.

Das ist es, was ich über die Affekte der Lust undUnlust bemerken wollte. - Was die Begierden betrifft,so sind sie eben gut oder schlecht, je nachdem sie ausguten oder schlechten Begierden entspringen. Dochsind sie alle, sofern sie aus Affekten, welche Leidensind, in uns entstehen, in Wahrheit blind (wie dem,

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was in der Anmerkung zu Lehrsatz 44 dieses Teilsgesagt wurde, leicht zu entnehmen ist), und sie wür-den von keinerlei Nutzen sein, wenn die Menschenleicht dahin gebracht werden könnten, bloß nach demGebot der Vernunft zu leben. Dies will ich nun inKürze dartun.

Neunundfünfzigster Lehrsatz

Zu allen Handlungen, zu welchen wir durch einenAffekt, welcher ein Leiden ist, bestimmt werden, kön-nen wir auch ohne denselben durch die Vernunft be-stimmt werden.

Beweis

Aus Vernunft handeln ist nichts anderes (nachLehrsatz 3 und Definition 2, Teil 3), als das tun, wasaus der Notwendigkeit unserer Natur, an sich alleinbetrachtet, folgt. Die Unlust aber ist insofern schlecht,sofern sie dieses Tätigkeitsvermögen vermindert oderhemmt (nach Lehrsatz 41 dieses Teils). Folglich kön-nen wir durch diesen Affekt zu keiner Handlung be-stimmt werden, die wir nicht tun könnten, wenn wirvon der Vernunft geleitet würden. Außerdem ist Lustnur insofern schlecht, sofern sie die Fähigkeit des

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Menschen zum Handeln beeinträchtigt (nach denLehrsätzen 41 und 43 dieses Teils). Daher können wirauch insofern zu keiner Handlung bestimmt werden,die wir nicht tun könnten, wenn wir von der Vernunftgeleitet würden. Sofern endlich die Lust gut ist, inso-fern stimmt sie mit der Vernunft überein (denn sie be-steht darin, daß sie das Tätigkeitsvermögen des Men-schen vermehrt oder fördert), und sie ist ein Leidennur, sofern das Tätigkeitsvermögen des Menschendurch sie nicht so sehr vermehrt wird, daß er sich undseine Handlungen adäquat begreift (nach Lehrsatz 3,Teil 3, mit seiner Anmerkung). Wenn daher der vonLust erregte Mensch zu solcher Vollkommenheit ge-bracht würde, daß er sich und seine Handlungen ad-äquat begreifen würde, so wäre er zu denselben Hand-lungen befähigt, ja noch befähigter, zu welchen erjetzt durch die Affekte, welche Leiden sind, bestimmtwird. Alle Affekte aber beziehen sich auf Lust, Unlustoder Begierde (s. die Erläuterung zu Ziffer IV der De-finitionen der Affekte), und die Begierde ist (nach denDefinitionen der Affekte, Ziffer I) nichts anderes alsdas Tätigkeitsbestreben selbst. Folglich können wirzu allen Handlungen, zu welchen wir durch einen Af-fekt, welcher ein Leiden ist, bestimmt werden, ohnedenselben, durch die Vernunft allein veranlaßt wer-den. - W.z.b.w.

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Anderer Beweis

Jede Handlung heißt insofern schlecht, sofern siedaraus entspringt, daß wir von Haß oder von irgend-einem schlechten Affekt erregt sind (s. Zusatz I zuLehrsatz 45 dieses Teils). Keine Handlung aber ist,für sich allein betrachtet, gut oder schlecht (wie imVorwort dieses Teils gezeigt wurde), vielmehr ist eineund dieselbe Handlung bald gut, bald schlecht. Folg-lich können wir zu derselben Handlung, welche jetztschlecht ist oder welche aus irgendeinem schlechtenAffekt entspringt, durch die Vernunft veranlaßt wer-den. - W.z.b.w.

Anmerkung

Ein Beispiel wird dies klarer machen. Das Schla-gen ist, sofern es als physische Handlung betrachtetwird und wir nur das ins Auge fassen, daß derMensch den Arm erhebt, die Hand ballt und den gan-zen Arm mit Kraft auf einen Gegenstand fallen läßt,eine Tugend, die aus dem Bau des menschlichen Kör-pers begriffen wird. Wenn also ein Mensch, von Zornoder Haß bewegt, bestimmt wird, die Hand zu ballenoder den Arm zu bewegen, so geschieht es, wie ich imzweiten Teil gezeigt habe, weil eine und dieselbe

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Handlung mit allerlei Vorstellungen von Dingen ver-bunden werden kann. Daher können wir sowohl durchsolche Vorstellungen der Dinge, die wir verworren,als auch durch solche, die wir klar und deutlich be-greifen, zu einer und derselben Handlung bestimmtwerden. Es ist also klar, daß jede Begierde, die auseinem Affekt, der ein Leiden ist, entspringt, von kei-nem Nutzen wäre, wenn die Menschen von der Ver-nunft geleitet werden könnten.

Sehen wir nunmehr, warum eine Begierde, die auseinem Affekt, der ein Leiden ist, entspringt, von unsblind genannt wird.

Sechzigster Lehrsatz

Die Begierde, welche aus einer Lust oder Unlustentspringt, die sich auf einen oder einige, nicht aberauf alle Teile des Körpers bezieht, hat keine nützli-che Beziehung für den ganzen Menschen.

Beweis

Gesetzt z.B., der Körperteil A werde durch dieKraft irgendeiner äußeren Ursache so gestärkt, daß erden andern überlegen ist (nach Lehrsatz 6 diesesTeils), so wird dieser Teil seine Kräfte nicht deshalb

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zu verlieren streben, damit die andern Körperteile ihreFunktion verrichten können; denn er müßte alsdanneine Kraft oder ein vermögen haben, seine Kräfte zuverlieren, was (nach Lehrsatz 6, Teil 3) widersinnigist. Dieser Teil und folglich auch (nach den Lehrsät-zen 7 und 12, Teil 3) der Geist wird daher streben,diesen Zustand zu erhalten. Die Begierde also, welcheaus einem solchen Lustaffekt entspringt, hat keine Be-ziehung zum Ganzen. Wird umgekehrt gesetzt, derTeil A werde so gehemmt, daß die andern ihm überle-gen sind, so wird auf dieselbe Weise bewiesen, daßauch die Begierde, welche aus Unlust entspringt,keine Beziehung zum Ganzen hat. - W.z.b.w.

Anmerkung

Da sich nun die Lust meistenteils (nach Anmer-kung zu Lehrsatz 44 dieses Teils) auf Einen Körper-teil bezieht, so erstreckt sich folglich meistenteils dasBestreben, unser Sein zu erhalten, nicht auf unser ge-samtes Wohlbefinden. Hierzu kommt noch, daß dieBegierden, von denen wir vorzugsweise erfaßt werden(nach Zusatz zu Lehrsatz 9 dieses Teils), nur zur ge-genwärtigen Zeit, nicht aber zur zukünftigen Bezie-hung haben.

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460Spinoza: Ethik

Einundsechzigster Lehrsatz

Die Begierde, welche aus der Vernunft entspringt,kann kein Vermaß haben.

Beweis

Die Begierde (nach den Definitionen der Affekte,Ziffer I), absolut betrachtet, ist des Menschen Wesenselbst, sofern es auf irgendeine Weise zu handeln be-stimmt begriffen wird. Die Begierde daher, die ausder Vernunft entspringt, d.h. (nach Lehrsatz 3, Teil3), die in uns entsteht, sofern wir tätig sind, ist desMenschen Wesen oder Natur selbst, sofern es begrif-fen wird als bestimmt, das zu tun, was aus demWesen des Menschen allein adäquat begriffen wird(nach Definition 2, Teil 3). Wenn also diese Begierdeein Übermaß haben könnte, so könnte folglich diemenschliche Natur, an sich allein betrachtet sichselbst überschreiten oder mehr vermögen, als sie ver-mag, was ein offenbarer Widerspruch ist. Daher kanndiese Begierde ein Übermaß nicht haben. - W.z.b.w.

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Zweiundsechzigster Lehrsatz

Sofern der Geist die Dinge nach dem Gebot der Ver-nunft begreift, wird er in gleicher Weise erregt, magdie Idee die eines Zukünftigen, vergangenen odergegenwärtigen Dinges sein.

Beweis

Alles, was der Geist unter der Leitung der Vernunftbegreift, begreift er unter demselben Gesichtspunktder Ewigkeit oder Notwendigkeit (nach Zusatz II zuLehrsatz 44, Teil 2), und er wird dabei von derselbenGewißheit erregt (nach Lehrsatz 43, Teil 2, und seinerAnmerkung). Mag daher die Idee die eines zukünfti-gen, vergangenen oder gegenwärtigen Dinges sein, sobegreift der Geist das Ding mit derselben Notwendig-keit und wird von derselben Gewißheit erregt, und dieIdee wird, mag sie die eines zukünftigen, vergangenenoder gegenwärtigen Dinges sein, dennoch gleich wahrsein (nach Lehrsatz 41, Teil 2), d.h. (nach Definition4, Teil 2), sie wird dennoch immer dieselben Eigen-schaften einer adäquaten Idee haben. Mithin wird derGeist, sofern er die Dinge nach dem Gebot der Ver-nunft begreift, auf dieselbe Weise erregt, ob die Ideedie eines zukünftigen, vergangenen oder

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gegenwärtigen Dinges ist. - W.z.b.w.

Anmerkung

Wenn wir von der Dauer der Dinge eine adäquateErkenntnis haben und die Zeit ihrer Existenz durchdie Vernunft bestimmen könnten, so würden wir diezukünftigen Dinge mit demselben Affekt betrachtenwie die gegenwärtigen, der Geist würde das Gute,welches er als zukünftig begreift, ebenso wie ein ge-genwärtiges erstreben; und folglich würde er notwen-dig auf ein geringeres gegenwärtiges Gut um einesgrößeren zukünftigen Guts willen verzichten undetwas, das in der Gegenwart gut, aber die Ursache ir-gendeines zukünftigen Übels ist, keineswegs erstre-ben, wie ich bald beweisen werde. Allein wir könnenvon der Dauer der Dinge (nach Lehrsatz 3l, Teil 2)nur eine sehr inadäquate Erkenntnis haben und be-stimmen die Existenz der Dinge (nach Anmerkung zuLehrsatz 44, Teil 2) durch die bloße Zeitenvorstel-lung, welche von dem Bild eines gegenwärtigen unddem eines zukünftigen Dinges nicht gleicherweise er-regt wird. Daher kommt es, daß die wahre Erkenntnisdes Guten und Schlechten, die wir haben, nur eine ab-strakte oder universale ist und daß das Urteil, das wirüber die Ordnung und den ursächlichen Zusammen-hang der Dinge bilden, um bestimmen zu können,

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was in der Gegenwart gut oder schlecht für uns sei,mehr ein imaginäres als ein sachgemäßes ist. Darumist es auch kein Wunder, wenn die Begierde, die ausder Erkenntnis des Guten und Schlechten, sofern sieZukünftiges betrifft, entspringt, sehr leicht durch dieBegierde zu Dingen eingeschränkt werden kann, diein der Gegenwart angenehm sind. Hierüber sehe manden 16. Lehrsatz dieses Teils.

Dreiundsechzigster Lehrsatz

Wer von der Furcht geleitet wird und das Gute tut,um das Schlechte zu verhüten, der wird nicht vonder Vernunft geleitet.

Beweis

Alle Affekte, die sich auf den Geist beziehen, so-fern er tätig ist, d.h. (nach Lehrsatz 3, Teil 3), die sichauf die Vernunft beziehen, sind keine andern als Af-fekte der Lust und der Begierde (nach Lehrsatz 59,Teil 3). Also wird (nach den Definitionen der Affekte,Ziffer XIII), wer von der Furcht geleitet wird und dasGute aus Furcht vor Schlechtem tut, nicht von derVernunft geleitet. - W.z.b.w.

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464Spinoza: Ethik

Anmerkung

Die Vertreter des Aberglaubens, welche besser ver-stehen, Laster zu tadeln, als Tugenden zu lehren, undwelche die Menschen nicht durch die Vernunft leiten,sondern durch die Furcht im Zaum halten wollen, esalso mehr darauf absehen, daß die Menschen dasSchlechte fliehen, als die Tugenden lieben, bezweckennichts anderes, als daß die anderen ein ebenso klägli-ches Leben führen wie sie selbst. Kein Wunder daher,wenn sie den Menschen meist lästig und verhaßt sind.

Zusatz

Durch die Begierde, welche aus der Vernunft ent-springt, folgen wir dem Guten unmittelbar und fliehenwir das Böse mittelbar.

Beweis

Denn die Begierde, welche aus der Vernunft ent-springt, kann nur aus einem Lustaffekt entspringen,welcher kein Leiden ist, d.h. aus der Lust, welche keinÜbermaß haben kann (nach Lehrsatz 61 dieses Teils),nicht aber aus der Unlust. Mithin entspringt diese Be-gierde (nach Lehrsatz 8 dieses Teils) aus der

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Erkenntnis des Guten, nicht aber des Schlechten. Alsoerstreben wir unter der Leitung der Vernunft das Guteunmittelbar und fliehen nur insofern das Schlechte. -W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Zusatz möge an dem Beispiel von einemKranken und Gesunden klarer gemacht werden. DerKranke genießt Dinge, die ihm zuwider sind, ausFurcht vor dem Tode. Der Gesunde dagegen erfreutsich an der Speise und genießt so das Leben besser,als wenn er den Tod fürchtete und ihn unmittelbar zuvermeiden suchte. - So wird der Richter, der nicht ausHaß oder Zorn, sondern bloß aus Liebe zum Öffentli-chen Wohl einen Schuldigen zum Tod verurteilt, bloßvon der Vernunft geleitet.

Vierundsechzigster Lehrsatz

Die Erkenntnis des Schlechten ist eine inadäquateErkenntnis.

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Beweis

Die Erkenntnis des Schlechten ist (nach Lehrsatz 8)die Unlust selbst, sofern wir derselben bewußt sind.Unlust aber ist Übergang zu geringerer Vollkommen-heit (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer III),welche daher aus des Menschen Wesen selbst nichtverstanden werden kann (nach den Lehrsätzen 6 und7, Teil 3) und sonach (nach Definition 2, Teil 3) einLeiden ist, das (nach Lehrsatz 3, Teil 3) von inadä-quaten Ideen abhängt. Folglich ist (nach Lehrsatz 29,Teil 2) dessen Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis desSchlechten, eine inadäquate. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß der menschliche Geist, wenn ernur adäquate Ideen hätte, keinen Begriff des Bösenbilden könnte.

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Fünfundsechzigster Lehrsatz

Unter der Leitung der Vernunft werden wir von zweiGütern das größere und von zwei Übeln das klei-nere wählen.

Beweis

Ein Gut, welches uns hindert, ein größeres Gut zugenießen, ist in Wahrheit ein Übel. Denn schlecht undgut heißen die Dinge (wie im Vorwort dieses Teilsgezeigt wurde), sofern wir sie miteinander verglei-chen, und das kleinere Übel ist (aus demselben Grun-de) in Wahrheit ein Gut. Daher werden wir (nach Zu-satz zum vorigen Lehrsatz) unter der Leitung der Ver-nunft nur das größere Gut und das kleinere Übel ver-langen oder wählen. - W.z.b.w.

Zusatz

Unter der Leitung der Vernunft werden wir einkleineres Übel um eines größeren Gutes willen wäh-len und auf ein kleineres Gut, das die Ursache einesgrößeren Übels ist, verzichten. Denn das Übel, das indiesem Fall ein kleineres heißt, ist eigentlich ein Gutund das Gut umgekehrt ein Übel. Daher (nach Zusatz

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zu Lehrsatz 63 dieses Teils) werden wir jenes verlan-gen und auf dieses verzichten. - W.z.b.w.

Sechsundsechzigster Lehrsatz

Unter der Leitung der Vernunft werden wir eingrößeres künftiges Gut einem geringeren gegenwär-tigen und ein kleineres gegenwärtiges Übel einemgrößeren künftigen vorziehen.

