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Basisbildung und Alphabetisierung Jugendlicher und Erwachsener mit besonderer Berücksichtigung von Paulo Freire Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck eingereicht bei Herrn tit. ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger am Institut für Erziehungswissenschaften eingereicht von Gabriela Maria Grillmayr Innsbruck 2008

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Basisbildung und Alphabetisierung

Jugendlicher und Erwachsener mit besonderer Berücksichtigung

von Paulo Freire

Diplomarbeit

zur Erlangung des Magistergrades der

Philosophie an der Fakultät für

Bildungswissenschaften

der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

eingereicht bei Herrn

tit. ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger

am Institut für Erziehungswissenschaften

eingereicht von

Gabriela Maria Grillmayr

Innsbruck 2008

2

Die Kunst zu schreiben, die Kunst zu lesen,

sagte Nyema, sei wohl das größte Geschenk,

das Menschen einander bereiten könnten,

weil nur diese Fähigkeit ihnen endlich erlaube,

sich nicht nur über Meere und Gipfel,

sondern über die Zeit selbst zu erheben

und aufzufliegen wie der Phur-Ri.

Nach ihren Worten könne ein Mensch,

der zu lesen und zu schreiben imstande sei,

seine Zeit und seinen Ort verlassen wie eine Gottheit,

wenn er Gedanken, Namen, jedes seiner Worte

in Schrift verwandelte

und ein Stück Holz, einen Stein

oder Papier in der Gewißheit beschrieb,

damit eine Botschaft zu hinterlassen, die lesbar blieb,

wenn er selbst längst schon verschwunden

oder gefangen war in einer anderen Gestalt des Lebens.1

1 Ransmayr, Christoph: Der fliegende Berg 2006, S. 212.

3

Herzl icher Dank

gebührt:

• Herrn tit. ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger für die Betreuung meiner

Arbeit und die wertvolle und wohlwollende Unterstützung bei diesem

Schreibprozess

• meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern für ihr Vertrauen,

ihre Zeit und ihre Bereitschaft, mir aus ihrem Leben und von ihren

Arbeitsgebieten zu erzählen

• den Trainerinnen und Trainern der Alphabetisierung und Grundbildung

für die Weitergabe von Wissen und Erfahrung, für Tipps und Anregungen,

für Praktika und für die Kontakte zu den Interviewpartnerinnen und

Interviewpartnern, insbesondere an Peter Webhofer und dem gesamten

Team von Neustart Grundbildung, Brigitte Bauer, Florian Bauer, Petra

Plotz, Sonja Muckenhuber, Antje Doberer-Bey und Otto Rath

• meiner Mutter, meinen Freundinnen und Freunden, die mit Geduld das

Entstehen der Arbeit verfolgten für ihre Fragen, für Diskussionen und

Ermunterungen, für die (technische) Unterstützung, für das Optimismus

spendende Interesse und den Glauben an meine Arbeit, selbst als noch

kein Wort davon geschrieben stand und für die Bereitschaft sie

(Korrektur) zu lesen, insbesondere an Franz Wurzer und Sonja Ritzer

• nicht zuletzt Klemens für seine Liebe - zu den Büchern und zu mir

4

Eidesstattl iche Erklärung

Ich habe die vorliegende Arbeit vollständig und ohne fremde Hilfe verfasst,

andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen

wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet.

Unterschrift:

Innsbruck, 2008

5

Inhaltsverzeichnis VORWORT ............................................................................................ 9

Motivation zur Themenwahl ................................................................. 9

Theoretische Grundlagen....................................................................10

Persönliche Vorannahmen ..................................................................11

Forschungsfrage................................................................................12

Ziele ................................................................................................12

Inhaltliche Gliederung ........................................................................13

1. WORTBEDEUTUNGEN .....................................................................15

1.1 Begriffsbestimmungen und Definitionen.........................................15

1.1.1 Rechnen, Schreiben und Lesen ...........................................15

1.1.2 Analphabetismus ..............................................................16

1.1.3 Primärer Analphabetismus .................................................16

1.1.4 Sekundärer Analphabetismus .............................................17

1.1.5 Funktionaler Analphabetismus............................................18

1.1.6 Funktionale Alphabetisierung..............................................21

1.1.7 Grundbildung/Basisbildung ................................................22

1.1.8 Literacy ...........................................................................29

1.2 Konnex zur Erwachsenenbildung/Erziehungswissenschaft ................32

2. DIE WELT......................................................................................35

2.1 Internationale Alphabetisierung ....................................................35

2.1.1 Allgemeine Bildungsformen................................................35

2.1.2 Quantitative Erhebung.......................................................36

2.1.3 Alphabetisierungshindernisse .............................................37

2.2 Die Anfänge der Alphabetisierung .................................................39

2.3 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato...................................42

2.3.1 1950 – 1960 Fundamental education ..................................43

2.3.2 1960 – 1970 Experimental World Literacy Programme...........44

2.3.3 1970 – 1980 Paulo Freires Befreiungspädagogik ...................46

2.3.4 1980 – 1990 Campaining for Literacy ..................................47

2.3.5 1990 – 2000 Education for All/International Literacy Year......48

2.3.6 2000 – 2015 Education for All ............................................51

2.3.7 2003 - 2012 United Nations Literacy Decade ........................55

2.3.8 2005 – 2015 Literacy Initiative For Empowerment ................56

2.3.9 Gegenstimmen .................................................................56

2.4 Alphabetisierung von Mädchen und Frauen ....................................57

6

2.4.1 Beweggründe und Hindernisse............................................58

2.5 Motive und Ziele für Alphabetisierung und Grundbildung..................61

3. PAULO FREIRE (1921-1997) ............................................................63

3.1 Sein Leben und Schaffen .............................................................63

3.1.1 Biographische Notizen .......................................................64

3.1.2 Brasilien ..........................................................................66

3.2 Alphabetisierungsansätze ............................................................70

3.2.1 Akademischer Ansatz ........................................................70

3.2.2 Utilitaristischer Ansatz.......................................................71

3.2.3 Entwicklungsansatz...........................................................71

3.2.4 Romantischer Ansatz.........................................................72

3.3 Emanzipatorische Alphabetisierung ...............................................73

3.3.1 Dekolonisierung des Bewusstseins ......................................73

3.3.2 Kultur des Schweigens ......................................................74

3.3.3 Erziehung ist politisch .......................................................75

3.3.4 Sprache des Volkes...........................................................75

3.3.5 Lesen des Wortes und der Welt ..........................................75

3.3.6 Alphabetisierungsmethode .................................................77

3.3.7 Dialektische Erkenntnistheorie............................................80

3.3.8 Conscientização................................................................81

3.3.9 Domestikation..................................................................83

3.3.10 Lehrer-Schüler-Verhältnis ..................................................84

3.3.11 Bankiers-Konzept .............................................................85

3.3.12 Problemformulierende Bildungsarbeit ..................................86

3.3.13 Dialog .............................................................................87

3.3.14 Gegenstimmen .................................................................88

4. EUROPA........................................................................................89

4.1 Alphabetisierung und Grundbildung in Europa ................................89

4.1.1 Quantitative Erhebungen ...................................................90

4.2 Internationale Studien.................................................................92

4.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA) ......92

4.2.2 International Adult Literacy Survey (IALS) ...........................93

4.2.3 Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL).............................95

4.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Grundbildung .......................96

4.4 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato...................................97

5. BILDUNGSPOLITIK IN EUROPA ......................................................102

5.1 Bildungspolitik der Europäischen Union........................................102

7

5.1.1 Lebenslanges Lernen.......................................................103

5.1.2 Neue Basiskompetenzen..................................................103

5.1.3 Europäische Referenzniveaus ...........................................104

5.1.4 Grundfertigkeiten und Schlüsselkompetenzen.....................105

5.1.5 Europäischer Qualifikationsrahmen ...................................106

5.1.6 Wirtschaftliche Herausforderungen....................................107

5.1.7 Nutzen der Erwachsenenbildung .......................................109

5.1.8 Zugangsbarrieren ...........................................................110

5.2 Basisbildung und lebenslanges Lernen.........................................111

5.2.1 Kohärente LLL-Strategie in Österreich ...............................112

5.2.2 Steigende Anforderungen in Alltags- und Arbeitswelt ..........113

5.3 Bildung im Wandel - Bildung für den Wandel ................................114

5.3.1 Auswirkungen des Bedeutungswandels von Bildung ............114

5.3.2 Ausgeschlossene der Arbeitswelt ......................................117

5.3.3 Zauberwort Bildung ........................................................118

6. ÖSTERREICH ...............................................................................120

6.1 Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich ...........................120

6.1.1 Quantitative Erhebungen .................................................120

6.2 Internationale Studien...............................................................121

6.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA) ....123

6.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Basisbildung ......................125

6.4 Basisbildung und Alphabetisierung bis dato ..................................126

6.4.1 In.Bewegung..................................................................126

6.4.2 In.Bewegung-Zukunftsperspektiven ..................................128

6.5 Emanzipatorische Alphabetisierung in Österreich ..........................129

6.5.1 Volkshochschule Linz (VHS Linz).......................................129

6.5.2 Theorie-Praxisbezüge ......................................................132

7. KONZEPTE, METHODEN UND RAHMENBEDINGUNGEN.......................135

7.1 Lernen und Lehren....................................................................136

7.1.1 Motivierung der Teilnehmenden........................................138

7.1.2 Positive Lernerfahrungen .................................................140

7.2 Konzepte .................................................................................143

7.2.1 Bezeichnungen und Konzepte...........................................144

7.2.2 Inhalte von Basisbildung..................................................145

7.2.3 Zielsetzung und Lernprozesse ..........................................146

7.2.4 Erwartungen an Basisbildung ...........................................147

7.2.5 Personengruppen und Konzepte .......................................148

8

7.3 Methoden ................................................................................149

7.3.1 Spracherfahrungsansatz ..................................................150

7.4 Rahmenbedingungen.................................................................152

7.4.1 Trainerinnen und Trainer .................................................153

8. LEBENSWELTEN...........................................................................156

8.1 Lebenstexte .............................................................................156

8.1.1 Von der Angst vor und der Liebe zu den Buchstaben ...........158

8.1.2 Ver-LESEN .....................................................................160

8.1.3 Ver-SCHREIBEN .............................................................160

8.1.4 Ver-SAGEN ....................................................................161

8.1.5 Los-SCHREIBEN..............................................................163

8.2 Leben in einem Tabubereich.......................................................165

8.2.1 Alphabetisierungshindernisse ...........................................167

8.2.2 Basisbildungshindernisse .................................................172

8.2.3 Schulische Gegenmaßnahmen ..........................................173

8.2.4 Chancen(un)gleichheit.....................................................175

8.3 Scheitern als Tabu ....................................................................177

8.3.1 Scham...........................................................................177

8.3.2 Individuelles Scheitern ....................................................178

8.3.3 Institutionelles Scheitern .................................................179

8.3.4 Identitätszuschreibungen.................................................182

8.3.5 Soziales Stigma..............................................................185

8.4 Respekt ...................................................................................191

9. EMPIRISCHE FORSCHUNG.............................................................194

9.1 Zur Methodik............................................................................194

9.1.1 Problemzentriertes Interview ...........................................197

9.1.2 Wörtliche Transkription....................................................198

9.1.3 Qualitative Inhaltsanalyse................................................199

9.2 Auswertung der Interviews ........................................................200

9.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden..............203

9.2.2 Ergebnisse der Interviews mit den Projektverantwortlichen..227

SCHLUSSWORT ..................................................................................251

LITERATUR ........................................................................................253

9

VORWORT

Motivation zur Themenwahl

Du versuchst dir vorzustellen, wie die Welt – diese Welt voller Schrift, wo immer wir uns auch hinwenden – einem vorkommen mag, der nichtlesen (sic!-G.G.) gelernt hat.2

Wenn Erwachsene mit deutscher Muttersprache in Österreich ausreichend

Lesen, Schreiben und Rechnen können, verwundert das natürlich niemand,

denn Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit dem Computer werden

normalerweise in der Schule erlernt. Generell werden diese Kulturtechniken

als unverzichtbare Voraussetzung für jeden weiteren Wissenserwerb durch

schriftsprachliche Medien und als Notwendigkeit für nahezu alle beruflichen

Tätigkeiten betrachtet. In größeres Erstaunen geraten Menschen daher, wenn

sie erfahren, dass, trotz allgemeiner Schulpflicht, Erwachsene ohne oder nur

mit geringen Kenntnissen in der Schriftsprache unter uns leben. Es erging mir

nicht anders, während ich eines Nachmittags einer Radiosendung über das

Thema Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich lauschte. Ich war über

das Gehörte sehr überrascht und beschloss mich mehr darüber zu

informieren. Als Studentin der Pädagogik zählen das Lesen von Büchern und

das Schreiben von Texten zu meinen Hauptbeschäftigungen. Ich konnte mir

einfach nicht vorstellen, wie Menschen ohne zu lesen und zu scheiben den

Alltag meistern.

Mindestens 600.000 Erwachsenen gelingt es, die Schriftsprachprobleme

vor ihrer Familie und vor ihrem sozialen Umfeld weitgehend zu verstecken.

Sie leben in einem Tabubereich, ein Umstand der sich auch in Bildungs-

prozessen bemerkbar macht. Erwachsene, die eine Aus- oder Weiterbildung

absolvieren, müssen das üblicherweise nicht verheimlichen und erhalten

zumeist öffentliche Anerkennung für ihren Bildungszuwachs (während Frauen

und Männer, die als Erwachsene lesen und schreiben lernen diese Tatsache

ihrer Umwelt lieber verbergen). Sie reden nicht darüber und bekommen von

der Gesellschaft für ihre Anstrengungen und für ihre Beharrlichkeit im

jahrelangen Ringen um das Lesen und Schreiben auch kaum Wertschätzung.

Mittlerweile werden für Erwachsene, die es nochmals mit dem Lesen,

Schreiben und Rechnen versuchen wollen, in fast allen Bundesländern Kurse

2 Calvino, Italo: Reisender in einer Winternacht 1986, S. 59.

10

angeboten. Die geringe Anzahl von ca. 1000 Plätzen muss in Anbetracht der

geschätzten Zahl der Betroffenen sicherlich erweitert werden. Die Fähigkeiten

und Kenntnisse für die Organisation und die Durchführung der Kurse können

in einem Lehrgang für „Alphabetisierung und Basisbildung mit Erwachsenen

deutscher Muttersprache“ erlernt werden. Ich habe die Ausbildung absolviert.

Meine Diplomarbeit befasst sich aus diesem Anlass hauptsächlich mit der

Alphabetisierung und Basisbildung Jugendlicher und Erwachsener mit

deutscher Muttersprache im gesellschaftlichen Kontext. Zu umfangreich wäre

es, in dieser Arbeit die Alphabetisierung Erwachsener mit nicht-deutscher

Muttersprache in Österreich ebenfalls darzustellen, da die jeweiligen

Voraussetzungen, die Bedürfnisse und auch das Kursdesign sich voneinander

deutlich unterscheiden.

Theoretische Grundlagen

Bereits im Lehrgang nahm ich die Gelegenheit wahr mehr über den

Alphabetisierungspädagogen Paulo Freire zu erfahren. Dabei war ich vor allem

an den theoretischen Grundsätzen und an seinem Alphabetisierungsansatz

interessiert. Ich wollte wissen, wie seine faszinierende pädagogische Theorie

in der praktischen Arbeit angewendet wird. Das regte mich zu einem

Praktikum bei „Alphabet und Co“ in Linz an, dem meines Wissens damals

einzigen Alphabetisierungsangebot in Österreich, in dem nach seinen

Grundsätzen vorgegangen wird. Zwei Monate lang war es mir jeden Montag in

zwei Kursen möglich mitzuarbeiten. Ich wollte in meiner Diplomarbeit seine

Theorie vorstellen und mit Erfahrungen aus der Kurstätigkeit verknüpfen.

Doch leider konnte ich die Alphabetisierung nach Paulo Freire bei „Alphabet

und Co“ nicht in den Mittelpunkt dieser Arbeit stellen, da eine Trainerin ihre

Dissertation plante und mein von außen kommendes Forschungsvorhaben

nicht erwünscht war. Ich fand diese Ablehnung sehr schade und

überraschend, weil allgemein immer wieder betont wird, dass es an

wissenschaftlichen Arbeiten zum Themenbereich Aphabetisierung und

Grundbildung mangelt.

Aufgrund dieser Entwicklung wurde es notwendig, mich neuerlich auf die

Suche nach Ideen für meine Forschungsfragen zu begeben und auch auf die

Suche nach neuen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, da es eine

empirische Arbeit werden sollte. Als Grundlage meiner Diplomarbeit bleibt

Paulo Freires pädagogische Theorie bestehen, die ich mit einem Praktikums-

11

bericht aus dem Alphabetisierungskurs in Linz ergänzen werde. Mit Hilfe

meiner Vorannahmen begann ich neue Forschungsfragen zu entwickeln.

Persönliche Vorannahmen

Wenn schulisch wenig erfolgreiche Jugendliche und Erwachsene wieder

Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, sind positive Lernerfahrungen für das

Gelingen besonders wichtig. Ich möchte mit Überlegungen beginnen, wie,

meiner Meinung nach, diese Menschen positive Lernerfahrungen beschreiben

würden. Jede und jeder sicher in anderen Worten, inhaltlich aber vielleicht so:

Es wird mir im Kurs zugetraut, dass ich das Lesen, Schreiben und Rechnen

(wieder-)lernen kann. Ich erlebe Wertschätzung für den Mut, den großen

Schritt in diesen Kurs gemacht zu haben. Ich treffe auf Menschen mit

ähnlichen oder gleichen Schwierigkeiten. Ich bin erfolgreich und kann mein

neues Wissen und Können auch außerhalb des Kurses anwenden. Ich sehe

dadurch einen Sinn darin, mich nochmals mit dem Lernen zu plagen. Ich lerne

nach meinen eigenen Interessen, nach meinem eigenen Zeitbedarf und nicht

nach einem vorgegebenen Programm.

Es ist eine kleine Gruppe und wir passen gut zusammen. Es ist nicht wie in

der Schule, wo ich der oder die Unbegabteste war und meist übersehen wurde

und wo ich in Prüfungssituationen im Vergleich mit den anderen Kindern

meine Unfähigkeit erlebt habe und vor allen anderen abgewertet wurde. Ich

habe Selbstsicherheit gewonnen, weil im Kurs mein Wissen und meine

Fähigkeiten wichtig sind und nicht wie viele Fehler ich beim Lesen, Schreiben

und Rechnen mache. Fehler dürfen sein. Sie sind wichtig um davon zu lernen.

Ich wachse. Ich lerne Lernen. In der Gruppe machen wir viele Spiele, in einer

lockern Stimmung und mit angenehmen Gesprächen.

Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute hier wirklich für mich

interessieren und mir auch in anderen Bereichen meines Lebens weiterhelfen

können. Ich erlebe zum ersten Mal, dass Lernen Spaß machen kann, weil ich

dabei erfolgreich bin. Dadurch werde ich unabhängiger von anderen

Menschen. Der Kurs ermöglicht mir, mich mit meinen Schwächen zu

akzeptieren und geduldig daran zu arbeiten, statt mich selbst zu verurteilen

und aufzugeben.

Ich werde die aus meinen Vorannahmen entwickelten Forschungsfragen

durch Literaturanalyse und mit Hilfe der qualitativen Methode (Interviews) zu

beantworten versuchen.

12

Forschungsfrage

Zu Beginn meines Forschungsprozesses sammelte ich mögliche Frage-

stellungen, die den Hintergrund meiner inhaltlichen Auseinandersetzung

bildeten und als Grundlage für die Interviewleitfäden dienten:

ssssWozu Alphabetisierung und Grundbildung? Welche eigenen/fremden

Motive und Zielsetzungen gibt es oder anders formuliert: Warum sollen/wollen

Erwachsene Lesen, Schreiben und Rechnen lernen? Wie begegnen die

Trainerinnen und Trainer dem funktionalen und emanzipatorischen Anspruch

an Grundbildung?

ssssWodurch gelingt/scheitert Alphabetisierung und Grundbildung? Welche

Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind entscheidend für ein

erfolgreiches Lernen? Welche Faktoren sind dazu hilfreich? Was bedeutet das

Scheitern für die Lernenden, die Trainerinnen und Trainer und wie gehen sie

damit um?

ssssWie ist es für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, nicht ausreichend

Lesen, Schreiben und Rechnen zu können, und was verändert sich in ihrem

Leben, wenn der Lernprozess gelingt? Was haben die einzelnen Personen

davon? Bekommen sie Interesse und Lust weiterzulernen?

Im Verlauf des Arbeitsprozesses kristallisierte sich schließlich folgende

Fragestellung heraus:

ssss Welche Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Teilnehmender an

Basisbildungskursen werden von den Teilnehmenden selbst und von

den Projektverantwortlichen hauptsächlich genannt?

Ziele

Im Allgemeinen soll diese Diplomarbeit umfassende Informationen zur

Alphabetisierung und Grundbildung bekannt machen und die Leserinnen und

Leser für die Situation von Erwachsenen, die Schwierigkeiten mit dem

Erlernen und der Verwendung der Schriftsprache haben, sensibilisieren. Diese

Arbeit soll zudem ermöglichen, die verschiedenen Entstehungsbedingungen

für die Schriftsprachprobleme und deren Auswirkungen auf das berufliche und

private Leben der Betroffenen zu verstehen und in der Folge zu erfahren,

warum diese bereit sind, sich nochmals mit dem Lernen von Lesen, Schreiben

und Rechnen zu befassen.

Ausgehend von der Annahme, dass jeder Mensch etwas lernen kann und

weil innerhalb unserer westlichen Gesellschaft lebensbegleitendes Lernen

13

immer stärker eingefordert wird, kommt der Alphabetisierung und Grund-

bildung fundamentale Bedeutung zu. Lesen, Schreiben und Rechnen

ausreichend zu vermögen, ermöglicht lebenslanges Lernen, ist dessen

Voraussetzung. Fehlende oder unzureichende Kenntnisse in der Schriftsprache

jedoch nur als ein Bildungsproblem wahrzunehmen, wäre zuwenig. Ob eine

Person über ausreichende Schriftkompetenz verfügt, beeinflusst auch ihre und

seine beruflichen Möglichkeiten, die finanzielle und gesundheitliche Situation,

die politische und kulturelle Partizipation, die soziale Einbindung in die

Gesellschaft, die Beziehungsgestaltung, die Aktivitäten in der Freizeit, das

Selbstwertgefühl und die Chance zur Selbstverwirklichung. Die Gefahr

arbeitslos zu werden und es längere Zeit zu bleiben, ist für diese

Personengruppe sehr hoch. An fast allen Arbeitsplätzen sind ausreichende

Schriftsprach- und Computerkenntnisse vonnöten. Zudem werden die

Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben häufig innerhalb der Familie an

die eigenen Kinder weitergegeben.

Die Diplomarbeit soll zur Enttabuisierung des Themas beitragen. Nicht

richtig Lesen und Schreiben zu können, löst bei diesen Erwachsenen massiven

Druck sowie große Angst davor aus, entdeckt und diskriminiert zu werden.

Die bestehende Tabuisierung des Themas und die negativen Lernerfahrungen

erschweren den Entschluss zu einem Kursbesuch. Der Schriftspracherwerb

sollte in unserer Gesellschaft auch im Erwachsenenalter möglich und legitim

sein, um die oben beschrieben negativen Auswirkungen zu verhindern und

diesen Menschen eine neue Chance zu geben, ihre Situation zu verbessern.

Das bedeutet, dass jeder Mensch, der es nochmals mit dem Lesen, Schreiben

und Rechnen versuchen möchte, Zugang zu einem Alphabetisierungs- und

Basisbildungskurs in örtlicher Nähe haben muss und es nicht an den

finanziellen Kosten scheitern darf.

Inhaltliche Gliederung

1. Kapitel: Wortbedeutungen

Die Begriffe Rechnen, Lesen und Schreiben, primärer, sekundärer und

funktionaler Analphabetismus, funktionale Alphabetisierung, Grundbildung/

Basisbildung und „Literacy“ werden erläutert und mit der Erwachsenen-

pädagogik/Erziehungswissenschaft in Beziehung gesetzt.

2. Kapitel: Die Welt

Die primäre Alphabetisierung ist ein weltweites Anliegen. Vorgestellt werden

in diesem Abschnitt die Geschichte der Alphabetisierung, einige der damit

14

befassten Organisationen und ihre Ziele und Zielgruppen. Der Fokus ist hier

speziell auf Aktivitäten gegen den Analphabetismus von Frauen gerichtet.

3. Kapitel: Paulo Freire

Paulo Freire ist der wohl bekannteste Pädagoge unserer Zeit. Im Mittelpunkt

der Betrachtung steht vor allem sein Ansatz, die Theorie und sein Wirken in

der Erwachsenenalphabetisierung.

4. Kapitel: Europa

In den europäischen Ländern wurden ab den 70er und 80er Jahren erste

Initiativen gegen den funktionalen Analphabetismus gesetzt. Was waren

damals die Gründe für den Beginn der Alphabetisierung und wie sieht die

Situation heute aus?

5. Kapitel: Bildungspolitik in Europa

Dieser Abschnitt ist der Bildungspolitik in Europa und dem Thema Bildung

gewidmet.

6. Kapitel: Österreich

Es gibt österreichweit intensive Bemühungen einiger weniger Personen,

ausreichend qualitativ hochwertige Basisbildungsangebote einzurichten. Über

die bereits existierenden sowie über geplante Projekte und Zielsetzungen wird

in diesem Teil informiert. Hier berichte ich auch von meinen Beobachtungen

aus dem Praktikum bei Alphabet & Co.

7. Kapitel: Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen

Lernen und Lehren ist das Thema dieses Kapitels. Konzepte, Methoden und

passende Rahmenbedingungen für die Kurse mit Jugendlichen und

Erwachsenen werden vorgestellt.

8. Kapitel: Lebenswelten

Selbst geschriebene Texte und Gedichte der Lernenden, aber auch Interviews

erzählen aus ihrem Leben. Die unterschiedlichen Bedürfnisse, Wünsche und

Motive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Kursbeginn, sowie mögliche

Ursachen für das Scheitern von Kindern und Jugendlichen in der Schule sowie

die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien werden hier angesprochen.

9. Kapitel: Empirische Forschung

Abschließend folgen die Ergebnisse der problemzentrierten Interviews mit den

Lernenden und den Projektverantwortlichen. Zuvor werden die verwendeten

qualitativen Methoden, das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel

und die qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, näher erläutert und

begründet.

15

1. WORTBEDEUTUNGEN

Ich möchte dieses Kapitel mit einem Gedicht beginnen, dass von einer

Person verfasst wurde, die an einem Grundbildungskurs teilnimmt:

Analphabet Gedanken fliegen durch den Kopf. Analphabet, was ist das für ein Wort? Suche nach dem richtigen Wort. Kann nicht schreiben richtig ein Wort. Habe Angst vor der Unsicherheit. Fürchte mich vor der Öffentlichkeit. Bin auf der Suche nach dem richtigen Wort. Analphabet, was ist das bloß für ein Wort?3

1.1 Begriffsbestimmungen und Definitionen

Sich mit der Bedeutung des Wortes Analphabet zu identifizieren ist

begreiflicherweise nicht einfach. Es weckt häufig diskriminierende

Assoziationen und hat stigmatisierende Wirkung auf die so Bezeichneten.

Große Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen machen die

Alltagsbewältigung mühsam und umständlich. Sie führen zu beruflichen und

privaten Misserfolgen, zu Ängsten, zu Abhängigkeiten von Vertrauens-

personen und zur sozialen Isolation. Davon wird noch in den Lebens-

geschichten der Menschen mit Lese- und Schreibproblemen zu lesen sein. Zur

Begriffsbestimmung beantworte ich folgende Fragen: Was bedeutete

ursprünglich Rechnen, Schreiben und Lesen? Was beschreibt primärer,

sekundärer und funktionaler Analphabetismus? Wann ist jemand funktional

alphabetisiert? Was wird unter Grundbildung, bzw. Basisbildung und unter

„Literacy“ verstanden? Und zuletzt: In welchem Zusammenhang stehen diese

Begriffe mit der Erwachsenenpädagogik in der Erziehungswissenschaft?

1.1.1 Rechnen, Schreiben und Lesen

Welche Bedeutungen hatten diese Wörter? Rechnen ist ein „westgerm.

Verb mhd. rechenen, rechen, ahd. rehhanōn“ und meinte anfänglich „’in

Ordnung bringen, ordnen’“. Es hat eine gemeinsame Wurzel mit dem Wort

„recht“.4 Schreiben bedeutete „’vorschreiben, anordnen’“, ist ein „westgerm.

starke(s) Verb“ und kommt von „lat. scribere ‚schreiben’“, dem „’mit dem

3 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript. 4 vgl. Duden, Bd. 7, 1997, S. 577.

16

Griffel eingraben, einzeichnen’“.5 Lesen bezeichnete zunächst, wie wir

beispielsweise am Wort Weinlese noch erkennen können, „’verstreut

Umherliegendes aufnehmen und zusammentragen, sammeln’“ mit der „Wurzel

les-“. Dazu kam später die Bedeutung „’sammeln, aussuchen; Geschriebenes

lesen’“, vermutlich „von lat. legere“. Es wird angenommen, dass das Verb

„’lesen’ bereits in germ. Zeit auf das Einsammeln und Deuten der zur

Weissagung ausgestreuten Stäbchen“6 verwendet wurde, die mit Buchstaben

beschrieben waren. Ein Buchstabe war zuerst wohl ein „’Stab mit

[Runen]zeichen’“ und erst später wurde darunter ein „’Stab aus Buchenholz’“

verstanden.7 Die „Rune, ahd. rūna, bedeutet eigentlich ‚Geheimnis’“ mit deren

Hilfe die Germanen „den Willen der Götter“ zu verstehen suchten.8

1.1.2 Analphabetismus

Auch heutzutage sind Buchstaben und Wörter für sehr viele Erwachsene

ein Geheimnis, welches nicht leicht zu enträtseln ist.9 In der Literatur wird

Analphabetismus in unterschiedliche Erscheinungsformen gegliedert. Wir

sprechen vom primären, sekundären und funktionalen Analphabetismus,

Formen, welche alle in Österreich vorzufinden sind.10 Bis dato gibt es keine

allgemein anerkannten Definitionen und so gilt für die nun folgenden Begriffe,

nach Alexander Kluge, besonders: „Je mehr man sich einem Begriff nähert,

desto mehr entzieht er sich“11 oder, mit Dorothy L. Sayers, poetischer

formuliert: „My lord, facts are like cows. If you look them in the face hard

enough, they generally run away“.12

1.1.3 Primärer Analphabetismus

Primärer Analphabetismus13 meint Personen ohne Kenntnisse im Lesen

und Schreiben, die in der Kindheit und Jugend keine Möglichkeit hatten, sich

diese Fähigkeiten über einen längeren Zeitraum hinweg anzueignen. Das sind

vorwiegend Menschen, die wegen dem unzureichenden bzw. zu teurem Schul-

5 vgl. Duden, Bd. 7, 2001, S. 738f. 6 vgl. ebd., S. 482. 7 vgl. ebd., S. 117. 8 vgl. ebd., S. 224. 9 Siehe dazu im 2. Kapitel: Quantitative Erhebungen. 10 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_4.htm (13.09.2006). 11 Kluge, Alexander, zit. in: Tröster, Monika 2000, S. 25. 12 Sayers, Dorothy L., zit. in: Schürz, Michael 2003, S. 6. 13 In der Literatur finden sich auch die Bezeichnungen „totaler Analphabetismus“, wenn keinerlei Buchstabenkenntnis vorhanden ist, sowie Semialphabeten, völlige Analphabeten, Analphabeten im engeren Sinn usw. mit uneinheitlichen Bedeutungen.

17

system, wegen raum-zeitlicher, politischer, sozialer, kultureller,

ökonomischer, familiärer und geschlechtsspezifischer Gründe die Schule in

ihrem Land nicht oder nicht regelmäßig besuchen konnten. Dazu gehören

ebenso Menschen mit besonderen Bedürfnissen, wenn eine geistige,

körperliche oder Mehrfachbehinderung den Erwerb der Schriftsprache

verunmöglicht.14 Dazu zählen auch, wie Michael Schürz am Beispiel der Sinti

und Roma erwähnt, Menschen, die zu einer sprachlichen Minderheit mit oraler

Tradition gehören.15

1.1.4 Sekundärer Analphabetismus

Sekundärer Analphabetismus bedeutet den Verlust von in der Schulzeit

erworbenen Schriftsprachkenntnissen. Das trifft auf Menschen zu, die Lesen

und Schreiben in der Kindheit oder Jugend mehr oder weniger gelernt haben,

ihre Kenntnisse und Fertigkeiten aber durch Nichtverwendung im Laufe ihres

Lebens großteils wieder verlernt haben. Peter Hubertus beschreibt sekundären

Analphabetismus als eine Sonderform des funktionalen Analphabetismus.

Sekundärer Analphabetismus liegt vor, wenn nach mehr oder weniger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozeß des Verlernens einsetzt und Kenntnisse und Fähigkeiten verlorengehen, wodurch ein Unterschreiten des gesellschaftlich bestimmten Mindeststandards eintritt. Damit ist der sekundäre Analphabetismus ein Sonderfall des funktionalen Analphabetismus.16

Michael Schürz schildert die Bildungsdebatten um den sekundären

Analphabetismus. Als der Analphabetismus großer Bevölkerungsteile in den

70er Jahren in Europa bekannt wurde und die Bildungssysteme stark unter

Kritik standen, entgegneten ihre Vertreterinnen und Vertreter, „(...) dass die

betroffenen Personen ohnedies in der Schule Lesen und Schreiben gelernt

hätten“.17 Das Problem würde erst nach der Schule durch die mangelnde

Verwendung der Schriftsprachkenntnisse entstehen. Heute wird eher davon

ausgegangen, dass die Kenntnisse dieser Menschen bislang niemals (auch

nicht in der Schule) den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen konnten.

14 Über die „Alphabetisierung von Menschen mit geistiger Behinderung“ berichtet die Zeitschrift ALFA-FORUM, Jg. 13, 39/1998. 15 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22. 16 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 23. 17 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22.

18

Die Ergebnisse der Bildungsstudien18 und die Erfahrungen aus den

Alphabetisierungskursen weisen in diese Richtung.19

Kritik an der Bezeichnung sekundärer Analphabetismus wird von vielen

Autorinnen und Autoren geübt. Beispielsweise meint Elisabeth Brugger, dass

das Problem hier einzig dem schriftsprachvermeidenden Menschen angelastet

wird und dabei das Versagen des Bildungssystems unerwähnt bleiben kann.

Analphabetismus wird so zum Problem des Einzelnen und nicht der

Gesellschaft.20

1.1.5 Funktionaler Analphabetismus

Beginnen wir mit einer Definition aus dem Duden. Das Wort Analphabet

wurde „Anfang 19. Jh., aus entsprechend griech. an-alphábētos“ gebildet und

bedeutet demnach „’jemand, der nicht lesen und schreiben gelernt hat’“.21 Die

Erklärung ist sehr gebräuchlich, aber für das Verstehen des funktionalen

Analphabetismus nicht hilfreich. Sie verbirgt das Phänomen, dass manche

Erwachsene trotz Absolvierung der allgemeinen Schulpflicht im Unterricht

nicht oder nicht ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben.

Ebensowenig beleuchtet sie den Aspekt, dass Analphabet zu sein heutzutage

viel mehr als nur einen Mangel an Kenntnissen und Fertigkeiten in der

Schriftsprache bedeutet.

War lange Zeit die Fähigkeit zur eigenen Unterschriftsleistung genügend,

um als alphabetisiert zu gelten,22 wird gegenwärtig in Westeuropa noch

wesentlich mehr erwartet, als Lesen, Schreiben und Rechnen entsprechend zu

beherrschen. „(Funktionaler) Analphabetismus ist eine gesellschaftliche

Konstruktion“, formuliert daher Otto Rath, weil diese Bezeichnung sich

geschichtlich, aber auch „unter wirtschaftlichen Paradigmenwechseln“ häufig

ändert.23 Er definiert: „Funktionaler Analphabetismus bedeutet, dass die

schriftsprachliche Kompetenz des/der Betroffenen nicht ausreicht, um in der

jeweiligen Gesellschaft zu ‚funktionieren’“.24 Volker Lenhart und Martina Maier

teilen diese Einschätzung, wenn sie erläutern: „Als funktional analphabetisch

18 Michael Schürz bezieht sich hier auf die Studien von Lehmann 2000 und PISA 2000. 19 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22f. 20 vgl. Brugger, Elisabeth: Analphabetismus, in: SCHULHEFT, 59/1990, S. 7. 21 vgl. Duden, Bd. 7, 2001, S. 30. 22 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 17. 23 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 73. 24 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 18.

19

gilt eine Person, die schriftsprachliche Anforderungen ihrer Umwelt nicht

angemessen erfüllen kann“.25

Die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung,

Wissenschaft und Kultur veröffentlichte 1978 folgende Definition:

… Analphabet ist eine Person, die sich nicht beteiligen kann an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich ist, und an der weiteren Nutzung dieser Kulturtechniken für ihre eigene Entwicklung und die ihrer Gemeinschaft.26

Weltweit werden unterschiedlich hohe Schriftsprachkenntnisse von den

Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Dadurch kann, nach Otto Rath, ein

Mensch bei einem Wechsel in ein anderes Land nunmehr zu den funktionalen

Analphabeten gehören, weil dort höhere Anforderungen an die Schriftsprach-

beherrschung gestellt werden, als im Herkunftsland verlangt wurden.27 Denn

mit dem Alphabetisierungsgrad einer Gesellschaft steigen, so Ursula Giere,

auch die Ansprüche an die Kenntnisse und Fähigkeiten im Lesen und

Schreiben.28 Gleichzeitig erhöht sich damit ebenfalls die Zahl derer, die diesen

Anforderungen nicht (mehr) genügen können. Peter Hubertus formuliert dazu:

Analphabetismus ist ein relativer Begriff. Ob eine Person als Analphabet gilt, hängt nicht nur von ihren individuellen Lese- und Schreibkenntnissen ab. Darüber hinaus muß berücksichtigt werden, welcher Grad an Schriftsprachbeherrschung innerhalb der konkreten Gesellschaft, in der diese Person lebt, erwartet wird. Wenn die individuellen Kenntnisse niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse, liegt funktionaler Analphabetismus vor.29

Von Erwachsenen wird im westeuropäischen Raum ein sicherer und

adäquater Umgang mit Schriftlichkeit im Berufs- und Privatleben verlangt.

Das bedeutet: Jede Person sollte ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen

können und zudem diese Kenntnisse innerhalb einer vorgegebenen Zeit, in

der Kindheit oder Jugend, erworben haben. Wonach sich dieses erwartete

Minimum an Fähigkeiten orientiert, ist offen und wird üblicherweise von den

jeweiligen gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen ausgehend

beantwortet. Der Mindeststandard richtet sich demzufolge nach dem sozialen

25 Lenhart, Volker; Maier Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 26 UNESCO, zit. in: Giere, Ursula 1992, S. 21. 27 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 71. 28 vgl. Giere, Ursula: Alphabetisierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 20. 29 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 21.

20

Status, dem Herkunftsland, dem Alter und Geschlecht, den absolvierten

Ausbildungen, der Berufstätigkeit einer Person, u.a.m.

Gertrud Kamper betont, „(...) dass es nicht einen festen Punkt gibt, an

dem sich ‚analphabetisch’ von ‚alphabetisiert’ unterscheidet, dass die

Metapher eines Kontinuums angemessener wäre“.30 Marion Döbert und Peter

Hubertus gehen gleichfalls von einem Kontinuum bei der Beherrschung

schriftsprachlicher Fähigkeiten und Kenntnisse in der Gesellschaft aus.31

Marion Döbert verweist in ihrer Begriffsbestimmung besonders darauf,

dass die zu wenig erlernten Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen im

Alltag vermieden werden, wodurch die schriftsprachlichen Kompetenzen der

Jugendlichen und Erwachsenen weiter abnehmen. Ihre Definition lautet:

Funktionale Analphabeten sind Menschen, die aufgrund fehlender, un-zureichender oder unsicherer Beherrschung der sich stets wandelnden Schriftsprache und aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivität nicht in der Lage sind, Schriftsprache für sich und andere im Alltag zu nutzen.32

Sie zieht daraus folgenden Schluss: „Angst vor Stigmatisierung ist bei

lese-schreibunkundigen Menschen sowohl eine Folge als auch eine

verstärkende Ursache von Schriftsprachunkundigkeit“.33 Kenntnisse in der

Schriftsprache werden, wie die Autorin verdeutlicht, in der Schule nicht als

feststehendes Wissen erworben.34 Das macht es allgemein erforderlich sich

zeitlebens die veränderten schriftsprachlichen Anforderungen immer wieder

neu anzueignen. Selbst wenn die Fertigkeiten im Rechnen, Lesen und

Schreiben bei Schulende ausreichend waren, können gestiegene bzw.

veränderte gesellschaftliche Ansprüche zu funktionalen Analphabetismus

führen. Peter Hubertus erläutert dies mit den Worten:

Innerhalb der Industriestaaten mit ihren hohen Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache müssen auch diejenigen Personen als funktionale Analphabeten angesehen werden, die über begrenzte Lese- und Schreibkenntnisse verfügen.35

Die Bezeichnung „funktionaler Analphabet“ wird in der Fachliteratur oft

sehr kritisch kommentiert. Sie ist diskriminierend für Menschen, die das

30 vgl. Kamper, Gertrud: Grundbildung für Erwachsene, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 25. 31 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 21. 32 Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 118. 33 ebd., S. 119. 34 vgl. ebd., S 118. 35 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 21.

21

Lesen, Schreiben und Rechnen wiedererlernen, weil darunter häufig völlige

Unkenntnis der Schriftzeichen aufgrund von persönlichem Unvermögen

verstanden wird. Übereinstimmend wird aber von einem Zusammenwirken

mehrerer Ursachen durch die Person, Familie, Schule und Gesellschaft

ausgegangen, die zu funktionalen Analphabetismus führen. „Zu finden ist ein

Begriff, den man auch für sich selber verwenden würde“, meint Otto Rath und

empfiehlt eine „nicht-diskriminierende Kommunikation“ zu benutzen, denn

dieser „Begriff grenzt aus“.36 Auch Gertrud Kamper spricht hier von einem

„Un-Begriff“ und fragt provokativ „(…) für wen An-alphabetismus denn

funktional sei“.37 Sie erinnert daran: „Der Begriff einer funktionalen

Alphabetisierung ist eng mit einer Zurichtung des Arbeitsvermögens für die

Zwecke einer jeweiligen ‚Wirtschaft’ verbunden“. 38

1.1.6 Funktionale Alphabetisierung

Die UNESCO veröffentlichte 1956 eine Definition, wonach die Bezeichnung

funktionaler Alphabet auf eine Person zutrifft, die „´das Wissen und die

Fähigkeit im Lesen und Schreiben erlangt hat, die sie in die Lage versetzen,

gleichberechtigt an den gesellschaftlichen Aktivitäten ihres Kulturkreises

teilnehmen zu können`“.39 Der Begriff ist deutlich an Schriftsprachkenntnisse

gebunden, die innerhalb einer bestimmten Gesellschaft und Kultur eine

gleichberechtigte Partizipation ermöglichen sollen. Das ist aber nicht die einzig

vorstellbare Sinndeutung, wie Christian Fiebig beweist. Er beantwortet die

Frage, wann jemand funktional alphabetisiert sei, auf vielerlei Arten:

Zum Beispiel eine bildungspolitische (Antwort-G.G.): In der Regel nach der Schulzeit. Oder eine nach der Definition der UNESCO: Wenn man eigenständig an der schriftlichen Alltagskommunikation der Gesell-schaft teilnehmen kann. Oder eine bildungsbürgerliche: Wenn man mit Lust GOETHE lesen kann. Oder eine formalistische: Wenn man mit Hilfe der 26 Buchstaben mündliche Inhalte in schriftliche codieren kann und umgekehrt. Oder eine philosophische: Wenn man von sich behaupten kann: Ich lese, also bin ich, und ich schreibe, also bleibe ich. Oder eine kulturpessimistische: Nie! Oder eine fundamental-theologische: Wenn Du die Worte des Herrn lesen kannst. Oder eine schulische: Wenn deine muttersprachlichen Kenntnisse mindestens ausreichend sind. Oder eine interkulturelle: Wenn ich in der Sprache

36 Rath, Otto: Begrüßung, in: Mitschrift: Alfa Gipfelgespräche vom 22.06.2006. 37 vgl. Kamper, Gertrud: Grundbildung für Erwachsene, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 24. 38 ebd., S. 26. 39 UNESCO, zit. in: Müller, Horst-M. 1984, S. 333.