Beweis

Wenn der Geist von einem zukünftigen Ding eineadäquate Erkenntnis haben könnte, so würde er gegenein zukünftiges Ding von demselben Affekt wie gegenein gegenwärtiges erregt werden (nach Lehrsatz 62dieses Teils). Sofern wir also die Vernunft selbst insAuge fassen - was wir, unserer Annahme gemäß, indiesem Lehrsatz tun -, so bleibt es sich gleich, ob dasgrößere Gut oder Übel als künftig oder als gegenwär-tig angenommen wird. Daher werden wir (nach Lehr-satz 65 dieses Teils) ein größeres künftiges Gut einemgeringeren gegenwärtigen usw. vorziehen. - W.z.b.w.

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Zusatz

Unter der Leitung der Vernunft werden wir ein ge-genwärtiges kleineres Übel begehren, wenn es die Ur-sache eines künftigen größeren Guts ist, und auf eingegenwärtiges kleineres Gut verzichten, wenn es dieUrsache eines künftigen größeren ist. - Dieser Zusatzverhält sich zum obigen Lehrsatz wie der Zusatz des65. Lehrsatzes zu Lehrsatz 65.

Anmerkung

Vergleichen wir nun das Vorstehende mit dem, wasin diesem Teil bis zum 18. Lehrsatz über die Machtder Affekte dargelegt wurde, so sehen wir leicht,welch ein Unterschied zwischen einem Menschen ist,der bloß vom Affekt und von der Meinung, und einemMenschen, der von der Vernunft geleitet wird. Dennjener tut, er mag wollen oder nicht, das, worüber ersich in der größten Unkenntnis befindet. Dieser dage-gen folgt in allem nur sich selbst und tut nur das, waser als vorteilhaft für das Leben erkannt hat und was erdeshalb am meisten begehrt. Darum nenne ich jeneneinen Unfreien, diesen aber einen Freien, über dessenGesinnung und Lebensweise ich noch weniges bemer-ken möchte.

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Siebenundsechzigster Lehrsatz

Der freie Mensch denkt über nichts weniger als überden Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachden-ken über den Tod, sondern über das Leben.

Beweis

Der freie Mensch, d.h. der, welcher nur nach demGebot der Vernunft lebt, wird nicht von der Todes-furcht geleitet (nach Lehrsatz 63 dieses Teils), son-dern begehrt das Gute unmittelbar (nach Zusatz zudemselben Lehrsatz), d.h., sein Trieb zu handeln, zuleben, sein Sein zu erhalten, beruht auf der Grundla-ge, daß er den eigenen Nutzen sucht. Daher denkt erüber nichts weniger als über den Tod, vielmehr istseine Weisheit das Nachdenken über das Leben. -W.z.b.w.

Achtundsechzigster Lehrsatz

Wenn die Menschen als frei geboren wurden, sowürden sie, solange sie frei bleiben, keine Begriffevon gut und schlecht bilden.

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Beweis

Ich habe den frei genannt, der bloß von der Ver-nunft geleitet wird. Wer daher als freier Mensch gebo-ren wird und frei bleibt, der hat keine anderen als ad-äquate Ideen. Er kann somit keinen Begriff vonschlecht haben (nach Zusatz zu Lehrsatz 64 diesesTeils) und folglich (da gut und schlecht korrelate Be-griffe sind) auch nicht von gut. - W.z.b.w.

Anmerkung

Aus Lehrsatz 4 dieses Teils erhellt, daß die Vor-aussetzung dieses Satzes eine falsche ist und nur be-griffen werden kann, sofern wir die menschliche Naturallein oder vielmehr Gott ins Auge fassen, nicht so-fern er unendlich ist, sondern sofern er nur die Ursa-che ist, daß der Mensch existiert.

Dieses nun und anderes, was ich hier bewiesenhabe, scheint in der mosaischen Geschichte vom er-sten Menschen angedeutet zu sein. Dort wird nämlichkein anderes Vermögen Gottes begriffen als das,womit er den Menschen geschaffen hat, d.h. das Ver-mögen, womit er für den Nutzen des Menschen alleingesorgt hat. Insofern wird erzählt, daß Gott dem frei-en Menschen verboten habe, vom Baume der

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Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, und daßder Mensch, sobald er davon essen würde, mehr vonder Furcht vor dem Tod als von dem Wunsch zu lebenerfüllt sein würde. Ferner, daß, als der Mann dasWeib gefunden hatte, die mit seiner Natur vollständigübereinstimmte, er erkannte, daß es in der Naturnichts geben könne, was ihm nützlicher sein könnteals sie; daß aber, als er glaubte, die Tiere wären ihmähnlich, er sogleich anfing, ihre Affekte nachzuahmen(s. Lehrsatz 27, Teil 3) und seine Freiheit zu verlie-ren; welche die Patriarchen später wiedererlangten,geführt von dem Geiste Christi, d.h. von der Idee Got-tes, von der es allein abhängt, daß der Mensch frei istund das Gute, welches er sich wünscht, auch den an-deren Menschen wünscht, wie ich oben (in Lehrsatz37 dieses Teils) bewiesen habe.

Neunundsechzigster Lehrsatz

Die Tugend des freien Menschen zeigt sich ebensogroß in Vermeidung als in Überwindung von Gefah-ren.

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Beweis

Ein Affekt kann nicht anders eingeschränkt oderaufgehoben werden als durch einen andern Ihm entge-gengesetzten und stärkeren Affekt (nach Lehrsatz 7dieses Teils). Aber Tollkühnheit und Furcht sind Af-fekte, welche als gleich groß begriffen werden können(nach den Lehrsätzen 5 und 3 dieses Teils). Folglichist eine gleich große geistige Tugend oder Stärke (s.deren Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz 59;Teil 3) erforderlich, um die Kühnheit wie um dieFurcht einzuschränken. Das heißt (nach den Definitio-nen der Affekte, Ziffer XL und XLI), der freie Menschvermeidet mit derselben geistigen Tugend die Gefah-ren, mit welcher er sie zu überwinden sucht. -W.z.b.w.

Zusatz

Dem freien Menschen wird daher die Flucht zurrechten Zeit als ebenso große Seelenstärke (Tapfer-keit, Mut) angerechnet wie der Kampf. Mit andernWorten: der freie Mensch erwählt mit derselben See-lenstärke oder Geistesgegenwart die Flucht wie denKampf.

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Anmerkung

Was Seelenstärke ist oder was ich darunter verste-he, habe ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 59, Teil 3,erklärt. Unter Gefahr aber verstehe ich alles dasjenige,was Ursache irgendeines Übels sein kann, wie: derUnlust, des Hasses, der Zwietracht usw.

Siebzigster Lehrsatz

Der freie Mensch, der unter Unwissenden lebt, suchtsosehr als möglich ihren Wohltaten auszuweichen.

Beweis

Jeder beurteilt nach Seiner Sinnesweise, was gut ist(s. Anmerkung zu Lehrsatz 39, Teil 3). Der Unwis-sende also, der jemand eine Wohltat erwiesen hat,wird dieselbe nach seiner Sinnesweise schätzen, undwenn er sieht, daß sie von dem Empfänger geringergeschätzt wird, so wird er Unlust empfinden (nachLehrsatz 42, Teil 3). Der freie Mensch trachtet aber,sich die übrigen Menschen durch Freundschaft zu ver-binden (nach Lehrsatz 37 dieses Teils) und will dieempfangenen Wohltaten nicht mit solchen heimzah-len, welche die Betreffenden nach ihren Affekten als

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Vergeltung anschlagen, sondern er sucht, sich und dieandern durch das freie Urteil der Vernunft zu leitenund nur das zu tun, was er als vorteilhaft für dasLeben erkannt hat. Folglich wird der freie Mensch,um nicht den Unwissenden Ursache zum Haß zugeben und um nicht ihren Begierden statt seiner Ver-nunft willfahren zu müssen, ihren Wohltaten sosehrals möglich auszuweichen suchen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Ich sage »sosehr als möglich«. Denn wenn es auchunwissende Menschen sind, so sind sie doch Men-schen, welche im Notfall menschliche Hilfe, die jadoch die beste ist, leisten können. Daher tritt oft derFall ein, daß wir nicht umhinkönnen, eine Wohltatvon ihnen anzunehmen und folglich ihnen nach ihremSinne dankbar zu sein. Dazu kommt noch, daß manauch im Ablehnen von Wohltaten sich vorsehen muß,daß man nicht den Schein auf sich ziehe, als ob manden Betreffenden verachte oder aus Geiz die Gegen-leistung scheue; denn da würde man durch eben das,womit man ihrem Haß auszuweichen sucht, denselbenvielmehr herausfordern. Darum muß man beim Ab-lehnen von Wohltaten auf das Nützliche und Schickli-che Rücksicht nehmen.

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Einundsiebzigster Lehrsatz

Nur die freien Menschen sind gegeneinander rechtdankbar.

Beweis

Nur die freien Menschen sind einander höchst nütz-lich und durch die festesten Bande der Freundschaftmiteinander verbunden (nach Lehrsatz 35 dieses Teilsund seinem Zusatz I) und streben mit gleichem Liebe-seifer, einander wohlzutun (nach Lehrsatz 37 diesesTeils). Folglich sind nur die freien Menschen gegen-einander recht dankbar. - W.z.b.w.

Anmerkung

Die Dankbarkeit, welche die von blinder Begierdegeleiteten Menschen einander erweisen, ist zumeisteher ein Handel oder Köder als Dankbarkeit.Undankbarkeit sodann ist kein Affekt. Doch ist Un-dankbarkeit schändlich, weil sie meistens einen vonHaß, Zorn, Hochmut, Geiz usw. in hohem Grad erreg-ten Menschen anzeigt. Denn wer aus Dummheit nichtweiß, Gaben zu vergelten, ist nicht undankbar, undnoch viel weniger, wer durch die Geschenke eines

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verführten Weibes sich nicht bewegen läßt, ihren Lü-sten zu dienen, oder eines Diebs, seine Diebstähle zuverhehlen u. dgl. m. Denn der zeigt im Gegenteileinen standhaften Sinn, der sich durch keine Geschen-ke verführen läßt, sich selbst oder das allgemeineWohl zu schädigen.

Zweiundsiebzigster Lehrsatz

Der freie Mensch Handelt niemals arglistig, son-dern stets aufrichtig.

Beweis

Wenn der freie Mensch, sofern er frei ist, etwasarglistig tun würde, so würde er es nach dem Geboteder Vernunft tun (denn nur insofern nennen wir ihnfrei). Arglistig handeln wäre demnach eine Tugend(nach Lehrsatz 24 dieses Teils). Folglich wäre es(nach demselben Lehrsatz) für jenen geratener, umsein Sein zu erhalten, arglistig zu handeln; d.h. (wievon selbst klar), es wäre den Menschen geratener,bloß in Worten übereinzustimmen, in der Tat abereinander entgegen zu sein, was (nach Zusatz zu Lehr-satz 31 dieses Teils) widersinnig ist. Folglich handeltder freie Mensch usw. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Falls die Frage gestellt würde: Wie, wenn derMensch sich durch Treulosigkeit aus einer Todesge-fahr befreien könnte, ob da nicht die Vernunft mitRücksicht auf die Selbsterhaltung unbedingt rate,treulos zu sein?, so ist auf dieselbe Weise zu antwor-ten: Wenn die Vernunft dies riete, so riete sie dasfolglich allen Menschen, und also riete die Vernunftallen Menschen unbedingt, nur arglistig Verträge zuschließen, ihre Kräfte zu vereinigen und allgemeingil-tige Rechte zu haben, d.h. in Wahrheit, keine allge-meingiltige Rechte zu haben, was widersinnig ist.

Dreiundsiebzigster Lehrsatz

Der Mensch, der von der Vernunft geleitet wird, istfreier in einem Staate, wo er nach gemeinschaftli-chem Beschlusse lebt, als in der Einsamkeit, wo ersieh allein gehorcht.

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Beweis

Der von der Vernunft geleitete Mensch wird nichtdurch die Furcht zum Gehorsam veranlaßt (nachLehrsatz 63 dieses Teils); sondern sofern er sein Seinnach dem Gebot der Vernunft zu erhalten sucht, d.h.(nach Anmerkung zu Lehrsatz 66 dieses Teils), soferner frei zu leben sucht, strebt er, auf das gemeinschaft-liche Leben und den gemeinschaftlichen NutzenRücksicht zu nehmen (nach Lehrsatz 37 dieses Teils)und folglich (wie in 2. Anmerkung zu Lehrsatz 37dieses Teils gezeigt wurde) nach dem gemeinschaftli-chen Beschluß zu leben. Folglich strebt der Mensch,der von der Vernunft geleitet wird, um freier zu leben,die gemeinschaftlichen Rechte des Staates einzuhal-ten. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dies und ähnliches, was ich über die wahre Freiheitdes Menschen dargelegt habe, bezieht sich auf dieGeisteskraft, d.h. (nach Anmerkung zu Lehrsatz 59,Teil 3) auf die Seelenstärke und den Edelmut.

Ich halte es aber nicht für nötig, alle Eigenschaftender Geisteskraft hier im einzelnen anzuführen undnoch weniger zu beweisen, daß der geisteskräftige

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Mensch niemand haßt, auf niemand zürnt, niemandbeneidet, über nichts sich entrüstet, niemand verachtetund nicht im geringsten hochmütig ist. Denn dies undalles, was zum wahren Leben und zur Religion ge-hört, läßt sich leicht aus den Lehrsätzen 37 und 46dieses Teils erweisen, wonach der Haß durch Liebezu besiegen ist und jeder, der von der Vernunft gelei-tet wird, wünscht, daß das Gute, das er für sich ver-langt, auch andern zuteil werde.

Hierzu kommt noch, was ich in der Anmerkung zuLehrsatz 50 dieses Teils und an andern Stellen be-merkt habe, daß nämlich der geisteskräftige Mann vorallem das im Auge behält, daß alles aus der Notwen-digkeit der göttlichen Natur erfolgt und daß folglichalles, was er sich als lästig und schlecht denkt, sowiealles, was als verrucht, schrecklich, unrecht undschändlich erscheint, darauf zurückzuführen ist, daßer die Dinge selbst verkehrt, verstümmelt und verwor-ren begreift. Eben darum strebt er vor allem, dieDinge so zu begreifen, wie sie an sich sind, und dieHindernisse der wahren Erkenntnis zu entfernen, alsda sind: Haß, Zorn, Neid, Verhöhnung, Hochmut undanderes dieser Art, wie im vorstehenden dargetanwurde. Und daher strebt er, wie erwähnt, soviel ervermag, gut zu handeln und froh zu sein.

Wie weit aber die menschliche Tugend reicht, umdies durchzuführen, und was sie vermag, werde ich im

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folgenden Teil zeigen.

Anhang

Was ich in diesem Teile über die rechte Lebens-weise angegeben habe, ist nicht so geordnet darge-stellt, daß eine rasche Übersicht möglich wäre. Diebetreffenden Stellen finden sich vielmehr da und dortzerstreut, indem ich sie da zu beweisen suchte, wo ichsie am besten von anderen Sätzen ableiten konnte. Ichwill es daher hier zusammenfassen und in einzelnenHauptsätzen darstellen.

§ 1

Alle unsere Bestrebungen oder Begierden erfolgenso aus der Notwendigkeit unserer Natur, daß sie ent-weder aus ihr allein, als ihrer nächsten Ursache, be-griffen werden können, oder sofern wir ein Teil derNatur sind, der aus sich allein, ohne andere Individu-en, nicht adäquat begriffen werden kann.

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§ 2

Begierden, welche aus unserer Natur so erfolgen,daß sie aus ihr allein begriffen werden können, sinddiejenigen, die sich auf den Geist beziehen, soferndieser als aus adäquaten Ideen bestehend begriffenwird. Die übrigen Begierden aber sind jene, die sichauf den Geist nur beziehen, sofern er die Dinge inad-äquat begreift und deren Macht und Wachstum nichtdurch das menschliche Vermögen erklärt werdenkann, sondern durch das Vermögen der Dinge, dieaußer uns sind, erklärt werden muß. Darum heißendie ersteren richtig Handlungen, diese aber Leiden.

§ 3

Unsere Handlungen, d.h. jene Begierden, welchedurch das Vermögen des Menschen oder durch dieVernunft erklärt werden, sind immer gut; die andernaber können sowohl gut als schlecht sein.