22

meines Heimatlandes und meines Gastlandes schriftlich erfolgreich handeln kann.40

Es lässt sich erkennen, dass hier keine allgemein gültige Aussage zur

Frage, wann eine Person funktional alphabetisiert sei, getroffen werden kann,

da die Antwort immer willkürlich, aus einem bestimmten Blickwinkel heraus

und innerhalb eines konkreten geographischen, gesellschaftlichen, bildungs-

politischen, ökonomischen und zeitlichen Zusammenhangs gegeben wird. Der

Wandel in den ökonomischen Bedingungen erweitert und erhöht das

Spektrum der gesellschaftlichen Anforderungen über die Schriftsprach-

kompetenzen hinaus. Diese Kontextabhängigkeit berücksichtigt Christian

Fiebig, wenn er erklärt: „Alphabetisiert ist, wer über eine zukunftsfähige

Grundbildung verfügt, die jeweils gesellschaftlich erwartet wird“.41

1.1.7 Grundbildung/Basisbildung

Die Alphabetisierung Erwachsener ist eine wesentliche Voraussetzung und

ein Kernbereich der Grundbildung bzw. Basisbildung.42 Da in unserer

westlichen Gesellschaft Schriftsprachkenntnisse allein nicht genügen (aber

auch um den etikettierenden Begriff „funktionaler Analphabetismus“ zu

vermeiden) wird die Bezeichnung Grundbildung immer mehr verwendet.

Monika Tröster verweist jedoch auf die Gefahr, dass durch den häufigen

Gebrauch des Begriffes „Grundqualifikationen“ in verschiedenen Studien, die

bildungspolitische Aufmerksamkeit auf den funktionalen Analphabetismus

tendenziell verloren geht.43 Hier zeigt sich eine Ambivalenz, auf die auch

Andrea Linde hinweist. Einerseits wird versucht, von der „Dichotomie

Analphabet/Alphabet“ Abstand zu nehmen. Andererseits könnte dadurch der

funktionale Analphabetismus bildungspolitisch in Vergessenheit geraten44,

zumal auch diese Studien explizit erklären, keine Zahlen zum funktionalen

Analphabetismus zu erheben.45

Der Begriff Grundbildung ist in seiner Bedeutung und seinem Inhalt

dynamisch und vielschichtig. Er ist für Monika Tröster ein „(…) nicht genau

40 Fiebig, Christian: Was bedeutet alphabetisiert?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 34. 41 ebd. 42 Beide Bezeichnungen sind in Österreich - wie auch in dieser Arbeit - in Verwendung. 43 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 14. 44 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 20f. 45 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 32.

23

definiertes und sich permanent veränderndes Konstrukt“, welches dem

„Individuum übermächtig und nicht fassbar“ erscheint.46

Grundqualifikationen, elementare Grundqualifikationen, Basisqualifi-kationen, Schlüsselqualifikationen, elementare Qualifikationen, grundlegende Qualifikationen, elementare Kenntnisse, Elementar-bildung, Grundbildung, Grundkenntnisse, Mindeststandards und weitere Wortzusammensetzungen aus ähnlichen Begriffen zeigen anschaulich die Bemühungen von Pädagogen, forschenden Wissenschaftlern, Politikern und der Wirtschaft zu beschreiben oder zu definieren, was für den Menschen als unbedingt notwendig zu lernen gedacht wird. Alle ‚Definitionen’, alle Beschreibungen gehen zunächst einmal davon aus, dass sie für alle Menschen gelten und dass es einen gesellschaftlichen Minimalkonsens Grundbildung gibt. Jede Definition aber geht ebenso von ihrer eigenen Zielrichtung aus. 47

Diese Bezeichnungen, hier aufgelistet von Angelika Schlemmer, aber auch

ähnliche Begriffe, werden oftmals synonym verwendet, sie bedeuten

allerdings nicht immer dasselbe. Es gibt demnach viele Definitionen und

Beschreibungen von Grundbildung, die kontextbezogen (vom Standpunkt der

Wirtschaft, Schule, Erwachsenenbildung, Politik, usw.) die unterschiedlichen

Mindestansprüche aufzeigen, die die Bevölkerung eines Landes erfüllen soll.

Warum es keine abgeschlossene und allgemein gültige Definition geben kann,

erläutert Angelika Schlemmer mit folgenden Worten:

Das Wesen der Grundbildung ist ihre beständige Anpassung an die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit. ‚Grundbildung’ folgt dem in einer stillschweigenden Übereinkunft gesellschaftlicher Kräfte gesetzten Mittelmaß und verändert sich beständig, ebenso wie die Versuche, sie zu definieren.48

Historisch betrachtet, gab es immer schon Bemühungen eine „’Grund-

bildung’“ für alle zu begründen. Werner Lenz belegt das mit folgenden

Beispielen: dem „Anspruch von Comenius (1492-1570), alle alles zu lehren“,

der „Idee der Allgemeinbildung, einer Grundbildung für alle (Einführung der

Pflichtschule in Österreich 1774 unter Maria Theresia)“, der „Alphabetisierung

der Gesellschaft als Grundbildung im 19. Jahrhundert“, u.a.m.49

International bekannt wurde das „Konzept der Grundbildung“, nach Volker

Lenhart und Martina Maier, durch die Zusammenstellung „’grundlegender

Lernbedürfnisse’“ während der UNESCO-Weltkonferenz „Education-For-All“

46 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 16. 47 Schlemmer, Angelika: Wandlungen im Verständnis von Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 40. 48.ebd. 49 vgl. Lenz, Werner: Grundbildung, in: ISOTOPIA, 19/2000, S. 16f.

24

(1990) in Jomtien, Thailand. Neben der Primarbildung für Kinder sind für

Jugendliche und Erwachsene zusätzlich zu Lesen, Schreiben und Rechnen

auch Inhalte aus den Bereichen „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerungsfragen,

Landwirtschaft, Umwelt“, usw. für die „Basic education“ vorgesehen.50 Wie

Armin Triebel berichtet, lautet ihre inhaltliche Ausrichtung:

Basic learning needs should:

comprise both essential learning tools (such as literacy, oral expression, numeracy, and problem solving) and the basic learning content (such as knowledge, skills, values, and attitudes) required by human beings to be able to survive, to develop their full capacities, to live and work in dignity, to participate fully in development, to improve the quality of their lives, to make informed decisions, and to continue learning.51

In der „Hamburger Deklaration zum Lernen im Erwachsenenalter“ der

UNESCO-Weltkonferenz CONFINTEA (1997) wird Grundbildung mit folgenden

Worten festgeschrieben:

Grundbildung für alle bedeutet, daß Menschen ungeachtet ihres Alters die Möglichkeit haben, als Einzelne oder in der Gemeinschaft ihr Potential zu entfalten. Sie ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht und eine Verantwortung gegenüber anderen und der Gesellschaft als Ganzem. Es ist wichtig, daß die Anerkennung des Rechts auf lebenslanges Lernen von Maßnahmen flankiert wird, die die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts schaffen.52

Grundbildung ermöglicht den Menschen Basisfähigkeiten zu entwickeln,

deren Beherrschung erst selbständige lebensbegleitende Bildung gelingen

lässt. Sie ist nach obengenannter Definition sowohl ein Recht als auch eine

Handlungsverpflichtung für die Person, aber auch für die Gesellschaft, wobei

letztere, wie Monika Tröster kritisch anmerkt, wohl „(...) zu wenig an den

Bedingungen verändert, die es den Menschen ermöglichen, diese Pflichten

ausüben zu können“.53

Welche Inhalte und Fähigkeiten in welchem Ausmaß gegenwärtig zur

Grundbildung gehören, hängt damit zusammen, wer die Macht im

gesellschaftlichen Diskurs hat, den Begriff zu definieren und die Bildungsziele

vorzugeben. Viele Definitionen orientieren sich stark an ökonomischen

50 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 490ff. 51 Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 795. 52 UNESCO: Hamburger Deklaration, S. 4. (Homepage) URL: www.unesco.ch/dokumentation/dokumente/bildung/erwachsenenbildung.html (06.05.2005). 53 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 15.

25

Interessen. Berufliche Bildung gilt als Standortsicherung. Demgemäß ergibt

sich für die Grundbildungskurse eine zweifache Aufgabe: Die Inhalte und Ziele

haben sich sowohl an den steigenden, aktuellen und zukünftigen

Qualifikationsansprüchen des Arbeitsmarktes, als auch an den persönlichen

Interessen, Bedürfnissen und Lebenssituationen der einzelnen Menschen

auszurichten. Eine berufsorientierte Alphabetisierung und Grundbildung

beabsichtigt, so Monika Tröster, die erforderliche „(...) Handlungskompetenz

mit der gleichermaßen bedeutsamen Persönlichkeitsentfaltung zu verknüpfen,

um Menschen darin zu unterstützen, sowohl ihre Lebensgestaltung als auch

ihren beruflichen Alltag besser bewältigen zu können“.54 Dazu gehören:

• Lesen, Schreiben, Rechnen – als Kern der Grundbildung. Hingewiesen sei auch auf die Bedeutung des Sprechens, da viele Menschen Probleme haben, ‚einfache’ Sachverhalte zu kommunizieren; • Grundbegriffe des Umgangs mit dem PC und anderen elektronischen Gerätesystemen des Alltags; • Grundbegriffe der englischen Sprache, die in den Alltagssprach-gebrauch und in beschäftigungstypische berufliche Fachsprachen eingehen; • Selbstorganisationsfähigkeit der eigenen Tätigkeit und der Gruppe, Teamfähigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Gesprächsfähigkeit, Selbsteinschätzungsvermögen, Eigenverantwortung u.a.55

Sie weist besonders darauf hin, dass Grundbildung nicht, wie vermutet

werden könnte, aus einer bestimmten Fertigkeitenansammlung besteht,

sondern Grundbildung beinhaltet „vor allem dynamische und flexible

Fähigkeiten“.56 Das Vorhandensein von „’Handlungskompetenz’ (...) - also

nicht nur fachliche, sondern zunehmend methodische sowie personale und

soziale Kompetenzen“ wird für alle Berufe verlangt..57

Um gesellschaftlich teilzuhaben, bedarf es für Elke Gruber „vielfältiger

sozialer, personaler und kommunikativer Fähigkeiten“, „allgemeine

methodische und problemlösende Kompetenzen“, „die Fähigkeit zu reflexivem

Denken und Handeln“, sowie „Handlungskompetenz“, d.h. ein „voraus-

schauendes planendes Handeln“.58

Unumgängliche Voraussetzung für jede Art von lebensbegleitender Bildung

sind nach Gertrud Kamper hohe Schriftsprachkenntnisse und „Fähigkeiten des

54 vgl. Tröster, Monika: Einführung, in: Tröster, Monika 2002, S. 11f. 55 Tröster, Monika: Handlungskompetenz, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 31. 56 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 17. 57 vgl. ebd., S. 18. 58 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 6. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).

26

selbständigen Lernens“, das sind „kognitive und metakognitive, motivationale,

soziale Fähigkeiten“, ergänzt mit Computer- und Internetkenntnissen.59

Für die Wirtschaft sind besonders Schlüsselqualifikationen von großem

Interesse, die länger als die rasch sich verändernden beruflichen

Fachkompetenzen fortbestehen. Marie-Cécile Bertau führt einige an:

Dazu gehören: Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Verantwortungs-bewusstsein, Teamfähigkeit, Initiative, selbständiges Lernen, kommunikatives Verhalten, Kritikfähigkeit, Belastbarkeit, Kreativität, logisches Denken, planvolles Arbeiten, Zielstrebigkeit - um nur einige zu nennen.60

Oskar Negt entwickelte fünf „(...)gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen,

die den aus Wirtschaftskreisen geforderten Fähigkeiten als übergeordnete

Prinzipien - sozusagen als Metakompetenzen - hinzugefügt werden sollten“,

und die, wie Michael Schratz feststellt, dem „selbstbestimmte(n) Mensch“

Priorität einräumen.61 Otto Rath benennt diese Schlüsselkompetenzen:

Es sind dies Identitätskompetenz (den Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität lernen), technologische Kompetenz (gesellschaftliche Wirkungen von Technik begreifen und Unter-scheidungsvermögen entwickeln), Gerechtigkeits-kompetenz (sic!-G.G.) (Sensibilität für Enteignungserfahrungen, für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit), ökologische Kompetenz (der sorgsame Umgang mit Menschen, mit der Natur und den Dingen) und historische Kompetenz (Erinnerungs- und Utopiefähigkeit).62

Otto Rath legt dar, dass jede Definition von Grundbildung die „politischen

und kulturellen Interessen der definierenden Gruppe“ widerspiegelt:63

Eine gesicherte Grundbildung liegt im Interesse der Europäischen Kommission, die Europa zum dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen möchte. Diesem funktionalen Anspruch an Grundbildung wird ein emanzipatorischer entgegengehalten, der sich gegen die Reduktion von Bildung auf Qualifikation wendet.64

Aufgrund dieser Intention wird beabsichtigt, ein politisches und inter-

kulturelles Grundbildungskonzept zu entwickeln, welches die Schlüssel-

kompetenzen von Oskar Negt auf Grundlage der Kulturtechniken beinhalten

59 vgl. Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 31. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 60 Bertau, Marie-Cécile: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 32f. 61 vgl. Schratz, Michael: Weiterbildung/Erwachsenenbildung (4/5), in: Hierdeis, Helmwart; Hug, Theo 1996. 62 Negt, Oskar, zit. in: Rath, Otto 45/2004, S. 36. 63 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 33. 64 ebd., S. 22.

27

könnte.65 Diese „europäische Grundbildung“ ließe sich politisch als eine „(...)

Alternative zum Konzept des auf den Faktor Humankapital fokussierten

Grundwissenskonzeptes, das den gegenwärtigen Diskurs dominiert,

etablieren“.66

Innerhalb der Europäischen Union soll permanentes lebensbegleitendes

Lernen den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, den anwachsenden oder

neu an sie herangetragenen beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen

gewachsen zu sein. Von jeder und jedem werden im „Memorandum über

Lebenslanges Lernen“ zusätzlich zu ausreichenden Kenntnissen und

Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen auch spezielle „neue

Basisqualifikationen“, d.h.: „IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, Technologische

Kultur, Unternehmergeist und soziale Fähigkeiten“67 verlangt, die „(...) die

Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an der wissensbasierten

Gesellschaft und Wirtschaft (...)“. 68

Folglich sind Menschen mit unzureichender Grundbildung gefährdet, von

der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Partizipation und Mitgestaltung

dauerhaft ausgeschlossen zu werden, da sie den beruflichen und sozialen

Bildungsansprüchen nicht in ausreichendem Maße nachkommen können.

Grundbildung soll, nach Monika Tröster, die Kluft zwischen den permanent

ansteigenden und komplexer werdenden gesellschaftlichen Forderungen und

den vorhandenen Kompetenzen einer Person füllen oder überbrücken helfen.69

Denn lebenslanges Lernen, aber auch berufliche Weiterbildungen oder

Umschulungen sind ohne Grundbildung nicht möglich. Monika Tröster warnt

wie viele andere Autorinnen und Autoren vor den Auswirkungen eines

gesellschaftlichen Ausschlusses von Bevölkerungsgruppen mit geringer

Bildung, welcher letzten Endes den „sozialen Zusammenhalt“70 innerhalb der

Gesellschaft bedrohen kann. Sie schreibt: „Die Kluft zwischen den Menschen,

die die Anforderungen der Informationsgesellschaft erfüllen können, und

denen, die ausgeschlossen werden, vergrößert sich zusehends“.71

Vordringlichste Aufgaben von Grundbildung bildet demnach die soziale

Integration und Partizipation. Grundbildung bedeutet nach Werner Stark,

65 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 36f. 66 vgl. ebd., S. 43. 67 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 12. 68 vgl. ebd., S. 13. 69 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph 1997, S. 18. 70 vgl. Tröster, Monika: Einführung, in: Tröster, Monika 2000, S. 7. 71 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 12.

28

„(...) daß jede Person in der Lage sein sollte, sich gleichberechtigt am

sozialen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen“.72

Wie stellt sich nun Grundbildung aus der Sicht der Lernenden dar? Die

Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der VHS Oldenburg beantworteten die

Frage: „’Was verstehen wir unter Grundbildung?’“ mit folgender Reihung, die

Achim Scholz zusammengefasst hat:

1. Allgemeinbildung und Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit einem Computer.

2. Selbstständig zu leben, auf eigenen Füßen zu stehen, sich selbst helfen zu können, Abhängigkeit zu überwinden.

3. Seine Rechte zu kennen und zu wissen, welche Ansprüche man in welchen Fällen hat, z.B. gegenüber Behörden.

4. Eine Basis-Qualifikation für die Arbeitswelt und eine Hilfe zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erhalten.

5. Lernen, sich zu äußern, seine Meinung zu sagen, sich mit anderen auseinander zu setzen.

6. Seelische Unterstützung und Sicherheit zu erhalten, ermutigt zu werden, auch neue Wege zu gehen.

7. Mitreden zu können über Politik und zu wissen, was los ist in der Welt.

8. Sich in der Umwelt zu orientieren und zurechtzukommen.73

Grundbildung hat, nach Elke Gruber, auch die Aufgabe den Menschen zu

helfen ihre Identität zu entwickeln. „Eine moderne Grundbildung muss heute

die Kompetenz zur Steuerung der eigenen Biographie umfassen; sie muss

Menschen befähigen, sich in dem flacher und brüchiger werdenden

institutionellen Leben zu Recht zu finden“.74 Aus dieser Überlegung heraus

schlägt sie vor, Grundbildung in existentielle Bildung umzubenennen, die

ihren Ausgang nimmt bei der „Entwicklung der biographischen Identität“ der

Menschen und einen lebensbegleitenden Lernprozess darstellt. Nicht das

Erwerben der Schriftsprachkenntnisse als „Selbstzweck oder allein zum

Bestehen am Arbeitsmarkt“ stehen im Mittelpunkt, sondern die Menschen und

72 vgl. Stark, Werner: Vorwort, in: Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph 1997, S. 6. 73 Scholz, Achim: „Ich würde ein anderes Leben leben“, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 22. 74 Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 8. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).

29

die „sinnvolle Bewältigung“ ihrer jeweiligen „vielfältigen Rollen und

Lebenssituationen“.75

1.1.8 Literacy

In Studien der OECD, beispielsweise in der „International Adult Literacy

Survey“ (IALS) und vielen anderen englischsprachigen Veröffentlichungen,

wird von „Literacy“ (Literalität, Grundqualifikationen)76 gesprochen. Die

Bezeichnung enthält im Unterschied zum funktionalen Analphabetismus oder

Illiteralität keine negative Konnotation. In der IALS-Studie77 (1994-1998)

heißt es: „Literacy skills are necessary for community participation,

citizenship, and social cohesion“.78 Der Begriff wurde folgendermaßen

festgehalten: „Literacy is defined as the ability to understand and employ

printed information in daily activities, at home, at work and in the community

– to achieve one’s goals, and to develop one’s knowledge and potential“.79

Historisch betrachtet war der angelsächsische Begriff „Literacy“ mit

gesellschaftlichen Veränderungen und der allgemeinen Verbreitung der

Schriftkultur verknüpft.80 Das Wort „’literate’“ war gleichbedeutend mit „to be

‚familiar with literature’ or, more generally, ‚well educated, learned’“.81 Die

Bezeichnung wird nun, wie Stephan Sting darlegt, als „kulturunabhängig(e),“

„allgemeine, normativ gewendete Basiskompetenz“ betrachtet, „(...) die dem

Individuum als Vorbedingung zur Mitwirkung an entwickelten, schriftlich

organisierten Gesellschaften auferlegt wird“.82

Der Versuch, den Sinngehalt des Begriffes in der deutschen Sprache

wiederzugeben ist schwierig. Bei internationalen Studien, wie der PISA-

Studie83 (2001) in Deutschland, kam es dabei zu folgenden Überlegungen:

Wird der Terminus „’literacy’“ mit „‚Literalität’“ übersetzt, so entsteht dadurch

die verkürzte Vorstellung von einer „elementaren Alphabetisierung“, wird er

75 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 11. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006). 76 Literacy wird auch mit Literarität übersetzt. 77 Siehe dazu auch 4. Kapitel. 78 IALS-Studie, zit. in: Bertau, Marie-Cécile 2000, S. 38. 79 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 80 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 321. 81 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 148. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 82 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 321f. 83 Siehe dazu auch 4. und 5. Kapitel.

30

aber mit „’Grundbildung’“ wiedergegeben, so wäre damit der Begriff zu weit

gefasst, da darunter ebenfalls inhaltlich Teile der „Kulturvermittlung und der

Weltorientierung“ zu verstehen sind.84 Daraus folgt nach Stephan Sting:

Literalität im Sinne von ‚literacy’ bedeutet also mehr als Lesen und Schreiben und zugleich weniger als eine auf bestimmte Bereiche und Inhalte bezogene Bildung. Sie bezeichnet kulturunabhängige und inhaltsneutrale kognitive Kompetenzen, die in verschiedenen Wissensgebieten und Lernbereichen zur Anwendung kommen sollen.85

Literarität umfasst ein „ganzes Set informationsverarbeitender und –

generierender Prozesse“, unabhängig vom „Inhalt“ und von „sozialen oder

personalen Kompetenzen“ oder „’Schlüsselqualifikationen’“, erklärt Gertrud

Kamper nicht ohne Kritik an dieser reduzierten Darstellung zu üben.86

Das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und

Kultur führt im Rahmen der PISA-Studie das „literacy-Konzept“

folgendermaßen aus:

In den Testaufgaben von PISA liegt das Hauptaugenmerk auf der Beherrschung von Prozessen, dem Verständnis von Konzepten sowie auf der Fähigkeit, innerhalb eines Kompetenzbereichs auf Grund von vernetztem Wissen mit unterschiedlichen, praxisbezogenen Situationen und Problemen umgehen zu können. Die Untersuchung stellt damit auf fächerübergreifende Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten ab, die man heute als Erwachsene/r benötigt, um am gesellschaftlichen Leben aktiv gestaltend und weiterlernend teilhaben zu können.87

Der Terminus wird immer mehr auch außerhalb des schriftsprachlichen

Bereichs verwendet und so ist es, nach Stephan Sting, durchaus üblich, von

„’mathematic literacy’ (mathematische Kompetenz)“, „’scientific literacy’

(naturwissenschaftliche Kompetenz)“ u.a.m. zu sprechen. Zu diesen Begriffen

etablieren sich jeweils auch Testabläufe, Leistungsmessungen und

Klassifikationen von Standards und Literalitätsniveaus, wobei die Bezeichnung

„literacy“ sich dadurch, nach Vera Husfeldt, zu „einem neuen Begriff von

Intelligenz“ ausweitet.88

84 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322. 85 ebd. 86 vgl. Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 31. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 87 Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008). 88 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322.

31

Dieser breiten Konzeption von „literacy“ widerspricht Stephan Sting und

kritisiert die Vorstellung von „kulturunabhängige(n) und inhaltsneutrale(n)

kognitive(n) Kompetenzen“.89 „Literalität lässt sich weder abstrakt erlernen

noch kulturneutral testen. Da in unserer Kultur Literalität nicht unabhängig

von der schriftkulturellen Tradition betrachtet werden kann (...),“90 erscheint

ihm die Verwendung des Begriffs „Schriftlichkeit“ angebrachter. Er begründet

diese Aussage folgendermaßen: „’Schriftlichkeit’ beinhaltet die fundamentale

Verschränkung von Literalität mit einer besonderen, kulturhistorisch

entstandenen ‚Schriftkultur’“.91

Auch für Armin Triebel hat der kulturelle Kontext großen Einfluss auf die

Literacy-Konzeption. Mit jeder Definition von „literacy“ wird eine kulturelle

und politische Entscheidung getroffen, welche unterschiedliche politische

Folgen mit sich bringt:

The ways in which an institution or society defines literacy implies a definition of the culture´s ‚collective identity’ more generally. Literacy is an expression of cultural and political aims, and it is used to designate social roles in a society. In this respect literacy is always an essentially normative notion and an instrument of politics, and it varies with time and place (...).92

Ein anderes Verständnis von Literalität findet sich bei Roz Ivanic, David

Barton und Mary Hamilton. Sie betrachten Literacy als „soziale Handlung“

statt als “’Fertigkeit’“. Die sozialen Aktivitäten, die Lesen und Schreiben

beinhalten, sind nicht Selbstzweck, sondern sie dienen dazu die variierenden

alltäglichen Aufgaben eines Menschen durch unterschiedliche „Literacies“,

unterschiedliche „literale Handlungen“ zu bewältigen. Der Ansatz beachtet

soziale und kulturelle Kontexte. Er orientiert sich an den in diesen

gesellschaftliche Kontexten entstehenden Wünschen und Bedürfnissen der

Menschen und reduziert Literacy nicht vorrangig auf bildungspolitische und

ökonomische Ziele und Zwecke.93 Kurz gesagt bedeutet „Literacy als soziale

Handlung“ im jeweiligen sozialen Umfeld Antworten auf Fragen zu wissen wie:

„(…) wer kann helfen, wie lange dauert etwas, wann gilt eine Aufgabe als

befriedigend ausgeführt, was wird in diesem Kontext anerkannt, was ist

89 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322. 90 vgl. ebd., S. 324. 91 ebd. 92 Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 794. 93 vgl. Ivanic, Roz; Barton, David; Hamilton, Mary: Wie viel „Literacy“ braucht ein Mensch?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 19.

32

inakzeptabel“.94 Die Autorinnen und der Autor ergänzen: „Diese sozialen

Aspekte von Literacy werden besser durch Partizipation an den Handlungen

selbst gelernt als durch formalen Unterricht“.95

Welche Literacies jeweils erforderlich sind, um gesellschaftlich teilzuhaben,

richtet sich nach den „sozialen Absichten und Plänen“ der Menschen. Literale

Handlungen sind daher situationsabhängig variabel und erweiterbar. „Ob also

Menschen einen Bedarf haben und die Art dieses Bedarfes sind individuell

entwickelte, persönliche Angelegenheiten“, befinden die Autoren.96 Die

Entscheidung darüber sollte nicht von außen, z.B. von „Regierungen,

Bildungssysteme(n), Testautoren oder Arbeitgeber“97 für sie getroffen werden.

1.2 Konnex zur Erwachsenenbildung/Erziehungswissenschaft

Die Erwachsenenbildungsinstitutionen in den westeuropäischen Ländern

betrachteten die Alphabetisierung bisher nicht als ihr traditionelles

Aufgabengebiet. Es wurde zunächst fälschlicherweise davon ausgegangen,

dass diese Kenntnisse und Fertigkeiten in der erwachsenen Bevölkerung

durchgehend vorhanden sind.98 In Deutschland erschien im Jahr 1984 im

Band Erwachsenenbildung der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft eine

Abhandlung von Horst-M. Müller über die „Alphabetisierung (westliche

Industrieländer)“, in der es hieß: „Es ist unbestreitbar Aufgabe der

Erwachsenenbildung, lerninteressierten Analphabeten die für die Bewältigung

des Alltagslebens notwendige Schriftsprachenkompetenz zu vermitteln“.99

In Österreich ist die universitäre Auseinandersetzung mit dem funktionalen

Analphabetismus noch sehr jung, sofern sie sich bislang überhaupt dieses

Themas angenommen hat. Als Folge davon lassen sich dazu noch wenige

wissenschaftliche Arbeiten oder Diskussionen in Fachkreisen ausmachen.

Vorerst werden aufgrund der Ergebnisse der PISA-Studie Debatten über die

Reformbedürftigkeit des österreichischen Schulsystems geführt. Demzufolge

sollte die Alphabetisierung und Grundbildung in Zukunft größere politische

Aufmerksamkeit und mehr finanzielle Förderungen erhalten als bisher, denn

dieses Thema ist, wie Werner Lenz betont, höchst brisant:

94 vgl. Ivanic, Roz; Barton, David; Hamilton, Mary: Wie viel „Literacy“ braucht ein Mensch?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 19. 95 ebd. 96 ebd., S. 20. 97 vgl. ebd., S. 21. 98 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 99 Müller, Horst-M.: Alphabetisierung, in: Lenzen, Dieter 1984, S. 334f.

33

Bis zu 20 Prozent der 15-Jährigen eines Jahrgangs – so lauten die Befunde der PISA-Studie von 2004 für Österreich – verlassen die Schule mit mangelnder Grundbildung: Sie haben große Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen.100

Die politische Zuständigkeit liegt beim Bundesministerium für Bildung,

Wissenschaft und Kultur101, welches für die Alphabetisierungskurse bislang

„zwei Millionen Euro“ aufbietet.102 Insgesamt war für die Erwachsenenbildung

in den Jahren 2004/05 ein Budget von „je 11,7 Millionen Euro“ beschlossen

worden.103

Auch wenn eine Studie, die Auskunft geben könnte über die tatsächliche

Größenordung des funktionalen Analphabetismus in Österreich, bisher vom

Ministerium aus Kostengründen abgelehnt wurde, wäre eine solche, nach

Meinung von Otto Rath, Mitbegründer des Netzwerk Alphabetisierung.at,

absolut dringend erforderlich. Diese Zahlen sind unumgänglich, um gegenüber

den Fördergebern den realen finanziellen Bedarf für die bestehenden und

zukünftigen Kursangebote ausreichend argumentieren zu können.104 Stimmt

die geschätzte Zahl von 600.000 Erwachsenen mit erheblichen Problemen im

Lesen und Schreiben in Österreich auch nur annähernd, so ist für diese

Gruppe, aufgrund der infrastrukturellen und finanziellen Knappheit, das

heutige Angebot an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen vollkommen

unzureichend.

Neben der oben angesprochenen Untersuchung, sind Forschungs-

tätigkeiten willkommen, die ein umfangreiches Grundlagenwissen zum

Themenbereich funktionaler Analphabetismus im sozialen Kontext erheben,

z.B. zu den Entstehungsursachen, zu der sozialen Positionierung und den

unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Zielgruppen

(Männer/Frauen, Jugendliche/Erwachsene/Ältere, arbeitende/arbeitslose

Personen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, usw.) sowie zu

erwachsenengerechten Konzepten, Methoden und Materialien für das Erlernen

der Schriftsprachkompetenz (mit Einzelpersonen, Gruppen, Familien, in

Betrieben, Sozialeinrichtungen, Gesundheitszentren, Anstalten, usw.).

Von Interesse wären auch Maßnahmen zur Prävention des funktionalen

Analphabetismus in der familiären Sozialisation, der Schulbildung und der

100 Lenz, Werner: Porträt Weiterbildung 2005, S. 60. 101 Partner sind auch das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, die Länder, u.a. 102 vgl. Strohmeyer, Heidrun, zit. in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 40. 103 vgl. Lenz, Werner: Porträt Weiterbildung 2005, S. 42. 104 vgl. Rath, Otto, zit. in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 41.

34

individuellen Entwicklung, Kursevaluationen, Beiträge zur Enttabuisierung der

Problematik in der Gesellschaft, weitgehende Übereinkünfte über die

Begrifflichkeiten und deren Inhalte, Erhebungen, die die nationalen,

internationalen und interdisziplinären Erfahrungen und Erkenntnisse über die

Alphabetisierung und Grundbildung einbeziehen, die Nutzung von

internationalen Kontakten und gemeinsamen Stategien für die Reduktion des

funktionalen Analphabetismus und vieles andere mehr. Die Erkenntnisse aus

Theorie und Praxis müssten unbedingt auch bildungspolitische Folgen zeigen

und in die bestehenden (pädagogischen) Ausbildungen einfließen, damit die

Lebensräume aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen bestmöglich

individuell förderliche Lernbedingungen enthalten.

Zur theoretischen Ausarbeitung der Alphabetisierung und Grundbildung

könnte die Erziehungswissenschaft sicherlich einiges beitragen. Wolfgang

Mitter bezeichnet „'Grundbildung' (im Zusammenhang mit der Bekämpfung

des Analphabetismus in Entwicklungs- und Industrieländern)“ als neues

Themenfeld der Vergleichenden Erziehungswissenschaft.105 Sie ist die

Grundlage des in unserer Gesellschaft immer wichtiger werdenden

lebensbegleitenden Lernens. Elke Gruber hält es daher für unumgänglich,

Grundbildung als „originären Bestandteil der Erwachsenenbildung“

anzuerkennen, um sie aus ihrem „Nischendasein, was die Finanzierung, die

institutionelle Verankerung und Forschung betrifft, (zu) befreien (...)“.106

Eine Orientierung über die internationale Alphabetisierung und Grund-

bildung bietet das nächste Kapitel.

105 vgl. Mitter, Wolfgang: Vergleichende Erziehungswissenschaft (5/6), in: Hierdeis, Helmwart; Hug, Theo 1996. 106 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 9. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).

35

2. DIE WELT

2.1 Internationale Alphabetisierung

Lesen und Schreiben lernen zu können ist nicht selbstverständlich. Der

internationale Weltalphabetisierungstag am 8. September soll uns daran

erinnern. Zahlreiche Einrichtungen versuchen nicht nur an diesem Tag die

Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Thema zu gewinnen. Die UNICEF,

die UNESCO, die Weltbank und viele andere Organisationen und Institutionen

haben sich die Alphabetisierung und Grundbildung von Kindern, Jugendlichen

und Erwachsenen zur Aufgabe gemacht. Aus welchen Gründen geschieht nun

dieses Engagement und welche Hindernisse gilt es dabei zu überwinden? Wie

hat sich die Geschichte der Alphabetisierung bis zum Jahr 2006 ereignet?

2.1.1 Allgemeine Bildungsformen

Bildung erfolgt in Institutionen, z.B. den Schulen und Universitäten

(formale Bildung) oder wird außerhalb dieser für berufliche oder private

Lernziele bestimmter Gruppen durchgeführt, wie etwa die Alphabetisierung

und Grundbildung (nonformale Bildung). Sie ereignet sich im Alltag durch

Gespräche im Familienkreis, in peergroups, durch Massenmedien (informale

Bildung),107 sowie durch gemeinsames Tun, Beobachten und Nachahmen von

Vorbildern. Nonformale Bildung kann die in formalen Bildungssystemen

erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse vervollständigen, erhöhen oder auch

ersetzen.108 Die Schulbildung obliegt den Nationalstaaten. Sie wird durch

bildungspolitische Aktivitäten im Rahmen der internationalen Entwicklungs-

zusammenarbeit ergänzt, während oft NGOs nonformale Bildung durchführen.

Bildung ist ein anerkanntes Recht jedes Menschen.109 Eine gute Ausbildung

steigert häufig die Chancen auf einen Arbeitsplatz und auf Einkommen. Sie

kann Menschen ermöglichen sich aus der Armut zur befreien und die eigene

Lebensqualität zu erhöhen. Zugleich soll Bildung der demokratischen, sozialen

und wirtschaftlichen Entwicklung der Länder dienen.

107 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 1f. 108 vgl. ebd., S. 2. 109 Recht auf Bildung, festgeschrieben in: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 26; Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 2 des Zusatzprotokolls; Charta der Grundrechte der EU, Artikel 14; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Artikel 13, 14; UNO-Konvention über die Rechte des Kindes, Artikel 28, 29; u.a.m.

36

2.1.2 Quantitative Erhebung

Aus dem UNESCO Weltbildungsbericht (2006) lässt sich entnehmen, dass

derzeit ungefähr 771 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten geschätzt

werden. Das sind ca. 18% der erwachsenen Weltbevölkerung (über 15 Jahre).

Die massive Abnahme der Zahlen gegenüber dem Jahr 1990 um 100 Millionen

wurde hauptsächlich durch eine Reduktion von ca. 94 Millionen in China

möglich. Es wohnen drei Viertel der lese- und schreibunkundigen Menschen in

nur 12 Staaten der Erde.110 Sehr viele Analphabetinnen und Analphabeten

leben in „Afrika südlich der Sahara, in Süd- und Westasien“111 und den

arabischen Staaten. Wesentlich mehr Frauen (64%) als Männer sind vom

Schriftspracherwerb ausgeschlossen. Die Verringerung der Zahlen geht nur

langsam vor sich. Das liegt auch daran, weil ca. 100 Millionen Kinder im

Schulalter - in der Mehrzahl wieder Mädchen - derzeit keine Primarbildung

erhalten.112

Abbild 1: Bildung für alle 2006. Alphabetisierung weltweit.

110 Dazu zählen: Indien, China, Bangladesch, Pakistan, Nigeria, Indonesien, Ägypten, Brasilien, Iran, Marokko, Kongo und Äthiopien. 111 Süd- und Westasien meint hier: Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Iran, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka. 112 vgl. ÖFSE: Bildung für alle, S. 5. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006).

37

Die Zahlen wurden aufgrund von nationalen Erhebungen ermittelt, wobei

die Definitionen und Untersuchungskriterien absolut nicht übereinstimmen.

Ursula Giere bemerkt dazu:

Während in einigen Ländern Personen als alphabetisiert registriert werden, die lesen, aber nicht schreiben können, in anderen alle, die mindestens vier Jahre eine Schule besucht haben, gelten in wiederum anderen Ländern Personen erst als alphabetisiert, wenn sie einen Text mit Verständnis lesen und schreiben können.113

Vergleichbare Testverfahren, mit deren Hilfe sich durch persönliche

Testung der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung auf Skalen anzeigen

ließe, würden ein exakteres Bild abgeben, als es derzeit die Polarität zwischen

alphabetisiert und nicht alphabetisiert möglich macht. Die Deutsche UNESCO-

Kommission geht davon aus, dass sich dann die Zahl von ca. 771 Millionen

Menschen mit keinen oder geringen Schriftsprachkenntnissen wohl noch

drastisch erhöhen würde.114

2.1.3 Alphabetisierungshindernisse

Die Ursachen für die hohen Analphabetenraten der erwachsenen

Bevölkerung entstehen in den Ländern des Südens vor allem durch ungelöste

Probleme wie massive Armut, Naturkatastrophen, Überbevölkerung,

ökonomische Instabilität, Arbeitslosigkeit, Epidemien sowie mangelnde

medizinische Versorgung, die besonders in Kriegs- und Krisenregionen zu

menschlichen Katastrophen wie Hunger, Verelendung, Obdachlosigkeit,

Gewalt, Vertreibung, zu Waisenkindern infolge von Konflikten oder von

Krankheiten wie AIDS und anderem führen. Bildung ist dort vorwiegend mit

der Hoffnung verbunden die Armut und Abhängigkeit zu überwinden, ist ein

Traum von einer besseren Zukunft für sich und für die eigenen Kinder. Doch

solange diese Problemlagen in hohem Maße bestehen, ist die Alphabetisierung

für viele unerreichbar und muss die Sicherung des Überlebens vor jeglichen

Bildungsbestrebungen, wie der Aneignung von Lesen, Schreiben und Rechnen

Vorrang haben.

In diesen Ländern zählt der überwiegende Teil der Menschen, die nicht

lesen und schreiben können, zu den primären Analphabeten, jedoch finden

sich auch sekundäre Analphabeten darunter, die ihre Kenntnisse aufgrund von

113 Giere, Ursula: Alphabetisierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 22. 114 vgl. Deutsche UNESCO-Kommission: Literacy for Life, S. 6. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006).

38

fehlenden schriftsprachlichen Anregungen und Anwendungsmöglichkeiten im

Alltag wieder eingebüßt haben.115

Zu den bereits genannten Ursachen kommen Benachteiligungen der

Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihres entlegenen Wohnortes, der

familiären Situation, wegen ihres Geschlechts, der Gefahren auf dem weiten

Schulweg, wegen der unzureichend vorhandenen, bzw. zu teuren Bildungs-

einrichtungen, der übervollen Klassen (60 bis 90 Kinder!), dem niedrigen

Niveau des Unterrichts, dem fehlenden116 oder nur wenig ausgebildeten und

zudem schlecht bezahlten Lehrpersonal, wegen nicht vorhandenen, unzeit-

gemäßen oder unpassenden Lehr- und Lernmaterialien bestehen und dadurch

den Kindern keinen oder nur einen bescheidenen Lernerfolg ermöglichen.117

Schule findet mancherorts statt in ausrangierten Fahrzeugen, auf Bahn-

höfen, unter freiem Himmel oder in desolaten Gebäuden, ohne Sessel und

Tische, ohne Schulbücher, ohne Tafeln, Hefte, Schreibstifte, Kreiden und

Bibliotheken. Es fehlen meist die finanziellen Ressourcen für den Ausbau von

gut ausgestatteten Schulen, für qualifiziertes Lehrpersonal und für geeignetes

Unterrichtsmaterial, von modernen Arbeitsgeräten wie dem eines Computers

ganz zu schweigen.

In vielen Ländern des Südens existieren teure (private) Ausbildungen für

die Elite, während viele Kinder gar nicht zur Schule gehen oder diese vorzeitig

beenden, weil ihre Eltern wirtschaftlich nicht in der Lage sind, die

Grundbildung für sie zu finanzieren. Sehr wohl aber bezahlen, nach

Untersuchungen von George Psacharopoulos, arme Familien in manchen

Ländern des Südens, aber auch in den Industriestaaten durch Steuer-

zahlungen die Hochschulen für die Nachkommen reicher Familien, in welchen

ihre eigenen Töchter und Söhne kaum Ausbildungen erhalten können.118

Nicht Lesen und Schreiben zu können ist in vielen Staaten des Südens

kein gesellschaftliches Stigma, das versteckt werden müsste, sondern

Analphabetismus ist ein Resultat der vorherrschenden Lebensbedingungen

großer Bevölkerungsteile, welche durch finanzielle, wirtschaftliche und soziale

115 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 116 Es fehlen z.B. in Afrika viele Lehrerinnen und Lehrer wegen AIDS. 117 Bei der Erwachsenenalphabetisierung gibt es ähnlich wie in der Primarbildung Probleme bezüglich Unterrichtsqualität, fehlendem Lehrpersonal und fehlenden geeigneten Unterrichtsmaterialien. Die Staaten fördern bevorzugt, auch unter dem Einfluss der Geldgeber, den Ausbau von Grundschulbildung für die Kinder und vernachlässigen oft die Erwachsenenbildung. 118 vgl. Psacharopoulos, George, zit. in: Lenhart, Volker 1993, S. 21.

39

Veränderungen, durch politischen Willen und gezielte globale Förderungen

durchaus verbessert werden könnten.

2.2 Die Anfänge der Alphabetisierung

Auch wenn einige Gesellschaften mit Hochkulturen bereits Schriftsymbole

hatten, war die Schriftsprachlichkeit in vielen Ländern eine Folge der

Kolonialisierung. Der Unterricht in den Schulen der verschiedenen Kolonien

wurde inhaltlich bestimmt durch die Sprache, Methode und dem Lehrplan der

anwesenden Kolonialmacht. Diese entschied, nach Tanja Sieber, außerdem

darüber, wer staatlichen Unterricht erhielt, mit dem Ziel eine „loyale Elite“

heranzubilden, die einerseits die Werthaltungen und kulturellen Lebensformen

der Kolonialherren übernahm und zudem „(...) in den Verwaltungen der

Kolonien eingesetzt werden konnte und bei ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung

half“.119

Oftmals waren es Missionare, die beauftragt wurden den Menschen den

fremden christlichen Glauben zu überbringen und ihnen Lesen und Schreiben

zu lehren. So wurde, wie Joachim Schroeder erwähnt, in Texcoco, Mexico

„1524 die erste Schule der Neuen Welt“ vom Franziskaner Pedro de Gante

eröffnet, welcher auch erstmalig eine Alphabetisierungsfibel in den Sprachen

„Latein, Spanisch und Mexica“ aufschrieb. Dem folgten Bestrebungen für die

Azteken und für die Maya die Bibel und den Katechismus in ihrer Sprache und

Schrift zu verfassen.120

Welche Vorstellung hatten die Kolonialmächte von den eroberten Völkern?

Lange Zeit vorherrschend war das Bild vom „’edlen Wilden’“, der erst durch

die Alphabetisierung zum Menschen wird.121 Ein Beispiel aus Neuguinea:

Im Wilden ist eben längst nicht alles wild. Der hiesige Inländer ist durchaus ein Mensch, wesentlich mit ganz denselben Anlagen und Fähigkeiten wie der Europäer. Nur ist er geistig und moralisch fast gänzlich verarmt, unentwickelt, verwahrlost und in die Sinnlichkeit untergetaucht.122

Diese Menschen wurden oft ebenso wie Kinder betrachtet und behandelt:

Durch langjährige Sorgen und Mühen haben die Missionäre schon schöne Erfolge unter den armen Indianern erzielt. Dies ist um so höher

119 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 14f. 120 vgl. Schroeder, Joachim: 500 Jahre Volkserziehung, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 12. 121 vgl. Genuneit, Jürgen: Tarzan, in: ISOTOPIA, 19/2000, S. 160. 122 Pater Limbrock, zit. in: St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 119.

40

anzurechnen, als die Erziehung und Belehrung dieser Naturkinder keineswegs immer leicht ist.123

Der von den Missionaren für die Erwachsenen vorbestimmte Unterricht

verlief manchesmal nicht wie erhofft. Ein Missionar auf Neuguinea schildert:

Im ersten Dorfe findet man einen Trupp alter Kanaken, welche im Begriffe sind, ein Schiff zu bauen. „Zur Schule!“ rufen wir ihnen zu. ‚Pamuem anoe kajem lapil!’ d.h. ‚Keineswegs, ich mache ein Schiff.’ – ‚Du kannst dein Schiff machen, wenn die Schule aus ist.’ Dies nützt noch wenig; endlich nimmt man einige beim Arme und zieht sie von der Arbeit; das hilft. Sie bringen ihre Werkzeuge nach Hause, was einige Minuten dauert. Aber man muß warten und sorgen, daß der Wille auch zur Tat wird. Nachdem sie sich noch eine Zigarre gedreht und in Brand gesteckt haben, entschließen sie sich endlich, unserem Rufe zu folgen. Ein anderer Trupp lagert um ein Feuer, Tabak essend. Aber wie viele Entschuldigungen hat man hier zu erwarten! Die ganze Gesellschaft bleibt ruhig liegen. Endlich nimmt man einige beim Schopf und zieht sie fort; es kommt Bewegung in die Masse und der Zug geht weiter. Inzwischen haben andere gemerkt, um was es sich handelt, und in einem günstigen Augenblick ist ein Teil in den Gebüschen wieder verschwunden. Nach langem Hin- und Herreden kommen wir endlich in der Schule an. Hier sind die Männer recht artig, zuweilen etwas zu still, wenn sie nämlich ihren Schlaf fortsetzen. Gerne hören sie von der Religion, wollen jedoch ihre heidnischen Gebräuche nicht fahren lassen. Drei Viertelstunden hatte ich ihnen von Gott und seiner Liebe gesprochen (sic!-G.G.) und als ich fragte, ob sie katholisch werden wollten, riefen alle einstimmig: ‚Ja!’. Nachdem sie aber gehört, daß sie diesen und jenen heidnischen Gebräuchen entsagen müßten, riefen sie auch ebenso laut: ‚Die Schule ist aus! Die Schule ist aus!’.124

Bevormundend, jedoch durchaus auch wohlwollend, wurden sie von vielen

Missionaren als unzivilisierte, unwissende, unmündige und daher belehrungs-

bedürftige Menschen gesehen, die wie beispielsweise Mexikos „(...) Indianer

durch die spanische Eroberung in jeder Weise gewonnen haben“. Sie konnten

so „gerettet und zu Bürgern erzogen“ werden.125 Im Gegensatz dazu

beschreibt Peter Stöger ein ihm bekanntes „Wandbild in Guadalajara in

Jalisco, Mexiko“, worauf man einen „’Pädagogen’ mit einer blutverschmierten

ABC-Rolle“ erkennen kann.126

Desgleichen waren, wie Tanja Sieber dargelegt, für die Portugiesien 1940

die Menschen der Kolonien erst „zivilisiert“, wenn sie „(...) Portugiesisch

sprechen, lesen und schreiben konnten, einen Beruf oder Besitz hatten, ‚gutes

Verhalten’ an den Tag legten, also ‚nicht die Gebräuche und Gewohnheiten

123 St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 234. 124 Pater Schleiermacher, zit. in: St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 133f. 125 vgl. ebd., S. 169. 126 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 53.

41

praktizierten, die ihre Rasse auszeichneten’, und (...) den Militärdienst

ablegten“.127

Die eroberten Völker hatten sich an den jeweiligen Zivilisationsstandard

der Kolonialmacht heranzubilden. Dieser Sichtweise widerspricht Peter Stöger

mit seiner „Kritik an Bildungsvorstellungen unter dem Aspekt der

Entwicklungsbedürftigkeit anderer(!) (...)“ zur eigenen „richtige(n) Bildung“

hin.128 Das ist eine nicht nur bei der Erziehung und Bildung in der Kolonialzeit

vorherrschende Auffassung. Er bemerkt ferner: „Was wissenswert ist und was

nicht, ist an Macht gebunden (...)“, damals wie heute. 129

Margarita Langthaler betont ebenfalls, dass durch die kolonialen Bildungs-

institutionen das bestehende Machtgefüge aufrecht erhalten wurde. Bildung

war, wenn überhaupt nur in dem Maße möglich, als sie für die Kolonialmacht

von Nutzen und Interesse war.130 Ein Gedicht von Gioconda Belli erzählt über

dieses Thema. Es trägt den Namen Quetzalcóatls Traum V:

Wer sind wir? Wer sind diese Männer, diese Frauen ohne Sprache, verspottet aufgrund ihrer Farbe, ihrer Haut, ihrer Federn und ihres Schmuckes wegen? Damit wir nur ihre Schriften lasen, verbrannten sie die unseren auf hohen Scheiterhaufen. Unsere Geschichte, unsere Dichtung, die Annalen unserer Völker, sie füllten mit Rauch uns die Höhlen der Augen, sie füllten mit Tränen unsere Eingeweide. Es brannten die Amátes, sorgsam von Schreibern bemalt. Es brannten die Geschichten, die uns zu dem gemacht, was wir waren. Wie heulten die Alten auf den Plätzen, als sie brennen sahen die Namen ihrer Väter im Feuer. Oh lange Nacht, Noche Triste der Asche. Nacht, in der wir unsere Hände verloren, unsere Sprache und unser Gedächtnis verwandelt in Sklaven, nachtwandelnde Schatten.131

Die Freiheit, erklärt Tanja Sieber, erreichten viele Kolonien erst nach dem

Ende des zweiten Weltkriegs. „’Bildung für alle’“, wurde in vielen Staaten zum

Inbegriff der erlangten Autonomie. Dieses Recht war zahlreichen Menschen

bislang durch die Kolonialregierungen vorenthalten worden. Grundschul-

127 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 14. 128 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 53. 129 vgl. ebd., S. 66. 130 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 155f. 131 Belli, Gioconda: Wenn du mich lieben willst 1993, S. 13.

42

bildung für alle Kinder wurde nun zugesichert. Die Staaten begannen Schulen

nach dem Beispiel der Kolonialmächte zu errichten, von welchen ihnen die

Loslösung erst kurz zuvor gelungen war. Durch Bildung erhofften die neuen

Staaten den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung zu schaffen,

um wiederum „(...) so zu werden wie die Länder des Nordens“.132

Der Ausbau der Grundschulbildung ließ die Einschulungsraten der Kinder

weltweit ab den 60er Jahren bis in die 80er Jahre enorm ansteigen. Viele

Universitäten wurden gegründet und zahlreiche Alphabetisierungsprogramme

und berufsorientierte Projekte angeboten. Durch die erworbenen Schrift-

sprachfertigkeiten und durch gute berufliche Ausbildung der Bevölkerung

sollten ökonomisch, politisch und sozial stabile Staaten entstehen mit

nationaler Identität und eigenständiger Kultur.

2.3 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato

In seiner Darstellung der Erwachsenenalphabetisierung führt Volker

Lenhart auch deren Geschichte anhand der Zeiteinteilung von Agneta Lind und

Anton Johnston (1990) an. Sie erstellten einen chronologischen Ablauf der

Alphabetisierungsbestrebungen in den Ländern des Südens, beginnend in der

Zeit vor 1945 mit zwei Persönlichkeiten, Frank C. Laubach und William S.

Gray. In den 30er und 40er Jahren alphabetisierte und missionierte Frank C.

Laubach Erwachsene in verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und

Lateinamerikas. Er veröffentlichte 1947 seine Erkenntnisse in dem Werk

„’Teaching the World to Read – a Handbook for Literacy Campaigns’“. Bekannt

wurde sein Motto „’each one teach one’“. Sein Konzept wird auch heute noch

angewendet. Der Methodiker William S. Gray beschäftigte sich mit dem

Prozess des Lesens und Schreibens, nachzulesen in seiner 1956 erschienenen

Arbeit „’The Teaching of Reading und Writing’“.133

In den Ländern des Südens, berichtet Gertrud Kamper, wurde 1945

geplant minimale Kenntnisse im „Denken, Sprechen, Zuhören, Rechnen,

Lesen und Schreiben“ in Form einer „fundamentalen oder Basisliterarität“

nach dem erfolgreichen europäischen Modell zu etablieren.134 Der Fokus der

„Elementarliterarität, Basisliterarität“ lag, nach Gitta Stagl, Johann Dvořak

und Manfred Jochum auf dem industriellen Nutzen Europas für den

132 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 17. 133 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 55. 134 vgl. Kamper, Gertrud: Analphabeten od. Illiterate, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 573.

43

Wiederaufbau nach 1945.135 Sie schreiben: „In den bewährten kolonialen

Mustern war die Dritte Welt der ‚andere Kontinent’. ‚Dort’ meinte man, die

Standards für Literarität festsetzen zu können“.136 Doch schon 1946 änderte

sich, nach Meinung der Autoren die Bedeutung des Begriffs und

„Elementarliterarität“ wurde zum „Recht auf Elementarbildung“ ausgedehnt.

Im Vordergrund standen nun die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden.

Diese Veränderung entsprach allerdings wieder einem „liberalen

Missionarsmodell“, weil der Lernbedarf vom Erzieher vorgegeben und nicht

selbstbestimmt war. Die Lernenden wurden als „zu unmündig“ gesehen, ihre

eigenen Bedürfnisse zu erfassen, darum musste ihnen „zur Entwicklung

verholfen werden“. Diese Vorstellung hielt sich lange Zeit und wandelte sich

erst vollständig mit dem Auftauchen des Konzepts der „funktionellen

Literarität“ während der 70er Jahre.137

2.3.1 1950 – 1960 Fundamental education

Die UNESCO dominiert seit dem Zeitpunkt ihrer Gründung 1945 die

Debatten und Entscheidungen innerhalb der globalen Alphabetisierungspolitik.

Von 1945 bis 1965 war, so berichten Agneta Lind und Anton Johnston in der

Darstellung von Volker Lenhart, die Alphabetisierung für die UNESCO ein

Element des internationalen Bildungsplans „’Grunderziehung (fundamental

education)’“, die damit vor allem in der Muttersprache erlernte „’Lese-Schreib-

Fertigkeit’“ noch ohne Rechnen, aber inklusive „’praktischer Fähigkeiten’“

meinte.138 Die UNESCO definierte 1958: „(…) a literate person is one who can,

with understanding, both read and write a short simple statement on his or

her everyday life”.139

Innerhalb der „’fundamental education’“ wurde, nach Volker Lenhart und

Martina Maier, die Alphabetisierung „als erster Schritt zur selbständigen

Entwicklung der Gemeinde und ihrer Bürger“ betrachtet. Aus einzelnen

Alphabetisierungsaktivitäten heraus sollte die Motivation zur eigenständigen

Entwicklung erwachsen. Nach dieser Vorstellung „(...) lernen die Menschen

Lesen und Schreiben erst, wenn sie selbst die Notwendigkeit dazu erkennen“,

135 vgl. Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred: Literatur Lektüre Literarität 1991, S. 5f. 136 ebd., S. 6. 137 vgl. ebd. 138 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 55. 139 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).

44

vor allem dann, wenn die Themen ihren „Bedürfnissen und Interessen“

entsprechen.140

Ein bedeutsames Ereignis für die globale Alphabetisierung war, wie der

Education for All-Global Monitoring Report (EFA-GMR) (2006) schildert, die

zweite Konferenz für Erwachsenenbildung in Montreal, Kanada, 1960. Dort

wurde eine weltweite Kampagne mit dem Vorhaben „to ‚eradicate illiteracy in

just a few years’“ vereinbart, die den nationalen Bemühungen der „developing

countries“ (finanziell) zur Hilfe kommen sollte. Unterstützung erhielt diese

Zielsetzung durch das Abkommen der UNESCO „Recommendation against

Discrimination in Education“(1960), dennoch waren die Aktivitäten, bis auf

einzelne nationale Kampagnen, gering.141 Eine Erklärung für den mäßigen

Erfolg gab Gunnar Myrdal, im Artikel von Volker Lenhart und Martina Maier,

mit seiner Beobachtung, dass „(...) die Erwachsenenbildung entweder völlig

vernachlässigt oder in etwas so ‚Praktisches’ verwandelt wurde, daß es nicht

mehr als ernsthafter Versuch der Alphabetisierung der Menschen gelten

kann“.142

2.3.2 1960 – 1970 Experimental World Literacy Programme

Wie aus dem EFA-Global Monitoring Report (2006) zu entnehmen ist,

wendete sich der Großteil der internationalen Organisationen in den 60er und

70er Jahren von Massenalphabetisierungskampagnen u.a. darum ab, weil

angenommen wurde, dass sie die Expansion des Kommunismus begünstigen

könnten. Bildungsmodelle, die entsprechend dem Grundgedanken der Human-

kapitaltheorie den wirtschaftlichen und nationalen Fortschritt ankurbeln

sollten, beeinflussten nun die weitere Entwicklung. Die Weltkonferenz der

Bildungsminister „Eradication of Illiteracy“ 1965 in Teheran brachte diese

neue Sichtweise ein und stellte das Modell der „functional literacy“ vor:

Rather than an end in itself, literacy should be regarded as a way of preparing man for a social, civic and economic role that goes beyond

140 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 484. 141 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 142 Myrdal, Gunnar, zit. in: Lenhart, Volker; Maier, Martina 1994, S. 484f.

45

the limits of rudimentary literacy training consisting merely in the teaching of reading and writing.143

Neben der Konzentration auf die männliche Bevölkerung fällt in der

Erklärung besonders auf, dass nicht mehr die lernende Bevölkerung im

Mittelpunkt der Alphabetisierungsbemühungen steht, sondern die soziale und

wirtschaftliche Entwicklung der Länder. Funktionalität war ursprünglich nicht

nur mit ökonomischen Interessen verbunden. Gitta Stagl, Johann Dvořak und

Manfred Jochum erklären: „Funktionell ist, was für die Bedürfnisse brauchbar

ist“.144 Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa wurde aber die

funktionale Alphabetisierung vor allem ökonomischen Erfordernissen

untergeordnet. Die Autoren betonen: „Da diejenigen, die literat werden

sollten, die ökonomischen Ziele nicht selbst festgelegt hatten, blieb diese

Funktionalität ein Unterwerfungsakt unter vorgegebene mächtige Wirtschafts-

interessen“.145

Das „Experimental World Literacy Programme (EWLP)” begann im Jahr

1967. Bis 1973 wurden in elf Staaten nach dem Alphabetisierungskonzept der

„functional literacy“ vor allem arbeitsrelevante Kenntnisse und Fertigkeiten

vermittelt. Doch brachte das EWLP geringere Ergebnisse als zuvor

angenommen.146 Eine Erklärung für den Misserfolg bietet Eva Kohl. Wegen der

„zu selektiven Auswahl der TeilnehmerInnen“ für das „’vocational training’“

wurden diejenigen Menschen favorisiert, die bereits in einem

„Produktionsprozeß (...) teilnahmen; die ’Elite der Armen’“, die Land- und

Arbeitslosen aber wurden abgewiesen.147 Unterschiedlich dazu begründen

Volker Lenhart und Martina Maier den weitgehenden Fehlschlag des EWLP:

Die von internationalen Organisationen durchgeführte Alphabetisierung und Entwicklungszusammenarbeit kann nicht erfolgreich sein, wenn sie die politischen und sozialen Gegebenheiten des jeweiligen Landes vernachlässigt.148

143 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 144 Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred: Literatur Lektüre Literarität 1991, S. 6. 145 ebd. 146 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 147 vgl. Kohl, Eva: Bildung und Entwicklung, in: SCHULHEFT, 59/1990, S. 39. 148 Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 486.

46

2.3.3 1970 – 1980 Paulo Freires Befreiungspädagogik

In Polarität zu der mit wirtschaftlichen Wachstum verknüpften

funktionalen Alphabetisierung entstand in den 60er Jahren durch Paulo Freire

in Brasilien ein Alphabetisierungsmodell mit emanzipatorischem Ansatz,

welches von vielen Seiten enorme Beachtung und Zustimmung erhielt. Paulo

Freire wird im 3. Kapitel dieser Arbeit vorgestellt.

Innerhalb der Geschichte der Erwachsenenalphabetisierung von Volker

Lenhart legen Agneta Lind und Anton Johnston den weiteren Verlauf wie folgt

dar. Mit dem Symposion in Persepolis, Iran, 1975 fand eine Abkehr statt, von

der „vorwiegenden ökonomisch-funktionalen Orientierung“ hin zur Stärkung

einer „politische(n), kulturelle(n) und auf Persönlichkeitsentwickung

bezogene(n) Bedeutung von ‚Literacy’“.149 Die Pesepolis-Deklaration wurde

von Paulo Freires Theorien sehr beeinflusst:

... to be not just the process of learning the skills of reading, writing and arithmetic, but a contribution to the liberation of man and to his full development. Thus conceived, literacy creates the conditions for the acquisition of a critical consciousness of the contradictions of society in which man lives and of its aims; it also stimulates initiatives (sic!-G.G.) and his participation in the creation of projects capable of acting upon the world, of transforming it, and of defining the aims of an authentic human development. It should open the way to a mastery of techniques and human relations. Literacy is not an end in itself. It is a fudamental (sic!-G.G.) human right.150

Letztlich aber orientierte sich, wie Armin Triebel anführt, die UNESCO an

einem Alphabetisierungsansatz mit Schwerpunkt auf dem Training von

Fertigkeiten, der eher wieder dem Konzept der “functional literacy” entsprach,

als den gesellschaftlichen und politischen Wandel zu unterstützen.151 1978

veröffentlichte die UNESCO eine bis heute gültige Definition von “functional

literacy”, die lautet:

A person is functionally literate who can engage in all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and community and also for enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the community´s development.152

149 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 56. 150 Pesepolis-Deklaration, zit. in: Lenhart, Volker; Maier, Martina 1994, S. 488. 151 vgl. Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 795. 152 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 154. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).

47

2.3.4 1980 – 1990 Campaining for Literacy

Der wirtschaftliche Einbruch bewirkte in den 80er Jahren eine Stagnation,

bzw. Rückläufigkeit bei den erreichten Fortschritten im Bildungsbereich. Wie

Margarita Langthaler schreibt, verlangten die internationalen Finanzgeber

„Strukturanpassungsprogramme“ mit kräftigen Sparmaßnahmen im

öffentlichen Sektor, meist als Voraussetzung für den Erhalt weiterer Kredite.

Als Folge davon gingen die Einschulungszahlen in vielen Länden des Südens

aufgrund von Einsparungen in der Primarschulbildung, beim Lehrpersonal und

durch die (neuerliche) Einhebung von Schulgeldern wieder zurück.153

Noch schlechter kam es für die Alphabetisierung und Grundbildung

Erwachsener und die Institutionen höherer Bildung. Für den Nutzen des

Wirtschaftswachstums wurde, so die Autorin, den Staaten nahegelegt bzw. bei

Kreditvergaben auch vorgeschrieben ihre politische und finanzielle Förderung

auf den Primarschulbereich zu reduzieren. Die globalen Finanzinstitutionen

begründeten diesen Schritt durch ihre Berechnungen auf Basis des

Humankapitalansatzes, die ergaben, dass diese Investitionen ökonomisch den

größten Erfolg versprachen.154

In der Konferenz „’Campaining for Literacy’“ hingegen, die 1982 in

Udaipur, Indien, abgehalten wurde, galt nach Volker Lenhart und Martina

Maier der globale Analphabetismus als ernstes „’Zeichen mangelnder

Entwicklungschancen’“ vieler Staaten, welches ihren sozialen und

ökonomischen Aufstieg gefährdet. Die damals angestrebte Lösung lautete:

„’Ausrottung des Analphabetismus bis zum Jahr 2000’“ in Verbindung mit

„’sozialer Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut und Überwindung von

Ungerechtigkeit’“ durch die Organisation von „’Massenkampagnen’“. Als erster

bedeutender Schritt und als Symbol der staatenverbindenden Gemeinschaft

einigten sich die Teilnehmenden auf die Durchführung eines

Alphabetisierungsjahres.155

Das Verständnis von „literacy“ wurde, nach dem Bericht des EFA-Global

Monitoring Reports (2006) gegen Ende der 80er Jahre entsprechend der

Erfordernisse der Globalisierung und des technisch/medialen Fortschritts

weiter ausgedehnt. Aus einer in dem Bericht erwähnten Zusammenkunft zum

153 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 157. 154 vgl. ebd., S. 158. 155 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 489f.

48

Thema „Literacy in Industrialized Countries“ (1987) in Toronto stammt

folgende Definition: „Literacy is more than the ability to read, write and

compute. The demands created by advancing technology require increased

levels of knowledge, skills and understanding to achieve basic literacy.“156

Diese Zeit war nach der Einschätzung von Agneta Lind und Anton

Johnston, dargestellt durch Volker Lenhart, von einer „Diversifizierung der

Alphabetisierungsansätze“ und den intensiven Bemühungen um „Nach-

Alphabetisierung (Post-Literacy)“ geprägt. Das drückte sich in mannigfachen

Organisationsformen (staatliche Kampagnen, Maßnahmen durch NGOs bzw.

der Zivilbevölkerung initiert), den verfolgten Zielsetzungen, den dazu-

gehörenden theoretischen Annahmen und Weltanschauungen, der Wahl der

Zielgruppe, Sprache, Methode u.a.m. aus.

Diese Vielfalt der Ansätze sollte 1990 während des „internationalen

Alphabetisierungsjahres“ durch die Weltbildungskonferenz „‚Bildung für Alle’“

in Jomtien, Thailand, wieder verdichtet werden. Vorrangiges Ziel war es, die

Alphabetisierung mittels einer zweigeteilten längerfristigen Strategie

voranzubringen: Sowohl die Grundschulbildung für alle Kinder, um

Analphabetismus vorzubeugen, als auch die Alphabetisierung und

Grundbildung für Jugendliche und Erwachsene galt es zu fördern. Von den

Bildungsmaßnahmen besonders profitieren sollten: Mädchen und Frauen,

Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, die Landbevölkerung sowie andere

benachteiligte und marginalisierte Gruppen.157

2.3.5 1990 – 2000 Education for All/International Literacy Year

Grundbildung (basic education) war das zentral erörterte Thema in der

Konferenz von Jomtien 1990. Eine „erweiterte Vision“158 von Grundbildung,

die durch ein umfassendes qualitätsvolles Bildungsprogramm die notwendigen

Lernbedürfnisse aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, in und

außerhalb der Schule vom ersten bis zum letzten Atemzug abdeckt,

unterscheidet sich in vielen Punkten von der herkömmlichen Vorstellung von

Grundbildung. Rosa María Torres und José Luis Corragio erstellten dazu

folgendende Übersicht:

156 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 154. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 157 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 56f. 158 vgl. Die Weltbildungskonferenz von Jomtien 1990, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 48.

49

Die Bedeutung von Grundbildung

die engere, konventionelle Auffassung von Grundbildung

die weitere Auffassung von Grundbildung die „Vision“ von Jomtien

Richtet sich an Kinder. Richtet sich an Kinder Jugendliche und Erwachsene.

Findet in der Schule statt. Findet in und außerhalb der Schule statt. Ist begrenzt auf eine bestimmte Lebensphase.

Ist lebenslang – beginnt mit der Geburt.

Ist identisch mit Primarschule oder mit einem vorab definierten Grad von Erziehung.

Richtet sich nicht nach der Anzahl der Schuljahre oder der Zeugnisse, sondern nach dem, was tatsächlich gelernt worden ist.

Bezieht sich auf den Unterricht bestimmter Fächer.

Bezieht sich auf die Befriedigung grundlegender Lernbedürfnisse bzw. die Vermittlung grundlegender Kenntnisse und Kompetenzen.

Anerkennt nur einen Typ von Wissen als gültig: das in der Schule erworbene Wissen.

Anerkennt jede Form von Wissen auch das traditionale überlieferte Wissen.

Grundbildung ist für alle gleich. Grundbildung ist unterschiedlich, da die grundlegenden Lernbedürfnisse und die Befriedigung dieser Lernbedürfnisse sich nach Gruppen und Kulturen unterscheiden.

Ist statisch. Wechsel findet nur statt als periodische Schul- und Lehrplanreform.

Ist dynamisch und ändert sich mit der Zeit. Die Reform ist permanent und immanent.

Die Anbietenden, d. h. die Institutionen, das Schulsystem, die Administration bestimmen den (schulischen) Inhalt und die Methoden.

Der tatsächliche Bedarf der Lernenden, ihrer Familien, ihrer Gesellschaft bestimmen Inhalt und Methode.

Akzent auf dem Lehren. Akzent auf dem Lernen. Die Verantwortung liegt beim Erziehungs- ministerium. Grundbildung als Sektor unter sektoraler Verantwortung.

Bezieht alle Ministerien und Regierungsstellen mit ein, die sich in irgend einer Form mit Bildung befassen, macht eine multisektorale Politik erforderlich.

Unter Verantwortung des Staates. Verantwortlich ist der Staat und die ganze Gesellschaft. Verlangt Konsensbildung und Koordination aller Aktionen.

Tabelle 1: Die Bedeutung von Grundbildung.159

Oberstes Ziel der Bildungsinitiative „Education for All“ ist nach den

Ausführungen von Josef Müller: „(...) ein besseres Leben für alle, das sich auf

Werte von Kultur und Zivilisation, auf menschliche Grundrechte und auf

Verantwortung gründet“.160 Um diese universale Grundbildung zu

verwirklichen wurden von den teilnehmenden Staaten und Organisationen

folgende Ziele verabschiedet, die der Autor auflistet:

159 Torres, Rosa M.; Corragio, José L.: Die Bedeutung von Grundbildung, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 186. 160 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 15.

50

1. Ausbau der frühkindlichen Erziehung und Entwicklung

2. Allgemeine Schulbildung bis zum Jahre 2000

3. Verbesserung der Lernergebnisse und des Bildungsniveaus

4. Verringerung der Analphabetenrate um etwa die Hälfte bis zum Jahr 2000. Der Alphabetisierung von Mädchen und Frauen sollte dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden

5. Weiterer Ausbau von Einrichtungen und Programmen der Grund-bildung, um Jugendlichen und Erwachsenen lebenspraktische und einkommenssichernde Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln

6. Vermittlung von Wissen, Qualifikationen und Wertvorstellungen über moderne und traditionelle Medien zur Verbesserung von Lebensqualität und Entwicklung161

Alle Menschen jeden Alters sollen durch eine ausgedehnte Konzeption von

Grundbildung lernen können, was sie für ihr Leben brauchen. Diese

grundlegenden Lernbedürfnisse (basic learning needs)162 umfassen nach

Einschätzung der anwesenden Expertinnen und Experten, in der Kurzfassung

von Josef Müller:

die grundlegenden Lernwerkzeuge wie

- Lesen, Schreiben und Rechnen, - mündliche Ausdrucksfähigkeit und problemlösendes Denken

sowie die grundlegenden Lerninhalte,

also Wissen, Fertigkeiten, Wertvorstellungen und Einstellungen, die Menschen brauchen,

- um zu überleben, - ihre Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, - in Würde zu leben und zu arbeiten, - am Entwicklungsprozess teilzunehmen, - ihre Lebensqualität zu verbessern, - informierte Entscheidungen zu treffen und - den Lernprozess fortzusetzen.163

Dem ungeachtet beschränkten die meisten Länder des Südens ihre

Bildungsaktivitäten darauf „mehr Kinder in die Schule zu schicken“, wie im

nachfolgenden Treffen von Amman, Jordanien, 1996 kritisiert wurde.164

Erneut stellten die nationalen Regierungen und internationalen Organisationen

in „developing countries“ die Primarbildung als „most cost-effective

investment in education“ voran, während, wie Agneta Lind akzentuiert,

161 Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 14. 162 Siehe „Basic learning needs” im 1. Kapitel und die Deklaration 1.1. im Anhang. 163 Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 15. 164 vgl. Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 57.

51

ironischerweise zeitgleich das lebenslange Lernen Erwachsener in „’developed’

countries“, als Forderung des Arbeitslebens und der Weltwirtschaft propagiert

wurde.165 Durch die Reduktion auf die Primarschulbildung entsteht, nach

Einschätzung von Margarita Langthaler, jedoch eine „(...) Verfestigung der

gegenwärtigen Arbeitsteilung auf globaler Ebene, die den armen Ländern die

Rolle eines Pools von billigen, gering ausgebildeten und flexiblen

Arbeitskräften zuschreibt.“166 Gegen Ende der 90er Jahre wandelte sich im

Rahmen der Debatten über die „Wissensgesellschaft“, in welcher „Wissen als

wesentliches Kapital“ betrachtet wird, die Bildungspolitik der internationalen

Gemeinschaft in den Ländern des Südens dahingehend, dass diese nun auch

die höhere Bildung zu unterstützen bereit waren.167

2.3.6 2000 – 2015 Education for All

Gab es, wie Rosa María Torres berichtet, in Jomtien noch hoffnungsvolle

Aufbruchsstimmung und Zuversicht, dass sich durch das neue Grundbildungs-

konzept nun endlich beachtliche globale Erfolge abzeichnen werden, kehrte

während des Weltbildungsforums (2000) in Dakar, Senegal, dagegen große

Ernüchterung ein.168 Dort wurden die Ergebnisse der „Jomtien-Dekade“169

präsentiert und analysiert. Es wurden in vielen Ländern enorme Fortschritte

erreicht, jedoch konnte kein einziges Vorhaben zur Gänze verwirklicht

werden.

Vor allem im Primarschulbereich170 gab es erkennbare quantitative

Verbesserungen bei den Einschulungsraten, während die außerschulischen

Bildungsprogramme von Jugendlichen und Erwachsenen allgemein weitgehend

unbeachtet blieben. Der EFA-Global Monitoring Report (2006) bemerkt dazu:

„The unfounded idea that primary education is more cost effective than youth

and adult literacy programmes proved partly a self-fulfilling one“.171

Josef Müller führt u.a. folgende Ursachen für das überwiegende Scheitern

165 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168f. 166 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 159. 167 vgl. ebd. 168 vgl. Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 213. 169 vgl. ebd., S. 211. 170 Dauert je nach Land von der ersten bis zur sechsten, siebten oder achten Klasse. 171 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 28. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).

52

des Aktionsplans von Jomtien an: Die nicht vorhandene Demokratisierung, die

mangelhafte Fachkompetenz bei Bildungspolitik und –maßnahmen, die

unzureichende „Kontinuität und Kohärenz“ besonders bei den nonformalen

Bildungsangeboten, die ungenügenden und autoritären Lehrmethoden, die

belanglosen Inhalte in teilweise unbekannten Unterrichtssprachen, dem

weitgehenden Ausschluß der Mädchen und Frauen von Bildungsprogrammen,

sowie die bestehende Ressourcenverknappung, welcher „Misswirtschaft und

Korruption“ gegenüberstehen.172

Die umfassende Vision von Grundbildung, wie sie in Jomtien als Bildung

für Alle entwickelt wurde, war nach wie vor das maßgebliche Leitbild, wenn

auch die vergangenen 10 Jahre dieses erheblich geschmälert hatten. Damals

wurde Grundbildung entworfen als die Erfüllung der grundlegenden

Lernbedürfnisse aller Menschen durch formale, nonformale und informale

Bildungswege über die gesamte Lebensspanne. Nach Rosa María Torres

Darstellung wurde seither in der Praxis die Bildung für Alle auf die Bildung der

„Ärmsten der Armen“ begrenzt, „da die ‚bloß’ Armen ohnehin in der Mehrheit

sind und ihre Anzahl weltweit wächst“. Auch wurden, ihren Ausführungen

zufolge, die notwendigen Lernbedürfnisse in „Inhalt, Kontext und Umfang“ auf

Kindheit, Mädchen und Primarschule reduziert. Sie folgert pointiert daraus,

dass mit Bildung für Alle bei weiterer Abnahme bald nur noch die „Erziehung

der (ärmsten) Mädchen!“ gemeint sein könnte.173

Die am Weltbildungsforum in Dakar teilnehmenden Staaten vereinbarten

sechs, im Vergleich zu Jomtien leicht veränderte Ziele bis 2015 auszuführen,

wovon zwei ebenfalls in die UN-Millenniums-Entwicklungsziele aufgenommen

wurden:

Ziel 1: Die Vorschulbildung soll ausgebaut und verbessert werden, insbesondere für die am stärksten gefährdeten und benachteiligten Kinder.

Ziel 2: Bis 2015 sollen alle Kinder – insbesondere Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und Kinder, die zu ethnischen Minderheiten gehören, - Zugang zu unentgeltlicher, obligatorischer und qualitativ hochwertiger Grundschulbildung erhalten und diese auch abschließen. Ziel 3: Die Lernbedürfnisse von Jugendlichen sollen durch Zugang zu Lernangeboten und Training von Basisqualifikationen (life skills) abgesichert werden.

172 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 17. 173 vgl. Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 210f.

53

Ziel 4: Die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen, besonders unter Frauen, soll bis 2015 um 50% erhöht werden. Der Zugang von Erwachsenen zu Grund- und Weiterbildung soll gesichert werden.

Ziel 5: Bis 2005 soll das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarbildung überwunden werden. Bis 2015 soll Gleich-berechtigung der Geschlechter im gesamten Bildungsbereich erreicht werden, wobei ein Schwerpunkt auf der Verbesserung der Lernchancen für Mädchen liegen muss.

Ziel 6: Die Qualität von Bildung soll verbessert werden. 174

UN-Millenniums-Entwicklungsziele:

Ziel 2: Allen Kindern Grundschulbildung ermöglichen

Unterziel 3: Bis 2015 sicherstellen, dass Kinder überall auf der Welt, Jungen und Mädchen gleichermaßen, eine Grundschulbildung abschließen können

Ziel 3: Gleichberechtigung der Geschlechter sowie politische, wirtschaftliche und soziale Beteiligung von Frauen fördern, besonders im Bereich der Ausbildung

Unterziel 4: Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundar-bildung vorzugsweise bis 2005, und auf allen Bildungsstufen bis 2015 beseitigen175

Kritik an der stark funktionalen Ausrichtung dieser Ziele äußerte Josef

Müller. Bildung sei mehr als „Nützlichkeit und Verwertbarkeit“ von

„praxisrelevante(n) Kenntnisse(n) und Fertigkeiten“. Den Bedarf zu erheben

sei zuwenig, oft „(...) muss man ihn zuerst wecken, sofern man noch eine

Konzeption von Bildung hat und diese auch vertreten will“.176

Die Koordinierung der gemeinsamen Anstrengungen wurde der UNESCO

übertragen. Alle Länder sollen selbst „nationale Aktionspläne“ bis 2002

ausarbeiten, die die Umsetzung der Zielvereinbarungen sicherstellen. Diese

Pläne bilden die Grundlage für die globale Förderung durch internationale

Organisationen und Finanzinstitutionen. Die Teilnehmenden des

Weltbildungsforums in Dakar gaben eine wichtige finanzielle Zusicherung:

„Wir bekräftigen, dass kein Land mit ersthaftem politischem Willen zur

Verwirklichung der Bildung für Alle am Mangel an Ressourcen scheitern

sollte“.177

174 Deutsche UNESCO-Kommission: EFA Global Monitoring Report 2006, S. 3. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006). 175 ebd. 176 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 18. 177 Das Weltbildungsforum 2000, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 43.

54

Verstärkte Bildungsaktivitäten setzten die Staaten seit 2000 bei den EFA-

Zielen 2 (Grundschulbildung für alle), 5 (Gleichberechtigung der Geschlechter)

und 6 (Bildungsqualität). Die drei EFA-Ziele 1 (Frühkindliche Betreuung), 3

(Lernangebote für Jugendliche und Erwachsene) und 4 (Alphabetisierung von

Erwachsenen) blieben, nach Auswertung des EFA-Global Monitoring Reports

(2006), eher unberücksichtigt.178 Diese Aktivitäten richten sich nicht nur an

einzelne Individuen. Alle EFA-Zielsetzungen zusammen stellen vielmehr ein

ganzheitliches Bildungskonzept dar, welches als generelle Intention die

Entstehung von „literate societies“ ermöglichen soll. Die UNESCO definiert:

Literate society. A society within which (a) the vast majority of the population acquires and uses basic literacy skills; (b) major social, political and economic institutions(e.g. offices, courts, libraries, banks) contain an abundance of printed matter, written records and visual materials, and emphasize the reading and writing of texts; and (c) the exchange of text-based information is facilitated and lifelong learning opportunities are provided.179

Die EFA-Ziele wurden in einen dreigeteilten methodischen Ansatz

eingefügt. Dieser umfasst: „(...) assuring quality schooling, scaling up literacy

programmes for youth and adults, and developing literate environments.“180

Reichhaltige und anregende alphabetisierte Umgebungen sind von großem

Einfluss für das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen und

unentbehrlich für die Weiterentwicklung und das Behalten der neuen

Fertigkeiten im täglichen Gebrauch.181 Darunter versteht die UNESCO:

Literate environment. A rich literate environment is a public or private milieu with abundant written documents (e.g. books, magazines, newspapers), visual materials (e.g. signs, posters, handbills), or communication and electronic media (e.g. radios, televisions, computers, mobile phones). Whether in households, neighbourhoods, schools or workplaces, the quality of literate environments affects how literacy skills are acquired and practised.182

178 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 28. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 179 ebd., Glossary. 180 vgl. ebd., S. 215. 181 vgl. Alphabetisierung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 152. 182 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report, Glossary. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43385&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (25.01.2007).

55

2.3.7 2003 - 2012 United Nations Literacy Decade

Mit der United Nations Literacy Decade (UNLD) wurde eine zusätzliche

Maßnahme gestartet, die Alphabetisierung als zentrales Element

grundlegender Lernbedürfnisse innerhalb der globalen Initiative Bildung für

Alle zu fördern. Die Dekade wird von der UNESCO koordiniert und enthält

folgende Ziele:

- making significant progress towards Dakar Goals 3, 4 and 5;

- enabling all learners to attain a mastery level in literacy and life

skills; - creating sustainable and expandable literate environments; and

- improving the quality of life.183

Über die oben angeführten Ziele hinausgehend, lauten die grundlegenden

Intentionen aus der United Nations Resolution on Literacy Decade:

Reaffirms that literacy for all is at the heart of basic education for all and that creating literate environments and societies is essential for achieving the goals of eradicating poverty, reducing child mortality, curbing population growth, achieving gender equality and ensuring sustainable development, peace and democracy;184

Die Weltdekade setzt sich vor allem für „Frauen und gesellschaftliche

Randgruppen“ ein und intensiviert ihre Aktivitäten speziell in Ländern, die die

höchsten Analphabetenraten aufweisen. Der Aktionsplan orientiert sich an den

länderspezifischen Gegebenheiten und soll alle Partner, besonders auch aus

dem zivilen und wirtschaftlichen Bereich mit einbinden.185 Er beinhaltet:

1. Politikwandel zur Stärkung von Alphabetisierungsprogrammen

2. Aufbau flexibler, auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmter Programme mit qualifizierten Trainern

3. Aufbau einer geeigneten Infrastruktur (Planung, Management, Forschung und Dokumentation, Curriculum- und Materialentwicklung)

4. Verstärkung der Forschung, um zu verlässlichen Grundlagen für Bildungsprogramme zu kommen

5. Beteiligung der Betroffenen, Aufbau von lokalen Lernzentren und Vernetzung der Angebote

183 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 155. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 184 United Nations: Resolution 56/116, S. 3. (Homepage) URL: www.unesco.org/education/pdf/un_decade_literacy/un_resolution.pdf (22.06.2008). 185 vgl. Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006).

56

6. Monitoring und Evaluation: Entwicklung besserer Indikatoren für die Messung von Alphabetisierungsfortschritten186

2.3.8 2005 – 2015 Literacy Initiative For Empowerment

Die globale Literacy Initiative For Empowerment (LIFE) der UNESCO ist

mit der Literacy Decade verknüpft. LIFE bietet den 35 teilnehmenden Staaten

konkrete Unterstützung bei der nationalen Planung und Verwirklichung der

Ziele des Programms Education for All an. Durch LIFE sollen im Rahmen der

Literacy Decade in den Ländern die literacy „learning opportunities“ für

Erwachsene, besonders für Frauen, erhöht werden.187

2.3.9 Gegenstimmen

Kritische Stimmen gegen Alphabetisierungsinitiativen wurden nach

Berichten von Volker Lenhart beispielsweise aufgrund der aggressiven

Formulierungen der Fachleute laut, die wenig sensibel auf die Anliegen der

Teilnehmenden reagierten. Wenn von der „Bekämpfung oder Ausrottung des

Analphabetismus“ gespochen wird, kann dies leicht zur missverständlichen

Annahme führen, dass hier die Betroffenen selbst bekämpft werden sollen. In

eine ähnliche Richtung geht auch der nächste Kritikpunkt, der die latent

vorhandene soziale Erniedrigung durch die implizite Idee: „’Analphabeten =

Menschen in Unwissenheit = nationale Demütigung oder Schande’“

aufgreift.188 Volker Lenhart führt auch Gegenstimmen an, die die

Vorrangigkeit der Alphabetisierung bezweifeln. Schritte zur Verbesserung und

Erweiterung der bestehenden Infrastruktur vor Ort, wie „Straßenbau,

Wasserversorgung, Hausbau, Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge,

Sicherung der medizinischen Versorgung“ sind nach Meinung der Kritiker

höher einzuschätzen und können auch von Menschen ohne Schriftsprach-

kenntnisse bewältigt werden. Zusätzliche Einwände beziehen sich einerseits

auf die Bedeutung der schriftunabhängigen Verständigung für Millionen von

Menschen in nichtliteraten Gesellschaften, die nicht unterschätzt werden

sollte, und auf die „kulturelle Entfremdung“, die Alphabetisierungsmaßnahmen

auslösen könnten.189

186 Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 187 vgl. UNESCO: LIFE – Objectives. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=54413&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (22.06.2008). 188 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 50f. 189 vgl. ebd., S. 52f.