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§ 4

Nützlich fürs Leben ist daher vor allem, den Ver-stand oder die Vernunft soviel als möglich zu ver-vollkommnen. Darin allein besteht des Menschenhöchstes Glück oder die Glückseligkeit. Denn dieGlückseligkeit ist nichts anderes als die Zufriedenheitdes Geistes, welche aus der intuitiven ErkenntnisGottes entspringt. Den Geist vervollkommnen ist abernichts anderes als: Gott und die göttlichen Attributeund Handlungen, welche aus der Notwendigkeit sei-ner Natur erfolgen, erkennen.

Der letzte Zweck des von der Vernunft geleitetenMenschen oder seine höchste Begierde, nach welcherer alle übrigen zu lenken trachtet, ist daher diejenige,durch weiche er dahin gebracht wird, sich und alleDinge, die in den Bereich seines Denkens fallen kön-nen, adäquat zu begreifen.

§ 5

Es gibt darum kein vernünftiges Leben ohne Er-kenntnis. Auch sind die Dinge nur insofern gut, so-fern sie den Menschen fördern, das Leben des Geisteszu genießen, welches durch Erkenntnis definiert wird.

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Was dagegen den Menschen hindert, die Vernunft zuvervollkommnen und ein vernünftiges Leben zu ge-nießen, das allein nennen wir schlecht.

§ 6

Weil aber alles, wovon der Mensch selbst die wir-kende Ursache ist, notwendig gut ist, so kann folg-lich dem Menschen kein Übel zustoßen als nur vonäußern Ursachen; sofern er nämlich ein Teil der gan-zen Natur ist, deren Gesetzen die menschliche Naturzu gehorchen und welcher er sich auf fast unendlicheWeisen anzubequemen genötigt ist.

§ 7

Eine Möglichkeit, daß der Mensch kein Teil derNatur wäre und ihrer gemeinschaftlichen Ordnungnicht zu folgen hätte, gibt es nicht. Wenn aber derMensch unter solchen Individuen lebt, die mit seinerNatur übereinstimmen, so wird eben dadurch seinTätigkeitsvermögen gefördert oder genährt werden.Befindet er sich dagegen unter Individuen, welche mitseiner Natur sehr wenig übereinstimmen, so wird erkaum ohne große Veränderung seiner selbst sich

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ihnen anbequemen können.

§ 8

Alles in der Natur, wovon wir urteilen, daß esschlecht ist oder zu hindern vermag, daß wir existie-ren und ein vernünftiges Leben genießen können, dasdürfen wir mit allen Mitteln, die uns die besten dün-ken, von uns abhalten. Umgekehrt dürfen wir alles,wovon wir urteilen, daß es gut ist oder nützlich, umunser Sein zu erhalten und ein vernünftiges Leben zugenießen, für unsern Gebrauch uns nehmen und aufjede beliebige Weise gebrauchen. Überhaupt ist nachdem höchsten Naturrecht jedem erlaubt, das zu tun,was ihm nach seiner Meinung zum Vorteil gereicht.

§ 9

Nichts kann mehr mit der Natur eines Dinges über-einstimmen als andere Individuen derselben Art.Daher gibt es (nach § 7) für den Menschen nichts,was ihm nützlicher wäre, sein Sein zu erhalten undein vernünftiges Leben zu genießen, als der Mensch,der von der Vernunft geleitet wird.

Weil wir ferner unter den Einzeldingen nichts

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kennen, was vorzüglicher wäre als ein Mensch, dervon der Vernunft geleitet wird, so kann folglich jedereinzelne Mensch durch nichts mehr zeigen, wie sehrer an Geschick und Geist voran ist, als dadurch, daßer die Menschen so heranbildet, daß sie endlich nachder ausschließlichen Weisung der Vernunft leben.

§ 10

Sofern die Menschen von Mißgunst oder sonsteinem Affekt des Hasses gegeneinander erfüllt sind,insofern sind sie einander entgegen, und folglichhaben sie voneinander um so mehr zu fürchten, jemehr sie vor andern Individuen der Natur vermögen.

§ 11

Die Herzen werden aber nicht durch Waffen, son-dern durch Liebe und Edelmut gewonnen.

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§ 12

Es ist den Menschen vor allem nützlich, Verbin-dungen einzugehen und sich durch solche Bande an-einanderzuschließen, durch welche am ehesten allezur Einheit werden, und überhaupt alles zu tun, waszur Befestigung der Freundschaft dient.

§ 13

Doch dazu gehört Geschick und Wachsamkeit.Denn die Menschen sind wankelmütig (weil eben diewenigsten nach Vorschrift der Vernunft leben), dabeiaber meistens mißgünstig und mehr zur Rache alszum Mitleid geneigt. Um also jeden, welchen Sinneser sein mag, zu ertragen, dabei aber sich selbst zuhüten, daß man die Affekte der anderen nicht nach-ahmt, dazu ist eine besondere geistige Kraft vonnöten.

Diejenigen dagegen, welche die Menschen herun-tersetzen und sich besser darauf verstehen, über dieLaster zu schimpfen, als Tugenden zu lehren, und dasmenschliche Gemüt zu zerknirschen, statt es zu kräfti-gen, sie sind sich und andern zur Last. - Daher habenviele infolge ihrer großen Unduldsamkeit und ihresfalschen Religionseifers es vorgezogen, unter Tieren

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statt unter Menschen zu leben; so wie junge Leute,die, ihren Eltern entfliehend, deren Vorwürfe sie nichtgeduldig ertragen können, unter die Soldaten gehenund die Beschwerlichkeiten des Kriegs und ein tyran-nisches Regiment den häuslichen Annehmlichkeitenund elterlichen Ermahnungen vorziehen und sich jedeLast auferlegen lassen, nur um sich an den Eltern zurächen.

§ 14

Obgleich also die Menschen in allem sich zumeistnach ihren Neigungen richten, so ergeben sich dochaus ihrer gemeinsamen Vereinigung vielmehr Vortei-le als Nachteil e. Darum ist es besser, ihre Unbildenmit Gleichmut zu ertragen und das mit Eifer zu betrei-ben, was dazu dient, die Eintracht und Freundschaftherzustellen.

§ 15

Die Eintracht wird durch dasjenige erzeugt, waszur Gerechtigkeit, Billigkeit und Ehrbarkeit gehört.Denn nicht bloß das, was ungerecht und unbillig ist,verletzt die Menschen, sondern auch, was für

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unehrbar gilt oder was gegen die herrschenden Sittenverstößt. - Um aber Liebe zu gewinnen, ist vor allemdas nötig, was zur Religion und Frömmigkeit gehört(s. hierüber im vierten Teil die 1. und 2. Anmerkungzu Lehrsatz 37, die Anmerkung zu Lehrsatz 46 unddie Anmerkung zu Lehrsatz 73).

§ 16

Außerdem wird die Eintracht auch vielfach durchdie Furcht erzeugt; doch dieser Eintracht fehlt dieTreue (Zuverlässigkeit). Dazu kommt, daß die Furchteinem geistigen Unvermögen entspringt und darumzum Gebrauch der Vernunft nicht gehört, sowenig alsdas Mitleid, obgleich es anscheinend eine Art vonFrömmigkeit ist.

§ 17

Die Menschen werden außerdem durch Freigebig-keit gewonnen, diejenigen besonders, welche nicht inder Lage sind, das zum Lebensunterhalt Notwendigesich zu verschaffen. - Doch übersteigt es weit dieKräfte und den Nutzen eines Privatmannes, jedem Be-dürftigen Hilfe gewähren zu können, da der Reichtum

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eines Privatmannes lange nicht hinreicht, dies zu lei-sten. Zudem ist auch die geistige Fähigkeit eines Ein-zelnen viel zu beschränkt, um sich alle in Freund-schaft verbinden zu können. Darum liegt die Sorgefür die Armen der ganzen Gesellschaft ob und gehörtnur zum Gemeinwohl.

§ 18

In der Annahme von Wohltaten und Dankesbezei-gung muß ein ganz anderes Verhalten beobachtetwerden (hierüber s. im vierten Teil die Anmerkungenzu Lehrsatz 70 und 71).

§ 19

Die sinnliche Liebe sodann, d.h. die Geschlechts-lust, welche die körperliche Schönheit einflößt, wieüberhaupt jede Liebe, welche eine andere Ursache alsdie geistige Freiheit anerkennt, geht leicht in Haßüber; wenn sie nicht, was noch schlimmer ist, eine Artdes Wahns ist, in welchem Falle sie mehr durch Zwie-tracht als durch Eintracht genährt wird (s. den Zusatzzu Lehrsatz 31 im dritten Teil).

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§ 20

Was die Ehe anbelangt, so ist es gewiß, daß sie mitder Vernunft übereinstimmt, wenn die Begierde nachfleischlicher Vermischung nicht bloß von der äußerli-chen Schönheit, sondern auch von dem Verlangen,Kinder zu zeugen und weise zu erziehen, hervorgeru-fen wird und wenn außerdem die gegenseitige Liebevon Mann und Weib nicht bloß die Körperschönheit,sondern vornehmlich die Geistesfreiheit zur Ursachehat.

§ 21

Auch die Schmeichelei erzeugt Eintracht, aberdurch das häßliche Laster der Knechtsseligkeit oderdurch Heuchelei. Denn niemand läßt sich mehr durchSchmeichelei einnehmen als die Hochmütigen, welchedie ersten sein möchten, aber nicht sind.

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§ 22

Im Kleinmut (Demut, Selbsterniedrigung) steckteine falsche Art von Frömmigkeit und Religion. Undobgleich der Kleinmut dem Hochmut gegenübersteht,so steht doch der Kleinmütige dem Hochmütigen amnächsten (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 57 im viertenTeil).

§ 23

Die Scham fördert die Eintracht nur in solchenDingen, die sich nicht verbergen lassen. Weil fernerdie Scham eine Art Unlust ist, gehört sie nicht zumGebrauch der Vernunft.

§ 24

Die übrigen Affekte der Unlust gegen andere Men-schen sind das gerade Gegenteil von Gerechtigkeit,Billigkeit, Ehrbarkeit, Frömmigkeit und Religion.Und obgleich die Entrüstung anscheinend eine Artder Billigkeit ist, so lebt man doch da gesetzlos, woes jedem erlaubt ist, über die Taten anderer

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abzuurteilen und sich oder einem andern sein Rechtzu verschaffen.

§ 25

Die Leutseligkeit, d.h. die Begierde, den Menschenzu gefallen, gehört, wenn sie aus der Vernunft hervor-geht, zur Frömmigkeit (wie in Zusatz I zu Lehrsatz37, Teil 4, gesagt wurde). Entspringt sie aber aus demAffekt, so ist sie Ehrgeiz oder eine Begierde, durchwelche die Menschen unter dem falschen Schein derFrömmigkeit meist Zwietracht und Aufruhr erregen.Denn wer die Nebenmenschen mit Rat oder Tat zuunterstützen strebt, daß sie, wie er selbst, des höch-sten Guts teilhaftig seien, der wird in erster Linie dar-nach trachten, sich ihre Liebe zu gewinnen; er wirdaber nicht darauf ausgehen, von ihnen bewundert zuwerden, damit seine Lehre nach seinem Namen be-nannt werde, und wird ihnen überhaupt keinerleiAnlaß zum Neid geben. Auch wird er sich im ge-wöhnlichen Gespräch hüten, die Laster der Menschenaufzuzählen, und über das menschliche Unvermögenwird er nur spärlich zu sprechen suchen, desto mehrdagegen von der menschlichen Tugend oder demmenschlichen Vermögen und über die Mittel, durchwelche dieses vervollkommnet werden kann; damit so

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die Menschen nicht aus Furcht oder Abneigung, son-dern von dem Affekt der Lust allein angetrieben, nachder Vorschrift der Vernunft, so gut sie können, zuleben streben.

§ 26

Außer dem Menschen kennen wir kein Einzeldingin der Natur, an dessen Geist wir uns erfreuen könnenund mit dem wir uns in Freundschaft oder irgendeinerArt des Umgangs zu verbinden vermöchten. Alles an-dere, was es außer den Menschen in der Natur gibt,zu erhalten, fordern darum die auf unsern Nutzen ab-zielende Vernunft nicht; vielmehr lehrt sie uns, es jenach seiner mannigfachen Brauchbarkeit zu erhalten,zu zerstören und auf jedwede Art unserem Nutzen an-zupassen.

§ 27

Der Nutzen, den wir von den Dingen außerhalb desMenschen ziehen, besteht, neben der Erfahrung undErkenntnis, die wir gewinnen, indem wir sie beobach-ten und von einer Form in die andere umwandeln,hauptsächlich in der Erhaltung unseres Körpers. In

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dieser Hinsicht sind diejenigen Dinge besonders nütz-lich, welche den Körper in der Weise kräftigen undnähren können, daß alle seine Teile ihre Funktionengehörig verrichten können. Denn je befähigter derKörper ist, auf vielerlei Weisen erregt zu werden unddie äußern Körper auf vielerlei Weisen zu erregen, umso befähigter ist auch der Geist zum Denken (s. dieLehrsätze 38 und 39, Teil 4). Dinge von solcher Qua-lität gibt es aber, wie es scheint, in der Natur sehrwenig. Zur Ernährung des Körpers, wie es erforder-lich ist, ist daher der Gebrauch vieler Nahrungsmittelvon verschiedener Natur nötig. Denn der menschlicheKörper ist aus sehr vielen Teilen von verschiedenerNatur zusammengesetzt, welche einer fortwährendenund mannigfaltigen Ernährung bedürfen, damit derganze Körper zu allem, was aus seiner Natur erfolgenkann, gleich befähigt sei und folglich auch der Geistgleich befähigt sei, vieles zu begreifen.

§ 28

Um sich aber dies zu verschaffen, dazu würden dieKräfte eines Einzelnen kaum hinreichen, wenn sichdie Menschen nicht gegenseitige Hilfe leisteten. -Aller Dinge Inbegriff aber ist das Geld. Daher kommtes, daß der Geist der Menge am meisten von der

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Vorstellung des Geldes eingenommen wird; weil mansich kaum irgendeine Art der Lust vorstellen kann,mit welcher nicht die Idee des Geldes als Ursache ver-bunden wäre.

§ 29

Ein Laster ist dies aber nur bei denen, welche nichtaus Not noch aus sonst einer Notwendigkeit Geld er-werben wollen, sondern weil sie die Kniffe kennen,wie man Profit macht, womit sie ungemein großtun.Im übrigen pflegen sie ihren Körper aus Gewohnheit,aber kärglich, weil sie die Summen, die sie auf die Er-haltung ihres Körpers verwenden, als Verlust an ihrenGütern betrachten. - Wer dagegen den wahren Nutzendes Geldes kennt und das Maß des Reichtums nurnach dem Bedarf abmißt, der lebt mit wenigem zufrie-den.

§ 30

Da also jene Dinge gut sind, welche die Teile desKörpers in der Verrichtung ihrer Funktionen fördern,und die Lust darin besteht, daß das Vermögen desMenschen, sofern es in Geist und Körper besteht,

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gefördert oder vermehrt wird, so ist also alles das,was Lust verschafft, gut. Da nun aber die Dinge nichtzu dem Zweck tätig sind um uns mit Lust zu erregen,und ihr Tätigkeitsvermögen sich nicht nach unseremNutzen richtet, da endlich meistens die Lust sichhauptsächlich auf Einen Körperteil bezieht, darumhaben die Lustaffekte (wenn nicht Vernunft undWachsamkeit dabei sind) und folglich auch die Be-gierden, die aus ihnen entstehen, meistens ein Über-maß. Dazu kommt, daß wir aus Affekt das für dasWichtigste halten, was in der Gegenwart angenehmist, und das Zukünftige nicht mit gleichem Affekt desGemüts schätzen können (s. die Anmerkungen zuLehrsatz 44 und 60 im vierten Teil).

§ 31

Der Aberglaube dagegen scheint das für gut zu er-klären, was Unlust, für schlecht, was Lust verschafft.Allein, wie ich schon gesagt habe (s. Anmerkung zuLehrsatz 45, Teil 4), niemand als ein Mißgünstigerfreut sich über mein Unvermögen und mein Unbeha-gen. Denn von je mehr Lust wir erregt werden, zudesto größerer Vollkommenheit gehen wir über, undum so mehr sind wir folglich der göttlichen Natur teil-haftig. Und niemals kann die Lust schlecht sein,

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welche von der Vernunft, unserem wahren Nutzenentsprechend, gemäßigt wird. - Wer sich dagegen vonder Furcht leiten läßt und das Gute tut, um dasSchlechte zu vermeiden, der wird nicht von der Ver-nunft geleitet.