57

2.4 Alphabetisierung von Mädchen und Frauen

Die gezielte Förderung von Mädchen und Frauen hat höchste Priorität im

Aktionsplan von Education for All. Denn gleich drei der sechs EFA-Ziele, Nr. 2

(Grundschulbildung für alle), Nr. 4 (Alphabetisierung von Erwachsenen) und

Nr. 5 (Gleichberechtigung der Geschlechter), sind ausdrücklich ihnen

gewidmet. Ob diese Ziele bis 2015 global auch erreicht werden können, ist

jedoch fraglich und eines davon, die Benachteiligung von Mädchen in der

Primar- und Sekundarbildung bis 2005 aufzuheben, wurde bereits verfehlt.190

Ungeachtet der konstanten Fortschritte führen, laut EFA Global Monitoring

Report, nach wie vor Frauen (über 15 Jahre) mit 64% die Analphabetenraten

an.191 Ebenso gehen mehr Mädchen (55%) als Burschen nicht zur Schule.192

Bildungsbenachteiligt sind heutzutage Mädchen vor allem „in den arabischen

Staaten, Süd- und Westasien sowie Afrika südlich der Sahara“.193 Auch das

Millenniums-Entwicklungsziel Nr. 3 fördert Frauen. Dort heißt es:

Literacy is a fundamental skill to empower women to take control of their lives, to engage directly with authority and give them access to the wider world of learning. Educating women and giving them equal rights is important for many reasons: it increases their productivity …, it promotes gender equality …, educated women do a better job caring for children …194

Geschlechterspezifische Analysen zeigen, dass die Mädchen und Frauen

diskriminierenden Ungleichheiten bei den Bildungschancen in manchen

Regionen und Ländern, aber auch in bestimmten Altersschichten (15 bis 24

Jahre) oft nicht mehr bestehen oder sich sogar umkehren, wie Agneta Lind

berichtet. Derzeit melden sich für zahlreiche Alphabetisierungsprogramme in

vielen Staaten, wie z.B. Spanien, Bolivien und Namibia, mehr Frauen als

Männer an, wodurch Überlegungen notwendig werden, wie nun die

Partizipation der männlichen Bevölkerung wieder gesteigert werden kann.

Natürlich ist die Anhebung der Anmeldezahlen allein als Maßstab für eine

geschlechtergerechte Teilhabe von Mädchen und Frauen in der Schul- und

Erwachsenenbildung nicht ausreichend und lässt ihre, meist durch Armut

190 Nur in 55 von insgesamt 149 Ländern, für die Daten zur Verfügung standen, wurde diese Vereinbarung eingelöst. 191 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 67. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 192 vgl. ebd., S. 47. 193 vgl. Deutsche UNESCO-Kommission: EFA Global Monitoring Report 2006, S. 5. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006). 194 The millineium development goal 3, zit. in: Lind, Agneta 2006, S. 169.

58

ausgelösten, häufigen Ausfälle und Abbrüche vollkommen unbeachtet.195

Ebenso ist wegen bestehenden Qualitätsmängeln nach dem regulären Ende

der Schulbildung nicht gesichert, dass ausreichende Kenntnisse und

Fertigkeiten erworben wurden. Gemessen an den Einstiegszahlen wird das

Ziel „gender equality” dann zu „parity and not equality“, so die Autorin, denn

„(…) empowerment in its various meanings - psychological, social, economical

and political – is often forgotten in programmes not specifically aiming at

empowerment of women”.196

So ist, nach Erfahrung von Agneta Lind, im Rahmen der Alphabetisierung

und Grundbildung für den Erfolg entscheidend, die verschiedenen Motive,

Bildungsziele und die derzeitigen Lebenssituationen von beiden, von Frauen

und Männern unterschiedlichen Alters, besonders zu berücksichtigen.197 Dies

wird notwendig, weil die Interessen, Bedürfnisse und Lebensumstände von

Mädchen und Frauen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext nicht automatisch

auch mit den Wünschen, Anliegen und den Lebensbedingungen der

männlichen Bevölkerung, mit den Erfordernissen der Wirtschaft oder des

Staates übereinstimmen. Diese werden, nach Agneta Lind, von globalen

wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geformt, die zugleich

Erschütterungen in den Geschlechterbeziehungen und –rollen, in den

familiären Konstellationen und den Arbeitsbedingungen auslösen, bzw. einen

zunehmenden Mangel an Arbeitsplätzen hervorrufen.198 Sie schreibt:

To meet both women´s and men´s needs and motivations, it is necessary to know what they do for a living and understand the consequences of growing unemployment and changing gender relations. Employed people, especially men, often have better opportunities to engage in organized learning and training than unemployed women and men.199

2.4.1 Beweggründe und Hindernisse

Es gibt viele Gründe, sich für die Bildung der weiblichen Bevölkerung

einzusetzen. Das war aber nicht immer so, wie Annette Backhaus berichtet.

Erst in den 70er Jahren boten die internationalen Organisationen den Frauen

mehr als Handarbeits- und Kochkurse an. Über die Alphabetisierung und

195 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 170f. 196 vgl. ebd., S. 169. 197 vgl. ebd., S. 172. 198 vgl. ebd., S. 173. 199 ebd., S. 172.

59

Grundbildung von Frauen wurde ein neuer Weg gefunden, die wachsende

Armut und Not der Bevölkerung zu lindern. Frauen wurden von den globalen

Organisationen als „’Entwicklungsressource’“ erschlossen200, speziell seitdem,

so Ursula Giere, ein „(…) Zusammenhang zwischen der Alphabetisierung von

Frauen und der Gesundheit und dem Bildungsniveau ihrer Kinder“ deutlich

wurde.201 Bekannt gemacht wurde diese Veränderung durch Slogans wie: "If

you educate a man, you educate one person. But if you educate a woman,

you educate an entire family"202 von Lucha Corpi oder auch „Educate a woman,

you educate a nation,“203 wie auf einem Alphabetisierungsplakat zu lesen war.

Sie wurden, nach Annette Backhaus, zur Zielgruppe der Grundbedürfnis-

strategie in den 70er Jahren ausgewählt. „Frauen, durch soziale Zuweisung

für die Grundbedürfnisse der Familie (Ernährung, Gesundheit, Hygiene,

Haushalt, Kindererziehung) verantwortlich, (…)“ sollten nun auch als

Vorkämpferinnen gegen die überhand nehmende Verarmung und Verelendung

der Bevölkerung instrumentalisiert werden.204 Das bedeutete einerseits eine

Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, war aber auch eine Festschreibung

ihrer traditionellen Rolle und Verantwortung für das Wohlergehen der Familie

bis zum heutigen Tag. Die UNESCO schreibt aktuell dazu:

Da vorwiegend Frauen die häuslichen Ressourcen verwalten und die Kinder erziehen, wirken Frauen als wichtige Multiplikatorinnen. Dies ist besonders für die Bildung von Mädchen entscheidend. Hand in Hand mit der Alphabetisierung von Frauen gehen ein höheres Gesundheitsbewusstsein, die Verbesserung der Hygieneverhältnisse, Wissen um und Schutz vor HIV/AIDS etc., ein Rückgang der Kindersterblichkeit und der Geburtenrate, größere Einkommens-möglichkeiten und beste Investition in die Armutsreduzierung.205

Erstaunlich ist, welches Frauenbild hier von der UNESCO vertreten wird,

das sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert. Die Zuständigkeit für

Haushalt und Kinder liegt einzig bei der Frau. Männer werden mit den

angeführten gesellschaftlich wichtigen Themen nicht angesprochen. Sollen

Frauen neben ihrer traditionellen Aufgabe, der Sicherung des familiären

200 vgl. Backhaus, Annette: „Neue“ Frauenprojekte, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim, Wörz, Susanne 1992, S. 70. 201 vgl. Giere, Ursula: Alphabetsierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 24. 202

Corpi, Lucha, zit. in: Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 203 Giere, Ursula: Alphabetsierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 24. 204 vgl. Backhaus, Annette: „Neue“ Frauenprojekte, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim, Wörz, Susanne 1992, S. 70. 205 Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006).

60

Überlebens, nun obendrein die Rolle einer Lehrerin für ihre Kinder (Töchter)

übernehmen? „The constraints (e.g. domestic duties, child care, submission,

etc.) preventing women from participating in, and benefitting from, adult

education (…)”,206 erhob dagegen Agneta Lind als typische Bildungsbarrieren

von Frauen. Das gilt auch für Mädchen, wie Volker Lenhart schildert:

„Je ärmer der Haushalt, desto größer die Tendenz bei Eltern, auf ihre Töchter für häusliche Pflichten zurückzugreifen und Bildungs-aufwendungen für die Söhne zu reservieren. Kulturelle und religiöse Faktoren, etwa frühe Heirat und starre Regeln, die Frauen strikt als Mütter und Ehefrauen definieren, beeinflussen den Schuleintritt der Mädchen und die Länge ihres Schulbesuches“.207

Dabei ließe sich die Primarbildung für alle Kinder finanzieren, wie Angaben

von Actionaid vermuten lassen, denn: „Universal primary education would

cost $ 10 billion a year, that´s half what Americans spend on ice cream.“208

Krystina Chlebowska untersuchte die Alphabetisierungsmotive von Frauen

auf dem Land und erhielt folgende Ergebnisse, dargestellt bei Volker Lenhart:

- an Gruppenaktivitäten mit anderen Frauen teilnehmen, - Erfahrungen austauschen, - gemeinsame Probleme besprechen, - einander helfen, - miteinander eine angenehme Zeit verbringen, - besser für die eigenen Kinder, besonders in gesundheitlicher

Hinsicht, sorgen, - weniger von anderen abhängig sein, - mit dem eigenen Namen unterschreiben, - einen Brief schreiben oder ein Konto benutzen, - ärztliche Rezepte verstehen, - Gebete und andere religiöse Texte lernen, - der Beschwindelung auf dem Markt ausweichen, - die eigene Tätigkeit kostengünstiger ausüben, - Gedanken und Erfahrungen schriftlich ausdrücken.209

Für Mädchen und Frauen sind Alphabetisierungsprogramme, wie Josef

Müller betont, besonders bedeutsam, da sie „(…) oft die einzige systematisch

organisierte Form von Bildung und Erziehung (darstellen-G.G.), die ihnen ihre

Stärke und ihr Potential bewusst machen kann.“210

206 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 171. 207 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 33. 208 ActionAid (Homepage) URL: www.actionaid.org.uk/304/how_we_work.html (01.02.2007). 209 Chlebowska, Krystina, zit. in: Lenhart, Volker 1993, S. 63. 210 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 25.

61

2.5 Motive und Ziele für Alphabetisierung und Grundbildung

Die grundsätzliche Frage, warum Erwachsene weltweit Lesen, Schreiben

und Rechnen lernen sollten, wurde im 2. Kapitel umfangreich beantwortet.

Die Begründungen reichen vom Recht auf Bildung bis hin zur Notwendigkeit

oder Verpflichtung aller Menschen für die individuelle, nationale und globale

Entwicklung literacy-skills und basic education zu erlangen und beizubehalten.

Kurz gefasst sind Alphabetisierung und Grundbildung die Basis für die

Erreichung der EFA- und Millenniumsziele, für das lebenslange Lernen, für die

Bekämpfung von Armut, für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für die

Verbesserung der Lebensqualität, für Einkommen schaffende Tätigkeiten, für

die bessere Versorgung und Bildung der Kinder, für eine ökologische und

friedfertige Entwicklung, für gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt,

u.a.m. Die UNESCO beschreibt die Wirkungen von Literacy wie folgt:

- Self-esteem and empowerment: widening choices, access to other rights

- Political benefits: increased civic participation in community activities, trade unions and local politics

- Cultural benefits: questioning attitudes and norms; improves ability to engage with one´s culture

- Social benefits: better knowledge of healthcare, family planning and HIV/AIDS prevention; higher chance of parents educating children

- Economic benefits: Returns on investment in adult literacy programmes are comparable to those in primary level education211

Im Zwischentreffen des EFA-Forums in Amman (1996) wurde erklärt:

Bildung ist Macht (empowerment). Sie ist der Schlüssel zur Errichtung und Stärkung von Demokratie, zu einer Entwicklung, die nachhaltig und human ist (sic!-G.G.) und zu einem Frieden, der auf gegenseitigem Respekt und sozialer Gerechtigkeit beruht. In einer Welt, in der Kreativität und Wissen eine immer größere Rolle spielen, ist das Recht auf Bildung nichts weniger als das Recht, am Leben der modernen Welt teilzunehmen.212

Bildung kann bestenfalls all diese Erwartungen bewirken, aber auch genau

das Gegenteil davon, denn Bildungsvermittlung ist nicht neutral. Sie kann in

Paulo Freires Worten ebenso zur Indoktrination und Unterdrückung führen.213

211 UNESCO: Literacy for Life, S. 13. (Homepage) URL: www.unesco.org/education/GMR2006/full/presentation.ppt#277,2,Why literacy? (25.01.2007). 212 Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 55. 213 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 62f.

62

Warum wollen Menschen lesen und schreiben lernen? Volker Lenhart stellt

Motive der Teilnehmenden von Lese- und Schreiblernprogrammen vor:

- den eigenen Kindern in der Schule helfen, - eine besser bezahlte Stelle erreichen, - höheres Sozialprestige erwerben, - sich bei Verträgen gegen Betrug schützen, - das Selbstbewußtsein steigern, - für Weiterbildung eine Grundlage schaffen, - soziale Rechte und Pflichten besser kennenlernen, - an sozialen und politischen Aktivitäten teilnehmen, - Buchhaltung und Protokollführung in Vereinigungen übernehmen, - andere unterrichten.214

Alphabetisierung kann nicht gesellschaftliche Probleme wie Armut, Hunger,

Arbeitslosigkeit, Elend, AIDS u.a.m. lösen. Umgekehrt aber kann v.a. die

Verringerung von Armut durch gerechtere wirtschaftliche und soziale

Bedingungen sehr wohl zur Anhebung der Bildung der Bevölkerung beitragen.

D.h. Alphabetisierung und Grundbildung führen nicht automatisch zu oben

genannten Zielen, haben aber das Potential in sich, die Lebenssituation

Einzelner spürbar zu verbessern bis hin zu weitreichenden sozialen Reformen.

Auch Rosa María Torres spricht in ihrem kritischen Kommentar zu den

Ergebnissen von Dakar sich dafür aus

Armut zu überwinden, um Bildung zu verbessern, und, darüber hinaus, Erziehung und Lernen erst zu ermöglichen. Man vertraut immer noch dem wirtschaftlichen Wachstum als einer Lösung sozialer Ungleichheiten, während die letzte Dekade doch wieder nur bestätigte, dass Wachstum nicht genug ist, weil die Verteilung von Einkommen unverändert bleibt und Reichtum sich mehr und mehr in den Händen Weniger konzentriert.215

In diesem Sinne möchte ich im nachfolgenden Kapitel Paulo Freire und

sein pädagogisches Konzept näher vorstellen.

214 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 63. 215 Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 216.

63

3. PAULO FREIRE (1921-1997)

Paulo Freire schrieb zu seiner Arbeit und zur Alphabetisierung die Worte:

It is impossible to carry out my literacy work or to understand literacy (...) by divorcing the reading of the word from the reading of the world. Reading the word and learning how to write the word so one can later read it are preceded by learning how to write the world, that is, having the experience of changing the world and touching the world.216

Abbild 2: Paulo Freire

3.1 Sein Leben und Schaffen

Mit seiner pädagogisch-politischen Überzeugung, die Alphabetisierung

fungiere als Bewußtseinsbildungsprozess der Menschen zur Emanzipation und

Befreiung von Unterdrückung, gewann der Brasilianer Paulo Freire globales

Ansehen und Popularität. Seine Bücher, vor allem sein Hauptwerk, die

„Pädagogik der Unterdrückten“, waren weltweit auf enormes Interesse

gestoßen. In zahlreichen Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und Europas

unterrichten viele Alphabetisierungstrainerinnen und -trainer nach seiner

Methode, bzw. haben diese weitergeführt.217 Seine Theorien wurden

international diskutiert. Das ist ein Novum, da üb(erheb)licherweise die

Bildungskonzepte für die „Dritte Welt“ gemacht werden und nicht umgekehrt.

Paulo Freire wird häufig als „’der bedeutendste Pädagoge unserer Zeit’“

bezeichnet.218

Wer ist Paulo Freire und aus welcher Welt kommt er? Beginnen werde ich

mit der Beschreibung seines Lebens und einiger historisch wichtiger

Hintergrundinformationen zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen

Situation Brasiliens. Dem folgt eine kritische Auseinandersetzung Paulo Freires

mit den wichtigsten traditionellen Alphabetisierungsansätzen. Die von ihm

entwickelte emanzipatorische Alphabetisierung werde ich abschließend mittels

einiger zentraler Begriffe darstellen.

216 Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 49. 217 Ein Beispiel wäre das internationale Literacy-Projekt von Action Aid: REFLECT (REgenerated Freirean Literacy through Empowering Community Techniques). 218 vgl. Figueroa, Dimas: Paulo Freire 1989, S. 15.

64

3.1.1 Biographische Notizen

Paulo Freire wurde 1921 in Recife geboren. Wie sich den Ausführungen

von Peter Stöger entnehmen lässt, verarmte und hungerte seine Familie in

Folge der Weltwirtschaftskrise. Seine Schulleistungen blieben durch die

Unterernährung so lange minimal, bis es seiner Familie wirtschaftlich wieder

besser ging, worauf er sich als elfjähriger Junge versprach, zeitlebens gegen

den Hunger zu kämpfen. Sein Vater lehrte ihm Lesen und Schreiben, indem er

ihm die Buchstaben in den Meeressand schrieb. Dabei vermittelte er ihm die

Wichtigkeit einer auf Gegenseitigkeit beruhenden respektvollen Beziehung

zwischen Lehrer und Schüler. Sein Vater starb als er dreizehn Jahre alt war.

Nach der Schule begann Paulo Freire Jus und Philosophie zu studieren.219 Als

er als Rechtsanwalt bemerkte, „(...) daß das Recht, das er studiert hatte, das

Recht der Eigentümer gegen die Habenichtse war, gab er den Beruf auf“.220

Dank seines Studiums durfte Paulo Freire als Sekundarschullehrer

unterrichten. Er heiratete mit 23 Jahren. Mit seiner Frau, der Primarschul-

lehrerin Elza Maria Oliveira, hatte er fünf Kinder. Mit ihr besprach er alle sich

ihm stellenden erziehungswissenschaftlichen Fragen. Von 1946 bis 1954 war

er als Direktor des Erziehungsbereichs des „Servico Social da Industria“

(SESI) tätig. Während dieser Zeit gewann er wichtige Einblicke in die soziale

Situation der Arbeiterfamilien und erkannte, dass vor allem Lehrer vom Volk

zu lernen haben. Wesentliche Ansatzpunkte seiner Alphabetisierungsarbeit

wurden die Anschaulichkeit durch die Verwendung praktischer Beispiele und

das induktive Erarbeiten von abstrakten Wörtern. 1947 begann Paulo Freire

mit ersten Alphabetisierungskursen in den Elendsvierteln und bildete

zusammen mit Studenten und Freunden die „Bewegung für Volkserziehung“.

Ab 1955 unterrichtete er an der Universität in Recife und dissertierte 1959

über Erwachsenenbildung/Alphabetisierung.

Zwischen 1960 und 1963 initierte er Kulturzirkel. Im Jahr 1962 wurde es

politisch möglich, zunächst nur in Recife und dann in ganz Brasilien,

Alphabetisierungsgruppen durchzuführen. Doch diese landesweite Kampagne

beendete 1964 ein Militärputsch und Paulo Freire wurde inhaftiert. Durch den

Putsch wurde verhindert, dass „(...) in ca. 20.000 Kulturzirkeln 2 Mio.

219 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 1. 220 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 10.

65

Erwachsene alphabetisiert (wurden-G.G.), was 2 Mio. zusätzliche Wähler

bedeutet hätte“.221

Paulo Freire musste emigrieren. In Chile verfeinerte er seine Methode und

arbeitete bei der UNESCO. 1969/70 lehrte er an der Harvard-Universität.

1970 wurde er als Berater für Bildungsfragen an den Ökumenischen

Weltkirchenrat in Genf berufen. Mitte der siebziger Jahre war Paulo Freire in

Alphabetisierungsprojekten in früheren portugiesischen Kolonien tätig.222 Erst

16 Jahre später war es ihm möglich nach Brasilien zurückzukehren. In São

Paulo hielt er Vorlesungen an zwei Universitäten und begann in der Erzdiözese

der Stadt mitzuwirken. Er wurde für die Arbeiterpartei (PT) aktiv und

übernahm 1991 das „Amt eines Sekretär im Erziehungskabinett“.223

Im Jahr 1986 verstarb seine Frau Elza, mit der er zeitlebens herzlich

verbunden war und zusammen viele Alphabetisierungsprojekte verwirklicht

hatte. Paulo Freire heiratete 1988 die Pädagogin Ana Maria Araújo. Bis zu

seinem Tod 1997 arbeitete er als Autor und Co-Autor, veröffentlichte viele

Artikel und Bücher und hielt Vorträge und Workshops. In seinen letzten

Stellungnahmen äußerte er sich kritisch zur Politik des Neoliberalismus. Paulo

Freire bekam in verschiedenen Ländern zahlreiche Preise, Auszeichnungen

und akademische Grade für sein Lebenswerk verliehen.224 Seine Befreiungs-

pädagogik wurde von unterschiedlichsten Richtungen und Ideen geprägt.

Peter Mayo summiert folgende Einflüsse:

Zwei wichtige Quellen sind Hegel und Marx. Freire bezieht sich auf ein großes Spektrum von Schriften, darunter die Werke von Lezek Kolakowski, Karel Kosik, Erich Fromm, Antonio Gramsci, Karl Mannheim, Pierre Furter, Teilhard de Chardin, Frantz Fanon, Albert Memmi, Lew Wygotski, Amilcar Cabral, sowie das christliche Menschenbild von Tristian de Atiade und Emanuel Mounier. Freires Werk zeigt deutlich zwei dominante Stränge: Marxismus und Befreiungstheologie.225

Liam Kane ergänzt die Aufzählung mit: Jean-Paul Sartre, Karl Jaspers,

Herbert Marcuse, Aristoteles und Ernesto ’Che’ Guevara. Zugleich zog Paulo

Freire viele Ideen aus seiner pädagogischen Praxis und aus der Interaktion

mit anderen Menschen.226 Nach Heinz-Peter Gerhardt war Paulo Freire

221 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 3. 222 vgl. ebd. 223 vgl. Stöger, Peter: Paulo Freire – ein Nachruf, in: bidok, S. 2. (Homepage) URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/stoeger-freire.html (16.02.2005). 224 vgl. Mayo, Peter: Politische Bildung 2006, S. 32f. 225 ebd., S. 31. 226 vgl. Kane, Liam: Popular Education 2001, S. 36f.

66

„bekennender Eklektiker“. Er wählte die zur Situation passenden Theorien und

Begriffe aus verschiedenen Denksystemen aus oder ersann neue Wort-

schöpfungen, Begriffsverbindungen und entwickelte selbst neue Theorien.227

3.1.2 Brasilien

Die portugiesische Kolonialherrschaft, die bis 1822 andauerte (seit 1500,

als Pedro Alvares Cabral das Land für Portugal in Besitz nahm), beutete

Brasilien rücksichtslos aus und kolonisierte die Sprache, die Kultur und die

Denkweise der unfreien Bevölkerung. Unter Kaiser PEDRO II. (1831-1889),

der als der „gebildetste Herrscher Südamerikas im 19. Jh.“ Eingang in die

Geschichtsbücher gefunden hat, wurde die Forschung und Literatur der Elite

gefördert, die allgemeine Erziehung des Volkes aber blieb bedeutungslos.228

Die Armee stürzte 1889 den Kaiser und Brasilien wurde zur Republik erklärt.

Ab 1920 erhoben alle Parteien die Alphabetisierung der brasilianischen

Bevölkerung zum nationalen Anliegen. Dem folgten viele Worte, aber wenig

Taten. Erziehung sei, so argumentierten die führenden Politiker, der „’Hebel

des Fortschritts’“.229 Die „’Allianz für den Fortschritt’“, ein gegen Ende der

50er Jahre einsetzendes Bildungskonzept der USA mit verschiedenen latein-

amerikanischen Regierungen, knüpfte die Vergabe von Entwicklungshilfe-

geldern an die Verpflichtung der Länder das Grund- und Sekundarschulwesen

auszubauen. Dabei war nicht größere soziale Gerechtigkeit das erklärte Ziel,

sondern es ging der Allianz darum, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Auch wenn die Schuleinschreibungen in Brasilien erheblich zunahmen und die

hohe Zahl der Analphabetinnen und Analphabeten leicht verringert werden

konnte, waren die Auswirkungen gering, denn wesentliche Bildungsprobleme,

das Analphabetentum und die häufigen Schulabbrüche, blieben bestehen.230

So durften 1960, nach Dimas Figueroa, von insgesamt 34,5 Millionen

Menschen nur 15,5 Millionen wählen, „(...) weil das Wahlrecht an die Fähigkeit

des Lesens und Schreibens gebunden war“.231 Das Scheitern der

brasilianischen Bildungspolitik überrascht wenig, wenn bekannt ist, dass die

Regierenden entgegengesetzte Ziele verfolgten. In Brasilien war, wie Darcy

Ribeiro aufdeckt, die Schulbildung eine Aufgabe der Stadtregierung und der

Regierung des Bundeslandes. „Damit wird die Grundschulerziehung

227 vgl. Gerhardt, Heinz-Peter: Befreiende Pädagogik, in: ZEP, Jg. 27, 04/2004, S. 18. 228 vgl. Herzfeld, Hans: Geschichte in Gestalten, Bd. 3, 1963, S. 275f. 229 vgl. Weffort, Francisco: Erziehung und Politik, in: Freire, Paulo 1977, S. 97f. 230 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 2. 231 vgl. Figueroa, Dimas: Paulo Freire 1989, S. 11.

67

ausgerechnet in die Hand derer gelegt, die an der Erziehung des Volkes das

geringste Interesse haben (...)“232, denn:

Wenn das Volk dumm gehalten wird, wird es seine politischen Vertreter nicht wählen können, und man vermeidet das unvertretbare Risiko, daß es einem demagogischen Populismus erliegt. Auf diese Art wird die weise Vormundschaft verewigt, welche die gebildete, aufgeklärte, elegante und schöne Elite gegenüber dem unwissenden Volk paternalistisch ausübt.233

In einem Artikel von Francisco Weffort war zu lesen, wie die herrschenden

Parteien den politischen Ausschluß der Mehrheit der brasilianischen

Bevölkerung begründeten. Nicht die eigene Untätigkeit über Jahrzehnte

bildete die Ursache für mangelndes ökonomisches Wachstum, soziale

Stagnation und hohes Analphabetentum, sondern die „’Indolenz’ und

‚Trägheit’“ des maginalisierten Volkes. Die Führungsschicht bestimmte: „Die

‚Unwissenden’ sind unfähig, sich frei und kritisch an der Demokratie zu

beteiligen, also dürfen sie nicht wählen und für die öffentlichen Ämter nicht

gewählt werden“.234

In Recife, informiert Peter Stöger, gab es und gibt es auch heute noch

Millionen Kinder, die auf der Straße leben. Viele Kleinkinder sterben an

Unterernähung im Laufe ihres ersten Lebensjahres. Millionen von Menschen

wohnen in Elendsvierteln und es werden durch die große Landflucht immer

noch mehr.235

Paulo Freire machte die Dringlichkeit der Alphabetisierung in Brasilien

deutlich: „1964 hatten ungefähr 4 Millionen Kinder in schulfähigem Alter keine

Schule. Es gab 16 Millionen Analphabeten im Alter von vierzehn Jahren und

darüber“.236 Als nun seine Kampagnen erfolgreich das nationale Anliegen

verwirklichten, begann die Elite um ihre Privilegien und ihre Machtposition zu

fürchten. Sie wusste die politische Mitbestimmung des Volkes abzuwenden.

Zunächst beschwichtigten sie die Menschen mit „Assistenzialismus“237, indem

„Einrichtungen der sozialen Hilfe“ geboten und „Armeen von Sozialarbeitern“

232 Ribeiro, Darcy: Unterentwicklung 1980, S. 29. 233 ebd., S. 27f. 234 Weffort, Francisco: Erziehung und Politik, in: Freire, Paulo 1977, S. 98f. 235 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 1. 236 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 46. 237 Assistenzialismus bedeutet eine Politik der finanziellen und sozialen Hilfeleistung, die die Symptome gesellschaftlicher Probleme mildert, aber ihre Ursachen belässt. Diese vor allem eigennützige, paternalistische Hilfe degradiert das Volk zu passiven Objekten, ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit und Verantwortung.

68

ausgeschickt wurden.238 Als das nicht mehr reichte und die Bedrohung ihrer

Interessen zu groß wurde, kam es 1964 zum Putsch, der die nationale

Alphabetisierungskampagne beendete. Paulo Freire offenbart, wer hier die

Fäden zog, um die Partizipation des abhängigen und unterdrückten Volkes an

der politischen Macht und dem materiellen Besitz zu verhindern:

Reaktionäre Kräfte im Inneren, die sich um die Interessen des Großgrundbesitzes versammelten, wurden von Kräften aus dem Ausland unterstützt, die die Veränderung Brasiliens von einer Objekt- zu einer Subjekt-Gesellschaft zu verhindern suchten.239

Aus dem Exil schildert er diese Zeit: Das Land befand sich in den 50er und

frühen 60er Jahren in einer Übergangsphase hin zu einer offenen Gesellschaft,

welche von ökonomischen Veränderungen ausgelöst wurde. Paulo Freire sah

in der Öffnung die „Chance einer demokratischen Rettung Brasiliens“.240

Ausgangspunkt für den brasilianischen Übergang war jene geschlossene Gesellschaft, von der ich schon sprach; das heißt eine Gesellschaft, deren Ökonomie vom Rohstoffexport bestimmt und von ausländischen Märkten beherrscht wurde, ja deren Zentrum ökonomischer Entscheidungen in Übersee lag – eine ‚Reflex’-Gesellschaft, eine ’Objekt’-Gesellschaft ohne nationales Bewußtsein, rückwärts gewandt, analphabetisch, antidialogisch und elitär.241

Diese „‚Reflex-Gesellschaften’“, die von einer „Weltmacht-Gesellschaft“ in

ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht worden sind, „(...) können sich nicht

entwickeln, denn sie sind entfremdet“. Die Entscheidungsfreiheit über die

Gestaltung ihre Politik, Wirtschaft und Kultur wurde ihnen weitgehend

genommen.242 Paulo Freire teilt die dependenztheoretische Sichtweise von

Unterentwicklung, wenn er gegen die Modernisierungstheorien argumentiert:

Es ist entscheidend, Modernisierung und Entwicklung nicht zu vermischen. Erstere ist, obwohl sie bestimmte Gruppen in der ‚Satellitengesellschaft’ beeinflussen mag, fast immer induziert, und nur die Weltmacht-Gesellschaft zieht eigentlich Nutzen daraus. Eine Gesellschaft, die bloß modernisiert wird, ohne sich zu entwickeln, wird auch weiterhin - selbst wenn sie eine geringfügige delegierte Entscheidungsmacht übernimmt - vom fremden Land abhängen.243

Volker Lenhart definiert beide Begriffe: Modernisierungsansätze betrachten

238 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 20. 239 ebd., S. 21. 240 vgl. ebd., S. 16. 241 ebd., S. 15. 242 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 137. 243 ebd., S. 138.

69

die Fremdeinflüsse auf die Länder des Südens als „stimulierende Elemente“

gegen die bestehende Armut und Unterentwickung. „Modernisierungstheorien

richteten die Entwicklung von Dritte-Welt-Gesellschaften (bekanntlich) am

Entwicklungspfad und –modell demokratischer westlich-kapitalistischer

Industriegesellschaften aus (...)“.244 Die Dependenztheorie hingegen betont

die „internationale Mit-Konditionierung des Entwicklungsproblems“,245 denn

Unterentwicklung sei

(...) nicht in erster Linie die ‚natürliche’ (= historische) Rückständigkeit traditioneller Gesellschaften und Kulturen, sondern Ergebnis der weltweiten Penetration des westlichen (kapitalistischen) Wirtschafts-systems einschließlich der die Penetration begleitenden imperialen Bevormundungen.246

Die lange andauernde koloniale und neokoloniale Situation Brasiliens

verhinderte Erfahrungen von Demokratie und Partizipation, die zur Selbst-

bestimmung notwendig gewesen wären. Traditionelle Bildungseinrichtungen

standen im Dienst der Fremdherrschaft und beabsichtigten die Anpassung und

Domestizierung des Volkes. Erziehung, begleitet von „Gewalt und Angst“, war

das Hauptinstrument der „(…) ’kulturellen Invasion’, dieser Besetzung des

Bewußtseins der Unterdrückten mit den Mythen der Unterdrücker (…)“.247

Gegen die Entfremdung, Verarmung und Verelendung bedurfte es einer

neuen Befreiungspädagogik. Paulo Freires Bildungskonzept war politischer

Art: „Wir planten ein Alphabetisierungsprogramm, das eine Einführung in die

kulturelle Demokratisierung darstellte, ein Programm mit Menschen als seinen

Subjekten und nicht als geduldigen Rezipienten“.248 Wichtig war ihm nicht

nur, die brasilianische Bevölkerung Lesen und Schreiben zu lehren, sondern

sie zu befähigen in ihrer Gesellschaft mitzubestimmen und soziale und

politische Verantwortung zu übernehmen. Sein Ziel war es, zum Wandel ihrer

unterdrückten Situation beizutragen, die Gesellschaft Brasiliens und letztlich

die ganze Welt umzugestalten, sie zu humanisieren. Er unterstreicht:

Alphabetisierung ist nur in dieser Weise sinnvoll, wenn nämlich Menschen über ihre eigene Befähigung zur Reflexion, über die Welt und ihre Position darin, über ihre Macht zur Veränderung der Welt und die Begegnung des Bewußtseins zu reflektieren beginnen. Die Alphabetisierung selbst hört dabei auf, ihnen etwas Äußerliches zu

244 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 9. 245 vgl. ebd., S. 10. 246 ebd., S. 9. 247 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 11. 248 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48.

70

sein; sie wird ein Teil von ihnen, eine Schöpfung aus ihrem Inneren. In meinen Augen ist nur ein Alphabetisierungsprogramm richtig, in dem die Menschen die wahre Bedeutung der Wörter verstehen: nämlich als Kraft, die Welt zu verändern. Wenn Analphabeten die Relativität von Unwissenheit und Wissen entdecken, zerstören sie eine der Mythen, mit deren Hilfe falsche Eliten sie manipuliert haben. Dadurch, daß Menschen, indem sie über sich selbst und die Welt, in und mit der sie sind, nachzudenken genötigt sind, die Welt als die ihre entdecken, dadurch hat das Erlernen des Lesens und Schreibens überhaupt einen Sinn. Dann sehen sie auch, daß ihre Arbeit nicht der Preis dafür ist, daß sie Menschen sind, sondern eher eine Art von Liebe zur Welt – und eine Hilfe, daß aus ihr ein besserer Ort wird.249

3.2 Alphabetisierungsansätze

Paulo Freire befragt die vier wichtigsten traditionellen Ansätze, deren

Grundlage die „Methode der positivistischen Forschung“250 bildet, bezüglich

ihrer „kulturellen Reproduktion oder kulturellen Produktion“. Seiner Meinung

nach „(...) führt die Ausblendung der sozialen und politischen Dimensionen in

der Praxis des Lesens zu einer Ideologie kultureller Reproduktion, die die

Lesenden als ‚Objekte’ betrachtet“, als Objekte mit leeren von Erziehern zu

füllenden Körpern.251

3.2.1 Akademischer Ansatz

Charakteristisch dafür ist der Doppelansatz der Bildung. In der klassischen

Tradition verfügt ein gebildeter Mensch über fundierte Kenntnisse in Latein,

Griechisch und der klassischen Literatur. Dieses hohe Niveau kann vor allem

von der Elite erreicht werden. Für den größten Teil der Bevölkerung ist diese

vorgegebene Bildungsebene aber illusorisch. Deshalb reicht für sie das

Erlernen der Lesefähigkeit (Buchstabieren, Wortschatzerwerb, ...) aus. Dieses

Argument soll zwei unterschiedliche Bildungsniveaus für die „herrschende

Klasse“ und für die „besitzlosen Massen“ legitimieren.

Den klassischen Werken wird große Bedeutung für das Verständnis, den

Wortschatzerwerb und die Wortbildung zugesprochen. Ihr Einfluss wird aber

überschätzt. Die Reproduktion der herrschenden Kultur und Werte einiger

weniger Privilegierter überwiegt vor der als unterlegen betrachteten

249 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 84. 250 In der positivistischen Forschung werden, so Paulo Freire, methodische Fragen von ihrem ideologischen Kontext getrennt. Die Verbindung zwischen dem soziopolitischen Gesellschaftsgefüge und dem Leseakt wird bestritten. 251 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 26.

71

„Geschichte, der Kultur und Sprache der Arbeiterklasse“. So wirkt der

akademische Ansatz auf die Mehrheit der Gesellschaft „entfremdend“, da ihre

„vitalen, historischen und sprachlichen Erfahrungen“ gänzlich unbeachtet

bleiben. Unbeachtet bleibt zugleich auch die soziopolitische Dimension der

Alphabetisierung.252

3.2.2 Utilitaristischer Ansatz

In den hochindustrialisierten, technologischen Gesellschaften des Nordens

als auch in den Ländern des Südens wird dem utilitaristischen Ansatz immer

mehr der Vorzug gegeben. Das primäre Ziel ist die „Entwicklung ‚funktional-

alphabetisierter Menschen’“, die innerhalb einer aktuellen, fortwährend

komplexer werdenden Gesellschaft über die benötigten Grundfertigkeiten

verfügen. Der „mechanische Erwerb der Lesefähigkeit“ erfolgt ohne „kritische

Analyse der sozialen und politischen Ordnung“. Der utilitaristische Ansatz

beinhaltet in erster Linie technisches und berufliches Wissen als Mittel für

„ökonomischen Fortschritt, Zugang zum Beschäftigungssystem und Anhebung

der Produktivität“.253 Paulo Freire zitiert Henry A. Giroux:

In dieser Perspektive ist die Alphabetisierung orientiert an der Ausbildung produktiverer Arbeiter und Bürger innerhalb einer gegebenen Gesellschaft. Hinter der Fassade ökonomischen Fortschritts reduziert die funktionale Alphabetisierung ihre pädagogische Konzeption auf die pragmatischen Erfordernisse des Kapitals; konsequenterweise wird ein kritisches Verständnis des Denkes, der Kultur und der Macht den Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Notwendigkeit der Kapitalakkumulation untergeordnet.254

3.2.3 Entwicklungsansatz

Im „Modell der kognitiven Entwicklung“ wird untersucht, wie die Menschen

beim Lösen von Problemen ein eigenes Bedeutungsverständnis erreichen. Von

Interesse ist hier die „(...) Entwicklung neuer kognitiver Strukturen, die den

Lesenden befähigen, von einfachen Lesetexten zu immer komplexeren zu

gelangen“.255 Innerhalb dieses Modells, das stark von John Dewey und Jean

Piaget geprägt wurde, bedeutet Lesen „intelektuelles (sic!-G.G.)

252 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 26. 253 vgl. ebd. 254 Giroux, Henry A., zit. in: Freire, Paulo 1992, S. 26. 255 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27.

72

Fortschreiten“, welches „’auf der Grundlage einer Reihe von gesetzmäßiger,

universaler und vorhersagbarer Entwicklungsetappen’“ beruht.256

Indem der kulturelle Kontext der Lesenden im Entwicklungsansatz ohne

Bedeutung ist, werden die eigenen Erfahrungen nicht kritisch reflektiert. Eine

inhaltliche Analyse des gelesenen Textes entfällt und verhindert so sein

kritisches Verständnis. Das Problem der kulturellen Reproduktion bleibt darin

gänzlich unangesprochen.257

3.2.4 Romantischer Ansatz

Emotionen sind wesentlich für das romantische Modell, das „Lesen als

Selbstverwirklichung und freudige Erfahrung“ begreift. Im Unterschied zu den

vorhergehenden Ansätzen wird hier der Leser als Subjekt betrachtet. Die

Vorstellung des romantischen Ansatzes ist, „(...) daß alle Welt auf gleiche

Weise einen Lesegenuß entwickeln sollte“, wobei jedoch die Existenz

unterschiedlicher Kulturen geleugnet wird.258 Diesem Alphabetisierungsansatz

entgehen die bestehenden Konflikte zwischen den Klassen, Geschlechtern und

Rassen völlig. Paulo Freire unterstreicht: „Es ist arrogant und naiv zu glauben,

daß Schüler der Arbeiterklasse, die einer Vielzahl von Benachteiligungen

ausgesetzt sind, Freude und Selbstbestätigung durch den Genuß von Literatur

erringen sollen“.259 Da die sozialen Ungleichheiten und das unsymmetrische

Machtgefüge kritiklos hingenommen werden, reproduziert der romantische

Ansatz die herrschende Kultur, in der bestimmte Teile der Bevölkerung vom

Lesen ausgeschlossen werden.

Keiner dieser Ansätze befähigt die Subjekte „(…) zu einer individuellen und

kollektiven Selbstbestimmung zu gelangen“.260 Trotz ihrer Verschiedenheit

haben die Alphabetisierungsansätze auch eine Gemeinsamkeit:

Alle ignorieren die Rolle der Sprache als Hauptkraft zur Konstituierung der menschlichen Subjektivität. Das heißt, sie ignorieren die Art und Weise, wie die Sprache die Geschichten und Erfahrungen der Menschen, die die Sprache benützen, bestätigen oder negieren kann.261

256 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27. 257 vgl. ebd. 258 vgl. ebd. 259 ebd. 260 vgl. ebd. 261 ebd.

73

3.3 Emanzipatorische Alphabetisierung

Die traditionellen Alphabetisierungsansätze lehren nur den mechanischen

Erwerb des Lesens ohne dabei seinen geschichtlichen und ideologischen

Kontext zu berücksichtigen. Somit wird, wie Paulo Freire darlegt, „die wichtige

Beziehung zwischen der Sprache und dem kulturellen Kontext“ der Lernenden

geleugnet. Emanzipatorische Alphabetisierung muss sich von diesen Ansätzen

lösen, will sie den „’Unterdrückten’“ ermöglichen, sich bei der „sozio-

historischen Veränderung der Gesellschaft“ zu beteiligen. Grundlegend dafür

ist ein „(...) kritische(s) Verständnis der globalen Ziele gesellschaftlicher

Veränderung“. Der kreative Akt des Lesen- und Schreibenlernens unterstützt

die „(...) Entwicklung eines kritischen Verständnisses des Textes und des

soziohistorischen Kontextes, auf den er sich bezieht (...)“.262

Der emanzipatorische Ansatz ermöglicht es den Unterdrückten „(...) sich

ihrer Geschichte, Kultur und Sprache wieder anzunähern“ und ihre, von der

herrschenden Kultur gering geschätzten, „historischen und existentiellen

Erfahrungen“ neu zu bewerten und zu verstehen. Emanzipation und ein

kritisches Verständnis der eigenen Lebensverhältnisse entwickeln sich nur in

der „Sprache des Volkes“, im Benennen der eigenen Realität. Der Wandel der

entfremdenden sozialen und politischen Strukturen gelingt in der

Alphabetisierung nicht durch die ausschließliche Verwendung der

herrschenden Sprache, welche darauf abzielt den „status quo“ zu erhalten.

Nur die Sprache des Volkes eignet sich „zur Reflexion und kritischem Denken“

und zur Wiederentdeckung der eigenen „Kultur und Geschichte“, die für das

Entstehen einer neuen Gesellschaft unabdingbar sind.263

3.3.1 Dekolonisierung des Bewusstseins

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation Brasiliens während

der Kolonialzeit.264 Die eigenen kulturellen und religiösen Traditionen, die

Geschichte des Landes, die Sprache und die Lebenserfahrungen der unfreien

Bevölkerung sollten vor allem durch das koloniale Schulsystem ausgelöscht

werden. Die Unterdrückten mussten sich assimilieren und das vorgegebene

Wissen, die Werte und die einzig „wahre“ Kultur der portugiesischen Eroberer

annehmen. Diese Menschen wurden ihrer Würde und kulturellen Identität

262 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27. 263 vgl. ebd., S. 28. 264 Siehe dazu auch im 2. Kapitel auf S. 41.

74

beraubt. Sie wurden gedemütigt, indem sie von der Kolonialmacht als

minderwertige Geschöpfe betrachtet und behandelt wurden. Diese „kulturelle

Invasion“ zu beenden, bedurfte es eines emanzipatorischen Ansatzes mit

Menschen als Subjekte, die sich ihre Würde, ihre Geschichte und Kultur, ihr

Sprache, ihr Wissen und ihre eigenen Erfahrungen wieder zurückerobern.

3.3.2 Kultur des Schweigens

Paulo Freire versteht unter der „’Kultur des Schweigens’ (...) die Kultur der

Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht

ausdrücken kann“.265 Das Schulsystem der postkolonialen brasilianischen

Gesellschaft war, wie Ernst Lange beschreibt, nach westlichem Vorbild

aufgebaut. Ihr Misserfolg bei der Landbevölkerung und den Slumbewohnern in

den Städten wurde auf die Unfähigkeit und die fehlende Emanzipations-

bereitschaft dieser Bevölkerungsgruppen zurückgeführt. Paulo Freire hingegen

demaskierte das apathisches Verhalten der Mehrheit der Menschen, ihre, wie

er es nannte, „’Kultur des Schweigens’“, nicht als Ursache, sondern als „Folge“

der gewalttätigen Unterdrückung und ihrer innerlichen Unterwerfung. Sie

verinnerlichten die Mythen der Elite, wie die von ihrer „’natürlichen’

Unterlegenheit“ und begannen „(...) sich selbst so (zu-G.G.) sehen, wie die

Unterdrücker sie sehen, nämlich als ‚nichtig’ (...)“.266

Die „erfahrene Sprache“ der abhängigen Bevölkerung wurde, wie Ernst

Lange weiter ausführt, durch das Schulwesen „(...) systematisch abqualifiziert

und durch die Kunstsprache der ‚Gebildeten’ verdrängt. So bleibt Erfahrung

sprachlos, Sprache wird sinnlos“.267 Das Verstummen der Unterdrückten ist,

wie er betont, unbestreitbar ein „weltweites Phänomen“.268

Die herrschende Kultur führte das Wort, den Monolog. An einem Dialog

mit den Unterdrückten, an ihrer Mitsprache und Mitbestimmung innerhalb der

Gesellschaft, gab es kein Interesse. Ihre (politische) Stimme blieb ungehört

und verstummte letzten Endes in Gegenwart von Machtstrukturen, welche mit

Gewalt und Angst aufrechterhalten, ja verewigt werden sollten. Ihre

Sprachlosigkeit wurde zum Zeichen ihrer Ohnmacht und Unterwerfung

gegenüber einer Realität, die ihnen unveränderlich und damit hoffnungslos

erschien.

265 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 136. 266 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 10. 267 vgl. ebd., S. 12. 268 vgl. ebd., S. 13.

75

3.3.3 Erziehung ist politisch

Die Erkenntnisse über das Phänomen der Kultur des Schweigens brachten

Paulo Freire zum zentralen „Grund-Satz“269 seiner Theorie: „Erziehung kann

niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des

Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner

Abrichtung für die Unterdrückung“.270

3.3.4 Sprache des Volkes

Sich die eigene kultuelle und historische Identität zurückzuerobern, gelingt

nicht mit der Herrschaftssprache. Ausgangspunkt für die emanzipatorische

Alphabetisierung ist daher die Muttersprache eines Menschen. Sie darf sich

jedoch nicht darauf beschränken, weil sich sonst ein „linguistic ghetto“ bilden

würde.271 Die eigene Sprache ist von großer Bedeutung, wie wir bei Paulo

Freire lesen können:

Es ist das Problem der Sprache, das Problem der Ausdrucksweise und insofern der Struktur des Denkens. Ich bin absolut davon überzeugt, daß ein Volk seine Freiheit in dem Maße erobert, in dem es sein Wort wiedererobert, d.h. seine Sprache, seine Art, sich und seine Welt auszudrücken, seine Art zu sein, seine Art zu denken.272

Die Muttersprache ist, nach Paulo Freire, grundlegend dafür, eine eigene

Stimme und damit eine positive Selbstachtung zu entwickeln. Sich das eigene

Wort wiederzuerobern, bringt Mikhail Bakhtin folgendermaßen auf den Punkt:

„’retelling a story in one’s own words’“.273

3.3.5 Lesen des Wortes und der Welt

Die Inhalte der traditionellen Lesefibeln und Lehrpläne hatten nichts mit

dem Leben der Lernenden zu tun. Die Texte, die für das Erlernen des

Alphabets „behandelt“ wurden, entsprachen nicht ihren existentiellen

Erfahrungen. Paulo Freire erkannte, dass „(…) die Auswahl des Textes für

Alphabetisierungsmaterialien ein höchst bedeutsamer politischer Akt ist

(...)“.274 So waren es ihre eigenen Worte, die in der emanzipatorischen

Pädagogik zum Lernen des Alphabets und für die inhaltliche Diskussion

269 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 13. 270 Freire, Paulo, zit. in: Lange, Ernst 1973, S. 13. 271 vgl. Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 151f. 272 Freire, Paulo, zit. in: Mergner, Gottfried 2000, S. 49. 273 Bakhtin, Mikhail, zit. in: Freire, Paulo; Macedo, Donaldo 1987, S. 151. 274 vgl. Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne: Die Welt buchstabieren 1992, S. 25.

76

ausgewählt wurden. Die Texte stammen aus den konkreten sozialen

Kontexten der Lernenden und nicht aus Lesebüchern. Die jeweiligen sozialen

Gegebenheiten eines Landes, die spezifische Kultur, der Wortschatz der

Lernenden, ihre Probleme und Lebensumstände, ihre Ängste, Sorgen und

Hoffnungen werden darin deutlich lesbar. Das eigene Leben und die

unmittelbare Realität wird auf diese Weise zur Grundlage für das Lesen und

Schreiben. Paulo Freire fügt mahnend hinzu:

Wir dürfen nie bloß über die gegenwärtige Situation reden, wir dürfen nie den Menschen Programme überstülpen, die wenig oder nichts mit ihren eigenen Sorgen, Zweifeln, Hoffnungen und Befürchtungen zu tun haben – Programme, die manchmal die Furcht des unterdrückten Bewußtseins bloß noch vermehren. Es ist nicht unsere Aufgabe, zum Volk über unsere Sicht der Welt zu sprechen, erst recht nicht, zu versuchen, ihm diese Sicht aufzunötigen. Vielmehr besteht sie darin, mit dem Volk in einen Dialog über seine und unsere Auffassungen einzutreten.275

Im Dialog über die Probleme der Wirklichkeit nachzudenken, d.h. über

existenzielle Themen des alltäglichen Lebens, wie Gesundheit, Arbeit, usw.,

ihre Ursachen und verworrenen Zusammenhänge aufzudecken, ihre Wider-

sprüche und Ungerechtigkeiten zu entschlüsseln und vor allem ihre

Veränderbarkeit zu erkennen, dass meint die Welt lesen, wie Paulo Freire es

versteht. Wenn die Lernenden ihre persönliche und die kollektive

Geschichtlichkeit erkennen, beginnen sie die eigenen Lebensbedingungen, die

ihnen bislang unveränderlich und gottgegeben erschienen sind, zu

problematisieren. Die Menschen lernen sich in der gemeinsamen Diskussion

angstfrei auszudrücken, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, solidarisch

füreinander einzutreten und mögliche Lösungen für die exisierenden

individuellen und kollektiven Probleme anzudenken. Die Welt schreiben

bedeutet dann, sie tätig zu verändern, etwa durch Arbeit. „Menschlich

existieren heißt die Welt benennen, sie verändern“, formuliert Paulo Freire.276

Emanzipatorische Pädagogik ermutigt die Menschen, ihre entfremdenden

Lebensbedingungen zu verändern. Auf die Welt einzuwirken gelingt dem

Menschen durch das Wort, das gleichbedeutend ist mit Handeln und Praxis.

Ein wirkliches Wort kann, so Paulo Freire, die Welt verändern. Es bildet sich

aus zwei Elementen, der Aktion und der Reflexion, die nicht voneinander

getrennt werden dürfen. Aktion ohne Reflexion bedeutet Aktionismus und

275 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 79. 276 ebd., S. 71.

77

Reflexion ohne Aktion Verbalismus. Dieses Recht zur Verwandlung der Welt,

ist kein Vorrecht einzelner Menschen oder Gruppen für andere, sondern das

Recht jedes einzelnen Menschens zur Handlungsfähigkeit und zur eigenen

Wortmächtigkeit.277

Mit generativen Wörtern, wie Wasser, Arzt, usw. erlernen die Menschen

das Alphabet des Lebens. „Der Mensch, der sein Leben solcher Art ‚lauten’

und ‚lesen’ lernte, erfuhr sich als jemand, der das Geschriebene auch auf

seine Wahrheit befragen konnte“ und der sich, wie Peter Stöger ausführt,

durch das „‚Benennen’ des Lebens“ befreien konnte.278 Damit wurde

Alphabetisierung politisch bedeutsam, weil es den Lernenden möglich machte

„(...) ihre Hoffnungen und Proteste zu formulieren, zu ‚ver-lautbaren’“.279

3.3.6 Alphabetisierungsmethode

Die „’Freire-Methode’“, auch „’generative Methode’, ’Silbenmethode’ oder

‚psycho-soziale Methode’“ genannt, besteht demnach aus wenigen, aber sehr

bedeutsamen „Schlüssel-Wörtern“, die aus dem jeweiligen Alltagsleben und

dem Sprachgebrauch der Lernenden kommen. Diese generativen Wörter280

werden durch bildliche Darstellungen (Dias, Fotos, Zeichnungen, Plakate)

„’codiert’“ dargeboten.281 Die Lernenden „’decodieren’“ im gemeinsamen

Gespräch ihre Bedeutungen.282 Sie lernen die Wörter lesen und schreiben,

aber was Paulo Freire noch wichtiger ist, sie lernen darüber hinaus den „Text

eines Wortes in seinem Kontext“ zu verstehen und zu diskutieren. So lautet

z.B. für das Schlüsselwort „’Essen’“ der zu entschlüsselnde Kontext

„’Unterernährung, Kindersterblichkeit, Hunger, Lebensmittelknappheit“.283

Wenn die Menschen auf diese Art ihre eigene Welt und ihre Probleme zu lesen

beginnen, entsteht, wie Paulo Freire es nennt, eine „’Dekolonisierung des

Bewußtseins’“ und beginnt politische Bildung.284

Dazu eines seiner Beispiele:

277 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 71f. 278 Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 25. 279 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 184. 280 Die siebzehn Schlüsselwörter bei Paulo Freire waren: Favela, Regen, Pflug, Boden, Essen, Tumult, Brunnen, Fahrrad, Arbeit, Lohn, Beruf, Regierung, Stausee, Mühle, Hacke, Ziegelstein und Reichtum. 281 Die Kodierungen bezogen vielfach auch andere Wahrnehmungskanäle der Kommunikation mitein (visuell –bildhaft, graphisch, mimisch; auditiv, taktil, audio-visuell). 282 vgl. Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne: Die Welt buchstabieren 1992, S. 24. 283 vgl. ebd., S. 24f. 284 vgl. ebd., S. 25.

78

Beispiel: „tijolo (Ziegelstein)“285

Ein Ziegelstein wird in visueller Form (Dia) präsentiert. Es zeigt eine allen

Lernenden bekannte lokale Situation, die Bauarbeit. Das Bild wird gemeinsam

in der Gruppe diskutiert, um die persönlichen, lokalen, regionalen und

nationalen Probleme zu entschlüsseln. Zum Dia wird das generative Wort

„tijolo“ hinzugefügt. So entsteht eine „semantische Verbindung zwischen dem

Wort und dem benannten Objekt“. Ohne bildlicher Darstellung wird nun das

Wort dargeboten und in Silben zerlegt „ti-jo-lo“. Jede Silbe gehört zu einer

phonemischen Gruppe „ta-te-ti-to-tu“, usw., die nun miteinander verglichen,

gelernt und abschließend gelesen werden. Der wichtigste Moment beginnt,

wenn alle Gruppen gemeinsam auf einer Entdeckungskarte vorgezeigt

werden:

ta te ti to tu

ja je ji jo ju Entdeckungskarte

la le li lo lu

Die Lernenden lesen die phonemischen Gruppen horizontal und vertikal,

um den Klang der Vokale wahrzunehmen und bilden mündlich daraus neue

Wörter, wie „luta (Kampf), lajota (kleine Fliese)“, usw. Sie setzen zu Hause

die Silben zu möglichst vielen neuen Wörten zusammen - gleichgültig ob

daraus wirkliche Wörter entstehen oder nicht - schreiben sie auf und finden

beim nächsten gemeinsamen Treffen die wirklichen Wörter heraus. Wichtig ist

nur, dass sie erkennen, wie sie Wörter aus phonemischen Kombinationen

bilden können. 286

Mit fünfzehn oder achtzehn „(...) ‚generativen Wörtern’, deren Silben-

bestandteile durch Rekombination die Bildung neuer Wörter ermöglichten“,

wurde das Lesen und Schreiben in den Alphabetisierungsgruppen erlernt. Sie

genügten, „(…) um die fundamentalen Phoneme der portugiesischen Sprache“

abzudecken.287 Die Freire-Methode war so konzipiert, dass sich die Lernenden

selbst das Lesen und Schreiben beibringen konnten.288 Innerhalb von sechs

Wochen bis zu zwei Monaten war es ihnen damit bereits möglich Zeitungen zu

lesen, einfache Notizen und Briefe zu schreiben und über lokale und nationale

Problemlagen zu diskutieren.289

285 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 58. 286 vgl. ebd., S. 58f. 287 vgl. ebd., S. 54. 288 vgl. ebd., S. 60. 289 vgl. ebd., S. 58.

79

Worin besteht nun das Neue der Freire-Methode, wo doch Kodierungen,

Schlüsselwörter und die Silbenmethode auch zuvor verwendet wurden?290

Methodisch neu war, die Lernenden nicht die dargebotenen Buchstaben,

Wörter und Sätze auf mechanische Weise wiederholen und auswendig lernen

zu lassen, sondern sie anzuregen ihre „eigenen Wörter“ zu bilden. Geradezu

überraschend ist der Prozess des Auffindens der generativen Themen durch

die Lernenden und Lehrenden, die über Wochen zusammen im eigenen

Weltverband des Volkes lebten. Damit wurden nicht Fibeltexte zum

Ausgangspunkt des Lernprozesses genommen, sondern das eigene Leben.

Neu war außerdem, mit dem Lernen des Lesens und Schreibens auch den

soziohistorischen Kontext mitzulesen und zu verstehen, auf den sich die

generativen Texte beziehen.

Die Lernenden werden auf diese Weise zum Autor, zur Autorin ihrer selbst,

wenn sie, ihre durch die in der Kultur des Schweigens zuerst noch sprachlose

unaussprechliche Erfahrung in lesbare Zeichen umschreiben, um sie sich so

erst bewusst aneignen zu können. Sie beginnen sich selbst zu lesen, „ihr

Leben zu buchstabieren“.291 In diesem Bewußtseinsbildungsprozess wird das

„’Benennen’ des Lebens“ zum Anstoß zur „Veränderung des Lebens“.292 Denn

ausschlaggebend ist nach Paulo Freire, dass „(...) die Lernenden begreifen,

daß das eigentlich Wesentliche darin besteht, Geschichte zu machen und

durch sie geformt und neu geformt zu werden und nicht darin, verfremdende

Geschichten zu lesen“.293 Peter Stöger fügt folgende Ausführungen hinzu:

Entchiffrierung von Phänomenen der Wirklichkeit bedeutet, da wir von Dialog sprechen, ‚Alphabetisierung’, das heißt Aus-sprechen und Benennen der ‚Umstände’ des Lebens. Dieses Aus-sprechen bedeutet ‚Ent-äußerung’ im Dialog, ein ‚Nach-außen-Bringen’ von Chiffren, die den Prozeß des Person-werdens behindern. ‚Alphabetisieren’ signalisiert in der (...) Diktion Freires das Buchstabieren der eigenen Bestimmung der Suche nach einer Hoffnung. (...). Das gesprochene Wort ist ja nur ein Teil (nicht immer der wichtigste oder entscheidenste) dieses Prozesses, der ‚Buchstabierung meiner-selbst’. So gesehen, mag es unmöglich scheinen, ein ‚vollständiges Alphabet’ zu lernen (...).294

290 So weist bereits die „erste Lesefibel der Neuen Welt“ vom Mönch Pedro de Gante eine Silbenmethode und wichtige, meist christliche Schlüsselwörter auf. Siehe dazu auch 2. Kapitel. 291 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso – Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 3. 292 vgl. ebd., S. 25. 293 Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 28. 294 Stöger, Peter: Bewußtseinspädagogik 1982, S. 33f.

80

3.3.7 Dialektische Erkenntnistheorie

Erziehung ist für Paulo Freire „(...) immer eine bestimmte Erkenntnis-

theorie, die in die Praxis umgesetzt wird“.295 Der Erkenntnisakt vollzieht sich

im Dialog zwischen den Erkenntnissubjekten, den Lernenden und den

Lehrenden, vermittelt über das Erkenntnisobjekt, die Welt. In der kritischen

Auseinandersetzung mit der Realität „(…) wird der Lehrer zum Lehrer-Schüler

und der Schüler zum Schüler-Lehrer (...)“296 in einem fortwährenden Prozess

der Erkenntnis, in dem beide voneinander und miteinander lernen. Diesen

Prozess erläutert Paulo Freire folgendermaßen:

Echte Bildungsarbeit wird nicht von A für B oder von A über B vollzogen, sondern vielmehr von A mit B, vermittelt durch die Welt – eine Welt, die beide Seiten beeindruckt und herausfordert und Ansichten oder Meinungen darüber hervorruft.297

Seine Erkenntnistheorie bezieht sich im Wesentlichen auf folgende

Annahme: Erkenntnis entsteht durch Interaktion mit der sozialen Realität,

d.h. mit der gegenständlichen Welt einerseits und im Dialog mit anderen

Menschen. Sie weist einen klaren Bezug zur jeweiligen Lebenssituation auf

und varriiert aus diesem Grund beträchtlich. Erkenntnis entsteht prozesshaft

durch das tätige bewusste Eingreifen der Menschen in ihre Welt, die wiederum

auf sie selbst zurückwirkt und zu neuen Handlungen und neuen Erkenntnis-

erfahrungen führt. Dieser dialektische Prozess der Aktion und Reflexion wirkt

demnach verändernd auf das Erkenntnisobjekt, die Welt, wie auch auf die

Erkenntnissubjekte, die Lernenden und die Lehrenden selbst.

Erkenntnis ist daher ein Produkt sozialer Interaktion und kann kein

vorbereitetes abgeschlossenes Wissenspaket der Lehrenden (Subjekte) zur

Weitergabe an die Lernenden (Objekte) sein, die dieses fremde Wissen

entgegennehmen, es einordnen und anhäufen. Sie existiert auch nicht als

Theorie unabhängig von der konkreten Praxis, sondern ist das vorläufige

Ergebnis eines gemeinsamen Erkenntnisaktes und muss als solches immer

wieder neu geschaffen werden. Das gemeinsame Erkennen der Wirklichkeit ist

das vorrangige Ziel, denn: „Viel wichtiger als die Technik des Lesens und

Schreibens zu beherrschen ist es, die Wirklichkeit lesen und schreiben zu

lernen, d. h. die Wirklichkeit zu verstehen, zu begreifen, zu verändern“.298

295 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 43. 296 vgl. ebd., S. 44. 297 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 76f. 298 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 104f.

81

3.3.8 Conscientização

„Erziehung und Bildung sind sowohl Erkenntnisakt als auch

Bewußtseinsbildung“, formuliert Paulo Freire.299 Er definiert: „Conscientizaçâo

(Bewußtseinsweckung) ist die Entwicklung eines erwachenden kritischen

Bewußtseins“.300 Da er erkannte, „(...) daß die materiellen Bedingungen das

Bewußtsein bilden (…)“,301 ging er vom Vorhandensein unterschiedlicher

Bewusstseinsebenen in der brasilianischen Gesellschaft aus. Auf der Stufe der

„Semi-Intransitivität des Bewußtseins“302 befinden sich Menschen, die

ausschließlich mit der Sicherung ihres Überlebens beschäftigt sind. Diese

Stufe zeigt an, dass des Menschen „(...) Erfahrungswelt begrenzt ist, daß

Herausforderungen von außerhalb des Bereiches der biologischen Bedürfnisse

nicht an ihn heranreichen“.303 Begeben sich Menschen jedoch in einen Dialog

mit anderen und mit der Welt und beginnen sie Abstand zum Alltagsleben zu

gewinnen, um in einem fortwährenden Prozess der Reflexion die vorhandenen

Angebote und Problemlagen ihres gesellschaftlichen Lebensbereiches zu

begreifen und darauf zu reagieren, so entsteht eine „Transitivität des

Bewußtseins“.304

Ihr Ausgangspunkt bildet die „Naive Transitivität“, in der die Menschen

noch „Teil der Masse“ sind und ihre sich bildende Fähigkeit zum Dialog

zerstörbar ist. Damit die naive zu einer kritischen Transitivität werden kann,

ist eine kritische Bildung (neben günstigen historischen Umständen)

erforderlich. Charakteristisch für das „kritische transitive Bewußtsein“, das ein

„Kennzeichen wahrhaft demokratischer Staaten“ ist, sind: eine aktive

Haltung, die Übernahme von Verantwortung, eine „Praxis des Dialogs“, eine

tiefere Auseinandersetzung mit Problemen ohne vorgefasste Annahmen und

Verzerrungen, eine Bereitschaft zur Überprüfung und Veränderung von

Ergebnissen, schlüssige, kausale Begründungen anstatt magischer

Erklärungen, u.a.m.305

Die „Bewußtmachung, ist in erster Linie ein menschlicher Prozeß“, der

weltweit möglich ist und nicht auf die „Dritte Welt“ begrenzt werden kann.306

299 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 104. 300 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 25. 301 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 48. 302 Kennzeichnend für diese Ebene sind beispielsweise magische Sinndeutungen. Daher wird es auch magisches oder naives Bewusstsein genannt. 303 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 23. 304 vgl. ebd. 305 vgl. ebd., S. 24. 306 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 134.

82

Um diesen Begriff gab es so viele Unklarheiten und Missverständnisse,

dass Paulo Freire sich entschloss, ihn in seinen späteren Werken nicht mehr

zu verwenden.307 Sehr wohl aber beschieb er weiterhin diesen „(...)

Lernvorgang, der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche

Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen

Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen“.308

Fälschlich interpretiert wurde Paulo Freire von verschiedenen Gruppen in

Lateinamerika und Europa.309 Einige hielten Bewusstseinsbildung für eine Art

Heilungszauber zur Befreiung und Lösung von emotionalen, persönlichen und

sozialen Problemen. Andere wiederum sahen darin ein Instrument zur

revolutionären Veränderung der Welt. Wieder andere, vorwiegend christliche

Gruppen, erwarteten sich illusorisch davon, „(...) daß es möglich sei, die

Menschen zu verändern, ohne die Welt zu verändern, daß es also möglich sei,

die Menschen zu humanisieren und zu befreien und dabei die soziale

Wirklichkeit, die verbietet, daß die Menschen SIND, unangestastet (sic!-G.G.),

unberührt zu lassen“.310 Für Paulo Freire ist der Prozess der Bewusstseins-

bildung jedoch vor allem ein „dialektischer Erkenntnisakt“ der Menschen über

ihre Welt, in der sie „nicht SEIN“ können und die aus diesem Grund von ihnen

selbst durch Aktion und Reflexion entmythologisiert und verändert werden

muss.311

Veränderung geschieht nicht nur durch die bewusste Auseinandersetzung

mit den persönlichen Lebensumständen und der eigenen Rolle in der Welt. Es

genügt nicht, wenn die Menschen ihre aktuelle Situation verstehen, sie

müssen diese unterdrückenden Strukturen als veränderbar erkennen und sie

verändern wollen. Das Ziel der „conscientização“ ist die Menschen zu

befähigen nicht mehr Objekte von Aktivitäten anderer zu sein, sondern selbst

Lösungen für ihre Probleme zu finden, Entscheidungen zu treffen und aktiv

handelnd „(…) in den geschichtlichen Prozeß als verantwortliche Subjekte

einzutreten (…)“.312

307 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 101. 308 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 25. 309 Es gab natürlich auch Kreise, die die Bewusstseinsbildung ablehnten, weil sie dieser keine Bedeutung beimaßen und wie in Brasilien offensichtlich, auch jene Kräfte, die sie verhinderten, weil sie sie für machtvoll genug hielten, ihre Interessen und Machtpositionen zu gefährden. 310 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 74. 311 vgl. ebd., S. 76. 312 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 25.

83

3.3.9 Domestikation

Als Kehrseite zur „Bewußtwerdung (Conscientizaçao), dem Prozeß der

Erlangung eines kritischen Bewußtseins“, führt Paulo Freire den Prozess der

„Vermassung“ an, der Manipulation des Volkes „zu einem leicht zu

handhabenden Agglomerat ohne eigenes Denken“, manipuliert durch die Elite,

„zu einer Gesellschaft von angepaßten und domestizierten Menschen“.313 Ein

Mittel der Unterdrückung ist die Manipulation durch Myhten, wie z.B. dass:♦

♦ die unterdrückerische Ordnung eine freie Gesellschaft sei, ♦ alle Menschen die Freiheit hätten zu arbeiten, wo sie wollen, ♦ die existierende Ordnung die Menschenrechte respektiere, ♦ jeder Fleißige selbst Unternehmer werden könne, ♦ die herrschenden Eliten die Entwicklung des Volkes fördern,

weswegen das Volk zur Dankbarkeit verpflichtet sei, ♦ die Unterdrücker fleißig, die Unterdrückten hingegen faul und

unehrlich seien, ♦ es eine natürliche Unterlegenheit der Unterdrückten gegenüber den

Unterdrückern gebe.314

Die führende Elite bezweckt mit Hilfe der Manipulation ihre Ziele

durchzusetzen, um die Bevölkerung auch künftig politisch, wirtschaftlich und

kulturell zu beherrschen. Sie sollen sich mit den besseren „Werte(n), Normen

und Ziele(n)“ der Unterdrücker identifizieren, die sich durch „kulturelle

Invasion“ in ihnen festgesetzt haben, diesem (höflichen, paternalistischen,

kriegerischen, …) „Akt der Gewalt“, der ihnen lehrt, die ihnen aufgedrängte

„Sicht der Welt“ als der eigenen überlegen zu betrachten:315

Der Unterwerfer drängt den Unterworfenen seine Ziele auf und erklärt sie zu seinem Besitz. Er formt die Unterworfenen nach seinen Konturen um, und sie internalisieren diese Form und werden zu zwiespältigen Wesen, die einen anderen ‚behausen‘.316

Das Bewusstsein der Menschen ist gespalten, da sie sich einerseits von der

Unterdrückung befreien wollen, andererseits aber in gewisser Weise vom

Unterdrücker angezogen fühlen.317 Sie müssen sich zu diesem Zweck zweimal

von ihrer Abhängigkeit befreien: innerlich und äußerlich. Dies löst in ihnen

eine „Furcht vor der Freiheit“ aus, weil das bedeuten würde, „(…) daß sie

313 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 14. 314 Wagner, Christoph: Paulo Freire, in: E+Z 01/2001. (Homepage) URL: www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez101-7.htm (22.08.2007). 315 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 129f. 316 ebd., S. 116f. 317 vgl. ebd., S. 122.

84

dieses Bild (des Unterdrückers–G.G.) aus sich vertreiben und es durch

Autonomie und Verantwortung ersetzen“ müssten.318

Einflussreiche Instrumente zur Sicherung und Stützung der Herschafts-

verhältnisse sind auch die Erziehung und Bildung, denn diese sind keine

neutralen Prozesse, sondern politische Akte, die nicht losgelöst von den

jeweiligen politischen Bedingungen und der gegenwärtigen Realität betrachtet

werden können.

3.3.10 Lehrer-Schüler-Verhältnis

Die schulische und außerschulische Bildung gleicht einer Informations-

vermittlung, wobei der Lehrer die Schüler mit Lernstoff „füttert“. Paulo Freire

bezeichnete diesen Vorgang als „Depositäre Erziehung“, welche Ernst Lange

hier näher ausführt:

In Lehrer und Schüler begegnen sich Wissen und Unwissen, Haben und Nichthaben, Fülle und Leere, Macht und Ohnmacht. Und nun wird der Zögling gefüttert, aufgefüllt mit den Wörtern, Vorstellungen, Urteilen und Vorurteilen des Erziehers bzw. des Systems, dem er dient. Je widerstandsloser der Zögling sich diese Fütterung gefallen läßt, je bereitwilliger er verschlingt, was ihm vorgeworfen wird, desto erfolgreicher erscheint der Bildungsvorgang. Je mehr er sich der Auffüllung entzieht, weil das Futter ihm nicht schmeckt oder ihn nicht sattmacht, desto ‚ungebildeter‘ bleibt er. Das heißt aber: Bildung und Unterwerfung sind identisch. Man ist, im Sinne des Bildungssystems, um so erfolgreicher, je bereitwilliger man sich der Fremdbestimmung, der Programmierung mit fremdem Wissen, fremder Sprache, fremden Wertvorstellungen überläßt. Der Gebildete ist der Entfremdete.319

Die Erfahrung der Entfremdung bezieht sich vorwiegend auf ein koloniales

und nachkoloniales Bildungswesen, wo hingegen depositäre Bildung mit dem

Ziel der „Anpassung der Lernenden an einen bestehenden gesellschaftlichen

Zustand, an bestehende Herrschaftsverhältnisse“320 zweifellos ebenfalls die

aktuelle globale Situation widerspiegelt, wie nachstehendes bemerkenswertes

schweizerisches Bildungsverständnis von Hans Ulrich Stöckling321 beweist:

Wir müssen uns überlegen, wie viel Geld wir ausgeben wollen, um die Sau zu wägen, und wie viel, um die Sau zu mästen.322

318 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 34. 319 Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 13f. 320 vgl. ebd., S. 14. 321 Diese Aussage traf der St. Galler Erziehungsdirektor bei der Präsentation einer Online-Testserie für Schülerinnen und Schüler des 8. Schuljahres. 322 Stöckling, Hans Ulrich, zit. in: Neue Züricher Zeitung, Nr. 83, 08./09.04.2006, S. 41.

85

3.3.11 Bankiers-Konzept

Vehement widersprach Paulo Freire dem „Bankiers-Konzept“ der Bildung,

das die Schülerinnen und Schüler in leere Gefäße verwandelt, die es zu füllen

gilt. Er kritisierte den übermittelnden Charakter, der das Verhältnis zwischen

den Lehrenden als übermittelnde Subjekte und den Lernenden als

empfangende Objekte („Containern“) in der schulischen und außerschulischen

Erziehung dominiert. Die vermittelten Lehrinhalte wirken „leicht leblos und

versteinert“ und sind fern der „existenziellen Erfahrung“ der Schülerinnen und

Schüler, welche beginnen, diese Informationen, die nicht ihrer Wirklichkeit

entsprechen, mechanisch auswendig zu lernen und zu reproduzieren.323

Im Bankiers-Konzept der Erziehung ist Erkenntnis eine Gabe, die von denen, die sich selbst als Wissende betrachten, an die ausgeteilt wird, die sie als solche betrachten, die nichts wissen. Wo man anderen aber absolute Unwissenheit anlastet – charakteristisch für die Ideologie der Unterdrückung -, leugnet man, daß Erziehung und Erkenntnis Forschungsprozesse sind. 324

Er setzt Erziehung mit dem Vorgang einer „Spareinlage“ gleich, die die

Lehrenden als „Anleger“ von Wissen in dem „Anlage-Objekt“, den Lernenden

tätigen. Für die Lehrenden ist es dabei nicht erforderlich mit den Anlage-

Objekten zu kommunizieren, da ihre „Kommuniqués“ vollkommen genügen.325

In dieser antidialogischen Methode der Wissensübermittlung sieht Paulo Freire

den Versuch, das Denken und Handeln der Menschen zu kontrollieren. Die

Lernenden sind damit beschäftigt, sich der „bruchstückhaften Schau der

Wirklichkeit, die in ihnen eingelagert wurde, anzupassen“, anstatt ein

kritisches Bewusstsein für die Veränderung der Welt zu entwickeln.326

Das ist das ‚Bankiers-Konzept‘ der Erziehung, in dem der den Schülern zugestandene Aktionsradius nur so weit geht, die Einlagen entgegen-zunehmen, zu ordnen und aufzustapeln. Sie haben zwar die Möglichkeit, Sammler oder Katalogisierer der Dinge zu werden, die sie aufstapeln. Aber letztlich sind es die Menschen selbst, die mangels Kreativität, Veränderung und Wissen in diesem bestenfalls miß-geleiteten System ‚abgelegt‘ werden. Denn ohne selbst zu forschen, ohne Praxis, können Menschen nicht wahrhaft menschlich sein. Wissen entsteht nur durch Erfindung und Neuerfindung, durch die unge-duldige, ruhelose, fortwährende, von Hoffnung erfüllte Forschung, der die Menschen in der Welt, mit der Welt und miteinander nachgehen.327

323 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 57. 324 ebd., S. 58. 325 vgl. ebd., S. 57. 326 vgl. ebd., S. 59. 327 ebd., S. 57f.

86

3.3.12 Problemformulierende Bildungsarbeit

Paulo Freire spricht sich dafür aus, das Bankiers-Konzept als Instrument

der Domestizierung vollkommen zu verwerfen. „Problemformulierende

Bildungsarbeit“, die Kommunikation anstatt Kommuniqués verwirklicht,328

befähigt die Lernenden und Lehrenden als paritätisch forschende Subjekte

ihre Vorstellungen über sich selbst und die eigene Lebensrealität kritisch zu

hinterfragen und zu problematisieren. Sie ist daher immer am Subjekt und

ihrer oder seiner Lebenswelt orientiert. Ihr Ausgangspunkt ist die „Mensch-

Welt-Beziehung“. Die bis dahin fatalistisch eingestellten Menschen erkennen,

dass ihre sie unterdrückende soziale Realität keineswegs naturgegeben und

unabänderlich, sondern historisch entstanden und somit wandelbar ist.329 In

einer „fortwährende(n) Enthüllung der Wirklichkeit“ setzt sich die problem-

formulierende Methode ein für das „Auftauchen des Bewußtseins und für den

kritischen Eingriff in die Wirklichkeit“.330

Eine dialogische Beziehung im Sinne einer problemformulierenden Bildung

setzt an erster Stelle voraus, den „Lehrer-Schüler-Widerspruch“ aufzulösen,331

indem „beide gleichzeitig Lehrer und Schüler werden“.332

Durch Dialog hört der Lehrer der Schüler und hören die Schüler des Lehrers auf zu existieren, und es taucht ein neuer Begriff auf: der Lehrer-Schüler und die Schüler-Lehrer. Der Lehrer ist nicht länger bloß der, der lehrt, sondern einer, der selbst im Dialog mit den Schülern belehrt wird, die ihrerseits, während sie belehrt werden, auch lehren. So werden sie miteinander für einen Prozeß verantwortlich, in dem alle wachsen.333

Die problemformulierende Bildung, „die Praxis (…), daß Menschen ihre

Probleme in ihrem Verhältnis zur Welt formulieren“, ist von Anfang an eine

dialogische Begegnung auf gleicher Augenhöhe.334 Die Aufgabe des Lehrenden

ist es „(…) nach den besten Mitteln und Wegen zu suchen, die es dem

Lernenden ermöglichen, im Alphabetisierungsprozeß die Rolle des Subjektes

der Erkenntnis auszuüben“.335 Eine weitere besteht darin, die Lernenden dabei

zu unterstützen, ihr bereits vorhandenes Wissen zu systematisieren.336

328 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 64. 329 vgl. ebd., S. 69. 330 vgl. ebd., S. 65. 331 vgl. ebd., S. 64. 332 vgl. ebd., S. 58. 333 ebd., S. 64f. 334 vgl. ebd., S. 64. 335 vgl. Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 16. 336 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 48.

87

3.3.13 Dialog

Der Dialog ist die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation und

problemformulierende Bildungsprozesse, denn: „Ohne Dialog gibt es keine

Kommunikation, und ohne Kommunikation kann es keine wahre Bildung

geben“.337 Anders als bei der antidialogischen Bankierserziehung, in der die

Lehrenden bzw. das Bildungswesen vorherbestimmen, wer was wie bis wann

können muss und die Lernenden zu Objekten von Aktivitäten anderer

(Wissenseinlagen, Kommuniqués, etc.) gemacht werden, ist Dialog, im Sinne

Paulo Freires, eine „Ich-Du-Beziehung“ zweier Subjekte, in der das Du

niemals zu einem Objekt verwandelt werden darf.338 Befreiende Bildung

entsteht nicht aus angesammelten abfragbaren Informationen, sondern aus

Erkenntnisakten der Menschen über sich selbst und über ihre soziale Realität:

Da nun der Dialog jene Begegnung ist, in der die im Dialog Stehenden ihre gemeinsame Aktion und Reflexion auf die Welt richten, die es zu verwandeln und zu vermenschlichen gilt, kann dieser Dialog nicht auf den Akt reduziert werden, daß eine Person Ideen in andere Personen einlagert. (…). Weil Dialog Begegnung zwischen Menschen ist, die die Welt benennen, darf er keine Situation bilden, in der einige Menschen auf Kosten anderer die Welt benennen.339

Der Dialog setzt die Gleichheit der Teilnehmenden voraus, denn echte

befreiende Bildung erfolgt nicht für oder über andere Menschen, sondern

solidarisch mit ihnen gemeinsam, vermittelt durch die Wirklichkeit. Der Dialog

ist „(…) die Begegnung von Menschen in der Welt zum Zweck der

Verwandlung der Welt“.340 Er vervollständigt: „Dialog als Begegnung zwischen

Menschen zur ‚Benennung‘ der Welt ist eine grundlegende Voraussetzung

ihrer wahren Humanisierung“.341 Diese dialogische Begegnung charakterisiert

Paulo Freire als „eine horizontale Beziehung zwischen Personen“, bzw. eine

„Beziehung der ‚Empathie’ zwischen zwei ‚Polen’, die auf einer gemeinsamen

Suche sind“ und die „Liebe, Hoffnung und gegenseitiges Vertrauen“

miteinander verbindet. Der Dialog wird durch „Liebe, Bescheidenheit,

Hoffnung, Glauben und Vertrauen“ gebildet.342 An anderer Stelle fügt Paulo

Freire hinzu: „Liebe ist zugleich die Begründung des Dialogs und der Dialog

selbst“.343

337 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 76. 338 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 57. 339 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 72. 340 vgl. ebd., S. 109. 341 ebd., S. 116. 342 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 50. 343 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 73.

88

3.3.14 Gegenstimmen

Das Werk Paulo Freies erhielt Kritik aus vielen Richtungen, wie Heinz-

Elmar Tenorth erklärt. Den Konservativen behagte sein revolutionärer Entwurf

selbstverständlich nicht, der ihnen „demagogisch und utopisch“ erschien. So

manche Marxisten wandten sich gegen die christlichen Grundgedanken in

seiner Theorie und hielten seine „Konzipierung des Alltagsbewußtseins für zu

idealistisch“. Von feministischer Seite wurde beanstandet, dass Paulo Freire

die einschneidenden Ungleichheiten der Unterdrückungsformen bei den

Geschlechtern und deren Auswirkungen nicht in seine Theorie miteinbezogen

hat. Weiters kritisiert wurde, dass er „(…) eine sexistische Sprache, ein

patriarchales Verständnis von Revolution und Subjektivität habe und

rassistische und ethnizistische Herrschaftsformen nicht berücksichtige“. Die

Postmodernisten verwiesen auf den Widerspruch zwischen seiner Annahme

der „(…) Geschichtlichkeit und Kontingenz gesellschaftlicher Formationen und

seiner Vision der Befreiung als einer universellen menschlichen Aufgabe“. 344

Volker Lenhart und Martina Maier führten Probleme bei der Umsetzung

seiner Prinzipien in die Praxis an und kritisierten, dass:

- die Aussagen über Ziele der Befreiung und der Bewußtseinsbildung vage und ungenau sind; sie entwickeln sich, so Freire, erst während der Alphabetisierung; der Prozeß wird somit leicht manipulierbar;

- die gesellschaftstheoretische Fixierung des Konzepts klare Zuordnungen (Unterdrücker-Unterdrückte) postuliert, die nicht nur notwendig politische Wertungen voraussetzen, sondern in manchen konkreten gesellschaftlichen Kontexten nicht eindeutig vorgenommen werden können;

- für eine Umsetzung in großangelegten Projekte (sic!-G.G.) die nötigen Richtlinien fehlen;

- eine Übertragung in andere Entwicklungsländer schwierig ist, da sich die Durchführung und Organisation sehr aufwendig und anspruchsvoll gestaltet;

- keinerlei Kriterien zur Evaluierung der Programme geboten werden;345

Getreu seinem dialogischen Prinzip setzte sich Paulo Freire mit kritischen

Stimmen (meist an seinen frühen Werken) auseinander, war bemüht um

bessere Verständlichkeit, klärte und änderte politische und ideologische

Standpunkte und wies seine Kritikerinnen und Kritiker immer wieder darauf

hin, die Evolution in seinem Denken wahrzunehmen und anzuerkennen.346

344 vgl. McLaren, Peter; De Lissovoy, Noah: Paulo Freire, in: Tenorth, Heinz-Elmar 2003, S. 224f. 345Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 488. 346 vgl. Kane, Liam: Popular Education 2001, S. 50.

89

4. EUROPA

Paulo Freire hat lange Jahre in Genf gelebt. Er schrieb über die Situation in

Europa:

Der Begriff der Dritten Welt, ich habe es immer wieder gesagt, ist kein geographischer. Die Dritte Welt ist die der Abhängigkeit, des Schweigens, und die Beziehung zwischen der Ersten und der Dritten Welt ist eine dialektische: Es gibt eine Dritte Welt innerhalb der Ersten so gut wie die Erste Welt innerhalb der Dritten. Es ist sehr leicht, die Dritte Welt in Europa zu finden!347

Seine Bildungstheorie war besonders ab den 70er und 80er Jahren auch in

Europa voll inspirierender Wirkung. Ihr Einfluss auf die Alphabetisierung und

Grundbildung verringerte sich jedoch immer mehr und heutzutage überwiegen

deutlich funktionalistisch ausgerichtete Alphabetisierungsansätze. Wie es zu

dieser Veränderung kam und wie sich die Alphabetisierung und Grundbildung

in Europa348 ab den 70er Jahren bis heute entwickelt hat, wird auf folgenden

Seiten näher ausgeführt.

4.1 Alphabetisierung und Grundbildung in Europa

Es dauerte lange Zeit, bis in einigen westeuropäischen Ländern erstmals

sichtbar wurde, dass die Annahme unrichtig war, Unkenntnis oder gravierende

Wissenslücken im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen würden nur in den

armen Ländern des Südens existieren und innerhalb der Industrieländer

ausschließlich bei Menschen mit Migrationshintergrund und sozialen

Randgruppen zutreffen. Jahrelange Schulbildung verhindert zwar die

Unkenntnis, garantiert aber nicht die Vermittlung ausreichender Fähigkeiten

und Kenntnisse im Umgang mit den Wörtern und Zahlen. Das zeigen die in

den letzten Jahren durchgeführten internationalen Bildungsstudien (PISA,

IALS, ALL) aufs deutlichste.