§ 32

Das menschliche Vermögen aber ist sehr be-schränkt und wird von dem Vermögen der äußern Ur-sachen unendlich übertroffen. Darum haben wir keineabsolute Macht, die Dinge, welche außer uns sind,unserem Nutzen anzupassen. Doch werden wir allesunserem Nutzen Widerstrebende, das uns begegnet,mit Gleichmut ertragen, wenn wir uns bewußt sind,daß wir unsere Pflicht erfüllt haben und daß dasVermögen, welches wir haben, sich nicht so weit er-streckt, daß wir es hätten vermeiden können und daßwir nur ein Teil der Natur sind, deren Ordnung wirfolgen. Wenn wir das klar und deutlich einsehen, sowird Der Teil von uns, welcher als Erkenntnis defi-niert wird, d.h. der bessere Teil in uns, dabei völligberuhigt sein und in dieser Beruhigung zu verharrenstreben. Denn sofern wir erkennen, können wir nichtsanderes begehren als das, was notwendig ist, undüberhaupt nur im Wahren beruhigt sein. Sofern wir

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daher dieses richtig erkennen, insofern stimmt das Be-streben unseres besseren Teils mit der Ordnung derganzen Natur überein.

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Fünfter Teil

Über die Macht der Erkenntnis,oder die menschliche Freiheit

Vorwort

Ich komme nun endlich zur anderen Seite derEthik, welche die Mittel und Wege betrifft, die zurFreiheit führen. In diesem Teile werde ich also vonder Macht der Vernunft handeln, indem ich zeige, wasdie Vernunft wider die Affekte vermag, sodann auch,was die Freiheit des Geistes oder die Glückseligkeitist. Wir werden daraus ersehen, um wieviel der Weisemächtiger ist als der Unwissende.

In welcher Weise aber und auf welchem Wege derVerstand zu vervollkommnen sei, und ferner, mit wel-cher Kunst der Körper gepflegt werden müsse, umseine Funktionen gehörig verrichten zu können, ge-hört nicht hierher. Denn dieses gehört in die Medizin,jenes zur Logik.

Hier also werde ich, wie gesagt, bloß von derMacht des Geistes oder der Vernunft handeln und vorallem zeigen, wie groß und welcher Art ihre Gewaltüber die Affekte ist, sie einzuschränken oder zu mäßi-gen. Denn daß wir keine absolute Gewalt über sie

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besitzen, habe ich schon oben bewiesen.Die Stoiker dagegen waren der Meinung, daß die

Affekte absolut von unserem Willen abhängig seienund daß wir sie absolut beherrschen könnten. Diedamit im Widerspruch stehende Erfahrung, keines-wegs aber ihre Prinzipien, nötigte sie jedoch zu demGeständnis, daß es nicht geringer Übung und An-strengung bedürfe, um dieselben einzuschränken undim Zaum zu halten; was jemand (wenn ich mich rechterinnere) an dem Beispiel zweier Hunde, eines Haus-hunds und eines Jagdhunds, zu zeigen versucht hat.Er brachte es nämlich durch fortgesetzte Übung soweit, daß der Haushund an das Jagen gewöhnt, demJagdhund dagegen die Verfolgung der Hasen abge-wöhnt wurde.

Zu dieser Ansicht neigt sich auch Cartesius nichtwenig hin. Denn er nimmt an, die Seele oder der Geistsei hauptsächlich mit einem gewissen Teil des Ge-hirns vereinigt, mit demjenigen nämlich, den man dieZirbeldrüse nennt, vermittelst deren der Geist alleBewegungen, welche im Körper erregt werden, unddie äußern Objekte wahrnimmt und welche der Geistdadurch allein, daß er will, verschiedenartig bewegenkann. Diese Drüse schwebt nach seiner Annahme soin der Mitte des Gehirns, daß sie durch die geringsteBewegung der Lebensgeister bewegt werden kann.Ferner behauptet er, daß diese Drüse auf ebensoviel

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verschiedene Weisen in der Mitte des Gehirnsschwebt, auf so verschiedene Weisen sie von den Le-bensgeistern einen Anstoß empfängt, und daß außer-dem ebensoviel verschiedene Spuren in sie einge-drückt werden, soviel verschiedene äußere Objektedie Lebensgeister selbst gegen die Drüse stoßen.Daher komme es, daß, wenn die Drüse später vondem Willen der Seele, der sie verschiedenartig be-wegt, in diese oder jene schwankende Lage gebrachtwird, in welche sie schon einmal von den auf dieseoder jene Weise angeregten Lebensgeistern gebrachtworden war, die Drüse selbst dann wieder die Lebens-geister auf dieselbe Weise anstößt und bestimmt, wiediese früher von der ähnlich schwebenden Lage derDrüse zurückgestoßen wurden. - Weiter nimmt er an,daß jedes Wollen des Geistes von Natur mit irgendei-ner bestimmten Bewegung der Drüse vereinigt (ver-bunden) sei. Wenn z.B. jemand den Willen hat, einentferntes Objekt zu betrachten, so wird dieses Wol-len die Wirkung haben, daß sich die Pupille erweitert.Wenn er aber bloß an die Erweiterung der Pupilledenkt, so wird es nichts nützen, den Willen dazu zuhaben, weil die Natur die Bewegung der Drüse, wel-che dazu dient, den Lebensgeistern einen solchen An-stoß gegen den Sehnerv zu geben, welcher die Erwei-terung oder Erweiterung der Pupille entspricht, nichtmit dem Willen, die Pupille zu erweitern oder zu

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verengen, verbunden hat, sondern lediglich mit demWillen, ein fernes oder nahes Objekt zu betrachten.

Endlich behauptete er, daß, obgleich alle Bewegun-gen dieser Drüsen durch die Natur mit gewissen Ge-danken, die wir haben, seit Beginn unseres Lebensverbunden zu sein scheinen, sie dennoch infolge vonAngewöhnung mit anderen verbunden werden kön-nen; was er im ersten Teil seiner Schrift »Über dieLeidenschaften«, Artikel 50, zu erweisen sucht.

Cartesius folgert hieraus, daß keine Seele soschwach wäre, daß sie nicht, bei guter Anleitung, eineabsolute Macht über ihre Leidenschaft erlangen könn-te. Denn diese sind, nach seiner Definition, Wahrneh-mungen oder Empfindungen oder Bewegungen derSeele, die sich speziell auf sie beziehen und welche -wohlgemerkt! -hervorgebracht, erhalten und ver-stärkt werden durch irgendeine Bewegung der Le-bensgeister. (Man sehe »Über die Leidenschaften«,Teil 1, Artikel 27.) Da wir nun mit jedwedem Wollenjedwede Bewegung der Drüse und folglich auch derLebensgeister verbinden können und die Bestimmungdes Willens lediglich in unserer Macht liegt, so wer-den wir also eine absolute Herrschaft über unsere Lei-denschaften erlangen, wenn wir unsern Willen durchsichere und feste Urteile, nach denen wir unser Tunund Lassen regeln wollen, bestimmen und die Bewe-gungen der Leidenschaften, die wir haben wollen, mit

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diesen Urteilen verbinden würden.Dies die Ansicht jenes hochberühmten Mannes (so-

weit ich sie seinen eigenen Worten entnehme). Ichwürde aber kaum glauben, daß sie von einem so gro-ßen Manne herrühre, wenn sie nicht so scharfsinnigwäre. Ich kann mich wahrlich nicht genug wundern,daß ein Philosoph, der sich zum festen Grundsatz ge-macht hat, alles nur aus Prinzipien abzuleiten, diedurch sich selbst klar sind, und nichts zu behaupten,als was er klar und deutlich begreift, und der dieScholastiker so oft getadelt hat, weil sie dunkle Dingedurch verborgene Qualitäten erklären wollten, selbsteiner Hypothese huldigt, welche dunkler ist als alleverborgenen Qualitäten!

Was, frage ich, versteht er denn unter Vereinigungdes Geistes und des Körpers? Welchen klaren unddeutlichen Begriff hat er von einem mit irgendeinemTeilchen einer Masse eng vereinigten Denken? Ichwünschte fürwahr, daß er diese Vereinigung aus ihrernächsten Ursache erklärt hätte! Er hat aber den Geistso verschieden vom Körper aufgefaßt, daß er wedervon dieser Vereinigung noch vom Geiste selbst einebesondere Ursache angeben konnte, sondern selbstgenötigt war, auf die Ursache des ganzen Universums,d.h. auf Gott, zurückzugehen. - Sodann möchte ichgern wissen, wieviel Grade von Bewegung der Geistdieser Zirbeldrüse mitteilen und wie groß die Kraft

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ist, mit welcher er sie schwebend erhalten kann. Dennwir erfahren nicht, ob diese Drüse langsamer oderschneller vom Geist herumgetrieben wird als von denLebensgeistern, und ob die Bewegungen der Leiden-schaften, die wir mit festen Urteilen enge verbundenhaben, von denselben nicht wieder getrennt werdenkönnen. Denn daraus würde folgen, daß, wenn auchder Geist sich fest vorgesetzt haben würde, Gefahrenentgegenzugehen und mit diesem Entschluß die Be-wegung der Kühnheit verbunden hätte, die Drüsedoch, beim Anblick der Gefahr, so schweben würde,daß der Geist nur an die Flucht denken könnte. Undfürwahr, da es kein Verhältnis des Wollens zur Bewe-gung gibt, so gibt es auch keine Vergleichung zwi-schen dem Vermögen und den Kräften des Geistesund denen des Körpers; und folglich können die Kräf-te des Körpers niemals durch die Kräfte des Geistesbestimmt werden. - Hiezu kommt, daß man dieseDrüse nicht in der Mitte des Gehirns so gelegen fin-det, daß sie so leicht und auf so vielerlei Weisen her-umgetrieben werden könnte und daß sich auch nichtalle Nerven bis zu den Gehirnhöhlen erstrecken. -

Alles endlich, was er vom Willen und seiner Frei-heit behauptet, lasse ich beiseite, da ich zur Genügegezeigt habe daß es falsch ist.

Weil also das Vermögen des Geistes, wie oben ge-zeigt worden, durch die Erkenntnis allein definiert

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wird, so werden wir die Mittel gegen die Affekte, wel-che, wie ich glaube, alle Menschen zwar aus Erfah-rung kennen, aber weder genau beobachten noch deut-lich erkennen, nur aus der Erkenntnis des Geistes be-stimmen und aus ihr allein alles dasjenige, was seineGlückseligkeit betrifft, ableiten.

Axiome

I. Wenn in demselben Subjekt zwei entgegenge-setzte Tätigkeiten angeregt werden, so wird notwen-dig entweder in beiden oder in einer allein eine Verän-derung geschehen, bis sie aufhören, entgegengesetztzu sein.

II. Das Vermögen der Wirkung wird durch dasVermögen der Ursache selbst bestimmt, sofern ihrWesen durch das Wesen der Ursache selbst erklärtoder bestimmt wird. (Dieses Axiom erhellt aus Lehr-satz 7, Teil 3.)

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Erster Lehrsatz

So wie die Gedanken und die Ideen der Dinge imGeiste sich ordnen und verketten, genau ebenso ord-nen und verketten sich die Erregungen des Körpersoder die Vorstellungen der Dinge im Körper.

Beweis

Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist (nachLehrsatz 7, Teil 2) dieselbe wie die Ordnung undVerknüpfung der Dinge, und umgekehrt ist die Ord-nung und Verknüpfung der Dinge (nach den Zusätzenzu den Lehrsätzen G und 7, Teil 2) dieselbe wie dieOrdnung und Verknüpfung der Ideen. So wie daherdie Ordnung und Verknüpfung der Ideen im Geisteder Ordnung und Verkettung der Körpererregungenentspricht (nach Lehrsatz 18, Teil 2), so entsprichtumgekehrt (nach Lehrsatz 2, Teil 3) die Ordnung undVerknüpfung der Körpererregungen der Ordnung undVerkettung der Gedanken und der Ideen der Dinge imGeiste. - W.z.b.w.

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Zweiter Lehrsatz

Wenn wir eine Gemütsbewegung oder ehren Affektvon dem Gedanken der äußern Ursache trennen undmit anderen Gedanken verbinden, so werden dieLiebe oder der Haß gegen die äußere Ursache wieauch die Schwankungen des Gemüts, die aus diesenAffekten entspringen, vernichtet werden.

Beweis

Denn das, was die Form der Liebe oder des Hassesausmacht, ist Lust oder Unlust, verbunden mit derIdee einer äußern Ursache (nach den Definitionen derAffekte, Ziffern VI und VII). Wird also diese aufge-hoben, so wird die Form der Liebe oder des Hasseszugleich damit aufgehoben. Daher werden diese Af-fekte und die, welche aus ihnen entspringen, vernich-tet werden.

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Dritter Lehrsatz

Ein Affekt, der ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zusein, sobald wir eine klare und deutliche Idee vonihm bilden.

Beweis

Ein Affekt, der ein Leiden ist, ist eine verworreneIdee (nach der allgemeinen Definition der Affekte).Wenn wir daher eine klare und deutliche Idee von die-sem Affekt bilden, so wird diese Idee von dem Affektselbst, sofern er bloß auf den Geist bezogen wird, nurnach dem Verhältnis verschieden sein (nach Lehrsatz21, Teil 2, mit seiner Anmerkung). Somit wird derAffekt aufhören, ein Leiden zu sein.

Zusatz

Ein Affekt steht daher desto mehr in unserer Ge-walt, und der Geist leidet desto weniger von ihm, jebekannter er uns ist.

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Vierter Lehrsatz

Es gibt keine Körpererregung, von der wir nichteinen klaren und deutlichen Begriff bilden können.

Beweis

Was allen gemeinsam ist, kann nicht anders begrif-fen werden als adäquat (nach Lehrsatz 38, Teil 2).Folglich gibt es (nach Lehrsatz 12 und Hilfssatz 2,der auf die Anmerkung zu Lehrsatz 13, Teil 2 folgt)keine Körpererregung, von der wir nicht einen klarenund deutlichen Begriff bilden können. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß es keinen Affekt gibt, von demwir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bildenkönnen. Denn ein Affekt ist die Idee einer Körpererre-gung (nach der allgemeinen Definition der Affekte),welche daher einen klaren und deutlichen Begriff insich schließen muß.

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Anmerkung

Da es nichts gibt, woraus nicht irgendeine Wirkungerfolgt (nach Lehrsatz 36, Teil 1), und da wir allesdasjenige, was aus einer Idee, die in uns adäquat ist,folgt, klar und bestimmt erkennen (nach Lehrsatz 40,Teil 2), so folgt daraus, daß jeder die Macht hat, sichund seine Affekte, wenn auch nicht absolut, so dochteilweise, klar und deutlich zu erkennen und folglichauch zu bewirken, daß er weniger von ihnen erleide.

Darauf hauptsächlich muß daher unser Bemühengerichtet sein, daß wir jeden Affekt soviel als möglichklar und deutlich erkennen, damit so der Geist vondem Affekt aus zum Denken dessen bestimmt werde,was er klar und deutlich erfaßt und worin er sich voll-ständig beruhigt; und so der Affekt selbst von demGedanken der äußern Ursache losgelöst und mit wah-ren Gedanken verbunden werde. Die Folge hiervonwird sein, daß nicht bloß die Liebe, der Haß usw. ver-nichtet werden (nach Lehrsatz 2 dieses Teils), sondernauch, daß das Verlangen oder die Begierde, welchegewöhnlich aus einem solchen Affekte entspringen,kein Übermaß haben können (nach Lehrsatz 61, Teil4).

Es ist nämlich vor allem zu bemerken, daß es einund dasselbe Verlangen ist, wegen dessen der Mensch

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sowohl tätig als leidend heißt. Zum Beispiel, wennich gezeigt habe, daß die menschliche Natur so be-schaffen ist, daß jeder verlangt, die anderen sollennach Seinem Sinne leben (s. Anmerkung zu Lehrsatz31, Teil 3), so ist dieses Verlangen bei einem Men-schen, der nicht von der Vernunft geleitet wird, einLeiden, welches Ehrgeiz heißt und sich vom Hochmutnicht sehr unterscheidet; bei einem Menschen dage-gen, der nach dem Gebot der Vernunft lebt, ist es eineHandlung oder eine Tugend, welche Frömmigkeitheißt (s die 1. Anmerkung zu Lehrsatz 37, Teil 4, undden 2. Beweis zu demselben Lehrsatz). Und so sindalle Verlangen oder Begierden nur insofern Leiden,sofern sie aus inadäquaten Ideen entspringen, sie wer-den aber zu den Tugenden gerechnet, wenn sie vonadäquaten Ideen hervorgerufen oder erzeugt werden.Denn alle Begierden, durch welche wir bestimmt wer-den, etwas zu tun, können sowohl von adäquaten alsvon inadäquaten Ideen herrühren (s. Lehrsatz 59, Teil4).

Es kann (um wieder auf das zurückzukommen,wovon ich ausgegangen bin) gegen die Affekte keinvortrefflicheres in unserer Macht stehendes Heilmittelerdacht werden als dieses, welches in der wahren Er-kenntnis derselben besteht. Denn es gibt ja kein ande-res Vermögen des Geistes als das Denken und dasBilden adäquater Ideen, wie oben (Lehrsatz 3, Teil 3)

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gezeigt worden ist.

Fünfter Lehrsatz

Der Affekt gegen ein Ring, das wir uns schlechthinvorstellen, also weder als notwendig noch als mög-lich noch als zufällig, ist, bei sonst gleichen Um-ständen, unter allen Affekten der stärkste.

Beweis

Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns frei vorstel-len, ist stärker als gegen ein notwendiges (nach Lehr-satz 49, Teil 3) und folglich noch viel stärker als derAffekt gegen ein Ding, das wir uns als möglich oderzufällig vorstellen (nach Lehrsatz 11, Teil 4). EinDing sich als frei vorstellen kann aber nichts anderessein, als daß wir uns das Ding schlechthin vorstellen,indem wir die Ursachen, von welchen es zum Handelnbestimmt wurde, unbeachtet lassen (nach dem, was inder Anmerkung zu Lehrsatz 35, Teil 2, gezeigtwurde). Folglich ist der Affekt gegen ein Ding, daswir uns schlechthin vorstellen, bei sonst gleichen Um-ständen stärker als gegen ein notwendiges, möglichesoder zufälliges, und mithin ist er der stärkste. -W.z.b.w.

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Sechster Lehrsatz

Sofern der Geist alle Dinge als notwendige erkennt,insofern hat er eine größere Macht über die Affekteoder leidet er weniger von ihnen.

Beweis

Der Geist erkennt, daß alle Dinge notwendig sind(nach Lehrsatz 29, Teil 1) und durch eine unendlicheKette von Ursachen zum Existieren und Wirken be-stimmt werden (nach Lehrsatz 28, Teil 1). Daher be-wirkt er insofern (nach dem vorigen Lehrsatz), daß ervon den Affekten, die aus ihnen entspringen, wenigerleidet und (nach Lehrsatz 48, Teil 3) weniger gegensie erregt wird. - W.z.b.w.

Anmerkung

Je mehr diese Erkenntnis, daß nämlich die Dingenotwendig sind, auf die Einzeldinge, die wir uns deut-licher und lebhafter vorstellen, sich erstreckt, um sogrößer ist diese Macht des Geistes über die Affekte.

Es bezeugt dies auch die Erfahrung. Denn wirsehen, daß die Unlust über ein verlorenes Gut gemil-dert wird, sobald der Mensch, der den Verlust dieses

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Guts erlitten hat, bedenkt, daß es auf keine Weise er-halten werden konnte. - So sehen wir auch, daß nie-mand die Kinder bemitleidet, weil sie nicht sprechenund laufen, keine Vernunftschlüsse machen könnenund mehrere Jahre gewissermaßen ohne Bewußtseinihres Selbst verleben. Würden aber die meisten Men-schen als Erwachsene und nur der eine und andere alsKind geboren werden, so würde jedermann die Kinderbemitleiden. Denn alsdann würde man den Zustandder Kindheit nicht als etwas Natürliches und Notwen-diges, sondern als einen Fehler oder ein Versehen derNatur betrachten. - Dergleichen könnte noch vielesangeführt werden.

Siebenter Lehrsatz

Die Affekte, welche aus der Vernunft entspringenoder vor; ihr erregt werden, sind in bezug auf dieZeit stärker als diejenigen, die sich auf Einzeldingebeziehen, welche wir als abwesend betrachten.

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516Spinoza: Ethik

Beweis

Wir betrachten ein Ding nicht vermöge des Affekts,durch welchen wir es vorstellen, als abwesend, son-dern deshalb, weil der Körper von einem andern Af-fekt erregt wird, welcher die Existenz dieses Dingesausschließt (nach Lehrsatz 17, Teil 2). Daher ist einAffekt, der sich auf ein Ding bezieht, das wir als ab-wesend betrachten, nicht von solcher Natur, daß er dieübrigen Handlungen des Menschen und sein Vermö-gen übertrifft (s. hierüber Lehrsatz 6, Teil 4), viel-mehr ist er von solcher Natur, daß er von denjenigenErregungen, welche die Existenz ihrer äußern Ursacheausschließen, auf gewisse Weise eingeschränkt wer-den kann (nach Lehrsatz 9, Teil 4). - Ein Affekt aber,der aus der Vernunft entspringt, bezieht sich notwen-dig auf die gemeinsamen Eigenschaften der Dinge (s.die Definition der Vernunft in der 2. Anmerkung zuLehrsatz 40, Teil 2), die wir immer als gegenwärtigbetrachten (denn es kann nichts geben, was ihre ge-genwärtige Existenz ausschließt) und immer auf die-selbe Weise vorstellen (nach Lehrsatz 38, Teil 2).Daher bleibt ein solcher Affekt stets derselbe, undfolglich müssen (nach Axiom I dieses Teils) die Af-fekte, die ihm entgegengesetzt sind und die von ihrenäußeren Ursachen nicht genährt werden, sich ihm

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mehr und mehr anbequemen, bis sie nicht mehr entge-gengesetzt sind. Und insofern ist ein Affekt, der aus›der Vernunft entspringt, der stärkere. - W.z.b. w.

Achter Lehrsatz

Von je mehr zusammenwirkenden Ursachen ein Af-fekt erregt wird, desto stärker ist er.

Beweis

Viele Ursachen zusammen vermögen mehr, alswenn es nicht so viele wären (nach Lehrsatz 7, Teil3). Folglich ist (nach Lehrsatz 5, Teil 4) ein Affektum so kräftiger, von je mehr zusammenwirkenden Ur-sachen er erregt wird. - W.z.b.w.

Anmerkung

Dieser Lehrsatz erhellt auch aus Axiom II diesesTeils.

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Neunter Lehrsatz

Ein Affekt, der sich, auf viele und verschiedene Ur-sachen bezieht, die der Geist mit dein Affekt zugleichbetrachtet, ist minder schädlich, und wir leiden min-der durch ihn und sind gegen jede einzelne Ursacheminder erregt als ein anderer, gleich starker Affekt,der sich bloß auf Eine Ursache oder auf wenigerebezieht.

Beweis

Ein Affekt ist nur insofern schlecht oder schädlich,sofern der Geist durch ihn am Denken gehindert wird(nach den Lehrsätzen 26 und 27, Teil 4). Daher ist einAffekt, durch welchen der Geist bestimmt wird, vieleObjekte zugleich zu betrachten, minder schädlich alsein anderer, gleich starker Affekt, welcher den Geistin der Betrachtung bloß eines einzelnen Objekts odereiner geringeren Anzahl von Objekten so festhält, daßer an andere nicht denken kann. Damit ist das erstebewiesen. - Da ferner das Wesen des Geistes, d.h.(nach Lehrsatz 7, Teil 3) sein Vermögen, im Denkenallein besteht (nach Lehrsatz 11, Teil 2), so leidetfolglich der Geist durch einen Affekt, durch welchener bestimmt wird, vieles zugleich zu betrachten,

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weniger als durch einen gleich starken Affekt, welcherden Geist in der Betrachtung bloß eines einzelnen Ob-jekts oder einer geringeren Anzahl von Objekten fest-hält. Damit ist das zweite bewiesen. - Endlich ist auchdieser Affekt (nach Lehrsatz 48, Teil 3), sofern er sichauf viele äußere Ursachen bezieht, gegen jede ein-zelne derselben schwächer. - W.z.b.w.

Zehnter Lehrsatz

Solange wir nicht von Affekten bestürmt werden, dieunserer Natur entgegengesetzt sind, solange habenwir die Macht, die Körpererregungen gemäß ihrerOrdnung nach der Erkenntnis zu ordnen und zu ver-ketten.

Beweis

Affekte, die unserer Natur entgegengesetzt sind,d.h. (nach Lehrsatz 30, Teil 4), die schlecht sind, sindinsofern schlecht, sofern sie den Geist am Erkennenhindern (nach Lehrsatz 27, Teil 4). Solange wir alsovon Affekten, die unserer Natur entgegengesetzt sind,nicht bestürmt werden, solange wird das Vermögendes Geistes, womit er die Dinge zu erkennen strebt(nach Lehrsatz 26, Teil 4), nicht gehindert, und

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solange vermag er daher, klare und deutliche Ideen zubilden und Ideen von Ideen abzuleiten (s. die Anmer-kung zu Lehrsatz 40 und die Anmerkung zu Lehrsatz47, Teil 2). Folglich (nach Lehrsatz 1 dieses Teils)haben wir so lange auch die Macht, die Körpererre-gungen gemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis zuordnen und zu verketten. - W.z.b.w.

Anmerkung

Durch diese Macht, die Körpererregungen richtigzu ordnen und zu verketten, können wir bewirken,daß wir nicht leicht von schlimmen Affekten erregtwerden. Denn es ist (nach Lehrsatz 7 dieses Teils)eine größere Kraft erforderlich, die Affekte, welchegemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis geordnetund verkettet sind, einzuschränken als die unsicherenund schwankenden.

Das Beste also, was wir tun können, solange wirkeine vollkommene Erkenntnis unserer Affekte haben,ist, daß wir uns eine richtige Methode der Lebenswei-se oder bestimmte Lebensregeln aufstellen, sie unse-rem Gedächtnis einprägen und In den einzelnen, imLeben häufig vorkommenden Fällen anwenden, damitso unsere Vorstellung von ihnen tief durchdrungenwerde und wir dieselben jederzeit vor Augen haben.

So habe ich z.B. unter andern die Lebensregel

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aufgestellt (s. Lehrsatz 46, Teil 4, mit seiner Anmer-kung), daß man den Haß durch Liebe oder Edelmutbesiegen, nicht aber durch Gegenhaß erwidern solle.Damit wir aber dieser Vorschrift der Vernunft immereingedenk seien, wo sie zur Anwendung kommen soll,muß man über die Kränkungen, welche die Menscheneinander gewöhnlich zufügen, nachdenken und oftdarüber nachsinnen, auf welche Art und durch welcheMittel dieselben am besten durch Edelmut abgewehrtwerden können. Denn so werden wir die Vorstellungder Kränkung mit der Vorstellung dieser Lebensregelverbinden, und wir werden derselben (nach Lehrsatz18, Teil 2) stets eingedenk sein, sobald uns eineKränkung widerfährt.

Wenn wir nun auch noch die Rücksicht auf unsernwahren Nutzen vor Augen haben werden und auchdes Guten eingedenk sind, das aus der gegenseitigenFreundschaft und der gemeinsamen Vereinigung er-folgt, und ferner daran denken, daß aus einer richtigenLebensweise die höchste Befriedigung der Seele ent-springt (nach Lehrsatz 52, Teil 4) und daß die Men-schen wie alles andere aus Naturnotwendigkeit han-deln, so wird die Kränkung oder der Haß, der aus ihrzu entspringen pflegt, den geringsten Teil unsererVorstellung einnehmen und leicht überwunden wer-den. Und wenn der Zorn der aus sehr schweren Krän-kungen zu entspringen pflegt nicht so leicht

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überwunden werden sollte, so wird er, wenn auchnicht ohne Seelenkampf, dann doch in viel kürzererZeit überwunden werden, als wenn wir vorher nicht inder angegebenen Weise darüber nachgedacht hätten,wie aus den Lehrsätzen 6, 7 und 8 dieses Teils erhellt.

Gleicherweise müssen wir über die Seelenstärkenachdenken, um die Furcht abzulegen. Wir müssenuns nämlich die im Leben vorkommenden Gefahrenvorrechnen und öfters vorstellen und überlegen, wiesie durch Geistesgegenwart und Mut am besten ver-mieden werden können.

Es ist aber zu bemerken, daß wir beim Ordnen un-serer Gedanken und Vorstellungen immer auf das ach-ten müssen (nach Zusatz zu Lehrsatz 63, Teil 4, undLehrsatz 59, Teil 3), was in jedem Ding gut ist, damitwir so stets durch den Affekt der Lust zum Handelnbestimmt werden. Wenn z.B. jemand bemerkt, daß erallzusehr nach Ruhm dürstet, so möge er über dessenrichtigen Gebrauch nachdenken und auch, zu welchemZweck ihm nachzutrachten sei und mit welchen Mit-teln derselbe erlangt werden könne; nicht aber überden Mißbrauch desselben und dessen Eitelkeit oderüber die Unzuverlässigkeit der Menschen und anderesdieser Art, worüber man nur bei verstimmtem Gemütnachdenkt. Denn mit solchen Gedanken quälen sichgerade die Ehrgeizigsten am allermeisten, wenn siedaran verzweifeln, die heißbegehrten Ehren zu

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erlangen; und während sie ihrem Zorn Luft machen,wollen sie weise scheinen. Daher ist es gewiß, daßdiejenigen die Ruhmbegierigsten sind, welche dasgrößte Geschrei erheben über den Mißbrauch desRuhms und die Eitelkeit der Welt.

Übrigens ist dies nicht eine ausschließliche Eigen-schaft der Ehrgeizigen, sondern allen geistigenSchwächlingen eigen, denen das Glück nicht günstigist. Denn auch der Arme, der gern reich sein möchte,redet unaufhörlich vom Mißbrauch des Geldes undden Lastern der Reichen, womit er aber keine andereWirkung erzielt, als daß er sich ärgert und andernzeigt, daß er nicht bloß über die eigene Armut, son-dern auch über den Reichtum anderer Groll hegt. -Ebenso machen es Männer, die von ihrer Geliebtenübel aufgenommen wurden; sie denken nur an denWankelmut der Weiber und ihr falsches Herz und anandere abgedroschene Vorwürfe, die man den Wei-bern macht.

Wer also seine Affekte und Neigungen aus Liebezur Freiheit allein zu zügeln trachtet, der wird sich an-gelegen sein lassen, sosehr er kann, die Tugenden undihre Ursachen kennenzulernen und seine Seele mit derFreude zu erfüllen, die aus dieser wahren Erkenntnisentspringt; nicht aber wird er sich mit der Betrachtungder menschlichen Laster abgeben, die Menschendurchhecheln und am Schein einer falschen Freiheit

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Freude haben. Und wer hierauf mit Eifer sein Augen-merk richtet (denn es ist nicht schwer) und sich darinübt, der wird sicherlich in kurzer Zeit seine Handlun-gen meist nach den Geboten der Vernunft regeln kön-nen.

Elfter Lehrsatz

Auf je mehr Dinge sich eine Vorstellung bezieht, umso häufiger ist sie oder um so öfter lebt sie auf, unddesto mehr nimmt sie den Geist ein.

Beweis

Denn auf je mehr Dinge sich eine Vorstellung oderein Affekt bezieht, desto mehr Ursachen sind vorhan-den, von welchen sie hervorgerufen und genährt wer-den kann. Sie alle betrachtet der Geist (nach der Vor-aussetzung) vermöge des Affekts miteinander. Daherist der Affekt um so häufiger oder lebt um so öfter aufund nimmt den Geist desto mehr ein. - W.z.b.w.

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525Spinoza: Ethik

Zwölfter Lehrsatz

Die Vorstellungen der Dinge werden leichter mitVorstellungen verbunden, die sich auf Dinge bezie-hen, welche wir klar und deutlich erkennen, als mitanderen.