Nunmehr werden europaweit Konferenzen und Tagungen im Rahmen der

Zielsetzungen des UN-Bildungsprogramms „Education for All“ und der

Alphabetisierungsdekade (2003–2012) abgehalten, die jeweilige Bevölkerung

durch mediale Präsenz auf die Situation von Menschen mit großen

Schwierigkeiten im Schriftsprachbereich aufmerksam gemacht und vielerorts

Kurse für unterschiedliche Gruppen organisiert.

347 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 136. 348 Deutschland, die Niederlande und Großbritannien werden als Beispiele vorgestellt.

90

Warum geschieht das alles? Die wechselnden und anwachsenden

Anforderungen im privaten und beruflichen Leben machen gute Schriftsprach-

und Grundbildungskenntnisse für Erwachsene in den Industrieländern

unentbehrlich. So können berufliche Weiterbildungen oder Umschulungen

enorme Hürden für Menschen mit Schriftsprachproblemen bedeuten und eine

vollständige Wiederholung oder Auffrischung der Lese- und Schreibkenntnisse

unumgänglich machen.

Zugleich führen die Bestrebungen Europas zur Wissensgesellschaft

heranzureifen, die bescheidenen Erfolge für etliche Teilnehmerinnen und

Teilnehmer bei den Studien im Ländervergleich und die hohen Kosten, die

durch Bildungsmängel für die Gesellschaft entstehen, immer mehr Staaten

dazu, verstärkt Bildungsinitiativen für Kinder und Erwachsene zu fördern. So

führt beispielsweise der Anstieg der technologischen Anforderungen durch die

Kommunikations- und Informationssysteme in den 90er Jahren auch in

Europa zu einer permanent sich vergrößernden digitalen Kluft (digital divide).

Diese Kluft, die sich weltweit öffnet zwischen technologisch alphabetisierten

und technologisch nicht alphabetisierten Menschen, wird nach den Worten von

Josef Müller „(...) für Entwicklungsländer zunehmend zum Existenz-

problem“.349 Werner Mauch sieht hier die Aufgabe Europas folgendermaßen:

Die Herausforderung für Europa sei demnach, eine Wissens-gesellschaft zu werden, ohne dass (intern) Randgruppen den Anschluss verlieren und ohne (extern) die Wissenskluft, die zwischen der industrialisierten Welt und den armen Ländern bestehe, zu vergrößern.350

4.1.1 Quantitative Erhebungen

Das Europäische Parlament nahm vor der EU-Erweiterung an, dass in den

Mitgliedsländern 10-20% der Bürgerinnen und Bürger und bei den

Beitrittsländern bis zu 30% der Bevölkerung

(...) unfähig sind, die für das Funktionieren in der Gesellschaft und das Erreichen ihrer Ziele, Vervollständigung ihrer Kenntnisse und

349 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 22. 350 Mauch, Werner: Bildung für alle, in: ÖFSE 2006, S. 14. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006).

91

Steigerung ihres Potenzials erforderlichen Drucksachen und Schriftstücke zu verstehen und zu verwenden (...).351

Das wären in Zahlen ca. „(...) 37-74 Millionen von 370 Millionen

Menschen. In den 25 Mitgliedsstaaten der EU mit 450 Millionen Einwohnern

schätzen ExpertInnen sogar eine Rate bis zu 30%“,352 also ca. 135 Millionen

Menschen.

Im Rahmen der „Education for All“ Initiative wird im Weltbildungsbericht

(2006) den europäischen Staaten die vollständige oder beinahe vollständige

EFA-Zielerreichung bestätigt. Werner Mauch erinnert allerdings daran, dass

für diese Angaben bis auf wenige Länder wie „Griechenland, Israel, Malta,

Spanien und Zypern“ die Zahlenangaben zur Alphabetisierung fehlen und

entgegnet: “Es lassen sich somit derzeit praktisch keine einigermaßen validen

Aussagen über die tatsächlichen Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten der

Erwachsenen in den meisten europäischen Ländern treffen“.353

In Spanien werden die Erhebungen zur Schriftsprachlichkeit und

Schulbildung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen durchgeführt.

„Demnach gibt es in Spanien 1.200.000 absolute Analphabeten und acht bis

neun Millionen funktionale Analphabeten“, berichtet Marion Döbert.354 Von 4

Millionen Deutschen über 15 Jahren wird angenommen, dass sie große

Schwierigkeiten mit der Schrift haben.355 Der Moser Report erhob für England

folgendes Ergebnis:

Some 7 million adults in England – one in five adults – if given the alphabetical index to the Yellow Pages, cannot locate the page reference for plumbers. [...] It means that one in five adults has less literacy than is expected of an 11-year-old child.356

351 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften: Analphabetismus und soziale Ausgrenzung, 07.02.2002, S. C284E/344. (Homepage) URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/oj/2002/ce284/ce28420021121de03430346.pdf (09.06.2008). 352 vgl. Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 353 Mauch, Werner: Bildung für alle, in: ÖFSE 2006, S. 13. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006). 354 Döbert, Marion: Spanische Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 8. 355 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 19. 356 Moser Report, zit. in: Rath, Otto 35/2002, S. 70.

92

4.2 Internationale Studien

Mehrere Staaten haben im Rahmen ihrer Schul- und Erwachsenenbildung

nationale Untersuchungen durchgeführt und sich an länderübergreifenden

Studien beteiligt. Vergleichbare Daten zum funktionalen Analphabetismus sind

allerdings noch ausständig. Für diese Arbeit wurden daher drei internationale

Bildungsstudien ausgewählt, die keine Datenanalyse über den funktionalen

Analphabetismus beabsichtigen und ermöglichen, aber dennoch für die

Alphabetisierung und Grundbildung von großer Bedeutung sind.

4.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA)

Die OECD Studie Programme for International Student Assessment

(PISA) begann ab dem Jahr 1997 alle 3 Jahre den Leistungsstand von 15 bis

16 jährigen Schülerinnen und Schülern in den Teilnehmerländern zu erheben,

um auf diese Weise die nationalen Bildungssysteme auf internationaler Ebene

vergleichbar zu machen. Die Leistungsergebnisse sollen die teilnehmenden

Länder darüber informieren, „(...) ob ihre Bildungssysteme in ausreichendem

Maß gewährleisten, dass sich Kinder und Jugendliche Schlüsselqualifikationen

in den für das berufliche und gesellschaftliche Leben als Erwachsene

relevanten Bereichen aneignen können“.357

An allen Schultypen der Teilnehmerländer werden die Grundkompetenzen

in den Bereichen Lesen (reading literacy), Mathematik (mathematical literacy)

und Naturwissenschaften (scientific literacy; Physik, Chemie, Biologie,

Erdwissenschaft)358 getestet. Im Jahr 2000 lag das Hauptaugenmerk auf dem

Lesen, 2003 auf der Mathematik und 2006 auf den Naturwissenschaften.

Daneben werden auch mögliche Einflussfaktoren auf die Leistungsergebnisse

erforscht: Den „sozioökonomischen Hintergrund“ und „emotionale Faktoren“

der Schülerinnen und Schüler „(...) wie etwa Freude, Interesse am

Gegenstand oder Angst vor einem Unterrichtsfach oder die Einschätzung, ob

das in der Schule Gelernte nützlich für mich ist?“, des Weiteren „die

Bildungsausgaben eines Landes“ und „die Qualität der Ausbildung der

unterrichtenden Lehrer/innen“.359

357 vgl. Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008). 358 2003 wurde zusätzlich das Problemlösen (problem soving) getestet, welches bei späteren PISA Erhebungen keinen eigenen Bereich mehr darstellen wird. 359 vgl. Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008).

93

PISA 2003 brachte für die „literacy skills“ der Jugendlichen folgendes

Ergebnis: „In eight out of the twenty-six high-income countries and territories

participating, 20% or more of the 15-year-old students performed at level 1

or below“.360 Getestet werden nicht nur die Leistungen der Schülerinnen und

Schüler aus den genannten Unterrichtsfächern, sondern fächerübergreifende

Grundkompetenzen nach dem literacy-Konzept.361 Die Ergebnisse der PISA

Studie für Österreich werden im sechsten Kapitel angegeben.

Nachstehende Tabelle zeigt die Entwicklung zwischen 2000 und 2003 für

den Bereich Lesen auf der untersten Leistungsstufe 1 und darunter:

Abbild 3: Evolution of PISA results between 2000 and 2003: reading.

4.2.2 International Adult Literacy Survey (IALS)

Die International Adult Literacy Survey (IALS) der OECD testete das

Leseverständnis von Texten (Prose literacy), von schematischen Abbildungen

(Document literacy) und die Rechenkenntnisse (Quantitative literacy) der

Durchschnittsbevölkerung (16 bis 65 Jahre) aus insgesamt 20 Ländern.362

Prose literacy: the knowledge and skills needed to understand and use information from texts including editorials, news stories, poems and fiction.

360 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 59. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 361 Siehe dazu „literacy-Konzept“ im 1. Kapitel auf S. 30. 362 Nicht befragt wurden Behinderte, Patienten in Spitälern und Strafgefangene.

94

Document literacy: the knowledge and skills required to locate and use information contained in various formats, including job applications, payroll forms, transportation schedules, maps, tables and charts.

Quantitative literacy: the knowledge and skills required to apply arithmetic operations, either alone or sequentially, to numbers embedded in printed materials, such as balancing a chequebook, figuring out a tip, completing an order form or determining the amount of interest on a loan from an advertisement.363

In der IALS-Studie heißt es: „Literacy is defined as the ability to

understand and employ printed information in daily activities, at home, at

work and in the community – to achieve one’s goals, and to develop one’s

knowledge and potential.“364 Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden in

fünf aufsteigende Niveaus eingeteilt, wobei die untersten Stufen für das Lesen

bedeuten:

Level 1 indicates persons with very poor skills, where the individual may, for example, be unable to determine the correct amount of medicine to give a child from information printed on the package.

Level 2 respondents can deal only with material that is simple, clearly laid out, and in which the tasks involved are not too complex.(...). It identifies people who can read, but test poorly. They may have developed coping skills to manage everyday literacy demands, but their low level of proficiency makes it difficult for them to face novel demands, such as learning new job skills.365

Erst ab der Stufe 3 wird vom Vorhandensein von Minimalfertigkeiten für

die Bewältigung der Anforderungen aus dem Alltags- und Berufsleben

ausgegangen. Die IALS-Untersuchung macht deutlich, dass ausnahmslos in

allen teilnehmenden Ländern eine hohe Anzahl von Personen sehr geringe

Leseleistungen aufweisen. Selbst in Schweden, wo die höchsten Werte (32%)

auf der Stufe 4/5 im Bereich „Prose literacy“ erzielt wurden, erreichten 28%

der Erwachsenen nur die Kompetenzstufe 1 oder 2.366 In Deutschland

befanden sich 1995 14,4% der Erwachsenen auf dem Level 1 und 34,2% auf

der Stufe 2 beim Leseverständnis von Prosatexten.367

Ziel der von 1994 bis 1998 durchgeführten IALS-Studie war es außerdem,

Einflussfaktoren auf die „literacy skills“ aufzuzeigen. „The report found that a

363 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 364 ebd. 365 ebd. 366 vgl. ebd. 367 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 31.

95

person’s socio-economic background, educational attainment and labour force

experience are just some of the factors influencing literacy skills“.368

4.2.3 Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL)

Die Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL) der OECD ist die

Nachfolgestudie der IALS. Geplant und durchgeführt wurde sie zwischen 2000

und 2004. In sechs Ländern369 (Schweiz, Norwegen, Italien, Kanada, die

Vereinigten Staaten und Bermudas) wurden die Grundfertigkeiten der

Erwachsenen (16 bis 65 Jahre) in folgenden Bereichen erhoben: die

Lesekompetenz von Texten und schematischen Abbildungen, die Kenntnisse

im Alltagsrechnen und die Problemlösefähigkeit. Weitere fünf Staaten

(Ungarn, die Niederlande, Australien, Neuseeland und Südkorea) haben für

die nächste Testreihe ihr Interesse bekundet.

Länderübergreifend bestätigte sich, dass die Ausbildung, das Alter und die

Herkunft der Personen einen wichtigen Einfluss auf die Grundkompetenzen

Erwachsener ausüben.370 Die Befragung erfolgt durch Interviews. Die

Aufgaben bestehen aus alltagsbezogenen „Stimuli“ (Gebrauchsanweisung,

Mietvertrag, Werbeprospekt, ...) mit dazugehörenden Fragestellungen. Diese

werden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern schriftlich beantwortet und

in Leistungsstufen entsprechend der IALS-Studie ausgewertet.371 Von den

Teilnehmenden aus der Schweiz verblieben beim Leseverständnis von Texten

ca. 16% auf dem niedrigsten Kompetenzniveau und 36% auf der nächst-

höheren Stufe 2.372

Bislang wurde durch Studien häufig nur die Lesekompetenz, nicht aber die

Schriftsprachbeherrschung der teilnehmenden Personen erhoben. Marion

Döbert und Peter Hubertus weisen darauf hin, dass die Anzahl der Menschen

mit akzeptablen Lesefertigkeiten jedoch enormen Schwierigkeiten im

Schreiben ungleich höher ist als die Zahl der Erwachsenen mit Problemen im

Lesen und im Schreiben. 373

368 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 369 Die Vertreter Österreichs ließen eine Machbarkeitsstudie erstellen, entschieden sich aber letztendlich gegen eine Teilnahme. 370vgl. Bundesamt für Statistik:Grundkompetenzen 2005, S. 5. (Homepage) URL: www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/dienstleistungen/publikationen_statistik/publikationskatalog.Document.61993.html (12.06.2006). 371 vgl. ebd., S. 8. 372 vgl. ibw-Bildung & Wirtschaft: Strukturwandel–Bildung–Employability, S. 18. (Homepage) URL: www.ibw.at/html/buw/BW34.pdf (05.09.2006). 373 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 32.

96

4.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Grundbildung

Bemerkt wurde funktionaler Analphabetismus während des 2. Weltkriegs

zunächst in den USA als Ursache von vorerst unerklärlichen Misserfolgen des

Militärs, nachdem schriftliche Befehle von einigen Soldaten nicht verstanden

wurden. In Europa wurde das Thema ab den späten 60er Jahren (Irland) und

vielfach ab den 70er Jahren (Deutschland) diskutiert.374 Häufig waren die

Ergebnisse nationaler Untersuchungen ein Indiz für bestehende Schriftsprach-

mängel in der Gesellschaft. Verschiedene Staaten wie Irland, Großbritannien

und die Niederlande begannen erste Kurse anzubieten. Im deutschsprachigen

Raum war Deutschland das erste Land, das 1978 mit Maßnahmen begann.

1984 gab es in der Schweiz erste Alphabetisierungskurse. Verglichen dazu

sehr spät kam es erst 1990, nach einzelnen eher erfolglosen Versuchen in den

80er Jahren, in Österreich zur Konzeptentwicklung für Alphabetisierungs- und

Basisbildungsangebote. Der erste Kurs startete 1991 in Wien.

Ausgehend von der Überzeugung, die allgemeine Schulpflicht gewährleiste

in den westlichen Industrieländern ohnehin die notwendigen Schriftsprach-

kompetenzen, war es zunächst mehr als verwunderlich, als die Nachfrage

nach Angeboten für das (Wieder-)Lernen von Lesen, Schreiben, Rechnen und

von PC-Kenntnissen anstieg. Wie kam es zu diesem vermehrten Lerninteresse

der Jugendlichen und Erwachsenen? Die allgemein höhere Bildungsbeteiligung

und die veränderten Anforderungen an die berufliche Qualifikation einerseits,

sowie die mit der strukturellen Arbeitslosigkeit einhergehende erhöhte

Arbeitsmarktkonkurrenz veranlassten Menschen, die bisher auch ohne

ausreichende Schriftsprachkenntnisse ihr Leben erfolgreich meisterten, ihre

Lernbedürfnisse an die jeweiligen Privatinitiativen und staatlichen

Einrichtungen der Erwachsenenbildung heranzutragen. Sie waren zunehmend

die Betroffenen, die, wie Hannelore Bastian bemerkt, durch technologische

Entwicklungen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt wurden:

Somit waren es nicht deren fundamentale Bildungsdefizite und die daraus folgenden Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsentfaltung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sondern die veränderten ökonomischen Bedingungen, die der Erwachsenenbildung eine neue Zielgruppe und Aufgabe zuführten.375

In der Tat war es bis zu den 70er Jahren noch wesentlich leichter auch

374 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 72f. 375 Bastian, Hannelore: Vorbemerkungen, in: Tröster, Monika 2002, S. 5.

97

ohne Schulabschluß ins Berufsleben einzusteigen, da genügend Arbeitsplätze

zu finden waren, die Lesen und Schreiben nicht generell erforderlich machten.

Durch die Einführung neuer Technologien wurden damals viele dieser

Arbeitsplätze wegrationalisiert. Zahlreiche ungelernte Arbeiterinnen und

Arbeiter verloren ihre Stelle, weil sie nicht an Maschinen eingeschult werden

konnten, die Lesen und/oder Schreiben erforderlich machten. Sie konnten

aufgrund ihres Handikaps an keinen Umschulungen oder Qualifizierungs-

maßnahmen teilnehmen.376 So werden mittlerweile selbst im Bereich der

Hilfstätigkeiten fast ausschließlich Arbeitsplätze angeboten, die eine

entsprechende Schriftsprachkompetenz und vorhandene Computerkenntnisse

voraussetzen. Ein Lernender berichtet von seinen Erfahrungen mit dieser

Entwicklung:

Besonders in den letzten fünf bis sechs Jahren wurde es für mich am Arbeitsmarkt immer schwieriger, weil überall Computer eingesetzt wurden. Früher hat dich niemand gefragt, ob du lesen oder schreiben kannst. Vor 35 Jahren, da hat dich keiner gefragt!377

4.4 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato

Es gibt sehr unterschiedliche Entwicklungen in Europa.378 In manchen

Ländern, wie z.B. in den Niederlanden, Großbritannien und Belgien, wird

Grundbildung staatlich finanziert. Die Trainerinnen und Trainer durchlaufen

qualifizierende Ausbildungsgänge, absolvieren verbindliche Fortbildungen und

stehen häufig in sozial abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen.

In Deutschland sind diese Bedingungen nicht uneingeschränkt gegeben.

Trotz einer fast 30-jährigen Alphabetisierungs-Tradition fehlt nach wie vor ein

flächendeckendes Kursangebot inklusive gesicherter Finanzierung. Derzeit

nehmen jährlich ungefähr „20.000 Erwachsene“ an Lese- und Schreibkursen

teil, die vom „(…) Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie von

den entsprechenden Ministerien der Länder finanziert werden“.379 Jedes

einzelne der Zentren (meist der Volkshochschule) muss für die Finanzierung

376 vgl. Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 117. 377 B., Heinrich: Vor 35 Jahren, da hat dich keiner gefragt!, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 150. 378 Mehr Länder und detaillierte Informationen dazu in: ALFA-FORUM 43/2000; ALFA-FORUM 45/2000; Kleine DIE-Länderberichte des deutschen Instituts für Erwachsenen-bildung (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf. 379 vgl Deutsche UNESCO-Kommission: Bildung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 173.

98

der Kurse selbst aufkommen und ist dabei von den lokalen Behörden

abhängig, weshalb nicht in allen Landesteilen genügend Kursangebote zur

Verfügung stehen. „Es gibt keinen ausdrücklichen Plan oder gar eine

Strategie, um dem funktionalen Analphabetismus in Deutschland zu

begegnen, sondern zahlreiche unterschiedliche Ansätze“, berichtet die

Deutsche UNESCO-Kommission.380

Es existiert auch keine nationale Agentur für die Alphabetisierung. Eine

stärkere Institutionalisierung und Professionalisierung im Rahmen der

Ausbildungsgänge und Organisationen wurde ebenso wiederholt gefordert.381

Der deutsche Bundesverband Alphabetisierung382 geht von 4 Millonen

„(funktionalen) Analphabeten“ (über 15 Jahre) aus, das sind etwa 6,3%.383

Nach den Ergebnissen der IALS-Studie (1995) erreichen 14,4% Erwachsene

(über 15 Jahre), d.h. ca. 7,7 Millionen Menschen nur die niedrigste Stufe der

Lesekompetenz. Erst die PISA-Studie fand großes bildungspolitisches Echo,

nachdem deren Ergebnisse erkennen ließen, dass in Deutschland „ein Viertel

der Schüler die Schule ohne ausreichende Grundbildung verlässt“.384

Viele Projekte wurden vom Bundesverband Alphabetisierung initiiert, die

den Bekanntheitsgrad der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland

enorm steigern konnten. Beispiele dafür sind: das bundesweite ALFA-

TELEFON, dass mittels einer Kampagne durch TV-Spots, Zeitungen und Kino

beworben wurde; das Projekt APOLL (Alfa-Portal Literacy Learning), eine freie

Lernplattform im Internet; das Projekt F.A.N. (Fußball.Alphabetisierung.

Netzwerk), wobei im Zuge der Fußballweltmeisterschaft 2006 eine sechsteilige

TV-Serie, inklusive leicht lesbarer Lektüren und Sachtexte entwickelt wurde;

das Projekt ALFA-MOBIL, um in Regionen mit einer geringen Anzahl von

Alphabetisierungskursen Informationen und Schulungen für die Lernplattform

anzubieten, usw.385 Ferner werden in Deutschland regelmäßig Fachtagungen,

380 Deutsche UNESCO-Kommission: Bildung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 173. 381 vgl. Tröster, Monika: Deutschland, in: Kleine DIE-Länderberichte (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf (20.08.2007). 382 Der Bundesverband Alphabetisierung ist eine Gemeinschaft von Privatleuten, Instituten und Vereinigungen, die keinerlei öffentliche Mittel erhält. 383 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 19. 384 vgl. Tröster, Monika: Deutschland, in: Kleine DIE-Länderberichte (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf (20.08.2007). 385 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 21.

99

Ausstellungen, Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt sowie

Unterrichtsmaterialien, Fachliteratur und –zeitschriften angeboten.386

Peter Hubertus und Sven Nickel machen für die deutsche

Alphabetisierungsarbeit auf eine historische Entwicklung aufmerksam, die

auch für einige andere europäische Länder zutreffen dürfte:

Seit Beginn der Erwachsenen-Alphabetisierung vor etwa 20 Jahren hat sich das Selbstverständnis und die Zielsetzung verändert: Standen zunächst Emanzipation und Befreiung im Sinne Paulo Freires (1973) im Mittelpunkt, gewann zunehmend die soziale Partizipation und später die Integration in die Arbeitswelt an Bedeutung. Heute wird weit mehr die wirtschaftliche Notwendigkeit von Grundbildung betont.387

Ein kritischer Bericht von Kees Hammink beschreibt diese Entwicklung in

den Niederlanden. In den Anfängen, Mitte der 70er Jahre, orientierten sich

die vorwiegend durch Freiwilligen- und Gemeinwesenarbeit außerhalb von

Erwachsenenbildungseinrichtungen entstandenen Alphabetisierungsprojekte

an den „soziale(n) und politische(n) Lebensbedingungen“ und den „Interessen

der Lernenden“. Die theoretische Basis für ihr Arbeit bildete Paulo Freires

Ansatz: „Alphabetisierung als Weg zu Emanzipation und Befreiung“.388 Die

Alphabetisierung wurde zunehmend mehr formalisiert und von ausgebildeten

Lehrenden in institutionalisiertem Rahmen organisiert. Die Finanzierung

übernahm die Regierung, wodurch immer stärker der „regierungsunabhängige

und freiwillige Charakter der Alphabetisierungsbewegung“ entschwand.389

Aufgrund der stetigen Institutionalisierung, Professionalisierung und der

Übernahme der Verantwortung durch die Regierung und die Gemeinden

vollzog sich ein Wandel von einem eher „ideologisch geprägten Ansatz hin zu

einem funktional ausgerichteten“.390 Die Zielrichtung verschob sich zunächst

auf „sozialer Partizipation“ anstatt „Emanzipation und Befreiung“ und bis

heute, wegen der sich zuspitzenden Situation am Arbeitsmarkt in den frühen

90er Jahren, auf die „Partizipation an der Arbeitswelt“. Die Lernenden werden

nicht mehr mit „‘arm‘, ‘bildungsbenachteiligt‘ und ‚marginalisiert‘“

charakterisiert, sondern es wird von „Risikogruppen, Drop-Outs und

386 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 143; vgl. Bundesverband Alphabetisierung. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de. 387 Hubertus, Peter; Nickel, Sven: „Alphabetisierung von Erwachsenen“, in: Didaktik der deutschen Sprache – ein Handbuch, S. 8. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/Handbuch_Didaktik_der_deutschen_Sprache.pdf (13.05.2007). 388 vgl. Hammink, Kees: Alphabetisierung, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 16. 389 vgl. ebd. 390 vgl. ebd., S. 17.

100

Langzeitarbeitslosen“ gesprochen, wodurch die „wirtschaftliche Notwendigkeit

von Grundbildung“ deutlich unterstrichen wird. Die zu erwerbenden

Qualifikationen werden nunmehr curricular durch die finanzierenden

Einrichtungen vorgegeben und die persönlichen Vorteile der Lernenden sowie

emanzipatorische Aspekte rückten weitgehend in den Hintergrund.391 Kees

Hammink fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen:

Modulsysteme, Zertifikate, Berufs- und Arbeitsmarktorientierung, curriculare Vorgaben und Einbindung in riesige Bildungszentren führten zwar dazu, dass man den Alphabetisierungsbereich heute als professionalisierter bezeichnen kann. Was wir jedoch immer mehr verloren haben ● ist der Blick auf den einzelnen Menschen und sein Recht auf Lesen

und Schreiben und Selbstverwirklichung, ● die Gruppe als Erfahrungs-, Selbsthilfe- und Begegnungsraum, ● das freie, fantasiegeleitete Schreiben von Geschichten ● und bei aller Betonung von Funktionalität die politische Bedeutung

der Alphabetisierung und Grundbildung.392

In Großbritannien gab es Anfang der 70er Jahre die erste Kampagne von

freiwilligen Aktivisten.393 Im Jahre 1975 wurde die „Basic Skills Agency“

(BSA), als nationale Einrichtung der Erwachsenenalphabetisierung eingesetzt.

Laut IALS-Studie haben 6 Millionen Menschen in diesem Land große Probleme

mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Regierung ordnete in den späten

80er Jahren ein „Rahmenkonzept für Erwachsenengrundbildung“ an, welches

„Standards und Bewertungskriterien für grundlegende Fertigkeiten“

beinhaltet, die laufend weiter entwickelt werden.394 Bereits 1992 wurde die

Erwachsenengrundbildung als Bereich der Weiterbildung in England und Wales

gesetzlich anerkannt. Im Rahmen der „nationalen Literarisierungsstrategie

(National Literacy Strategy)“ wurde 1999 eine Studie durchgeführt (Moser

Report)395, woraus die nationale Regierungsstrategie „Skills for Life“

resultierte.

Grundbildung am Arbeitsplatz wird in Großbritannien stark von den

Gewerkschaften unterstützt. Lange Zeit überwogen wirtschaftliche Motive. Die

391 vgl. Hammink, Kees: Alphabetisierung, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 17. 392 ebd. 393 Bis heute arbeiten die Lehrenden in Großbritannien meist in Teilzeitstellen oder auf freiwilliger Basis. 394 Dieses Rahmenkonzept ist auf ein einheitliches System nationaler beruflicher Qualifikationen (National Vocational Qualifications, NVQs) abgestimmt, einem Teilbereich der nationalen Trainingsziele und Qualitätsstandards. 395 vgl. Hamilton, Mary: Erwachsenenalphabetisierung in England, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 43/2000, S. 20.

101

für den internationalen Wettbewerb qualifizierte „fähige Arbeitskraft“ und

nicht der „mündige Bürger“ stand im Zentrum. Mary Hamilton merkt an, dass

die Besorgnis um die Folgen des sozialen Ausschlusses in Großbritannien

zunimmt. Sie bezieht sich dabei auf das „Konzept des sozialen Ausschlusses“,

welches auf eine Gesellschaft hinweist, „(…) die gefährdet wird durch eine

besitzlose Minderheit, die systematisch ausgeschlossen ist nicht allein von

guten Berufen, sondern auch von der Teilnahme an dem Leben in ihrer

Gemeinschaft“.396 Womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei den

Eingangs zitierten Worten von Paulo Freire angekommen wären.

396 vgl. Hamilton, Mary: Erwachsenenalphabetisierung in England, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 43/2000, S. 21.

102

5. BILDUNGSPOLITIK IN EUROPA

Während der „48. Salzburger Gespräche für Leiterinnen und Leiter in der

Erwachsenenbildung“, mit dem Titel „Erwachsenenbildung - Eine Zumutung?

Kritische Zugänge zum lebenslangen Lernen“, zitierte Sonja Muckenhuber

einen Teilnehmer eines Grundbildungskurses, der erklärte:

„Lebenslanges Lernen ist schon eine Zumutung, nämlich für die, die nicht daran teilnehmen können, weil ihnen die Voraussetzungen dazu fehlen. So wird der Abstand zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten immer größer“.397

Bildung ist eine wesentliche Ressource, um wirtschaftliche, technologische

und gesellschaftliche Veränderungen meistern zu können. Dieses Kapitel ist

daher der Bildung und der aktuellen Bildungspolitik in Europa gewidmet.398

5.1 Bildungspolitik der Europäischen Union

Es war im März 2000, als die Staats- und Regierungsverantwortlichen der

EU Staaten beim Ratstreffen in Lissabon den Beschluss fassten, bis 2010 die

Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens-basierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschafts-raum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammen-halt zu erzielen.399

Eine „wissensbasierte Gesellschaft“ mit Hilfe von Konzepten wie das

„Lebenslange Lernen“ zu schaffen, ist die Vision der Europäischen Union.

Bildung wird als wichtiger „Produktivitätsfaktor“ gesehen, der in erster Linie

das Wirtschaftswachstum beschleunigen und die internationale Wettbewerbs-

fähigkeit erhöhen soll. Sie wird, aus ökonomischer Perspektive, verkürzt auf

„employability, d.h. auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von

individueller Erwerbsfähigkeit und Beschäftigbarkeit.400 Neuere Mitteilungen

397 Claus, zit. in: Duschl, Leander; Muckenhuber, Sonja, S. 81. (Homepage) URL: http://files.adulteducation.at/voev_content/207-report_sbg48.pdf (01.09.2007). 398 Zunächst wollte ich der Fragestellung nachgehen, wie sich die aktuellen bildungs-politischen Zielsetzungen auf die Lernenden in der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich auswirken. Diese Frage habe ich hier jedoch zugunsten der vorgestellten Themen und Überlegungen hintangestellt, um die Diplomarbeit in Zeit und Umfang nicht noch weiter auszudehnen und sie bald zu einem Abschluss bringen zu können. 399 Bundesministerium: Die Lissabonstrategie. (Homepage) URL: www.eu-bildung-2010.at/index.php? (23.06.2008). 400 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 129f.

103

der Kommission heben, über den wirtschaftlichen Nutzen hinausgehend, auch

die Wichtigkeit des lebenslangen Lernens für die „soziale Integration, den

Bürgersinn und die persönliche Entwicklung“ hervor.401

5.1.1 Lebenslanges Lernen

Es geht folglich im Beschluss des Europäischen Rates um eine geplante

Umformung der europäischen Gesellschaft, da beabsichtigt wird „(…) Europa

zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wissensgesellschaft der Welt zu

machen“.402 Der europäische Rat bekräftigte403: „‘Jedem Bürger müssen die

Fähigkeiten vermittelt werden, die für das Leben und die Arbeit in dieser

neuen Informationsgesellschaft erforderlich sind‘“.404 Diese gesellschaftliche

Umgestaltung verlangt nach einem neuen Konzept, dem lebenslangen Lernen,

welches allen Menschen einen „(…) aktiven Umgang mit den Folgen von

Globalisierung, demographischem Wandel, digitaler Technologie und

Umweltschäden“ ermöglicht.405 Unter dem lebenslangen Lernen versteht die

Europäische Kommission (2001):

Lebenslanges Lernen

Alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen, bzw. beschäftigungs-bezogenen Perspektive erfolgt.406

5.1.2 Neue Basiskompetenzen

Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission, dem „Memorandum

über Lebenslanges Lernen“ (2000) werden die „neuen Basisqualifikationen“:

„IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, Technologische Kultur, Unternehmergeist

und soziale Fähigkeiten“ neben den „herkömmlichen Grundkompetenzen“:

„Lesen, Schreiben und Rechnen“ forciert.407 Sich diese neuen Basis-

qualifikationen anzueignen, wird als „unerlässlich für alle Menschen“ sowie als

401 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 402 vgl. Kommission: Europäischer Raum, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2001/com2001_0678de01.pdf (02.01.2007). 403 In vielen Dokumenten der Europäischen Gemeinschaft wird einzig die männliche Form verwendet und nicht auf eine geschlechtergerechte Formulierung geachtet. 404 Europäischer Rat, zit. in: Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 2. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2007). 405 vgl. Kommission: Europäischer Raum, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2001/com2001_0678de01.pdf (02.01.2007). 406 ebd., S. 34. 407 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 12.

104

„(…) erste Stufe eines kontinuierlichen Prozesses des lebenslangen Lernes“

dargestellt, der für den sich ständig verändernden Arbeitsmarkt nötig ist.408

Demgemäß lautet eine Forderung aus dem Memorandum:

Personen, denen es aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war, das erforderliche Qualifikationsniveau zu erwerben, müssen die Chance bekommen, dies nachzuholen, so oft sie auch gescheitert sind oder versäumt haben, entsprechende Angebote wahrzunehmen.409

Diese neuen, für alle gültigen, Basiskompetenzen werden definiert als die

„(…) Kompetenzen, die Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an

der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft (…)“.410 Das bedeutet,

um aktiv partizipieren zu können, muss zuvor eine bestimmte Leistung

erbracht werden. Für all jene, die den neuen Basisqualifikationen entsprechen

können, bietet lebenslanges Lernen die Chance einer dauerhaften

Partizipation und Integration in die Wissensgesellschaft und in die Wirtschaft.

Umgekehrt bedeutet es, dass Menschen, die den zu leistenden Beitrag nicht

erbringen können, nur eine eingeschränkte Teilhabe in Arbeits- und

Alltagswelt möglich ist und sie von „social exclusion“, von

Ausgrenzungserfahrungen bedroht sind.

Es gibt etliche kritische Stimmen zum Konzept des lebenslangen Lernens,

welches hier nur in Zusammenhang mit Basisbildung und Alphabetisierung

betrachtet wird. Eine Bemerkung von Antje Doberer-Bey sei kurz ausgeführt:

Der Gedanke der Verwertbarkeit ist hier zentral. Diese Anforderungen genießen eine hohe Akzeptanz, und ihre allgemeine Notwendigkeit wird nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus gilt es festzuhalten, dass Bildungskonzepte, die über die ‚Bildung zur Brauchbarkeit‘ hinausgehen, oftmals besser der eigentlichen Bildungsmotivation entsprechen.411

5.1.3 Europäische Referenzniveaus

Damit der Wissensstand der Menschen in Richtung der Zielsetzung von

Lissabon angehoben werden kann, beschloss der Europäische Rat 2003,

neben den Maßnahmen „(…) Erfahrungsaustausch sowie Peer-Reviews zur

Verbreitung bewährter Praktiken“412 zusätzlich auch „fünf europäische

408 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 13. 409 ebd. 410 vgl. ebd. 411 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 8. 412 vgl. Kommission: Europäische Benchmarks, S. 3. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/bench_ed_trai_de.pdf (03.01.2008).

105

Referenzniveaus (Benchmarks)“ für die allgemeine und berufliche Bildung in

Europa.413 Die Europäische Kommission vermerkt: „Die Referenzniveaus für

Lesekompetenz, frühzeitiger Schulabgang, Abschluss der Sekundarstufe II

und Teilnahme an der Erwachsenenbildung stehen in engem Zusammenhang

mit der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen“.414 Diese Zielvorgaben sind:

– Bis 2010 sollten alle Mitgliedstaaten den Anteil der Schulabbrecher entsprechend der Zahl aus dem Jahr 2000 mindestens halbieren, so dass ein EU-Durchschnitt von höchstens 10% erreicht wird.

– Bis 2010 haben alle Mitgliedstaaten das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei den Hochschulabsolventen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Technik mindestens halbiert, während sie gleichzeitig, im Vergleich zum Jahr 2000, einen allgemein bedeutenden Anstieg der Gesamtzahl von Hochschulabsolventen sicherstellen.

– Bis 2010 sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der Anteil der 25- bis 64-Jährigen, die zumindest die Sekundarstufe II abgeschlossen haben, im EU-Durchschnitt wenigstens 80% erreicht.

– Bis 2010 ist der Prozentsatz der 15-Jährigen, die im Bereich von Lesekompetenz, mathematischer Grundbildung und naturwissen-schaftlicher Grundbildung schlechte Leistungen erzielen, in jedem Mitgliedstaat im Vergleich zum Jahr 2000 mindestens zu halbieren.

– Bis 2010 sollten sich im EU-Durchschnitt mindestens 15% der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe 25-64 Jahre) am lebenslangen Lernen beteiligen; in keinem Land soll die Quote unter 10% liegen.415

5.1.4 Grundfertigkeiten und Schlüsselkompetenzen

Eine Arbeitsgruppe des Arbeitsprogrammes „Allgemeine und berufliche

Bildung 2010“ entwickelte einen Rahmen für „Schlüsselkompetenzen“. Die

„Grundfertigkeiten“416 wurden in diesem neu konzipierten europäischen

Referenzrahmen „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“ eingefügt.

Der Begriff Kompetenz umfasst darin eine „Kombination aus Wissen,

413 Die Ergebnisse von 2007 siehe: Kommission: Wissen, Kreativität und Innovation durch lebenslanges Lernen. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0703de01.pdf; Progress towards the lisbon objectives 2010 in education and training. (Hompage) URL: ec.europa.eu/dgs/education_culture/publ/pdf/educ2010/indicatorsleaflet_en.pdf. 414 Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 11. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2007). 415 Kommission: Europäische Benchmarks, S. 4. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/bench_ed_trai_de.pdf (03.01.2008). 416 Grundkompetenzen: Sprache, Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT und die zuvor als neue Basiskompetenzen bezeichteten Fertigkeiten: IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, technologische Kultur, Unternehmergeist und soziale Fähigkeiten.

106

Fähigkeiten und kontextabhängigen Einstellungen“.417 Zum Begriff Schlüssel-

kompetenzen zählen „(…) diejenigen Kompetenzen, die alle Menschen für ihre

persönliche Entfaltung, soziale Integration, aktive Bürgerschaft und

Beschäftigung benötigen“.418 Die Schlüsselkompetenzen sollten allgemein bis

zum Ende der „Grund(aus)bildung“ erworben und in der Folge mittels

lebenslangen Lernen „weiterentwickelt, aufrechterhalten und aktualisiert“

werden.419 Dazu gehören:

1. Muttersprachliche Kompetenz 2. Fremdsprachliche Kompetenz 3. Mathematische Kompetenz und grundlegende naturwissenschaftlich

-technische Kompetenz 4. Computerkompetenz 5. Lernkompetenz 6. Interpersonelle, interkulturelle und soziale Kompetenz und

Bürgerkompetenz 7. Unternehmerische Kompetenz 8. Kulturelle Kompetenz.420

Alle acht Schlüsselkompetenzen werden in diesem europäischen Referenz-

rahmen inhaltlich detailiert ausgeführt und sollen, in einem weiteren Schritt,

innerhalb der nationalen lebenslangen Lernstrategien Verwendung finden.

5.1.5 Europäischer Qualifikationsrahmen

Ende November 2007 wurde die politische Einigung auf den „Europäischen

Qualifikationsrahmen (EQR) für lebenslanges Lernen“ bekanntgegeben. Das

Referenzinstrument stellt „eine Art Übersetzungshilfe“ dar, um „Qualifikations-

niveaus verschiedener Länder und verschiedener Aus- und Weiterbildungs-

systeme“ miteinander vergleichbar zu machen. Die Ziele des EQR sind in

erster Linie „a) die grenzüberschreitende Mobilität zu fördern und b) das

lebenslange Lernen zu vereinfachen“.421 Sämtliche Qualifikationen, vom

Pflichtschulabschluss bis zu höchsten Ebenen beruflicher oder akademischer

Bildung, werden in acht EQR-Niveaus beschrieben. Sie lassen erkennen, „(…)

was die Lernenden wissen, verstehen und können, und dies unabhängig von

417 vgl. Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 15. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2207). 418 vgl. ebd. 419 vgl. ebd. 420 ebd. 421 vgl. Europäische Union: Europäischer Qualifikationsrahmen. (Homepage) URL: europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1760&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (15.01.2008).

107

dem System, in dem die Qualifikation erworben wurde".422 Nationale

Qualifikationssysteme sollen bis 2010 an die Empfehlung angeglichen werden.

Ab 2012 sollen zudem die Qualifikationsnachweise innerhalb der EU einen

Verweis auf das vergleichbare EQR-Referenzniveau angeben.423

5.1.6 Wirtschaftliche Herausforderungen

Wie werden all diese (und noch viele andere) Maßnahmen und Konzepte

von Seiten der europäischen Bildungspolitik begründet? In einem Dokument

der Europäischen Kommission wird mitgeteilt, dass laut der „Maastricht-Studie

über berufliche Aus- und Weiterbildung“ europäischen Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmern vielfach das benötigte Bildungsniveau für neue Arbeitsplätze

fehlt, da mehr als ein Drittel, d.h. 80 Millionen Menschen, über geringe

Qualifikationen verfügen. Rund die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze bis 2010,

gehen Schätzungen zufolge allerdings an Absolventinnen und Absolventen von

Hochschulen, fast 40% erfordern einen „Abschluss der Sekundarstufe II“ und

schätzungsweise nur 15% stehen tatsächlich für Menschen mit geringen

Qualifikationen zur Verfügung.424

Daher legt die Europäische Kommission allen Mitgliedstaaten nahe, speziell

auch im Hinblick auf diejenigen Menschen, die „(…) nicht in der Lage (sind-

G.G.), im täglichen Leben einen geschriebenen Text zu verstehen und zu

verwenden“, weiterhin dafür Sorge zu tragen, dass alle Bürgerinnen und

Bürger Schlüsselkompetenzen erwerben.425 Denn zentral, nach der Lissabon-

Strategie, ist es, die ökonomische Herausforderung „(…) mehr Wettbewerbs-

fähigkeit und mehr Beschäftigung unter Wahrung des sozialen Zusammen-

halts“ zu bewältigen.426 Erreicht werden soll die höhere Wettbewerbsfähigkeit

mittels dem „Schlüsselfaktor“ einer „innovativen, fortschrittlichen und

qualitativ hochwertigen allgemeinen und beruflichen Bildung“, indem

vorgesehen ist, „(…) das allgemeine Kompetenzniveau anzuheben, um den

Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden und es den Bürgern zu

422 vgl. Europäische Union: Europäischer Qualifikationsrahmen. (Homepage) URL: europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1760&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (15.01.2008). 423 Zu EQR siehe: Europäisches Parlament: Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. (Homepage) URL: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2007-0463+0+DOC+XML+V0//DE (15.01.2008). 424 vgl. Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 12. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2207). 425 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 4. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 426 vgl. ebd., S. 3.

108

ermöglichen, eine angemessene Rolle in der heutigen Gesellschaft zu

spielen“.427

Ein weiteres Argument bezieht sich auf den demografischen Wandel, der

sich in Europa vollzieht. So wird die Anzahl der Jugendlichen, bis zum Alter

von 24 Jahren, in den nächsten 30 Jahren um 15% zurückgehen, jede dritte

Person wird bereits über 60 Jahre und jede Zehnte über 80 Jahre alt sein.