Beweis

Die Dinge, welche wir klar und deutlich erkennen,sind entweder gemeinsame Eigenschaften der Dingeoder was von diesen abgeleitet wird (s. die Definitionder Vernunft in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40,Teil 2), und sie werden folglich (nach dem vorigenLehrsatz) öfter in uns hervorgerufen. Es kann daherleichter geschehen, daß wir andere Dinge zugleich mitdiesen als mit andern zusammen betrachten und folg-lich auch (nach Lehrsatz 18, Teil 2), daß sie leichtermit diesen als mit andern verbunden werden. -W.z.b.w.

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Dreizehnter Lehrsatz

Mit je mehr andern Vorstellungen eine Vorstellungverbunden ist, desto öfter lebt sie auf.

Beweis

Denn mit je mehr andern Vorstellungen eine Vor-stellung verbunden ist, desto mehr Ursachen gibt es(nach Lehrsatz 18, Teil 2), von denen sie hervorgeru-fen werden kann. - W.z.b.w.

Vierzehnter Lehrsatz

Der Geist kann bewirken, daß alle Körpererregun-gen oder Vorstellungen der Dinge auf die Idee Got-tes bezogen werden.

Beweis

Es gibt keine Körpererregung, von welcher derGeist nicht einen klaren und deutlichen Begriff bildenkann (nach Lehrsatz 4 dieses Teils). Daher kann erbewirken (nach Lehrsatz 15, Teil 1), daß alle auf dieIdee Gottes bezogen werden. - W.z.b.w.

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527Spinoza: Ethik

Fünfzehnter Lehrsatz

Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt,liebt Gott und um so mehr, je mehr er sich und seineAffekte erkennt.

Beweis

Wer sich und seine Affekte klar und deutlich er-kennt, empfindet Lust (nach Lehrsatz 53, Teil 3), undzwar verbunden mit der Idee Gottes (nach dem vori-gen Lehrsatz). Also (nach den Definitionen der Affek-te, Ziffer VI) liebt er Gott, und (aus demselbenGrund) um so mehr, je mehr er sich und seine Affekteerkennt. - W.z.b.w.

Sechzehnter Lehrsatz

Diese Liebe zu Gott muß den Geist am meisten ein-nehmen.

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Beweis

Denn diese Liebe ist mit allen Erregungen des Kör-pers verbunden (nach Lehrsatz 14 dieses Teils) undwird von ihnen allen genährt (nach Lehrsatz 15 diesesTeils). Daher muß sie (nach Lehrsatz 11 dieses Teils)den Geist am meisten einnehmen. - W.z.b.w.

Siebzehnter Lehrsatz

Gott ist frei von allen Leiden und wird von keinemAffekt der Lust oder Unlust erregt.

Beweis

Alle Ideen sind, sofern sie auf Gott bezogen wer-den, wahr (nach Lehrsatz 32, Teil 2), d.h. (nach Defi-nition 4, Teil 2) adäquat. Daher ist Gott frei von allenLeiden (nach der allgemeinen Definition der Affekte).Ferner kann Gott weder zu größerer noch zu geringe-rer Vollkommenheit übergehen (nach Zusatz II zuLehrsatz 20, Teil 1). Daher kann er (nach den Defini-tionen der Affekte, Ziffern II und III) von keinem Af-fekt der Lust oder Unlust erregt werden. - W.z.b.w.

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Zusatz

Gott liebt und haßt im eigentlichen Sinne niemand.Denn Gott wird (nach obigem Lehrsatz) von keinemAffekt der Lust oder Unlust erregt, und folglich (nachder allgemeinen Definition der Affekte, Ziffern VI undVII) liebt und haßt er auch niemand.

Achtzehnter Lehrsatz

Niemand kann Gott hassen.

Beweis

Die Idee Gottes, welche in uns ist, ist eine adäquateund vollkommene (nach den Lehrsätzen 46 und 47,Teil 2). Sofern wir also Gott betrachten, insofern sindwir tätig (nach Lehrsatz 3, Teil 3). Folglich (nachLehrsatz 59, Teil 3) kann es eine Unlust, verbundenmit der Idee Gottes, nicht geben, d.h. (nach den Defi-nitionen der Affekte, Ziffer VII), niemand kann Gotthassen. - W.z.b.w.

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530Spinoza: Ethik

Zusatz

Die Liebe zu Gott kann sich nicht in Haß verwan-deln.

Anmerkung

Man könnte dagegen einwenden, daß, während wirGott als die Ursache aller Dinge erkennen, wir damitGott auch als die Ursache der Unlust betrachten. Dar-auf erwidere ich aber: Sofern wir die Ursachen derUnlust erkennen, insofern hört dieselbe auf, ein Lei-den zu sein (nach Lehrsatz 3 dieses Teils), d.h. (nachLehrsatz 59, Teil 3), insofern hört sie auf, Unlust zusein. Sofern wir daher Gott als Ursache der Unlust be-trachten, insofern empfinden wir Lust.

Neunzehnter Lehrsatz

Wer Gott liebt, kann nicht wünschen, daß Gott ihnwiederliebt.

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Beweis

Wenn der Mensch dies wünschen würde, so würdeer folglich wünschen (nach Zusatz zu Lehrsatz 17 die-ses Teils), daß Gott, den er liebt, nicht Gott sei, undfolglich (nach Lehrsatz 19, Teil 3) würde er Unlust zuempfinden wünschen, was (nach Lehrsatz 28, Teil 3)widersinnig ist. Folglich wird, wer Gott liebt, usw. -W.z.b.w.

Zwanzigster Lehrsatz

Diese Liebe zu Gott kann weder durch den Affektdes Neids noch der Eifersucht getrübt werden, son-dern sie wird desto mehr genährt, je mehr Menschenwir uns durch dasselbe Band der Liebe mit Gott ver-bunden vorstellen.

Beweis

Diese Liebe zu Gott ist das höchste Gut, das wirnach dem Gebot der Vernunft verlangen können (nachLehrsatz 28 Teil 4) und von dem wir wünschen, daßalle Menschen sich desselben erfreuen (nach Lehrsatz37, Teil 4). Daher kann sie (nach den Definitionen der

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Affekte, Ziffer XXIII) durch den Affekt des Neidsnicht befleckt werden und ebensowenig (nach Lehr-satz 18 dieses Teils und der Definition der Eifersucht,s. dieselbe in der Anmerkung zu Lehrsatz 35, Teil 3)durch den Affekt der Eifersucht. Im Gegenteil wird sie(nach Lehrsatz 31, Teil 3) desto mehr genährt werden,je mehr Menschen sich ihrer erfreuend wir uns vor-stellen. - W.z.b.w.

Anmerkung

Auf gleiche Weise können wir zeigen, daß es kei-nen Affekt gibt, der an und für sich dieser Liebe ent-gegengesetzt wäre und von dem diese Liebe vernichtetwerden könnte. Daher können wir den Schluß ziehen,daß diese Liebe zu Gott der beharrlichste unter allenAffekten ist und daß sie, sofern sie sich auf den Kör-per bezieht, nur mit dem Körper selbst zerstört wer-den kann. Welcher Art sie aber ist, sofern sie sich aufden Geist allein bezieht, werden wir später sehen.

Sämtliche Mittel gegen die Affekte oder alles, wasder Geist, an sich allein betrachtet, gegen die Affektevermag, ist im vorstehenden zusammengefaßt. Es er-hellt daraus, daß die Macht des Geistes über die Af-fekte in folgendem besteht.

1. In der Erkenntnis der Affekte selbst (s. die

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Anmerkung zu Lehrsatz 4 dieses Teils).2. In der Trennung des Affekts von dem Gedanken

der äußern Ursache, die wir verworren vorstellen (s.Lehrsatz 2 und die oben zitierte Anmerkung zu Lehr-satz 4 dieses Teils).

3. In der Zeit, worin die Erregungen, welche sichauf Dinge beziehen, die wir erkennen, diejenigenübertreffen, welche sich auf Dinge beziehen, die wirverworren und verstümmelt begreifen (s. Lehrsatz 7dieses Teils).

4. In der Menge der Ursachen, durch welche dieErregungen, welche sich auf die allgemeinen Eigen-schaften oder auf Gott beziehen, genährt werden (s.die Lehrsätze 9 und 11 dieses Teils).

5. In der Ordnung, nach welcher der Geist seineAffekte ordnen und miteinander verketten kann (s. dieAnmerkung zu Lehrsatz 10, außerdem noch die Lehr-sätze 12, 13 und 14 dieses Teils).

Damit aber diese Macht des Geistes über die Af-fekte besser verstanden werde, muß hier in ersterLinie bemerkt werden, daß ich die Affekte als starkebezeichne, wenn wir bei Vergleichung des Affektseines Menschen mit dem Affekt eines andern Men-schen wahrnehmen, daß der eine von demselben Af-fekt mehr als der andere aufgeregt wird; oder wennwir bei Vergleichung der Affekte eines und desselbenMenschen miteinander wahrnehmen, daß der Mensch

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von dem einen Affekt mehr als von dem andern erregtoder bewegt wird.

Denn die Macht eines jeden Affekts erklärt sich(nach Lehrsatz 5, Teil 4) aus dem Vermögen der äu-ßern Ursache, verglichen mit dem unserigen. DasVermögen des Geistes aber erklärt sich aus der blo-ßen Erkenntnis allein, sein Unvermögen dagegen oderdas Leiden aus dem bloßen Mangel an Erkenntnis,d.h., es bemißt sich nach dem, wegen dessen die Ideeninadäquate heißen. Hieraus folgt, daß der Geist ammeisten leidet, dessen größten Teil inadäquate Ideenausmachen, so daß er mehr durch das, was er leidet,als durch das, was er tut, sich kennzeichnet; und daßder dagegen am meisten tätig ist, dessen größten Teiladäquate Ideen ausmachen, so daß, obgleich ihmebensoviel inadäquate Ideen innewohnen als dem an-dern, er doch mehr durch jene, welche der menschli-chen Tugend angehören, als durch diese, welche dasmenschliche Unvermögen bekunden, sich kennzeich-net.

Weiter muß bemerkt werden, daß der Kummer unddas Unglücksgefühl des Gemüts ihren Ursprunghauptsächlich in der übermäßigen Liebe zu einemDing haben, welches vielen Veränderungen unterwor-fen ist und das wir niemals besitzen können. Dennniemand ist über ein Ding bekümmert und gedrückt,wenn er es nicht liebt, und jede Kränkung, jeder

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Argwohn, jede Feindschaft usw. entspringt aus derLiebe zu Dingen, in deren wahrem Besitz niemandsein kann.

Hieraus ersehen wir leicht, was die klare und deut-liche Erkenntnis und besonders jene dritte Erkenntnis-gattung (s. hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 47,Teil 2), deren Grundlage eben die Erkenntnis Gottesselbst ist, über die Affekte vermag; indem sie, soferndieselben Leiden sind, wenn auch nicht vollständigsie aufhebt (s. Lehrsatz 3 mit der Anmerkung zuLehrsatz 4 dieses Teils), so doch bewirkt, daß sie denkleinsten Teil des Geistes ausmachen (s. Lehrsatz 14dieses Teils). - Ferner erzeugt diese Erkenntnis dieLiebe zu dem, was unveränderlich und ewig ist (s.Lehrsatz 15 dieses Teils) und das wir wahrhaft besit-zen können (s. Lehrsatz 45, Teil 2). Darum kanndiese Liebe nicht von den Fehlern, mit welchen diegemeine Liebe behaftet ist, getrübt werden, vielmehrkann sie immer stärker und stärker werden (nachLehrsatz 15 dieses Teils), den größten Teil des Gei-stes einnehmen (nach Lehrsatz 16 dieses Teils) undihn gänzlich durchdringen.

Damit habe ich alles erledigt, was das gegenwärti-ge Leben betrifft. Denn daß ich mit diesen wenigenWorten alle Mittel gegen die Affekte zusammengefaßthabe, wie ich im Eingang dieser Anmerkung sagte,wird jeder leicht finden, der den Ausführungen dieser

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536Spinoza: Ethik

Anmerkung und zugleich den Definitionen des Gei-stes und seiner Affekte, endlich auch den Lehrsätzen Iund 3 im dritten Teil seine Aufmerksamkeit zuwen-det.

Es ist daher nun Zeit, zu dem überzugehen, was dieDauer des Geistes ohne Beziehung auf den Körperbetrifft.

Einundzwanzigster Lehrsatz

Der Geist kann nur, solange der Körper dauert, sichetwas vorstellen und sich der vergangenen Dingeerinnern.

Beweis

Der Geist drückt die wirkliche Existenz seinesKörpers nur aus und begreift auch die Erregungen desKörpers als wirkliche nur, solange der Körper dauert(nach Zusatz zu Lehrsatz 8, Teil 2), und folglich(nach Lehrsatz 26, Teil 2) begreift er seinen Körperals wirklich existierend nur, solange sein Körper dau-ert. Somit kann er sich nichts vorstellen (s. die Defini-tion der Vorstellung in der Anmerkung zu Lehrsatz17, Teil 2) und sich keiner vergangenen Dinge erin-nern (s. die Definition der Erinnerung in der

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Anmerkung zu Lehrsatz 18, Teil 2) als nur, solangeder Körper dauert. - W.z.b.w.

Zweiundzwanzigster Lehrsatz

In Gott gibt es jedoch notwendig eine Idee, welchedas Wesen dieses oder jenes menschlichen Körpersunter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt.

Beweis

Gott ist nicht nur die Ursache von der Existenz die-ses und jenes menschlichen Körpers, sondern auchvon dessen Wesen (nach Lehrsatz 25, Teil 1). Diesesmuß daher durch Gottes Wesen selbst notwendig be-griffen werden (nach Axiom VI, Teil 1), und zwar miteiner gewissen ewigen Notwendigkeit (nach Lehrsatz16, Teil 1); welchen Begriff es notwendig in Gottgeben muß (nach Lehrsatz 3, Teil 2). - W.z.b.w.

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Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist kann mit dem Körper nichtabsolut zerstört werden, sondern es bleibt von ihmetwas übrig, was ewig ist.

Beweis

In Gott gibt es notwendig einen Begriff oder eineIdee, welche das Wesen des menschlichen Körpersausdrückt (nach dem vorigen Lehrsatz), die deshalbnotwendig etwas ist, was zum Wesen des menschli-chen Geistes gehört (nach Lehrsatz 13, Teil 2). Wirlegen aber dem menschlichen Geist eine Dauer, wel-che durch die Zeit definiert werden kann, nur bei, so-fern sie die wirkliche Existenz des Körpers, welchedurch Dauer ausgedrückt und durch Zeit bestimmtwerden kann, ausdrückt; d.h. (nach Zusatz zu Lehr-satz 8, Teil 2), wir legen ihm Dauer nur bei, solangeder Körper dauert. Da aber nichtsdestoweniger dasje-nige etwas ist, was mit einer gewissen Notwendigkeitdurch Gottes Wesen selbst begriffen wird (nach demvorigen Lehrsatz), so wird notwendig dieses Etwas,das zum Wesen des Geistes gehört, ewig sein. -W.z.b.w.

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Anmerkung

Es ist, wie gesagt, diese Idee, welche das Wesendes Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeitausdrückt, eine gewisse Form (Modus) des Denkens,welche zum Wesen des Geistes gehört und welchenotwendig ewig ist. - Dennoch ist es unmöglich, daßwir uns erinnern, vor dem Körper existiert zu haben,da es ja im Körper keine Spuren davon geben und dieEwigkeit weder durch die Zeit definiert werden nochirgendeine Beziehung zur Zeit haben kann. Dessenun-geachtet aber wissen und erfahren wir, daß wir ewigsind. Denn der Geist weiß jene Dinge, die er durchdas Erkennen begreift, nicht minder als jene, die er imGedächtnis hat. Denn die Augen des Geistes, mit wel-chen er die Dinge sieht und beobachtet, sind eben dieBeweise.

Obgleich wir uns also nicht erinnern, vor dem Kör-per existiert zu haben, so wissen wir doch, daß unserGeist, sofern er das Wesen des Körpers unter demGesichtspunkt der Ewigkeit in sich schließt, ewig istund daß diese Existenz desselben nicht durch Zeit de-finiert oder durch Dauer erklärt werden kann. - UnserGeist kann also nur insofern dauernd heißen, undseine Existenz kann nur insofern durch eine gewisseZeit bestimmt werden, sofern er die wirkliche Exi-stenz des Körpers in sich schließt; und nur insofern

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hat er das Vermögen, die Existenz der Dinge durchZeit zu bestimmen und sie unter dem Begriff derDauer zu begreifen.

Vierundzwanzigster Lehrsatz

Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehrerkennen wir Gott.

Beweis

Derselbe erhellt aus dem Zusatz zum Lehrsatz 25im ersten Teil.

Fünfundzwanzigster Lehrsatz

Das höchste Bestreben des Geistes und die höchsteTugend ist, die Dinge nach der dritten Erkenntnis-gattung zu erkennen.

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541Spinoza: Ethik

Beweis

Die dritte Erkenntnisgattung schreitet von der ad-äquaten Idee gewisser Attribute Gottes zur adäquatenErkenntnis des Wesens der Dinge fort (s. die Definiti-on derselben in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40,Teil 2), und je mehr wir die Dinge auf diese Weise er-kennen, desto mehr erkennen wir Gott (nach dem vo-rigen Lehrsatz). Folglich (nach Lehrsatz 28, Teil 4)ist die höchste Tugend des Geistes, d.h. (nach Defini-tion 8, Teil 4) das Vermögen, oder die Natur des Gei-stes oder (nach Lehrsatz 7, Teil 3) sein höchstes Stre-ben, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zuerkennen. - W.z.b.w.

Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Je befähigter der Geist ist, die Dinge nach der drit-ten Erkenntnisgattung zu erkennen, desto mehr be-gehrt er, die Dinge nach dieser Erkenntnisgattungzu erkennen.

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Beweis

Der Satz ist von selbst einleuchtend. Denn sofernwir begreifen, daß der Geist befähigt ist, die Dingenach dieser Erkenntnisgattung zu erkennen, insofernbegreifen wir ihn als bestimmt, die Dinge nach ebendieser Erkenntnisgattung zu begreifen. Je befähigterfolglich (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I)der Geist dazu ist, desto mehr begehrt er darnach. -W.z.b.w.

Siebenundzwanzigster Lehrsatz

Aus dieser dritten Erkenntnisgattung entspringt diehöchste Befriedigung des Geistes, die es gebenkann.

Beweis

Die höchste Tugend des Geistes ist, Gott erkennen(nach Lehrsatz 28, Teil 4) oder die Dinge nach derdritten Erkenntnisgattung erkennen (nach Lehrsatz 25dieses Teils). Diese Tugend ist um so größer, je mehrder Geist die Dinge nach dieser Erkenntnisgattung er-kennt (nach Lehrsatz 24 dieses Teils). Wer daher die

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543Spinoza: Ethik

Dinge nach dieser Erkenntnisgattung erkennt, der er-reicht die höchste menschliche Vollkommenheit undwird folglich (nach den Definitionen der Affekte, Zif-fer II) mit der höchsten Lust erregt, und zwar (nachLehrsatz 43, Teil 2) verbunden mit der Idee seinerselbst und seiner Tugend. Mithin entspringt (nach denDefinitionen der Affekte, Ziffer XXV) aus dieser Er-kenntnisgattung die höchste Befriedigung, diesesgeben kann. - W.z.b.w.

Achtundzwanzigster Lehrsatz

Das Bestreben oder die Begierde, die Dinge nachder dritten Erkenntnisgattung tu erkennen, kannnicht aus der ersten, wohl aller aus der zweiten Er-kenntnisgattung entspringen.

Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt von selbst. Denn was wirklar und deutlich erkennen, das erkennen wir entwe-der durch es selbst oder durch ein anderes, durch wel-ches es begriffen wird. Das heißt, die Ideen, welche inuns klar und deutlich sind oder welche zur dritten Er-kenntnisgattung gehören (s. die 2. Anmerkung zuLehrsatz 40, Teil 2), können nicht aus verstümmelten

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544Spinoza: Ethik

und verworrenen Ideen folgen, welche (nach derselbenAnmerkung) zur ersten Erkenntnisgattung gehören,sondern aus adäquaten Ideen oder (nach derselbenAnmerkung) aus der zweiten und dritten Erkenntnis-gattung. Somit kann (nach den Definitionen der Af-fekte, Ziffer I) die Begierde, die Dinge nach der drit-ten Erkenntnisgattung zu erkennen, nicht aus der er-sten entspringen, wohl aber aus der zweiten. -W.z.b.w.

Neunundzwanzigster Lehrsatz

Alles, was der Geist unter dem Gesichtspunkt derEwigkeit erkennt, das erkennt er nicht daraus, daßer die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpersbegreift, sondern daraus, daß er das Wesen desKörpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit be-greift.

Beweis

Sofern der Geist die wirkliche Existenz seines Kör-pers begreift, insofern begreift er eine Dauer, welchedurch Zeit bestimmt werden kann, und nur insofernhat er das Vermögen, die Dinge mit Beziehung aufdie Zeit zu begreifen (nach Lehrsatz 21 dieses Teils

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und Lehrsatz 26, Teil 3). Die Ewigkeit aber kannnicht durch Dauer ausgedrückt werden (nach Definiti-on 8, Teil 1, und ihrer Erläuterung). Folglich hat derGeist insofern die Macht nicht, die Dinge unter demGesichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, sondern erhat diese Macht, weil es zur Natur der Vernunft ge-hört, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeitzu begreifen (nach Zusatz II zu Lehrsatz 44, Teil 2),und es zur Natur des Geistes auch gehört, das Wesendes Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zubegreifen (nach Lehrsatz 23 dieses Teils), und außerdiesen beiden nichts anderes zum Wesen des Geistesgehört (nach Lehrsatz 13, Teil 2). Folglich gehört die-ses Vermögen, die Dinge unter dem Gesichtspunktder Ewigkeit zu begreifen, zum Geiste nur, sofern erdas Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt derEwigkeit begreift. - W.z.b.w.

Anmerkung

Die Dinge werden von uns auf zweierlei Arten alswirkliche begriffen: entweder sofern wir sie mit Be-ziehung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimm-ten Raum existierend begreifen oder sofern wir sie alsin Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der gött-lichen Natur folgend begreifen. Die Dinge aber, dieauf diese zweite Art als wahr oder real begriffen

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werden, sie begreifen wir unter dem Gesichtspunktder Ewigkeit, und ihre Ideen schließen das ewige undunendliche Wesen Gottes in sich, wie ich in Lehrsatz45 im zweiten Teil bewiesen habe, dessen Anmer-kung man ebenfalls sehe.

Dreißigster Lehrsatz

Sofern unser Geist sich und den Körper unter demGesichtspunkt der Ewigkeit erkennt, insofern hat ernotwendig eine Erkenntnis Gottes und weiß, daß erin Gott ist und durch, Gott begriffen wird.

Beweis

Die Ewigkeit ist Gottes Wesen selbst, sofern esdiese notwendige Existenz in sich schließt (nach Defi-nition 8, Teil 1). Die Dinge unter dem Gesichtspunktder Ewigkeit begreifen ist daher, die Dinge begreifen,sofern sie durch das Wesen Gottes als reale Wesenbegriffen werden oder sofern sie durch das WesenGottes die Existenz in sich schließen. Sofern daherunser Geist sich und den Körper unter dem Gesichts-punkt der Ewigkeit begreift, insofern hat er notwendigeine Erkenntnis Gottes und weiß usw. - W.z.b.w.

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Einunddreißigster Lehrsatz

Die dritte Erkenntnisgattung hängt vom Geiste alsder formalen Ursache ab, sofern der Geist selbstewig ist.

Beweis

Der Geist begreift unter dem Gesichtspunkt derEwigkeit nur, sofern er das Wesen seines Körpersunter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift (nachLehrsatz 29 dieses Teils), d.h. (nach den Lehrsätzen21 und 23 dieses Teils), sofern er ewig ist. Daher hater, sofern er ewig ist (nach dem vorigen Lehrsatz),eine Erkenntnis Gottes, welche Erkenntnis notwendigeine adäquate ist (nach Lehrsatz 46, Teil 2). Mithinist der Geist, sofern er ewig ist, befähigt, alles dazuzu erkennen, was aus dieser gegebenen ErkenntnisGottes folgen kann (nach Lehrsatz 40, Teil 2), d.h.,die Dinge nach dieser dritten Erkenntnisgattung zu er-kennen (s. deren Definition in der 2. Anmerkung zuLehrsatz 40, Teil 2), von welcher der Geist daher(nach Definition 1, Teil 3), sofern er ewig ist, die ad-äquate oder formale Ursache ist. - W.z.b.w.

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548Spinoza: Ethik

Anmerkung

Je weiter es daher jemand in dieser Erkenntnisgat-tung gebracht hat, desto besser ist er seiner selbst undGottes sich bewußt, -d.h., desto vollkommener undglückseliger ist er, was aus dem Folgenden noch klar-werden wird.

Hier ist noch zu bemerken, daß, obgleich wir jetztGewißheit darüber erlangt haben, daß der Geist ewigist, sofern er die Dinge unter dem Gesichtspunkt derEwigkeit begreift, so werde ich ihn doch, behufsleichterer Erläuterung und besseren Verständnissesdessen, was ich dartun will, so betrachten, als ob ererst jetzt anfinge zu sein und als ob er erst jetzt anfin-ge, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeitzu erkennen; wie ich es bisher getan. Es kann dies ge-schehen, ohne jede Gefahr in Irrtümer zu geraten,wenn wir nur auf der Hut sind, daß wir keine andernSchlüsse ziehen als aus ganz klaren Prämissen.

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549Spinoza: Ethik

Zweiunddreißigster Lehrsatz

Was wir nach der dritten Erkenntnisgattung erken-nen, darin erfreuen wir uns, und zwar verbundenmit der Idee Gottes als Ursache.

Beweis

Aus dieser Erkenntnisgattung entspringt die höch-ste Befriedigung des Geistes, die es geben kann. d.h.(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXV) diehöchste Lust, und zwar verbunden mit der Idee seinerselbst (nach Lehrsatz 27 dieses Teils) und folglichauch (nach Lehrsatz 30 dieses Teils) verbunden mitder Idee Gottes als Ursache. - W.z.b.w.

Zusatz

Aus der dritten Erkenntnisgattung entspringt not-wendig die intellektuelle Liebe zu Gott. Denn ausdieser Erkenntnisgattung entspringt (nach obigemLehrsatz) Lust, verbunden mit der Idee Gottes als Ur-sache; d.h. (nach den Definitionen der Affekte, ZifferVI) Liebe zu Gott, nicht sofern wir ihn als gegenwär-tig vorstellen (nach Lehrsatz 29 dieses Teils), sondernsofern wir erkennen, daß Gott ewig ist. Und das ist es,

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was ich intellektuelle Liebe zu Gott nenne.

Dreiunddreißigster Lehrsatz

Die intellektuelle Liebe zu Gott, die aus der drittenErkenntnisgattung entspringt, ist ewig.

Beweis

Denn die dritte Erkenntnisgattung ist ewig (nachLehrsatz 31 dieses Teils und Axiom III, Teil 1).Daher ist (nach demselben Axiom, Teil 1) auch dieLiebe, die aus hr entspringt, notwendig ewig. -W.z.b.w.

Anmerkung

Obgleich diese Liebe zu Gott keinen Anfang ge-habt hat (nach obigem Lehrsatz), so hat sie doch alleVollkommenheiten der Liebe, ganz so, als ob sie soentstanden wäre, wie ich im Zusatz zum vorigenLehrsatz fingiert habe. Denn es ist hier kein Unter-schied, außer daß der Geist dieselben Vollkommen-heiten, von denen wir dort fingierten, daß sie ihm erstjetzt zuteil wurden, als ewige gehabt hat, und zwarverbunden mit der Idee Gottes als ewige Ursache.

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Wenn die Lust im Übergang zu größerer Vollkom-menheit besteht, so muß doch gewiß die Glückselig-keit darin bestehen, daß der Geist mit der Vollkom-menheit selbst begabt ist.

Vierunddreißigster Lehrsatz

Der Geist ist nur, solange der Körper dauert, denAffekten unterworfen, die zu den Leiden gehören.

Beweis

Die Vorstellung ist eine Idee, vermöge welcher derGeist irgendein Ding als gegenwärtig betrachtet (s.deren Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz 17,Teil 2); die aber mehr den gegenwärtigen Zustand desmenschlichen Körpers als die Natur der äußern Ursa-che anzeigt (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16, Teil 2).Ein Affekt ist also (nach der allgemeinen Definitionder Affekte) eine Vorstellung, sofern sie den gegen-wärtigen Zustand des Körpers anzeigt. Daher ist derGeist (nach Zusatz 21 dieses Teils) nur, solange derKörper dauert, den Affekten unterworfen, die zu denLeiden gehören. - W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt, daß keine andere Liebe ewig ist alsdie intellektuelle Liebe.

Anmerkung

Wenn wir auf die gemeine Meinung der Menschenachten, so sehen wir, daß sie zwar der Ewigkeit ihresGeistes sich bewußt sind, dieselbe aber mit der Dauervermengen und sie der Vorstellung oder der Erinne-rung beilegen, welche nach ihrem Glauben nach demTode fortdauert.

Fünfunddreißigster Lehrsatz

Gott liebt sich selbst mit unendlicher intellektuellerLiebe.

Beweis

Gott ist absolut unendlich (nach Definition 6, Teil1), d.h. (nach Definition 6, Teil 2), die Natur Gotteserfreut sich einer unendlichen Vollkommenheit, undzwar (nach Lehrsatz 3, Teil 2) verbunden mit der Idee

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seiner selbst, d.h. (nach Lehrsatz 11 und Definition 1,Teil 1) mit der Idee seiner Ursache. Das aber ist es,was ich im Zusatz zu Lehrsatz 32 dieses Teils als in-tellektuelle Liebe bezeichnet habe.

Sechsunddreißigster Lehrsatz

Die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist ebendie Liebe Gottes, womit Gott sich selbst liebt, nichtsofern er unendlich ist, sondern sofern er durch dasWesen des menschlichen Geistes, unter dem Ge-sichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, ausgedrücktwerden kann. Das heißt, die intellektuelle Liebe desGeistes zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe,womit Gott sich selbst liebt.

Beweis

Diese Liebe des Geistes muß zu den Handlungendes Geistes gerechnet werden (nach Zusatz zu Lehr-satz 32 dieses Teils und nach Lehrsatz 3, Teil 3). Sieist daher eine Handlung, womit der Geist sich selbstbetrachtet, verbunden mit der Idee Gottes als Ursache(nach Lehrsatz 32 dieses Teils und seinem Zusatz),d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 25, Teil 1, und Zusatzzu Lehrsatz 11, Teil 2) eine Handlung, womit Gott,

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sofern er durch den menschlichen Geist ausgedrücktwerden kann, sich selbst betrachtet, verbunden mitder Idee seiner selbst. Mithin ist (nach dem vorigenLehrsatz) diese Liebe des Geistes ein Teil der unend-lichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt. - W.z.b.w.

Zusatz

Hieraus folgt, daß Gott, sofern er sich selbst liebt,die Menschen liebt, und folglich, daß die Liebe Got-tes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe desGeistes zu Gott eins und dasselbe sind.

Anmerkung

Hieraus erkennen wir deutlich, worin unser Heiloder unsere Glückseligkeit oder Freiheit besteht. Siebesteht nämlich in der beständigen und ewigen Liebezu Gott oder in der Liebe Gottes zu den Menschen.

Und diese Liebe oder Glückseligkeit wird in denheiligen Schriften Ehre genannt, und nicht mit Un-recht. Denn mag diese Liebe auf Gott, mag sie aufden Geist bezogen werden, so kann sie ganz richtigZufriedenheit der Seele die sich von der Ehre (nachden Definitionen der Affekte Ziffern XXV und XXX)nicht unterscheidet, genannt werden. Denn sofern sieauf Gott bezogen wird, ist sie (nach Lehrsatz 35

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dieses Teils) Lust - man gestatte vorläufig noch die-sen Ausdruck -, verbunden mit der Idee seiner selbst,ebenso wie sie Lust ist, sofern sie auf den Menschenbezogen wird (nach Lehrsatz 27 dieses Teils).