Durch den Rückgang der Zahl der jugendlichen Erwerbstätigen und weil

außerdem in der Altersgruppe der 55 bis 64 jährigen Personen nur mehr jede

Dritte erwerbstätig ist, „(…) muss das Potenzial der Erwachsenenbildung voll

ausgeschöpft werden, um den Anteil der erwerbstätigen jungen Menschen zu

erhöhen und die Erwerbstätigkeit älterer Menschen zu verlängern“.428 Konkret

soll das in zwei wichtigen Punkten geschehen, einerseits bei der „Entschärfung

der Schulabbrecherproblematik (6 Mio. Schulabbrecher im Jahr 2005)“ und

bei der „Verbesserung der Kompetenzen und der Anpassungsfähigkeit von

gering qualifizierten Arbeitnehmern über 40 Jahre, so dass sie mindestens

eine Qualifikationsstufe höher kommen“.429 Der Arbeitskräftemangel soll auch

zum Teil durch Einwanderung ausgeglichen werden.

Eine weitere Herausforderung, bei der die Erwachsenenbildung eine

„Schlüsselrolle“ einnimmt, ist die „Bekämpfung sozialer Ausgrenzung“. In

allen Mitgliedstaaten sind „Armut und soziale Ausgrenzung“ als starke

Problemlagen vorhanden. „Schlechte Grundbildung, Arbeitslosigkeit, soziale

Isolierung in ländlichen Gebieten und Mangel an Lebensperspektiven“ sowie

auch „neue Formen des Analphabetismus“ durch „fehlenden Zugang zu

Informations- und Kommunikationstechnologien im Alltag“ u.a.m., sind

Ursachen für die Marginalisierung von Menschen.430

Im „Aktionsplan Erwachsenenbildung. Zum Lernen ist es nie zu spät“

(2007) ergänzt die Europäische Kommission zwei Punkte:

● es geht um eine bessere Integration von Migranten in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Erwachsenenbildung bietet maßgeschneiderte Kurse, einschließlich Sprachkurse, um diesen Integrationsprozess zu fördern. Außerdem kann die Teilnahme an der Erwachsenen-bildung im Aufnahmeland Migranten helfen, die Validierung und Anerkennung der Qualifikationen zu sichern, die sie bereits mitbringen;

427 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 428 vgl. ebd., S. 4. 429 vgl. ebd. 430 vgl. ebd., S. 5.

109

● es geht darum, die Beteiligung am lebenslangen Lernen zu steigern und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Beteiligung ab einem Alter von 34 Jahren abnimmt. Angesichts des Anstiegs des durchschnittlichen Erwerbsalters in ganz Europa muss auch die Teilnahme älterer Arbeitnehmer an der Erwachsenenbildung zunehmen.431

5.1.7 Nutzen der Erwachsenenbildung

Den Nutzen der Erwachsenenbildung und bestehende Hindernisse für eine

Teilnahme an Bildungsprozessen im Erwachsenenalter zu erheben, ist für die

europäische Bildungspolitik im Sinne der Lissabon-Strategie bedeutungsvoll.

Wobei die Europäische Kommission unter dem Begriff „Erwachsenenbildung“

hier „alle Formen des Lernens durch Erwachsene nach Abschluss der

allgemeinen und/oder beruflichen Bildung, unabhängig von dem in diesem

Prozess erreichten Niveau (d. h. einschließlich Hochschulbildung)“ versteht.432

Forschungsergebnisse der OECD433 verweisen auf eine „große Bedeutung von

Investitionen in die Erwachsenenbildung“, die in folgenden „öffentlichen und

privaten Nutzeffekten der Erwachsenenbildung“ ersichtlich werden434:

(…) die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, eine höhere Produktivität, qualitativ bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, weniger Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung, Sozialleistungen und vorgezogene Altersrenten, aber auch ein höherer sozialer Nutzen in Form einer stärkeren Teilhabe an der Gesellschaft, besserer Gesundheit und geringerer Kriminalität. Hinzu kommt, dass die Betroffenen zufriedener sind und sich stärker selbst verwirklichen können.435

Forschungsergebnisse aus Untersuchungen mit älteren Erwachsenen

erbrachten ebenfalls, „(…) dass diejenigen, die aktiv lernen, gesünder sind, so

dass bei ihnen weniger Kosten für die Gesundheitsversorgung anfallen“.436

Gemäß der IALS-Studie (2004) der OECD beeinflusst eine „ausgeglichene

Kompetenzverteilung innerhalb der Bevölkerung“ überdies merklich die

„allgemeine Wirtschaftsleistung“.437 Somit kann Erwachsenenbildung deutlich

positive Effekte für die einzelnen Menschen selbst, als auch für die jeweilige

431 Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 3. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 432 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 433 Gemeint ist hier die OECD Studie „Promoting Adult Learning“ (2005). 434 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 435 ebd. 436 vgl. ebd., S. 2f. 437 vgl. ebd., S. 4.

110

Gesellschaft bringen. „Die Erwachsenenbildung steigert nicht nur die Effizienz

der Arbeitskräfte, sondern sorgt auch für besser informierte und aktivere

Bürgerinnen und Bürger und verbessert zudem ihr persönliches Wohl-

befinden“, informiert die Europäische Kommission.438

5.1.8 Zugangsbarrieren

Erwachsene (Altersgruppe 25-64 Jahre) beteiligten sich am lebenslangen

Lernen noch nicht so zahlreich, wie seitens der europäischen Bildungspolitik

erwünscht wäre. Die Teilnahmezahl war im Gegenteil im Jahr 2006 sogar

leicht rückläufig.439 Die Europäische Kommission ist daher bestrebt, Zugangs-

barrieren Erwachsener zu Bildungsprozessen aufzuzeigen, damit diese Hürden

rasch abgebaut werden können. Sie berichtet, dass Bildungsbarrieren

einerseits auf politischen Gründen beruhen, die das „Informationsangebot“

oder die anbietenden Institutionen „Zugangsvoraussetzungen, Kosten,

Umfang der Unterstützung beim Lernen, Art der Lernergebnisse usw.“

betreffen, sie können auf die Lebenssituation, z.B. auf die kulturelle

Bedeutung von Bildung, auf unterstützende Teilnahmebedingungen durch die

Familie oder das soziale Umfeld zurückzuführen sein und auch auf den

lernenden Menschen selbst, im Hinblick auf das eigene „Selbstwertgefühl und

Selbstbewusstsein“ sowie auf frühere negative Bildungserfahrungen.440

Meist bestehen die größten Hürden aufgrund von „Zeitmangel“, „fehlendes

Bewusstsein und fehlende Motivation“ sowie „mangelnde Informationen über

das Angebot und fehlende Mittel zur Finanzierung der Bildung“. Auffällige

Gemeinsamkeiten sind zudem „(…) bei der Struktur der Teilnehmerschaft zu

beobachten: in allen Ländern wird die Erwachsenenbildung am seltensten von

denjenigen mit dem geringsten Bildungsstand, älteren Menschen, Bürgern aus

ländlichen Gebieten sowie Behinderten genutzt“.441 In diese Richtung zeigt

auch der Fortschrittsbericht (2008) zum Arbeitsprogramm „Allgemeine und

berufliche Bildung 2010“, indem die Europäische Kommission festhält: „Bei

Erwachsenen mit hohem Bildungsstand ist die Wahrscheinlichkeit der

438 Kommission: Erwachsenenbildung, S. 5. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 439 vgl. Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 4. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 440 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 6. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 441 vgl. ebd.

111

Teilnahme am lebenslangen Lernen sechs mal höher als bei gering

qualifizierten Erwachsenen“.442

Die Europäische Kommission notiert deshalb in einer aktuellen Mitteilung

zur Höherqualifizierung Erwachsener:

Angesichts der Voraussagen für die demografische Entwicklung in Europa, mit sinkender Arbeitskräftezahl und daraus resultierendem Arbeitskräftemangel, sind Investitionen in das Human- und Sozialkapital der Zielgruppen unerlässlich.443

Eine „Schlüsselherausforderung“ für die Erwachsenenbildung stellt ferner,

nach Auffassung der Kommission, die „Bereitstellung einer Dienstleistung“

dar, welche versucht, den zahlreichen an sie gerichteten Erwartungen allseits

gerecht zu werden, indem sie „(…) einerseits den Bedürfnissen des

erwachsenen Lernenden entspricht, andererseits aber auch den Bedarf von

Arbeitsmarkt und Gesellschaft angemessen berücksichtigt und gleichzeitig die

Nachfrage steigert“.444 Diese Herausforderung erfolgreich zu meistern gelang

der österreichischen Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“ hervorragend,

denn sie „wird auf der Website der Europäischen Kommission als ‚On-the-

Ground Good Practice‘ veröffentlicht“.445

5.2 Basisbildung und lebenslanges Lernen

Der Forderung der europäischen Bildungspolitik nach lebensbegleitendem

Lernen können viele Menschen aufgrund ihrer unzureichenden Kenntnisse im

Lesen, Schreiben und Rechnen nicht nachkommen. Sie können dieser Vorgabe

zweifellos jedoch auch deshalb nicht nachkommen, weil flächendeckend

qualitätsgesicherte Basisbildungsangebote in Österreich fehlen. So wurde

während eines Transferdialogs (2007) von Seiten eines Vertreters der

Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“ pointiert dargelegt, dass es allein

bei einer Hochrechnung der durch die PISA-Studie nachgewiesenen 10-20%

Betroffenen in Bezug zu den gegenwärtig ca. 1000 Plätzen in Basisbildungs-

kursen, ungefähr 670 Jahre dauern würde, bis der Berg an Basisbildungs-

defiziten in Österreich abgetragen wäre.446

442 Kommission: Wissen, Kreativität, S. 8. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0703de01.pdf (02.01.2008). 443 Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 9. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 444 vgl. ebd., S. 7. 445 vgl. AlphaBetisierungsCentrum Salzburg: Geschäftsbericht 2006, S. 7. 446 vgl. IFA-Steiermark: Basisbildung, S. 13. (Homepage) URL: www.ifa-steiermark.at/relaunch/de/evaluationen_details_neu.asp?art=1 (25.01.2008).

112

Wissenserwerb und lebenslanges Lernen setzen den Zugang zu Basis-

bildungsangeboten voraus. Wenn es allen Menschen möglich gemacht werden

soll, die grundlegenden Kulturtechniken - neben vielem anderen - zu erlernen,

braucht es dazu entsprechende Informationen, eine adäquate, sensible

Beratung und vor allem finanziell langfristig abgesicherte Basisbildungs-

angebote in ausreichender Anzahl und örtlicher Nähe. Antje Doberer-Bey

argumentiert, dass durch die „(…) aktive Integration jener Menschen in das

Bildungssystem“, durch ihren „Zugang zum lebensbegleitenden Lernen“ sowie

ihrer „Teilnahme an Weiterbildung“ erst die nötigen „(…) Voraussetzungen für

ein gesichertes Arbeitsverhältnis und die Erhöhung der Beschäftigungs-

fähigkeit“ sowie für die uneingeschränkte „Teilhabe an der Gesellschaft“

gegeben sind.447 Gertrud Kamper unterstreicht aufgrund ihrer Praxiserfahrung

ebenfalls: „Erwachsenenbildung unter dem zentralen Motto des (mehr oder

weniger freiwilligen) lebenslangen Lernens für alle ist ohne Grundbildung für

Erwachsene, und zwar als ständiges Angebot, nicht zu verwirklichen.“448

5.2.1 Kohärente LLL-Strategie in Österreich

Innerhalb der 2005 vorgestellten „Vorschläge zur Implementierung einer

kohärenten LLL-Strategie in Österreich bis 2010“ wird speziell auf die durch

Globaliserung und steigende Individualisierung verstärkte soziale Segregation

zwischen den ausreichend für den Arbeitsmarkt qualifizierten und den gering

qualifizierten Menschen Bezug genommen. Letztere sind häufiger von sozialer

Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit betroffen und da kann lebenslanges Lernen,

nach Ansicht der Autorinnen und Autoren, zu einem sozialen Ausgleich führen.

Da aber die Bereitschaft zur Teilnahme am lebenslangen Lernen bei Menschen

mit hohem Bildungsstand höher ist, würde eine unspezifische Bildungs-

förderung die bestehenden Ungleichheiten verschlechtern „(Matthäus Effekt)“

und die soziale Ausgrenzung weiter intensivieren. Sie sprechen sich daher für

eine besondere Förderung „sozial und geografisch benachteiligter Gruppen,

MigrantInnen, bildungsferner Schichten, Personen mit niedrigen Basis-

qualifikationen, Wiedereinsteigerinnen, Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit

bedrohter ArbeitnehmerInnen“ aus.449 Unerlässlicher Bestandteil der Strategie

ist es auch, geschlechtsspezifische Ungleichheiten allgemein zu überwinden

447 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 7. 448 Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 32. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 449 vgl. Donau Universität Krems: Vorschläge LLL-Strategie, S. 9. (Homepage) URL: www.biber.salzburg.at/DonauuniLLL-Strategiepapier.pdf (08.10.2007).

113

und Gender Mainstreaming zu etablieren. Das „Ziel ist der Aufbau einer

integrativen Gesellschaft, die allen Menschen gleiche Zugangs- und

Teilnahmechancen zum Lernen bietet“.450

5.2.2 Steigende Anforderungen in Alltags- und Arbeitswelt

Zählten zunächst Lesen, Schreiben und Rechnen und im Weiteren auch

PC-Kenntnisse zu den benötigten Kulturtechniken, wird von allen Menschen

erwartet, dass sie ihren Wissensstand, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen

flexibel an die sich rasch wandelnden und expandierenden Erfordernisse der

Arbeitswelt anpassen können. Steigende Anforderungen erzeugen Druck unter

den schwieriger werdenden Bedingungen am Arbeitsmarkt. Sie sind für viele

Menschen, nicht nur für Personen mit nicht ausreichenden Kompetenzen in

der Schriftsprache, zu hoch. So warnt Antje Doberer-Bey insbesondere davor,

dass sich die Auswirkungen der gesellschaftlichen Anforderungen verstärkt auf

die einzelnen Menschen verlagern und speziell geringer qualifizierte Personen

rasch „ins Abseits“ geraten.451 Die kontinuierlich steigenden Ansprüche im

Arbeits- und Alltagsleben setzt Marion Döbert in Bezug zu Erwachsenen, die

Lesen, Schreiben und Rechnen wieder erlernen. Sie beschreibt eindringlich die

schier unlösbare Schwierigkeit, in der sich diese Menschen befinden: „Die

Qualifikationsspirale schraubt sich immer höher, während am untersten Ende

der Qualifikationshierarchie Menschen mühsam Buchstaben erlernen oder ihre

ersten eigenen Texte schreiben“.452

Otto Rath gibt zum lebenslangen Lernen, als Norm unserer Gesellschaft,

zu bedenken: „Das Konzept suggeriert, dass niemand je fertig gebildet ist.

Funktionale AnalphabetInnen kommen in den Prozess des lebenslangen

Lernens nicht hinein, was ihren Selbstwert zusätzlich untergräbt“.453 Er warnt

davor, dass die Gesundheit dieser Menschen bedroht ist: „Eine psycho-

somatische Reaktion ist eine Möglichkeit: Wer permanent überfordert ist –

auch von den Vorgaben des Bildungssystems – kommt an einen Punkt, wo

er/sie sich krank fühlt“.454 Der Autor zieht aus diesem Grund folgenden

450 Donau Universität Krems: Vorschläge LLL-Strategie, S. 9. (Homepage) URL: www.biber.salzburg.at/DonauuniLLL-Strategiepapier.pdf (08.10.2007). 451 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 9. 452 Döbert, Marion, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 77. 453 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 47. 454 ebd.

114

Schluss: „Lebenslanges Lernen ist in diesem Zusammenhang oftmals weniger

eine Lösung als eine Druckverschärfung“.455

5.3 Bildung im Wandel - Bildung für den Wandel

Es folgen einige Überlegungen zur wechselnden Bedeutung von Bildung. In

der modernen Gesellschaft, berichtet Christoph Reinprecht, verleiht Bildung

die Legitimation für die Einnahme von Statuspositionen. Hoher Verdienst und

soziales Ansehen resultieren primär aus der persönlichen „Lernfähigkeit und

Leistungsbereitschaft“ des einzelnen Menschens. Anstatt der „‘natürlichen

Auslese‘ (durch Herkunft und Abstammung)“ gilt hier das „meritokratische

Prinzip“, das besagt, dass Bildung als Selektionsinstrument für die individuelle

Statuszuweisung über das Kriterium Leistung fungiert.456 In der späten

Moderne, der „wissensbasierte(n) Gesellschaft“, wird Bildung hingegen „als

ein zentraler, wenn nicht als der Produktivitätsfaktor“ betrachtet mit dessen

Hilfe bezweckt wird, die wirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit

anzuheben.457 Bildung zielt hier seit langem nicht mehr auf die „(…)

allgemeine Befähigung zu selbständigem Denken und mündigem Handeln,

sondern auf den Zugewinn an wirtschaftlicher Produktivität (…)“.458

Gegenwärtig unterscheidet sich der Bildungsdiskurs gravierend von den

Diskussionen während der Bildungsexpansion der späten 60er und der 70er

Jahre. Wie Christoph Reinprecht ausführt, wurde damals beabsichtigt, die

„bildungsfernen Schichten“ zu integrieren, um ihnen die „gesellschaftliche

Teilhabe und soziale Mobilität“459 zu ermöglichen.460 Derzeit geraten allerdings

Zielsetzungen wie eine „Demokratisierung der Bildungsbeteiligung oder eine

sozial gerechtere Verteilung der Bildungschancen“ durch die bestehende

Ökonomisierung der Bildung weitgehend aus dem Blick.461 Bildung wird in

erster Linie auf berufliche Bildung (employability) reduziert.

5.3.1 Auswirkungen des Bedeutungswandels von Bildung

Der von Christoph Reinprecht beschriebene Wandel in der Bedeutung von

455 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 47. 456 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 129. 457 vgl. ebd. 458 vgl. ebd., S. 130. 459 Soziale Mobilität meint den Aufstieg in eine höhere gesellschaftliche Statusposition. 460 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 130. 461 vgl. ebd.

115

Bildung verstärkt massiv den Druck auf die einzelnen Menschen, sich

lebenslang den „wachsenden Anforderungen und Selektionserfordernissen des

Bildungssystems“ zu stellen.462 Er schildert die zunehmende Ausrichtung am

Nutzen und an Verwertungsinteressen auch in „außerökonomische(n)

Bereichen“, wie dem Privatleben. „‘Es muss sich rechnen‘“ wurde als Haltung

längst schon Bestandteil des Selbstkonzeptes, z.B. bei der Planung des

Berufsweges, wobei der Autor auch darauf hinweist, dass der „berufliche

Lebenslauf“ im Grunde „(…) nur in sehr beschränktem Maße individuell

bestimmbar, sondern weitgehend sozial strukturiert und durch stabile

herkunftsabhängige Muster der Statuszuweisung gekennzeichnet ist“.463

Der Bedeutungswandel vollzog sich im Zusammenhang des „Struktur-

wandels der Arbeitswelt“, da zuvor klar abgegrenzte „Tätigkeitsfelder und

Berufsverläufe“ im Vergleich zu den „verschiedenen weichen skills (wie z.B.

Teamfähigkeit, kommunikative oder interkulturelle Kompetenzen) und harten

Fertigkeiten (ausbildungsabhängige Qualifikationen)“ immer weniger gefragt

waren.464 Der „Zwang zur permanenten Weiterbildung“, erfolgt aus der

Notwendigkeit heraus, diese Kompetenzen ständig zu aktualisieren und zu

ergänzen und erfordert von allen Menschen zeitlebens eine „erhöhte Lern-

und Anpassungsbereitschaft“.465

Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelt Christoph Reinprecht die

These, dass durch den von ihm beschriebenen Bedeutungswandel von Bildung

die „sozialen Selektionseffekte und Ungleichheiten im Bildungsbereich massiv

verschärft werden (…)“.466 Seiner Ansicht nach wird die „Reproduktion der

Ungleichheitsordnung“, gekennzeichnet durch das Auseinanderdriften von

„ressourcenärmeren und ressourcenreicheren, d.h. von bildungsnäheren und

bildungsfernen Schichten“, um eine zusätzliche Dimension erweitert:467

Globalisierung und neoliberale Ökonomie reproduzieren nicht nur die herkömmliche gesellschaftliche Spaltungslinie, sondern führen dazu, dass eine Reihe von Gruppen und Personen vom Zugang zum Arbeitsmarkt und damit von jeder Möglichkeit einer selbständigen und gesellschaftlich anerkannten Existenzsicherung dauerhaft ausge-schlossen bleibt. Die Erzeugung von Überflüssigen ist ein hervor-stechendes Merkmal der globalisierten Moderne und eng in einen

462 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 130. 463 vgl. ebd., S. 131. 464 vgl. ebd. 465 vgl. ebd. 466 vgl. ebd., S. 132. 467 vgl. ebd.

116

Kreislauf der Bildungsdeprivation eingebunden: Ungenügende Bildungsausstattung versperrt den Zugang zu stabileren Zonen des Arbeitsmarktes, soziale Exklusion wiederum verstetigt die Bildungs-abstinenz.468

Christoph Reinprecht zufolge, bringt der „zunehmend individualisierte

Bildungswettlauf“ Gruppen von „GewinnerInnen und VerliererInnen“ und von

„Überflüssige(n)“ hervor.469 Die gewinnenden Gruppen - versehen mit

„institutionalisierte(n) Bildungsressourcen“ und „klassenspezifischem Habitus“

- können in der ihnen auferlegten Schnelligkeit die steigenden Bildungs-

anforderungen sowie die wachsenden und wechselnden Wissensmengen

bewältigen und für sich nutzbar machen.470 Hingegen sind „Personengruppen

mit ungenügenden Bildungsressourcen (keinem oder nur einem Pflichtschul-

abschluss), stark diskontinuierlichen (Aus)Bildungskarrieren oder Bildungs-

titeln ohne ausreichende arbeitsmarktrelevante Qualifikationen (…)“ speziell

gefährdet, der Gruppe der Verliererinnen und Verlierer anzugehören.471 Durch

die Individualisierung stellt der nicht erfolgte soziale Aufstieg ein „individuelles

Versagen“ (wegen persönliche Leistungsdefizite) und kein „Klassenschicksal“

mehr dar, wie umgekehrt auch Erfolg nicht „Ausdruck der Klassenlage“

sondern als persönliche Leistung gedeutet und inszeniert wird.472

Der Ausgang des institutionalisierten Bildungswettlaufs lässt sich, so der

Autor, statistisch glaubhaft voraussagen: Die Ungleichheitsordnung verfestigt

sich, wobei der Bildungsreichtum nur den höheren sozialen Schichten

anhaltend zugute kommt und die Anzahl der „potentiellen oder relativen

VerliererInnen“, die keine verlässlichen Bildungsressourcen mitbringen, größer

wird.473 In einem gewissen Sinne zählen aber auch die verlierenden Personen

zur Gruppe der Gewinnenden, da diese am Bildungswettlauf immerhin

teilnahmeberechtigt sind. Von den gewinnenden und verlierenden Personen-

gruppen gemeinsam ausgegrenzt werden die so genannten „Überflüssigen“,

wie „(…) Nicht-Versicherte, Schulabbrecher, the unemployable, Ausländer

ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (‚Illegale‘), Kriminelle, physisch und

psychisch Behinderte und chronisch Leistungsgeminderte, Drogen-

468 Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 132. 469 vgl. ebd., S. 149. 470 vgl. ebd. 471 vgl. ebd. 472 vgl. ebd., S. 148. 473 vgl. ebd., S. 149.

117

abhängige“.474 Diesen von Bildungsexklusion betroffen Gruppen und Personen

„‘(…) mangelt die Verkehrsberechtigung bzw. die basale Zahlungs- und

Teilnahmefähigkeit für Teile oder die Gesamtheit des bürgerlichen Lebens‘“.475

5.3.2 Ausgeschlossene der Arbeitswelt

Ähnlich wie zuvor Christoph Reinprecht berichtet Peter Stoppacher in

seinem Endbericht „Basisbildung als gesellschaftliche und wirtschaftliche

Herausforderung“ der begleitenden Evaluation der Entwicklungspartnerschaft

In.Bewegung über Menschen, deren Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse

niedriger als gesellschaftlich erwartet und gefordert sind:

Die Zielgruppe gehört bei einer Dreiteilung des gegenwärtigen Arbeitsmarktes in eine schmale Schicht von „GewinnerInnen“, eine breite Schicht von „VerliererInnen“ und eine wiederum schmälere Schicht von „Ausgeschlossenen“ (Disqualifizierten) wahrscheinlich vermehrt zur letzteren. Gelingt es, sie mit einer Basisbildungs-maßnahme zu erreichen, liegt noch immer ein langer, unter Umständen unbewältigbarer Weg vor ihnen, bis sie zu den gut qualifizierten Fachkräften und damit zu den GewinnerInnen gehören.476

Bei der internationalen Konferenz „Perspektive:Bildung“ (2007), initiiert

von der Entwicklungspartnerschaft In.Bewegung, sprach auch Oskar Negt von

einer Gefahr der Dreiteilung unserer Gesellschaft. So ist ein Drittel etabliert,

fühlt sich wohl, verfügt über eine Arbeitsstelle und gesellschaftliche Teilhabe.

Ein immer größer werdendes Drittel lebt in beängstigenden, prekären

Lebenssituationen mit kurzfristigen Arbeitsplätzen und Verträgen, die erst

miteinander kombiniert für ihren Lebensbedarf ausreichen. Der dritte Teil sind

diejenigen, „die nicht mehr gebraucht werden“, die „wachsende Armee der

dauerhaft Überflüssigen“.477 Oskar Negt zitierte in seinem Vortrag Jeremy

Rifkin, der bemerkte: „Schlimm, wenn Menschen ökonomisch ausgebeutet

werden, aber schlimmer noch, wenn sie für ökonomische Ausbeutung noch

nicht einmal mehr gebraucht werden“.478

Will man den Prophezeiungen Jeremy Rifkins Glauben schenken, so

verschwindet durch den technologischen Fortschritt langfristig die Arbeit und

eine wachsende Zahl von Menschen findet keine Beschäftigung mehr. Er

474 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 149f. 475 vgl. ebd., S. 150. 476 IFA-Steiermark: Basisbildung, S. 5. (Homepage) URL: www.ifa-steiermark.at/relaunch/de/evaluationen_details_neu.asp?art=1 (25.01.2008). 477 vgl. Negt, Oskar: Gewerkschaften, in: In.Bewegung 2007, S. 73. 478 Rifkin, Jeremy, zit. in: Negt, Oskar 2007, S. 73.

118

argumentiert wie folgt: „Aber die Computer und Informationstechnik von

heute machen immer mehr Menschen ganz überflüssig. Selbst die billigste

menschliche Arbeitskraft ist teurer als die Maschine“.479

Folglich bezeichnet Jermey Rifkin die vorherrschende Erklärung, es gäbe

genügend Arbeitsplätze, jedoch an der Ausbildung der Leute mangle es, als

eine von insgesamt drei „Pseudotheorien“, die sich als haltlos erweist:

Das ist auch so eins für die Wahlreden: Wir müssen die Leute nur richtig ausbilden oder weiterbilden und schon ist das Beschäftigungs-problem gelöst. Nehmen wir mal an, man könnte tatsächlich alle fünf Millionen Arbeitslosen in Deutschland so fortbilden, wie sich die Politiker das vorstellen. Was wäre denn dann? Es gebe immer noch nicht genug Jobs. Die Zeiten der Massenarbeit ist (sic!-G.G.) vorbei.480

Sich für die eigene Existenzabsicherung in den Arbeitsmarkt integrieren zu

können, ist nicht mehr für alle Menschen prinzipiell ereichbar. So werden

gesellschaftliche Probleme, wie Arbeitslosigkeit (Basisbildungsdefizite, usw.)

individualisiert und zum persönlichen Problem dieser Personen reduziert. Das

gesellschaftliche Risiko und die Verantwortung für alle Lebenssituationen

verlagern sich tendenziell immer mehr auf die einzelnen Menschen,

gleichgültig ob diese durch eigenes Tun und Entscheiden überhaupt darauf

Einfluss nehmen können oder nicht. Die Betroffenen erleben sich überwiegend

als chancenlos und ausgeschlossen aus der Gesellschaft und Arbeitswelt.

Peter Faulstich verweist in diesem Zusammenhang auf Frank Achtenhagens

und Wolfgang Lemperts Umdeutung eines bekannten Sprichwortes: „‚Dass

also Hans und Grete durchaus noch sehr spät nachzuholen vermögen, was

Hänsel und Gretel zu lernen versäumt haben, wenn sie nur eine Arbeit

ergattern, die solches von ihnen verlangt‘“.481

5.3.3 Zauberwort Bildung

Die „stereotype(n) Lösungsvorschläge“ für viele gesellschaftliche Probleme

lauten „Lernen, Bildung und Weiterbildung“, woran, nach Ansicht von Werner

Lenz, einerseits die „Überschätzung und Überlastung aber auch die Chance

und Verantwortung des Bildungswesens“ erkennbar wird.482 Auch für Elke

Gruber wirkt die „(…) Pädagogisierung als universelles Veränderungs- und

479 Rifkin, Jeremy, zit. in: Iwersen, Sönke 2005, S. 1. (Homepage) URL: www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/916564 (03.02.2008). 480 ebd., S. 3. 481 Achtenhagen, Frank; Lempert, Wolfgang, zit. in: Faulstich, Peter 2003, S. 229. 482 vgl. Lenz, Werner: Bildung im Wandel 2005, S. 90.

119

Problemlösungsmodell in modernen Gesellschaften(…)“.483 Wie im Weißbuch

der Europäischen Union (1995) nachzulesen ist, sollen zur Verringerung des

Arbeitslosigkeit anstelle von „politische(n) Veränderungen und Strategien“

erhöhte Bildungsbemühungen der Bürgerinnen und Bürger die Arbeitslosigkeit

senken und Europas Wettbewerbsfähigkeit sichern.484 Ebenso werden an die

Basisbildung und Alphabetisierung hohe Erwartungen herangetragen. Agneta

Lind fügt für die Alphabetisierung klärend hinzu:

Lifelong learning is seen as a prerequisite for human development and for dealing with the globalized economy and changing labour market demands. ABLE (adult basic learning and eduation-G.G.) in itself will not solve the problems of poverty, unemployment, discrimination, violation of human rights, HIV/AIDS, exclusion, etc. ABLE is only a means to cope with basic learning needs of adults. But ABLE has the potential of enabling creative and democratic citizenship, giving a voice to women and men living in poverty, as well as tools for improving their lives. ABLE should, however, go beyond addressing poverty.485

Ein wichtiger Punkt wird im öffentlichen Diskurs meist wenig erwähnt, da

der Fokus eher auf ökonomischen Nutzeneffekten ausgerichtet ist. Es ist die

Erkenntnis, dass das Bildungsniveau der Eltern der beste Garant für die

Erfolgserlebnisse der Kinder beim Lernen darstellt. Das zeigt: „Investitionen in

Erwachsenenbildung und Alphabetisierung sind daher Investitionen in die

Bildung ganzer Familien“.486 Bevor im nächsten Kapitel auf die Basisbildung

und Alphabetisierung in Österreich eingegangen wird, soll eine von Otto Rath

zitierte Textstelle diesen präventiven Aspekt besonders hervorheben:

Mama say this new school ain shit. Say you cant learn nuffin writing in no book. Gotta git on that computer you want some money. When they gonna teach you how to do the computer. But Mama wrong. I is learning. Im gonna start going to Family Literacy class on Tuesdays. Important to read to baby after its born. Important to have colors hanging from the wall. Listen baby, I puts my hand on my stomach, breathe deep. [...] Listen baby, Muver love you. Muver not dumb. Listen baby: ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ. Thas the alphabet. Twenty-six letters in all. Them letters make up words. Them words everything.487

483 vgl. Gruber, Elke: Pädagogisierung, in: SCHULHEFT, Jg. 29, 116/2004, S. 95. 484 vgl. ebd. 485 Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168. 486 Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 57. 487 Sapphire, zit. in: Rath, Otto 86/2001, S. 4.

120

6. ÖSTERREICH

Einen kleinen Einblick in den Kursablauf bei ISOP ermöglichen die Zeilen

eines Teilnehmenden aus der Steiermark:

„Hilfe, Hilfe“

Wer hilft uns, unsere Lese- und Schreibschwäche zu bewältigen? In der Steiermark ist es die ISOP. Sie bieten Grundkurse und Fort-geschrittenenkurse in Schreiben, Rechnen, Lesen und Computer an. Der Einstieg wird in Einzelunterricht begonnen. Im Gruppenunterricht nehmen bis zu 5 Personen teil und er dauert 2 mal 3 Stunden in der Woche. Der Kurs beginnt mit einer Rundfrage um das Wohlbefinden. Durch heitere Bemerkungen der einzelnen Kursteilnehmer wird der Unterricht aufgelockert. Und so vergehen die 3 Stunden im Nu und wir gehen gestärkt und selbstbewusst in den Tag! Drei bis viermal im Jahr wird auch für die Zeitschrift Bumerang geschrieben. Da können wir unser Talent zu Papier bringen!488

6.1 Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich

Alphabetisierung und Basisbildung für Jugendliche und Erwachsene mit

deutscher Muttersprache ist noch ein sehr junger Bildungsbereich in

Österreich. Wie sieht nun die Situation für dieses Arbeitsfeld hierzulande aus

und wie hat es sich entwickelt? Welche Pläne gibt es für die Zukunft? In

diesem Kapitel soll ein kurzer Überblick geboten und der Wirkung des

Ansatzes Paulo Freires auf die österreichische Alphabetisierung und Basis-

bildung nachgegangen werden. Zum Abschluss berichte ich unter „Theorie-

Praxisbezüge“ von meinen Erfahrungen bei „Alphabet und Co“ in Linz.

6.1.1 Quantitative Erhebungen

Aus den Informationen des „Netzwerk Alphabetisierung.at“ geht hervor,

dass in Österreich 300.000 erwachsene Menschen leben, die die Mithilfe

anderer beim Lesen, Schreiben und Rechnen benötigen, um ihren privaten

und beruflichen Alltag bewältigen zu können.489 Die Zahl stützt sich auf eine

Schätzung der UNESCO aus dem Jahr 1989, die zu diesem Zeitpunkt 1-3%

Analphabetinnen und Analphabeten für die Industriestaaten angenommen

488 Helmut: „Hilfe, Hilfe“, in: BUMERANG, 05/2005, S. 25. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 489 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_1.htm (02.10.2007).

121

hatte.490 Nach neueren Schätzungen des Europäischen Parlaments (2002)

werden 10-20% Betroffene in der Bevölkerung der Union angenommen.491

Demzufolge geht das Netzwerk Alphabetisierung.at von „mindestens 600.000

funktionale(n) AnalphabetInnen“ aus.492 10-20% bedeutet, nach Otto Rath

aktuell für Österreich, „(…) dass man von 670.000 bis 1,34 Millionen

Betroffenen ausgehen muss (Berechnungsbasis: 10-20% der Bevölkerung

älter als 15 Jahre)“.493

6.2 Internationale Studien

Die Vertreterinnen und Vertreter der Eltern und des Lehrpersonals klagen

derzeit (Februar 2007) über einen „Testmarathon für Schüler“ in Österreich.

Die Lehrerinnen, Lehrer und Eltern beschäftigt dabei nicht die Besorgnis, was

mit all den in den vielen nationalen und internationalen Tests erhobenen

Daten geschehen mag, sondern eher die Ungewissheit, ob damit überhaupt

etwas geschieht.494

Gänzlich anders sieht es bei den Studien in der Erwachsenenbildung aus.

Österreich hat sich, mit Ausnahme der PISA-Studie, bislang an keiner

internationalen Vergleichsstudie beteiligt und daher gibt es hier - wie in vielen

europäischen Ländern - keine verlässlichen Daten über die Anzahl der

Erwachsenen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten. Indessen wurde, nach

einem Bericht von Athur Schneeberger, die Grundbildung für Erwachsene bei

der „OECD-Länderprüfung zur Erwachsenenbildung“ (2004) als „Tabu-Thema“

in Österreich verortet.495 Michael Tölle bemerkte anlässlich einer Fachtagung

(2005) in seinem Referat dazu: „Analphabetismus wird in Österreich nicht als

Problem gesehen, nicht als Problem definiert und ist somit auch kein Problem,

auf das politisch reagiert werden müsste“.496

Vielleicht hat die lange andauernde Abwesenheit der „bildungspolitischen

Anerkennung“ der Grundbildung und Alphabetisierung für Erwachsene damit

490 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_3.htm (02.10.2007). 491 Siehe dazu ebenfalls Kapitel 4 und Kapitel 5. 492 vgl. Doberer-Bey, Antje: „Alphabetisierung im Brennpunkt“ 2006, S. 72. 493 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 494 vgl. Pöll, Regina: Testmarathon für Schüler, in: Die Presse, 21.02.2007, S. 5. 495 vgl. ibw-Bildung & Wirtschaft: Strukturwandel–Bildung–Employability, S. 18. (Homepage) URL: www.ibw.at/html/buw/BW34.pdf (05.09.2006). 496 Tölle, Michael: Der mühsame Weg der Alphabetisierung, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 30.

122

zu tun, dass dies „(...) implizit das Eingeständnis eines partiellen Versagens

des Schulsystems bedeutet und mit finanziellen Verpflichtungen für eine

unabweisbar personalintensive pädagogische Arbeit verbunden ist“.497 Ganz

sicher aber hat es, nach Ansicht von Michael Tölle, mit folgender Tatsache zu

tun: Finnland, das PISA-Siegerland, wendet „14% seines Bildungsbudgets für

die Erwachsenenbildung“ auf, während in Österreich dafür gerade einmal

„0,13%“ zur Verfügung stehen.498

Österreich hat in den letzten beiden Jahren politischen Willen gezeigt, die

Initiativen in der Alphabetisierung und Basisbildung stärker zu fördern. So

findet sich im Regierungsprogramm anschließender Passus:

4. Maßnahmen zur Alphabetisierung

Ziel:

• Weitere Senkung des Anteils an Personen mit mangelnden Basisqualifikationen (Schreiben, Lesen, Rechnen, EDV)

Umsetzung:

• Spezielle Förderung der Angebote zum Erwerb von Basisqualifikationen499

Medienberichten zufolge wird sich die Situation bezüglich der fehlenden

Daten nun doch bald ändern, da die Kompetenzen von 5.000 Erwachsenen

(16 bis 65 Jahre) im Rahmen einer für 2009 geplanten OECD-Studie erhoben

werden sollen. Doch noch gibt es keine entgültige Zusage für die Teilnahme

Österreichs.500 Offen bleibt auch, ob Erwachsene, die große Probleme mit der

Schriftsprache aufweisen, an der Studie überhaupt teilnehmen würden.

Inhaltlich wird das „Programme for the International Assessment of Adult

Competencies (PIAAC)“,501 nach Andreas Schleicher, der Frage nachgehen

„(…) welche Kompetenzen Menschen in der modernen Gesellschaft erfolgreich

machen und wie wir diese Eigenschaften stärken können“.502 Er erklärt:

Es geht bei Piaac nicht um reines Abfragewissen wie in Pisa-Quizshows. Viele Aufgaben und Fragestellungen ähneln denen in einem Assessment-Center. Wir wollen wissen, inwieweit Menschen sich in

497 vgl. Bastian, Hannelore: Vorbemerkungen, in: Tröster, Monika 2002, S. 5. 498 vgl. Tölle, Michael: Der mühsame Weg der Alphabetisierung, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 32. 499 Österreichische Bundesregierung: Regierungsprogramm für die XXIII. GP., S.95. (Homepage) URL: www.bmf.gv.at/Service/Regierungsprogramm.pdf (26.09.2007). 500 vgl. Witzmann, Erich: Pisa-Test für Erwachsene, in: Die Presse, 23.09.2006, S. K 20. 501 Mehr Information bei der OECD (Homepage) URL: www.oecd.org. 502 vgl. Schleicher, Andreas, zit. in: Götsch, Antonia 14.11.2006. (Homepage) URL: www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,448269,00.html (25.09.2007).

123

einer sich beständig verändernden Welt immer wieder neu positionieren können, ob sie in der Lage sind, zu kooperieren und in Teams zu arbeiten, Konflikte zu lösen und sich in multikulturellen Gesellschaften konstruktiv einzubringen. Dabei geht es darum zu zeigen, was die Spitzengruppe kann, aber auch Basiskompetenzen und Defizite in Risikogruppen zu beleuchten.503

6.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA)

Die PISA-Studie vergleicht die Kompetenzen von Schülerinnen und

Schülern (15 bis 16 Jahre) in den Bereichen Lesen, Mathematik, Naturwissen-

schaften und Problemlösen. Österreich nahm bisher an drei Testdurchgängen

(2000, 2003 und 2006) teil. Die Ergebnisse der PISA-Studie 2006 sind Ende

des Jahres 2007 zu erwarten. Die Testresultate werden in Kompetenzstufen

eingeteilt. Auf der niedrigsten Leistungstufe 1 und darunter befindet sich die

so genannte „Risikogruppe“. Waren es, nach Angaben des Projektzentrums

für Vergleichende Bildungsforschung, im Jahr 2000 im Bereich Lese-

Kompetenz 14% der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, die wegen

ihrer geringen Lesefähigkeit auf dem niedrigsten Leistungsniveau oder noch

darunter verblieben, erhöhte sich der Wert 2003 auf 20%.504

Im Jahr 2000 stand die Lese-Kompetenz im Mittelpunkt. Zu diesem

Zeitpunkt erreichten im Detail 10% der österreichischen Schülerinnen und

Schüler nur die unterste Stufe und „(...) 4% der Jugendlichen liegen als

extreme Risikogruppe für möglichen Analphabetismus sogar noch

darunter.“505 Zusätzlich kann aus den Resultaten (2000) geschlossen werden,

dass in der Untersuchungsgruppe „mehr als 40% ‚Leseverweigerer‘" anwesend

waren.506 Das Projektzentrum für Vergleichende Bildungsforschung informiert:

PISA konnte in ersten Analysen zeigen, dass Leseleistungen in Zusammenhang stehen mit Konstrukten wie Lesefreude oder dem Interesse an vielfältigem Lesestoff sowie sozioökonomischen, familiären und schulischen Faktoren. So ist der Risikofaktor eines Pflichtschülers, ein schlechter Leser zu sein, wesentlich vom sozioökonomischen Status abhängig.507

503 Schleicher, Andreas, zit. in: Götsch, Antonia 14.11.2006. (Homepage) URL: www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,448269,00.html (25.09.2007). 504 vgl. ZVB: Ergebnisse PISA 2003, S. 7. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/PISA2003_Download_Ergebnisse.pdf (26.09.2007). 505 vgl. VI. OECD/PISA 2000. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/pisa2000/international/kap6/index.htm (05.09.2006). 506 vgl. Bundesministerium; Buchklub: Fit beim Lesen – fit für das Leben. (Homepage) URL: www.lesefit.at/projekt.htm (31.07.2007). 507 VI. OECD/PISA 2000. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/pisa2000/international/kap6/index.htm (05.09.2006).