Weil sodann das Wesen unseres Geistes in der Er-kenntnis allein besteht, deren Prinzip und FundamentGott ist (nach Lehrsatz 15, Teil 1, und Anmerkung zuLehrsatz 47, Teil 2), so wird uns damit klar, auf wel-che Weise und in welcher Hinsicht unser Geist nachseinem Wesen und seiner Existenz aus der Natur Got-tes folgt und fortwährend von Gott abhängt.

Ich hielt dies hier für erwähnenswert, um an diesemBeispiel zu zeigen, welch hohen Wert die Erkenntnisder Einzeldinge hat, welche ich die intuitive oder Er-kenntnis dritter Gattung genannt habe (s. 2. Anmer-kung zu Lehrsatz 40, Teil 2), und wieviel mehr sievermag als die allgemeine Erkenntnis, die ich als Er-kenntnis zweiter Gattung bezeichnet habe. Denn ob-gleich ich im ersten Teil im allgemeinen gezeigt habe,daß alles (und folglich auch der menschliche Geist)nach Wesen und Existenz von Gott abhängt, so machtjener Beweis, obschon er regelrecht geführt ist undjeden Zweifel abschneidet, doch keinen solchen Ein-druck auf unsern Geist als die Folgerung dieses Sat-zes aus dem Wesen selbst jedes Einzeldinges, vondem ich sage, daß es von Gott abhängt.

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Siebenunddreißigster Lehrsatz

Es gibt in der Natur nichts, was dieser intellektuel-len Liebe entgegengesetzt wäre oder sie aufhebenkönnte.

Beweis

Diese intellektuelle Liebe folgt notwendig aus derNatur des Geistes, sofern dieser als ewige Wahrheitdurch die Natur Gottes betrachtet wird (nach denLehrsätzen 29 und 33 dieses Teils). Gäbe es alsoetwas, was dieser Liebe entgegengesetzt wäre, sowäre es dem Wahren entgegengesetzt, und demnachwürde das, was diese Liebe aufheben könnte, bewir-ken, daß das, was wahr ist, falsch sein würde; was(wie selbstverständlich) widersinnig ist. Folglich gibtes in der Natur nichts usw. - W.z.b.w.

Anmerkung

Das Axiom des vierten Teils bezieht sich auf dieEinzeldinge, sofern sie in ihrer Beziehung auf eine be-stimmte Zeit und einen bestimmten Raum betrachtetwerden; was wohl niemand bezweifeln wird.

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Achtunddreißigster Lehrsatz

Je mehr Dinge der Geist nach der zweiten und drit-ten Erkenntnisgattung erkennt, desto weniger leideter von den Affekten, welche schlecht sind, und destoweniger fürchtet er den Tod.

Beweis

Das Wesen des Geistes besteht in der Erkenntnis(nach Lehrsatz 11, Teil 2). Je mehr Dinge also derGeist nach der zweiten und dritten Erkenntnisgattungerkennt, ein um so größerer Teil von ihm dauert fort(nach den Lehrsätzen 29 und 23 dieses Teils), undfolglich bleibt (nach dem vorigen Lehrsatz) ein um sogrößerer Teil von ihm von den Affekten unberührt,welche unserer Natur entgegengesetzt sind, d.h. (nachLehrsatz 30, Teil 4), welche Leiden sind. Je mehrDinge daher den Geist nach der zweiten und drittenErkenntnisgattung erkennt, ein um so größerer Teilvon ihm bleibt unverletzt, und folglich leidet er weni-ger von den Affekten usw. - W.z.b.w.

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Anmerkung

Damit verstehen wir das, was ich in der Anmer-kung zu Lehrsatz 39 im vierten Teil berührt und indiesem Teil zu entwickeln versprochen habe, daßnämlich der Tod um so weniger schädlich ist, je grö-ßer die klare und deutliche Erkenntnis des Geistes ist,und dementsprenend, je mehr der Geist Gott liebt.

Weil ferner (nach Lehrsatz 27 dieses Teils) aus derdritten Erkenntnisgattung die höchste Befriedigungentspringt, die es geben kann, so folgt, daß dermenschliche Geist von solcher Natur sein kann, daßdas, woran ich gezeigt habe, daß es mit dem Körperuntergeht (s. Lehrsatz 21 dieses Teils), im Verhältniszu dem, was von ihm fortdauert, von keiner Erheb-lichkeit ist. Doch hiervon sogleich ausführlicher.

Neununddreißigster Lehrsatz

Wer einen Körper hat, der zu sehr vielen Dingen be-fähigt ist, der hat einen Geist, dessen größter Teilewig ist.

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Beweis

Wer einen zu sehr vielen Tätigkeiten befähigtenKörper hat, der wird am wenigsten von Affekten be-stürmt, welche schlecht sind (nach Lehrsatz 38, Teil4), d.h. (nach Lehrsatz 30, Teil 4) von Affekten, wel-che unserer Natur entgegengesetzt sind. Er hat des-halb (nach Lehrsatz 10 dieses Teils) das Vermögen,die Körpererregungen ihrer Ordnung dem Verstandegemäß zu ordnen und zu verketten und folglich auchzu bewirken (nach Lehrsatz 14 dieses Teils), daß alleKörpererregungen auf die Idee Gottes bezogen wer-den. Das hat die Wirkung (nach Lehrsatz 15 diesesTeils), daß er von Liebe zu Gott erregt wird, welche(nach Lehrsatz 16 dieses Teils) den größten Teil desGeistes einnehmen oder ausmachen muß. Folglich hater (nach Lehrsatz 33 dieses Teils) einen Geist, dessengrößter Teil ewig ist. - W.z.b.w.

Anmerkung

Weil die menschlichen Körper zu sehr vielem befä-higt sind, so unterliegt es keinem Zweifel, daß sie vonsolcher Natur sein können, daß sie zu Geistern gehö-ren, welche von sich und von Gott eine große Er-kenntnis haben und deren größter oder

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hauptsächlichster Teil ewig ist, und zwar dermaßen,daß sie den Tod kaum fürchten.

Damit aber dies klarer verstanden werde, muß hierdarauf aufmerksam gemacht werden, daß wir in be-ständiger Veränderung leben und daß wir, je nachdemwir uns zum Besseren oder Schlechteren verwandeln,glücklich oder unglücklich heißen. Denn wenn einKind oder ein Knabe eine Leiche wird, so heißt dasunglücklich; umgekehrt wird es zum Glück gerechnet,wenn wir unsere ganze Lebenszeit mit gesundemGeist in gesundem Körper verleben konnten. Undwirklich, wer wie ein Kind oder ein Knabe einen zusehr wenigem befähigten und meistens von äußernUrsachen abhängigen Körper hat, der hat einen Geist,welcher, für sich allein betrachtet, fast gar kein Be-wußtsein von sich noch von Gott oder von den Din-gen hat. Umgekehrt, wer einen zu sehr vielem befä-higten Körper hat, der hat einen Geist, welcher, fürsich allein betrachtet, viel Bewußtsein von sich wievon Gott und von den Dingen hat. In diesem Lebenalso streben wir vor allem dahin, daß sich der Körperdes Kindes, soweit es seine Natur zuläßt und soweites ihm zuträglich ist, in einen andern verwandle, derzu sehr vielem befähigt ist und der zu einem Geist ge-hört, der sehr viel Bewußtsein von sich, von Gott undvon den Dingen hat; und zwar so, daß alles, was zuseiner Erinnerung oder seiner Vorstellung gehört, im

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Verhältnis zur Erkenntnis kaum von Erheblichkeit ist,wie ich in der Anmerkung zum vorigen Lehrsatz be-reits gesagt habe.

Vierzigster Lehrsatz

Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehrtätig und desto weniger leidend ist es, und umge-kehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommenerist es.

Beweis

Je vollkommener ein Ding ist, desto mehr Realitäthat es (nach Definition 6, Teil 2), und folglich (nachLehrsatz 3, Teil 3, mit seiner Anmerkung) ist es umso mehr tätig und um so weniger leidend. Dieser Be-weis wird in umgekehrter Ordnung auf gleiche Weisegeführt, woraus folgt, daß umgekehrt ein Ding um sovollkommener ist, je mehr es tätig ist. - W.z.b.w.

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Zusatz

Hieraus folgt, daß derjenige Teil des Geistes, wel-cher fortdauert, von welcher Größe er auch sein mag,vollkommener ist als der übrige. Denn der ewige Teildes Geistes ist (nach den Lehrsätzen 23 und 29 diesesTeils) die Erkenntnis, vermöge welcher allein wirtätig heißen (nach Lehrsatz 3, Teil 3). Jener aber, vondem ich gezeigt habe, daß er untergeht, ist eben dieVorstellung (nach Lehrsatz 21 dieses Teils), vermögewelcher wir allein leidend heißen (nach Lehrsatz 3,Teil 3, und der allgemeinen Definition der Affekte).Demnach ist (nach obigem Lehrsatz) jener Teil, vonwelcher Größe er auch sein mag, vollkommener alsdieser. - W.z.b.w.

Anmerkung

Das ist es, was ich vom Geist, sofern er ohne Be-ziehung auf die Existenz des Körpers betrachtet wird,zu zeigen mir vorgenommen hatte. Hieraus, zusam-mengenommen mit Lehrsatz 21 im ersten Teil und an-dern Sätzen, erhellt, daß unser Geist, sofern er er-kennt, eine ewige Daseinsform des Denkens ist, dervon einer andern ewigen Daseinsform des Denkensbestimmt wird, und dieser wieder von einer andern,

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und so ins unendliche; so daß alle zusammen den ewi-gen und unendlichen Verstand Gottes ausmachen.

Einundvierzigster Lehrsatz

Wenn wir auch nicht wußten, daß unser Geist ewigist, so würden wir doch die Frömmigkeit und die Re-ligion und überhaupt alles, was, wie im vierten Teilgezeigt wurde, zur Seelenstärke und zur Großmutgehört, für das Wichtigste halten.

Beweis

Die erste und einzige Grundlage der Tugend oderder richtigen Lebensweise ist (nach Zusatz zu Lehr-satz 22 und nach Lehrsatz 24, Teil 4), seinen Nutzensuchen. Um aber das zu bestimmen, was die Vernunftals nützlich vorschreibt, haben wir auf die Ewigkeitdes Geistes, die wir erst in diesem Teile kennenge-lernt haben, keinen Bezug genommen. Obgleich wiralso dort noch nicht gewußt haben, daß der Geistewig ist, haben wir doch das als das Wichtigste ge-schätzt, was nach unserer Ausführung zur Seelen-stärke und zur Großmut gehört. Wenn wir also diesel-be auch jetzt nicht wüßten, so würden wir doch dieVorschriften der Vernunft für das Wichtigste halten. -

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W.z.b.w.

Anmerkung

Die gewöhnliche Ansicht der Menge scheint eineandere zu sein. Denn die meisten scheinen zu glau-ben, daß sie insofern frei seien, sofern sie ihren Lü-sten frönen dürfen und daß sie insofern ihr Recht ver-geben, sofern sie verpflichtet sind, nach der Vorschriftdes göttlichen Gesetzes zu leben. Frömmigkeit alsound Religion wie überhaupt alles, was zur Geistes-kraft gehört, halten sie für Lasten, und sie hoffen,nach dem Tode dieselben abzuwerfen und den Lohnfür ihre Knechtschaft, nämlich Frömmigkeit und Reli-gion, zu empfangen. - Aber nicht durch diese Hoff-nung allein, sondern auch und hauptsächlich durch dieFurcht, nach dem Tode mit schrecklichen Martern be-straft zu werden, lassen sie sich bewegen, nach derVorschrift des göttlichen Gesetzes zu leben, soweit esihre Schwächlichkeit und ihr unvermögender Geist er-laubt.

Würde diese Hoffnung und diese Furcht den Men-schen nicht innewohnen, würden sie vielmehr glau-ben, daß der Geist mit dem Körper vergehe und daßden Unglücklichen, die von der Last der Frömmigkeitganz erschöpft sind, kein anderes Leben bevorstehe,so würden sie zu ihrer natürlichen Sinnesweise

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zurückkehren und es vorziehen, alles nach ihren Lü-sten zu regeln und dem Ungefähr mehr als sich selbstzu gehorchen.

Mir kommt dies nicht minder widersinnig vor, alswenn jemand deshalb, weil er weiß, daß er seinenLeib nicht für alle Ewigkeit mit guten Nahrungsmit-teln erhalten kann, sich lieber mit Giften und tödli-chen Stoffen sättigen wollte; oder weil er sieht, daßder Geist nicht ewig und unsterblich ist, lieber aber-witzig sein und ohne Vernunft leben will. Dies ist sowidersinnig, daß es kaum einer Erwähnung bedarf.

Zweiundvierzigster Lehrsatz

Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend,sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen unsderselben nicht, weil wir die Lüste einschränken,sondern umgekehrt, weil wir uns derselben erfreuen,können wir die Lüste einschränken.

Beweis

Die Glückseligkeit besteht in der Liebe zu Gott(nach Lehrsatz 36 dieses Teils und seiner Anmer-kung). Diese Liebe entspringt aus der dritten Erkennt-nisgattung (nach Zusatz zu Lehrsatz 32 dieses Teils).

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Daher muß diese Liebe (nach den Lehrsätzen 59 und3, Teil 3) auf den Geist, sofern er tätig ist, sich bezie-hen. Mithin ist sie (nach Definition 8, Teil 4) die Tu-gend selbst. - Damit ist das erste bewiesen. - Je mehrsodann der Geist dieser göttlichen Liebe oder Glück-seligkeit sich erfreut, desto mehr erkennt er (nachLehrsatz 32 dieses Teils), d.h. (nach Zusatz zu Lehr-satz 3 dieses Teils), eine um so größere Macht hat erüber die Affekte und (nach Lehrsatz 38 dieses Teils)desto weniger leidet er von den Affekten, welcheschlecht sind. Dadurch also, daß der Geist dieser gött-lichen Liebe oder Glückseligkeit sich erfreut, hat erdie Macht, die Begierden einzuschränken. Und weildas menschliche Vermögen, die Affekte einzuschrän-ken, in der Erkenntnis allein besteht, darum erfreutsich niemand der Glückseligkeit, weil er die Affekteeingeschränkt hat, sondern umgekehrt entspringt dieMacht, die Affekte einzuschränken, aus der Glückse-ligkeit selbst. - W.z.b.w.

Anmerkung

Damit habe ich alles erledigt, was ich von derMacht des Geistes über die Affekte und von der Frei-heit des Geistes dartun wollte. Es erhellt daraus, wiesehr der Weise dem Unwissenden überlegen ist undwie viel er an Macht voraushat vor diesem, der nur

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von den Lüsten getrieben wird. Denn außerdem, daßder Unwissende von äußern Ursachen auf vielfacheWeisen gehetzt wird und nicht im Besitze der wahrenBefriedigung der Seele ist, lebt er überdies gleichsamohne Bewußtsein seiner selbst, Gottes und der Dinge,und sobald er aufhört zu leiden, hört er auf zu sein.Der Weise dagegen, sofern er als solcher betrachtetwird, wird in der Seele kaum beunruhigt, sondern,seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissenewigen Notwendigkeit bewußt, hört er niemals auf zusein und ist immer im Besitze der wahren Befriedi-gung der Seele.

Wenn nun auch der von mir gezeigte Weg, welcherdahin führt, sehr schwierig scheint, so kann er dochgefunden werden. Und allerdings muß eine Sacheschwierig sein, die so selten angetroffen wird. Dennwenn das Heil so bequem wäre und ohne große Mühegefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich,daß es fast von jedermann vernachlässigt wird?

Alles Erhabene aber ist ebenso schwierig wie sel-ten.

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Fußnoten

1 NB. Unter »Menschen« sind hier und im folgendensolche Menschen zu verstehen, für welche wir keinenAffekt empfinden.

2 Ovid, Liebeselegien, Buch II, Elegie 19, V. 5 und6.

3 NB. Daß dies möglich ist, obgleich der menschlicheGeist ein Teil des göttlichen Verstandes ist, habe ichin der Anmerkung zu Lehrsatz 13, Teil 2, gezeigt.

4 In seiner Rede für Archias.

5 Ovid, Verwandlungen, VII, 20 und 21.

6 Die Heilige Schrift. Die Lehrbücher. Der PredigerSalomo. Kapitel I, Vers 18.