124

Nach den Resultaten der PISA-Studie des Jahres 2003 muss angenommen

werden, dass derzeit 20%, d.h. ungefähr 18.000 Jugendliche jährlich

„nach zumindest 8 bis 9 Jahren allgemein bildender Schule nicht ausreichend

fließend und Sinn entnehmend Lesen gelernt haben“.508 Die Autorinnen und

Autoren der Pisa-Studie ergänzen:

Es darf bezweifelt werden, dass diese Schüler/innen zum Verstehen alltäglicher, einfacher Texte ausreichend befähig sind – ihre Fähigkeit zum selbstständigen Bildungserwerb ist auf jeden Fall durch die schwache Lese-Kompetenz sehr stark eingeschränkt.509

Die Ergebnisse im Bereich der Mathematik-Kompetenz sind ähnlich

ernüchternd, denn 19% der Jugendlichen erreichten im Jahr 2003 nicht oder

nur die niedrigste Stufe „(6% unter Level 1, weitere 13% auf der ersten

Kompetenzstufe)“. 510 Ihre geringen Fähigkeiten lassen die Autorinnen und

Autoren befürchten, dass für diese Schülerinnen und Schüler die Partizipation

am gesellschaftlichen und beruflichen Leben in Zukunft nur eingeschränkt

möglich sein wird. Jugendliche der Mathematik-Risikogruppe waren

hauptsächlich in Polytechnischen Schulen (40%), Berufsschulen (31%) und

Berufsbildenden Mittleren Schulen (23%) anzutreffen.511 Die Schülerinnen und

Schüler der Lese-Risikogruppe besuchten überwiegend Polytechnische

Schulen (54%) und Berufsschulen (39%).512

Nicht vergessen werden dürfen die Schülerinnen und Schüler, die die

Schule ohne Abschluss verlassen haben und über deren Kompetenzen im

Lesen, Schreiben und Rechnen daher keine Information vorhanden sind. 2005

verließen 9,1% der Jugendlichen die Schule frühzeitig.513 Sie werden es ohne

Abgangszeugnisse besonders schwer haben sich im beruflichen und

gesellschaftlichen Leben zu behaupten und ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Josef Haslinger vermerkt in einem Buch kritisch zum Deutschunterricht:

Wenn ein deutschsprachiger Schüler am Unterricht der deutschen Sprache nicht freiwillig teilnimmt, hat ihm die Schule nicht glaubwürdig vermitteln können, dass der Gegenstand des Sprachunterrichts die

508 vgl. ZVP: Ergebnisse PISA 2003, S. 7. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/PISA2003_Download_Ergebnisse.pdf (26.09.2007). 509 ebd. 510 vgl. ebd. S. 5. 511 vgl. ebd. S. 5f. 512 vgl. ebd. S. 7. 513 vgl. Bundesministerium: Statistisches Taschenbuch 2006, S. 25. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/15070/stat_tb_06.pdf (27.07.2007).

125

Artikulation des eigenen Lebens ist. Schreiben ist graphisch sichtbar gemachtes Denken und Empfinden.514

Peter Stöger teilt diese Sichtweise, wenn er sagt: „Buchstaben und Wörter

bedeuten Leben – das ist es, was sie (die Menschen mit Schwierigkeiten im

Lesen und Schreiben-G.G.) gelernt haben und was wir in der Schule nicht

gelernt haben. Das lernt man nicht in der Schule“.515

6.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Basisbildung

Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern blieben in Österreich

Menschen mit großen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen

lange Zeit vollkommen unbemerkt oder unbeachtet. Erst als das Jahr 1990

von den Vereinten Nationen zum „Internationalen Jahr der Alphabetisierung“

erklärt wurde, begannen die Wiener Volkshochschulen damit, ein

Alphabetisierungsprojekt für Erwachsene mit deutscher Muttersprache zu

konzipieren. Die „Volkshochschule Floridsdorf“ startete 1991 erstmals mit

Basisbildungskursen, finanziert vom Bundesministerium für Unterricht und

kulturelle Angelegenheiten. Im Zeitraum vom Februar 1991 bis zum Juni 1995

konnten insgesamt 124 Personen teilnehmen. Über den Verlauf des Projektes

berichtet eine fundierte Studie von Elisabeth Brugger, Antje Doberer-Bey und

Georg Zepke.516

In den folgenden Jahren wurden Kurse von verschiedenen Institutionen, in

Graz durch die „ISOP Innovative Sozialprojekte“ ab 1995, in Linz durch

die „Volkshochschule Linz“ ab 1996 und in Salzburg vom „abc - Lesen

und Schreiben für Erwachsene (abc Salzburg)“ ab 1999, durchgeführt.

Um bundesweit ein nach Lerngruppen differenziertes Kursangebot realisieren

zu können, gründeten die Vertreterinnen und Vertreter der vier Institutionen

2003 das „Netzwerk Alphabetisierung.at“, das folgende Angebote offeriert. Es:

▪ initiiert Untersuchungen ▪ entwickelt Konzepte ▪ verstärkt Know-how ▪ unterstützt Initiativen ▪ sorgt für Enttabuisierung517

514 Haslinger, Josef: Sprachkultur o.J., S. 49. 515 Stöger, Peter, in: Mitschrift: Diplomarbeitsbesprechung vom 03.02.2006. 516 vgl. Brugger, Elisabeth; Doberer-Bey, Antje; Zepke, Georg: Alphabetisierung für Österreich 1997, S. 28. 517 Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.htm (02.10.2007).

126

2013 SOLLEN ALLE ÖSTERREICHERINNEN LESEN UND SCHREIBEN KÖNNEN518

Dieses sehr hohe Ziel setzte sich das Netzwerk Alphabetisierung.at im

Rahmen der Alphabetisierungsdekade der UNESCO (2003 – 2012).519 Vom

Netzwerk werden seitdem entsprechende Schritte gesetzt, damit in Zukunft

alle Betroffenen einen für sie passenden, qualitätsgesicherten Kurs in örtlicher

Nähe besuchen können.

6.4 Basisbildung und Alphabetisierung bis dato

Jede einzelne anbietende Institution in ihrem Bundesland sowie das

Netzwerk Alphabetisierung.at auf nationaler Ebene verstärkten ihre bisherigen

Aktivitäten und entwickelten neue Wege zur Zielerreichung. Einige Beispiele

sind: Der „Lehrgang Alphabetisierung und Basisbildung mit Erwachsenen

deutscher Muttersprache“520, die Etablierung weitere Kurse in Vorarlberg,

Kärnten und Niederösterreich,521 das ISOP-Projekt „Literacy in Progress“ in

der Steiermark, welches das „(…) Zusammenspiel von Analphabetismus,

Arbeitslosigkeit, Krankheit, mangelnder politischer Partizipation und Armut“

interdisziplinär untersuchte und ein entsprechendes „regionales, systemisch

wirksames Angebot“ einrichtete, uam.522 Ein entscheidendes Ereignis in der

Entwicklung der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich war im Jahr

2005 der Zusammenschluss zur Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“.

6.4.1 In.Bewegung

Das Projekt „In.Bewegung – Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung

in Österreich“ (2005 - 2007) ist eine Equal-Entwicklungspartnerschaft, die 18

Organisationen aus 6 Bundesländern miteinander verbindet. Das Netzwerk

beabsichtigte, im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und

Kultur und des europäischen Sozialfonds (ESF), die nötigen Strukturen und

Grundlagen für ein österreichweites, qualitätsgesichertes und an den

Teilnehmenden orientiertes Kurs- und Beratungsangebot in der Basisbildung

und Alphabetisierung zu entwickeln. Damit war es erstmals möglich, das

518 Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_1.htm (02.10.2007). 519 vgl. ebd. 520 Der Lehrgang wird seit 2005 als „Lehrgang universitären Charakters“ durchgeführt. 521 Aktuell stattfindende Kurse und Institutionen siehe: www.alphabetisierung.at. 522 vgl. Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=106 (25.06.2008).

127

vorhandene Know-how und die Erfahrungen der Initiativen, Organisationen

und NGOs aus verschiedenen Bereichen und Regionen zu bündeln und neue

Kursmodelle in Betrieben (Kärnten), in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft

(Oberösterreich) und für Frauen in strukturschwachen Gebieten (Salzburg) zu

erproben. Darüber hinaus war es einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern

möglich, ihre Interessen, Erkenntnisse und Erfahrungen einzubringen und an

den für sie entwickelten Angeboten in wichtigen Bereichen mitzuarbeiten.

„Warum? ... dieses Engagement?”, notieren die Netzwerkverantwortlichen:

● weil es in Österreich mindestens 600.000 erwachsene Menschen mit schweren Defiziten im Grundbildungsbereich gibt

● weil dies der Anfang einer Spirale nach unten mit weitreichenden Folgen ist

● weil diese Menschen massiv von Arbeitsplatzverlust bedroht sind ● weil Arbeitslosigkeit die Existenzen von Familien gefährdet und

krank macht ● weil der „dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum“ es sich

nicht leisten kann, auf wertvolle Arbeitskräfte zu verzichten ● weil fundierte Lese- und Schreibkompetenzen Voraussetzung sind

für weiteres Lernen ● weil man heute als Erwachsene (r) alles lernen darf – nur nicht ein

zweites Mal Lesen, Schreiben und Rechnen ● weil jeder Mensch ein Recht hat auf Bildung und Entfaltung523

Im Projektzeitraum konnten folgende Ziele verwirklicht werden: Die

Errichtung eines tragfähigen, überregionalen Netzwerks, bestehend aus den

Vertreterinnen und Vertretern der anbietenden Institutionen, der Politik, der

Wissenschaft und den Sozialpartnern; Die Installation einer zentralen

Beratungsstelle inklusive Internetportal (www.alphabetisierung.at) und Alfa-

Telefon (0810/20 0810); Die Entwicklung von Qualitätsstandards, eines

Berufsbildes und eines Weiterbildungskonzepts für die Lehrenden sowie eines

Beratungsangebots bezüglich Sensibilisierung, Marketing und Teilnehmenden-

akquisition; Die Planung und Realisierung innovativer Kursmodelle in

Oberösterreich, Salzburg und Kärnten; die Teilnahme an einem thematischen

Netzwerk über Kompetenzbewusstsein und an einem transnationalen

Netzwerk (mit Finnland, Frankreich und Großbritannien) zur Mitwirkung der

Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter gegen auftretende

Benachteiligung und Ausgrenzung am Arbeitsplatz und vieles andere.524

523 In.Bewegung: Warum?…dieses Engagement? (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/84.0.html (03.06.2008). 524 vgl. Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 2. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007).

128

Im gemeinsamen Bericht der Bundesministerien für Unterricht, Kunst und

Kultur sowie für Wissenschaft und Forschung (2007) zur Umsetzung des EU-

Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ heißt es:

Besonders erfolgreich verlief die Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“, die zur Etablierung eines österreichweiten Beratungs-angebots im Bereich der Basisbildung, zur Erstellung spezieller zielgruppengerechter Lernmaterialen und zur Intensivierung des institutionsübergreifenden Austausches führte. Diese Partnerschaft wurde mit 956.000 € (inkl. ESF Mittel) gefördert.525

6.4.2 In.Bewegung-Zukunftsperspektiven

Jugendliche und Erwachsene, die im Rahmen der Basisbildung und

Alphabetisierung in Lernprozesse (wieder-)einsteigen, sind auf kontinuierliche

Angebote angewiesen. Um diese Kontinuität zu wahren, setzt sich das

Netzwerk „In.Bewegung“ folgende Ziele bis zum Jahr 2010:

Generelles Ziel ist die „Unterstützung der österreichischen Strategie zum

Lebenslangen Lernen“ innerhalb der Basisbildung Erwachsener mittels der im

Netzwerk bereits entstandenen und in Zukunft entstehenden Resultate und

Produkte.526 Diese Ergebnisse werden allen, an qualitätsgesicherten und vorab

erprobten Maßnahmen interessierten, anbietenden Institutionen in Österreich

zugänglich gemacht. Mit Hilfe von intensiver und erweiterter Vernetzungs-

tätigkeit soll ein flächendeckendes qualitätsgesichertes Angebot entstehen.

„Ziel 1: Entwicklung“: Ein erfolgreiches qualitätsgesichertes

Basisbildungsangebot im Sinne der Teilnehmenden erfordert ein adäquates

Know-how und einen die Umsetzung begleitenden beständigen

Entwicklungsprozess. Die Zielsetzungen bis 2010 lauten: Die durch

In.Bewegung 2005 begonnene Entwicklung wird weitergeführt, neue

Entwicklungsbereiche werden bearbeitet und auf den Transfer wird besonders

geachtet.

„Ziel 2: Wissenstransfer über erweiterte Netzwerkstrukturen“: Der

Wissenstransfer wird über thematisch verfeinerte und geographisch erweiterte

Netzwerke verlaufen. Die Netzwerkknotenpunkte, die bestehenden Mitglieder

der Entwicklungspartnerschaft In.Bewegung, achten auf den Know-how-

Transfer zwischen dem Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung und den

525 Bundesministerium: Österreichischer Bericht 2007, S. 24. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/15320/abb2010_zwb07_dt.pdf (25.06.2008). 526 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-10. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008).

129

regionalen Netzwerken. Bis zum Jahr 2010 wird angestrebt, „(…) dass in

jedem Bundesland eine Schnittstelle zwischen dem Netzwerk Basisbildung und

Alphabetisierung und den regionalen Netzwerken geschaffen ist“.527

„Ziel 3: Support“: In.Bewegung stellt ihre bisher entwickelten, erprobten

und evaluierten Produkte den anbietenden Institutionen zur Verfügung. Das

Selbstverständnis von In.Bewegung als Supportstruktur von qualitätsvollen

Angeboten im Sinne der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird als „Prozess

der Markenbildung“ weitergeführt.528

6.5 Emanzipatorische Alphabetisierung in Österreich

Die Vertreterinnen und Vertreter der Basisbildung und Alphabetisierung

messen dem emanzipatorischen Bildungsanspruch oft großen Wert bei und

wenden sich gegen eine einseitige Ausrichtung an den Parametern des

Arbeitsmarktes und der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Zwei österreichische

Institutionen die Grundbildung und Alphabetisierung anbieten, beziehen sich

in ihrer Arbeit konkret auf den dialogischen Bildungsansatz Paulo Freires.529 Es

sind dies die Volkshochschule Linz, die hier näher vorgestellt wird, und „Die

Kärntner Volkshochschulen“ mit dem Lehrgang „Bildung wieder entdecken“.530

6.5.1 Volkshochschule Linz (VHS Linz)

Basisbildung für Erwachsene bedeutet für die Trainerinnen und Trainer der

Volkshochschule Linz den Lernenden die aktive gesellschaftliche und

berufliche Teilnahme zu ermöglichen. Demgemäß bestimmen die individuellen

Ressourcen und Lebensbedingungen der Teilnehmenden die Lerninhalte. Die

Basis und der methodisch-didaktische Ausgangspunkt ihrer erfolgreichen

Arbeit bilden, in Übereinstimmung mit Paulo Freire, die aktuellen Bedürfnisse

und das Lebensumfeld der Lernenden, der dialogische Bildungsansatz und der

527 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-11. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 528 vgl.ebd. 529 Es ist nicht auszuschließen, dass in Österreich weitere Anbieterinnen und Anbieter bzw. Trainerinnen und Trainer nach Paulo Freires pädagogischen Konzepten arbeiten bzw. Elemente seiner Theorie verwenden. Nachforschungen diesbezüglich fehlen im Bereich der Basisbildung und Alphabetisierung und sind auch hier nicht vorgesehen. 530 vgl. Kastner, Monika; Penz, Isabella: Betriebe und Basisbildung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 13-7. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_13_kastner_penz.pdf (03.06.2008).

130

„fließende Übergang zwischen der Rolle des/der Lehrenden und des/der

Lernenden“.531

Wie Sonja Muckenhuber hervorhebt, sind die Verantwortlichen der

Alphabetisierung und Grundbildung der VHS Linz bestrebt, über das Erlernen

des Lesens und Schreibens hinausgehend „(…) die Betroffenen zu ‚verführen‘

und zu unterstützen, sich gesellschaftliche Bereiche, die ihnen bislang

unerreichbar schienen, (zurück) zu erobern“.532 Besonders am Herzen liegt

den Verantwortlichen in diesem Zusammenhang die politische Partizipation

und die kulturelle Integration der Lernenden. Bücher und Literatur können sie

darin unterstützen „Teile der ‚Wirklichkeit‘“ wahrzunehmen und sie „über den

Horizont seines/ihres aktuellen Daseins“ hinausführen. Gemeinsame Besuche

von Theateraufführungen, Lesungen, Buchbesprechungen u.a.m. dienen

ebenfalls dieser Intention. Auch wenn sich die Lebensrealität der Lernenden in

den Grundbildungskursen der VHS Linz völlig von den Lebensbedingungen der

brasilianischen Bevölkerung unterscheidet, arbeiten die Verantwortlichen nach

den pädagogischen Grundsätzen Paulo Freires, denn:

(…) das Ziel unserer Alphabetisierungsinitiative, nämlich den Lernenden den Zugang zur Teilhabe an der Gesellschaft und den Zugang zur Gestaltung und Veränderung ihrer ‚Wirklichkeit‘ zu eröffnen, ist mit der Erziehungsabsicht Paulo Freires aber durchaus vergleichbar.533

Was sind nun die Besonderheiten in der Alphabetisierung und

Grundbildung der VHS Linz, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nach

den Grundsätzen Paulo Freires orientieren? Worin unterscheiden sich diese

Kurse (möglicherweise) von anderen österreichschen Maßnahmen für Basis-

bildung und Alphabetisierung? Sonja Muckenhuber erwähnt in ihrem Artikel

folgende „Freiresche Erziehungselemente“, die innerhalb der Grundbildungs-

kurse umgesetzt werden. Sie beginnt mit der Orientierung an der aktuellen

Lebenswelt der Lernenden:

Freires Methode geht davon aus, dass sich Bildungsprozesse immer an der aktuellen konkreten Situation der Menschen orientieren müssen: Für die MitarbeiterInnen der Volkshochschule Linz steht nicht die Übermittlung von Informationen und Fakten im Zentrum, sondern die persönliche Lebenssituation der Menschen – ihre Probleme und

531 vgl. Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-1. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 532 vgl. ebd., S. 11-2. 533 ebd., S. 11-3.

131

sozialen Konflikte. Der Prozess der Bildung soll durch aktive, dialogische, kritische und Kritik anregende Methoden erreicht werden.534

Die Autorin bezieht auch die Berührungspunkte zwischen den eigenen

Erfahrungen der Lernenden und dem gesellschaftspolitischen Kontext mitein:

Für Freire ist die Verknüpfung von utopischem Denken und historischer Wirklichkeit wichtig: Didaktisch bedeutet dies für die Basisbildungs- und AlphabetisierungstrainerInnen an der VHS Linz, nicht mit vorgefertigten Materialien zu arbeiten, sondern sich den Lebenskontexten und Problemen der jeweiligen Zielgruppe zu nähern und diese bewusst zu machen, Lösungen anzuregen gleichwie gesellschaftsveränderndes Denken und Handeln zu fördern.

Erst durch die Analyse der eigenen Situation wird es für die Beteiligten möglich, die gesellschaftspolitische Dimension ihrer persönlichen Probleme zu erkennen und somit nach Möglichkeiten der Veränderung und „Befreiung“ zu suchen. In der dialogischen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt sollen die Beteiligten in gemeinsamen Prozessen Problemdefinitionen entwickeln, Ursachen, Zusammenhänge und Hintergründe erschließen und sich Lösungsansätze überlegen. Die Lehrenden übernehmen dabei eine begleitende Funktion, wobei die Verschiedenartigkeit der Menschen berücksichtigt und gewürdigt wird.535

• Ein wesentlicher Grundsatz Paulo Freires lautet: „(…) literacy becomes a

meaningful construct to the degree that it is viewed as a set of practices

that functions to either empower or disempower people“.536 Für die

Verantwortlichen der VHS Linz bedeutet das eine klare Ausrichtung:

Im Mittelpunkt Freires Bildungsarbeit steht das Individuum – sein Fokus gilt der Stärkung der Persönlichkeit/der persönlichen Ressourcen des/der Einzelnen: Der Empowerment-Gedanke erfasst und trifft dieses Anliegen Freires ziemlich genau – und Empowerment steht auch im Mittelpunkt des Bildungsangebotes der VHS Linz.537

In dialogischen Erkenntnisprozessen suchen die Lernenden und Lehrenden

gemeinsam nach Wissen und Erkenntnis:

Freire will Bildung als eine Erkenntnissituation verstanden wissen, in der über die Realität reflektiert wird und die Zusammenhänge der Welt begriffen werden sollen: Dazu ist es unbedingt erforderlich, die Kluft

534 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 535 ebd. 536 vgl. Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 141. 537 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008).

132

zwischen Lehrenden und Lernenden aufzuheben und eine dialogische Synthese herzustellen. Die traditionelle Rolle des Lehrers als Autoritätsperson ist nicht haltbar. Lehrinhalte (Lerninhalte) sollen nicht von vornherein festgelegt, bearbeitet und dann vorgetragen werden. Auch der Begriff „Lehrstoff“ rückt an den Rand des Unterrichts. Im Mittelpunkt steht stattdessen eine Problematisierung der Lebenswirklichkeit, wobei Interaktionen eine große Rolle spielen.538

Auf die unterschiedlichen Lebenssituationen der Lernenden der VHS Linz

und den daraus resultierenden Anforderungen an das Kursdesign geht Sonja

Muckenhuber in ihrem letzten Punkt näher ein:

Die TeilnehmerInnen an Basisbildungskursen zeichnen sich durch weitgehend unterschiedliche Lebens-, Berufs- und Lernbiografien aus. Es gibt keine gemeinsame Mikrokultur – gemeinsame Strukturen müssen erst geschaffen werden. Ein Bestandteil der Kurse ist deshalb die Förderung des Entstehens eines strukturellen Mikronetzwerkes, das die Alltagswelt des/der Einzelnen mit neuen Lebensrealitäten verbindet. Ziel der Bildung ist es, die Lebenswelten der TeilnehmerInnen zu stärken und ihnen optionale Wege zu neuen Lebensbereichen zu öffnen. „Bessere“ Bildung soll den Teilnehmenden helfen, vielfältiger, mutiger und für sich selbst befriedigender an ihrer Umwelt teilzuhaben. Bildung soll nichts Abstraktes, sondern einsetzbar, verwendbar und verwertbar sein.539

6.5.2 Theorie-Praxisbezüge

Im Rahmen des Lehrgangs „Alphabetisierung und Basisbildung mit

Erwachsenen deutscher Muttersprache“ war es mir im Jahr 2005 möglich,

Einblicke in die praktische Kurstätigkeit zu gewinnen. Die Beobachtungen aus

der Grundbildungsarbeit der VHS Linz - ehemals AlphaBet und Co - werden

hier mit theoretischen Überlegungen Paulo Freires verbunden:540

Am Kursanfang nannten die Lernenden zu jedem Buchstaben ein Wort,

das wichtig für sie ist und begründen ihre Wahl. Dieses Lebensalphabet mit

ihren Wörtern wird von einer Trainerin oder einem Trainer mitgeschrieben und

dient als Themenfindung für den Kursunterricht.

Man sucht nicht nur die Wörter mit der größten existentiellen Bedeutung und damit mit dem größten emotionalen Gehalt, sondern auch typische Redeweisen, Wörter und Ausdrücke, die mit der Erfahrungswelt der jeweiligen Gruppe verbunden sind.541

538 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-5. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 539 ebd. 540 Es folgen überarbeitete Texte aus: Grillmayr, Gabriela: De Traktorn 2005, S. 30fff. 541 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 54.

133

Die generativen Wörter, die in den Programmen benutzt werden sollen, sollten aus dem Feld dieser Wortuntersuchungen genommen werden, nicht aber auf der persönlichen Inspiration des einzelnen Erziehers beruhen, gleichgültig wie fachmännisch er seine Liste auch aufstellt.542

Die Lernthemen bei AlphaBet und Co sind vorwiegend Angelegenheiten,

die das eigene Leben der Lernenden betreffen, sowie aktuelle lokal, national

und international wichtige Ereignisse. Für jede einzelne Teilnehmerin und für

jeden einzelnen Teilnehmer werden individuelle Arbeitsblätter aus den

Wörtern des Lebensalphabetes bzw. aus den aktuellen Themen vorbereitet.

Lehrbücher verwenden nur Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich auf die

Hauptschulabschlussprüfung vorbereiten.

Unser traditionelles Curriculum war ohne Bezug auf das wirkliche Leben. Es kreiste um bloße Wörter, die von jeglicher Realität, die sie doch wiedergeben sollten, und jeder konkreten Aktivität entleert waren.543

Im Diskussionskreis wird zunächst über das vorgesehene Themengebiet

gemeinsam gesprochen. Das Ziel dabei ist, die konkrete Situation kritisch zu

erforschen und die unterschiedlichen Meinungen in der Gruppe zu reflektieren.

Daran anschließend arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu diesen

Themen einzeln oder in Kleingruppen weiter.

Demokratie und demokratische Erziehung basieren auf dem Glauben an den Menschen, auf der Überzeugung, daß Menschen nicht nur die Fähigkeit besitzen, die Probleme ihres Landes, ihres Kontinents, ihrer Welt, ihrer Arbeit und die Probleme der Demokratie selbst zu diskutieren, sondern auch die Verpflichtung dazu.544

Zu den gemeinsamen Aktivitäten gehören die regelmäßigen Besuche in

der Bibliothek und Besichtigungen von kulturellen Angeboten, wie

beispielsweise Ausstellungen in den Museen. Dazu gehören auch die

öffentlichen Lesungen der Texte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mit

diesen gemeinsamen Aktivitäten können die Lernenden am kulturellen Leben

der Gesellschaft teilhaben und selbst dazu beitragen. Sie können neue soziale

Räume betreten und so ihr Wissen und ihren Handlungsspielraum erweitern.

Wir begannen in der Überzeugung, daß es die Rolle des Menschen ist, nicht allein in der Welt zu sein, sondern sich in den Beziehungen mit der Welt zu engagieren; das heißt, daß der Mensch durch Akte der

542 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 55. 543 ebd., S. 42. 544 ebd., S. 43.

134

Schöpfung und Neuschöpfung die kulturelle Realität herstellt und dadurch die natürliche Welt, die er nicht gemacht hat, bereichert.545

Es geht den Trainerinnen und Trainern von AlphaBet und Co um mehr als

nur darum, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern schnell lesen und schreiben

zu lehren. Ihr Ziel ist den Teilnehmenden den „(...) Zugang zur Teilhabe an

der Gesellschaft und den Zugang zur Gestaltung und Veränderung ihrer

‚Wirklichkeit‘ zu eröffnen (...)“.546 Die Befreiung wird möglich, indem die

Lernenden bei dem Versuch unterstützt werden, ihre konkreten persönlichen

Alltagsprobleme zu verändern und ihre Lebensbedürfnisse zu erfüllen. Dafür

braucht es ein kritisches Bewusstsein, um die Phänomene der Wirklichkeit,

das bedeutet die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge mit den eigenen

persönlichen Problemen zu erkennen.

Die Erziehung ist Befreiung, wenn sie den Dialog ermöglicht. Im Dialog,

d.h. in einer emphatischen Ich-Du-Beziehung zwischen gleichberechtigten

Partnerinnen und Partnern, können beide voneinander lernen. Dieses Lernen

ist eine aktive Betätigung, kein passives angefüllt werden, sondern eine

gemeinsame Anstrengung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden nach

ihren Zielen und Übungswünschen gefragt und können so ihren eigenen

Lernprozess steuern.

Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung.547

Nach diesem kurzen Einblick in die Praxis bei der Volkshochschule Linz

werden im nächsten Kapitel bewährte Konzepte, Methoden und Rahmen-

bedingungen der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich vorgestellt.

545 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48. 546 vgl. Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 547 Freire, Paulo, zit. in: Lange, Ernst 1973, S. 13.

135

7. KONZEPTE, METHODEN UND

RAHMENBEDINGUNGEN

Zu Beginn einige Gedanken Peter M. Senges zum Thema Lernen:

Ich denke, dass fundamentales Nachdenken über das, was wir ‚Lernen’ nennen, heute grundlegend ist. Wir tun so, als ob wir genau wüssten, was das ist. Und dieses ‚so tun als ob’, ist schon das erste Problem unserer Kultur. Jeder fühlt sich unwohl, wenn er eine Antwort nicht weiß. Denn in der Schule lernen wir meistens, dass es wichtig ist, etwas zu ‚wissen’, aber nicht: ‚du kannst es eigentlich nicht genau wissen’. Aber Lerner zu sein, bedeutet unsicher zu sein, sich nicht zufrieden geben mit oberflächlichen Antworten und Begriffen. Was haben wir für eine Vorstellung vom Lernen? ... Häufig haben wir Bilder wie ‚Buch’, ‚Universität’, ‚Lehrer’. Aber für mich ist Schule keine gute Metapher für ‚lernen’. Der Begriff wird meist mit dem Gefühl von ‚brav sein’, ‚Fehler vermeiden’, ‚Angst’, ‚Regeln folgen’, ‚sitzen’, ‚ruhig sein’, ‚zuhören’ oder gar ‚Langeweile’ verbunden. Das ist die weitverbreitete gemeinsame untergründige Bedeutung für uns. Es stehen starke Bilder und Gefühle dahinter. Aber wie lernen wir denn wirklich?548

Das Lernen im Erwachsenenalter schließt immer an zuvor erworbene

Kenntnisse, Fähigkeiten und gemachte Lebens- und Lernerfahrungen an, die

sich förderlich oder hinderlich auf neue Lernprozesse auswirken können.549

Um die besonderen Erfordernisse in der Basisbildung und Alphabetisierung zu

verstehen, muss man sich daher verdeutlichen, dass die teilnehmenden

Jugendlichen und Erwachsenen bereits erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten

mitbringen, auf welchen aufgebaut werden kann. Allerdings sind sie beim

Erlernen der Kulturtechniken in der Schule schon einmal bitter gescheitert und

tragen diese negativen Lernerfahrungen seither in sich. Sie haben zumeist

jahrelang versucht diese Aktivitäten zu vermeiden und erlebten, wenn das

nicht möglich war, viele kränkende berufliche und private Misserfolge,

Erfahrungen von Diskriminierung und sozialer Isolation. Nicht nur deshalb ist

es allein mit einem Angebot, das die Grundlagen für das Lesen, Schreiben und

Rechnen wiederholt und den Erwerb von Kenntnissen der IKT (Informations-

und Kommunikationstechnologien) abdeckt, nicht getan.

In diesem Kapitel wird es insbesondere um folgende Fragen gehen: Wie

werden die Lernenden in der Basisbildung und Alphabetisierung zu positiven

Lernerfahrungen herangeführt, damit die erlebte Geschichte des Versagens zu

548 Senge, Peter M., zit. in: Lenz, Werner 2005, S. 94f. 549 vgl. Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 27.

136

einer Erfolgsgeschichte eigenhändig umgeschrieben werden kann? Welche

Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen sind für ein gelingendes Lernen

der Teilnehmerinnen und Teilnehmer günstig?

7.1 Lernen und Lehren

Einleitend folgen nun einige theoretische Ausführungen zu den Themen-

bereichen Lernen und Lehren.550 Den Anfang macht Peter Faulstich:

Während lange Zeit über Lernen nachgedacht wurde, als seien Menschen leere Blätter, in welche die Welt ihre Buchstaben einschreibt, wurde die aktive Rolle der Lernenden selbst als Schreiber ihrer Biographien immer deutlicher. Für die Frage des Lernens muss also eine Herstellungsperspektive aufgegeben werden. Die Vorstellung vom Füllen der Köpfe mit Wissen ist obsolet. Stattdessen greift eine Aneignungsperspektive. Die Lernenden suchen nach Wissen und geben dem einen Sinn.551

Lernen, als aktive Form der Wissensfindung und Sinngebung, ist nach

Peter Faulstich ein sozialer Prozess: „Es geht um Aneignungsprozesse zur mit

Anderen gemeinsamen Teilhabe in einer sozialen Praxis, die historisch geprägt

ist“.552 Somit verändert sich auch die Rolle der Lehrperson, denn, wie Horst

Siebert formuliert, sind: „Erwachsene: lernfähig, aber unbelehrbar“.553 Peter

Faulstich meint zustimmend: „Kern des Bildungsgedanken ist es, dass Bildung

immer nur Selbstbildung sein kann. Man kann niemanden bilden. Aber man

kann gemeinsame Entwicklungen in Richtung auf Entfaltung anstoßen“.554

Paulo Freire schreibt: „Der Lehrer kann nicht für seine Schüler denken,

noch kann er ihnen sein Denken aufnötigen“.555 Die Lernenden, auch wenn sie

des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, erschienen ihm nicht als

unbeschriebene Blätter ohne eigene Fähigkeiten und Kompetenzen, vielmehr

sah er sie als menschliche Wesen mit individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten

und Lebenserfahrungen, die es zu respektieren und ernst zu nehmen gilt.

Somit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel gefordert. Die Lernenden

sind nicht einfach Objekte in einem Bildungsprozess, in die Wissen, Werte,

Normen, Kultur, usw., nach dem Motto „darf´s noch ein bisserl mehr sein“

eingeschrieben werden, sondern sie sind selbst Subjekte. Sie sind aktiv

Forschende und auch Lehrende, die auf diese Weise beginnen, ihre Welt zu

550 Damit soll eine Abgrenzung gegenüber Lerntheorien vorgenommen werden, die das Subjekt und ihren bzw. seinen Lebenskontext unberücksichtigt lassen. 551 Faulstich, Peter: Weiterbildung 2003, S. 218. 552 vgl. ebd., S. 224. 553 Siebert, Horst, zit. in: Faulstich, Peter 2003, S. 230. 554 Faulstich, Peter: Weiterbildung 2003, S. 237. 555 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 62.

137

ihren Gunsten umzugestalten. Gleichermaßen sind die Lehrenden immer auch

Lernende, denn Bildung ist keine Einbahnstraße.

„‘Bilden‘ war für ihn (Paulo Freire-G.G.) Hilfe zur Ich-Werdung,“ formuliert

Andreas Novy.556 Bilden meint folglich, die Lernenden bei ihrem Selbst-

bildungsprozess zu unterstützen und ist mit Sicherheit keine Aufforderung

dazu, etwas für andere zu tun oder etwas für andere besser zu wissen.

Unverzichtbar für einen gemeinsamen Forschungsprozess im Sinne Paulo

Freires ist der Dialog zwischen den voneinander und miteinander lernenden

Subjekten in einer Beziehung von Gleichen, denn: „Dialog ist die Begegnung

zwischen Menschen, vermittelt durch die Welt, um die Welt zu benennen“.557

„Sein Grundgedanke ist, dass nur wer die Welt benennen kann, d. h. nur wer

die Sprache in Wort und Schrift beherrscht, in der Lage ist, die Welt zu

verändern“, schließt daraus Christoph Wagner.558

Lernen, so formulieren es Peter Faulstich und Petra Grell in Anlehnung an

die Konzeption Klaus Holzkamps, „(…) ist Aneignung von Wissen und Können

durch die Personen selbst“, um ihre „Weltverfügung zu erweitern“ oder eine

Bedrohung abzuwehren, wenn ihnen Probleme auf üblichem Wege nicht lösbar

erscheinen.559 Lernen wird ausgelöst von einer „Diskrepanzerfahrung zwischen

Intentionalität und Kompetenz“, d.h. dem Unterschied zwischen dem Können

und Wollen und ist prinzipiell „ergebnisoffen und wahlfrei“.560 Die Personen

erwarten sich, dass ihre „Verfügung über den Gegenstand“ nach

erfolgreichem Lernen erweitert sein wird und ihnen „neue Handlungsoptionen“

offen stehen.561 Entscheidend für das Lernen ist die individuelle Bedeutung,

die eine Person einer Lernthematik zumisst, ob sie diese als sinnvoll und für

die eigenen „Lebensinteressen relevant“ betrachtet und infolgedessen zu

lernen beginnt oder eben nicht.562 Welche Handlungsmöglichkeit jemand

ergreift, wird neben kognitiven Überlegungen auch maßgeblich von der

emotionalen Befindlichkeit beeinflusst. Die Autorin und der Autor

verdeutlichen die Rolle der Gefühle, deren Verdienst es ist, primär zu

unterscheiden, ob eine Erfahrung als bereits bekannt oder anders erlebt wird,

556 Novy, Andreas: Paulo Freire, in: Faschingeder, Gerald; Ornig, Nikola 2005, S. 25. 557 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 72. 558 Wagner, Christoph: Paulo Freire, in: E+Z 01/2001. (Homepage) URL: www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez101-7.htm (22.08.2007). 559 vgl. Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 24. 560 vgl ebd. 561 vgl ebd., S. 26. 562 vgl ebd., S. 25.

138

wie folgt: „Emotionen sind Bewertungen der gegebenen oder vorgestellten

Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten am Maßstab ihrer

individuellen Bedeutungen“.563 Die Lerngründe, genauso wie die

Lernwiderstände, lassen sich zurückführen auf die persönlichen „Wünsche und

Interessen“ der Lernenden.564 Diese zu verstehen gelingt, nach Meinung der

Autoren, nur, wenn man sich mit den alltäglichen und mit den eigenen

Lernerfahrungen auseinandersetzt: „Es geht um das Lernen von Menschen,

und wenn wir über Lernen reden, reden wir immer auch über uns selbst“.565

7.1.1 Motivierung der Teilnehmenden

Beweggründe für die Teilnehmerinnen und die Teilnehmer, es nochmals

mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen zu versuchen, gibt es viele. Brigitte

Bauer nennt beispielsweise folgende Motive der Lernenden:

Ihre Motive für einen Kursbesuch sind vielfältig. Sie wollen ein selbstbestimmtes, selbstständiges Leben führen, ohne ständig „auf der Hut“ sein zu müssen; sie sind auf der Suche nach einem Arbeitsplatz oder haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren; sie wollen ihr Kind während der Schulzeit unterstützen und haben den Wunsch nach mehr Selbstsicherheit und einem gestärkten Selbstwertgefühl.566

Die nachstehenden Motive „Erwachsene(r), die Lesen und Schreiben

lernen“, stammen von Paul Bélanger:

Sie wollen dadurch einen anderen Beruf erlernen, die täglichen Probleme meistern, ihre Lebensqualität verbessern und sich vielleicht darüber hinaus an der Lektüre erfreuen, mehr wissen, autonom werden, dies auch ausdrücken und aus dem Alltag in ferne Phantasiewelten reisen können.567

Das Wissen um die unterschiedlichen Motive der Teilnehmenden ist nicht

nur für die Gestaltung der Lernangebote und für ihren persönlichen Lernerfolg

von Vorteil. Auch für den Bereich „,Marketing in der Alphabetisierung‘“

erarbeitete das Netzwerk In.Bewegung nun einen neuen Ansatz, der nach

Otto Rath „(…) die starke Orientierung der Angebote an den Motiven und am

Nutzen der KundInnen sowie die Entwicklung von Angeboten nicht für die

563 Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 26. 564 vgl. ebd., S. 22. 565 ebd. 566 Bauer, Brigitte: Wenn sich Türen öffnen, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 10-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_10_bauer.pdf (03.06.2008). 567 Bélanger, Paul: Vorwort, in: Die Welten der Wörter 1992, S. 8.

139

Zielgruppe, sondern mit der Zielgruppe“ enthält.568 Auf seine Frage: „Was

haben wir in diesen 2 Jahren gelernt?“, notiert er daher:

Die Orientierung an den Ressourcen, den Motiven und den Nutzenerwartungen unserer Zielgruppe. Diese Orientierung ist nur durch Qualitätssicherung auf allen Ebenen möglich – von den verwendeten Botschaften in der TeilnehmerInnenakquisition über die TrainerInnen bis hin zu einer Kursinfrastruktur, die den Teilnehmer/innen gegenüber Wertschätzung ausdrückt.569

Durch Gespräche mit den Lernenden und mit den Trainerinnen und

Trainern werden neu geplante und bestehende Kursangebote möglichst

flexibel auf die Wünsche und Bedürfnisse der „Begünstigten“ abgestimmt.

Alfred Berndl berichtet von den dafür erforderlichen Überlegungen:

Eine Analyse der Motive und Bedürfnisse der Begünstigten ist essentiell. Ein Angebot entsteht aus der Betrachtung des Marktes und orientiert sich nach den Bedürfnissen. Werfen wir einen genauen Blick auf die Begünstigten. Was brauchen sie? Kennen wir die Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte unserer Zielgruppe(n)? Wie sieht die Flexibilität der Begünstigten aus? Können sie einfach den Kurs erreichen? Braucht es Kinderbetreuung? Welche Kurszeiten sind geeignet? Welche Themen und Inhalte von Kursen sind für die Begünstigten relevant? Treffen wir damit ihre Erwartungen und Motive? Diese Fragen zu beantworten gelingt dann, wenn wir mit großer Aufmerksamkeit den Begünstigten zuhören, wenn wir nachempfinden, wenn wir Bedürfnisse (vor allem die dahinter stehenden Motive) ermitteln, sammeln und in all unsere Überlegungen einbeziehen.570

Auf die Motivierung von Kursinteressentinnen und -interessenten bezog

sich folgendes Ergebnis einer zum Thema eingerichteten „Fokusgruppe“, in

der auch einige Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mitarbeiteten:

Sensible Phasen in den Lebensgeschichten der Begünstigten sind als Ressourcen für Veränderung nutzbar

Begünstigte, die sich in Übergängen in ihren Biografien befinden, sind bildungs- und lernwilliger, daher also einfacher ansprechbar. Solche Übergänge sind z.Bsp. berufliche Neuorientierungen, Wechsel des

568 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-8. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 569 Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 2. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007). 570 Berndl, Alfred: Beratungsleitfaden, S. 10. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Beratungsleitfaden.pdf (14.12.2007).

140

Wohnsitzes oder Migration, Schuleintritt, Trennungen oder das Entwachsen der eigenen Kinder.571

Marion Döbert und Peter Hubertus erwähnen ihrerseits ebenfalls kritische

Ereignisse, die entscheidend für einen Kursbeginn sind, verweisen dabei

jedoch nicht explizit auf sensible Lebensphasen:

> Verlust des Arbeitsplatzes oder Angst davor > Umstellung auf andere Maschinen oder Geräte in der Firma, deren

Bedienung mit Schriftsprache verbunden ist > Einschulung des eigenen Kindes und Überforderung, bei den

Hausaufgaben zu helfen > Wegfall der Hilfestellung durch die Bezugsperson, die

Schriftsprachliches erledigt hat (zum Beispiel durch Scheidung, Todesfall, beim Krankenhausaufenthalt o.Ä.)

> schlechte Testergebnisse zum Beispiel beim Arbeitsamt oder beim Aufnahmetest für den nachträglichen Hauptschulabschluss

> Überforderungserlebnisse am Arbeitsplatz oder in Lernsituationen (zum Beispiel Umschulung)

> Beförderungsangebot am Arbeitsplatz und Angst vor den damit verbundenen Anforderungen im Schriftsprachlichen572

7.1.2 Positive Lernerfahrungen

Die Teilnehmenden entscheiden im Kurs selbst darüber, „(…) ob Lernen als

positiv und sinnvoll erlebt wird und der aufgewendeten Mühe wert ist oder

nicht“, bemerkt Antje Doberer-Bey.573 Für die Autorin ist die Basisbildung

darum eine „sensible Schnittstelle“ für weiterführende Lernprozesse, denn:

Basisbildungsarbeit mit Erwachsenen heißt also auch: eine Brücke zwischen früheren Lernerfahrungen und neuen, unbekannten Möglichkeiten, zwischen Versagensängsten und den eigenen Ressourcen und Stärken zu schlagen. Basisbildung beinhaltet eine Umdeutung des Selbstbildes und die Entwicklung neuer Perspektiven – über die zu entwickelnden Kulturtechniken.574

Otto Rath hebt hervor, wie wesentlich es in der Basisbildung ist, durch ein

qualitätsgesichertes und nutzenorientiertes Angebot sicherzustellen, dass sich

negative Erfahrungen der Lernenden nicht wiederholen:

Letztlich zielen alle Aktivitäten darauf ab, der primären Zielgruppe, den Erwachsenen (und Jugendlichen nach der Pflichtschule) mit nicht

571 Berndl, Alfred: Thesen einer nicht diskriminierenden Kommunikation, S. 4. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Kommunikationsempfehlungen.pdf (14.11.2007). 572 Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 75. 573 vgl. Doberer-Bey, Antje: Qualitätsentwicklung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung. at, 01/2007, S. 03-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_03_doberer-bey.pdf (03.06.2008). 574 ebd.

141

ausreichender Basisbildung, ein qualitätsgesichertes Angebot zur Verfügung zu stellen, das für sie einen klaren Nutzen bringt und zu keiner Reinszenierung von negativen Lernerfahrungen führt.575

Folglich stellt sich die Frage, welche Einflüsse den Lernenden positive

(Lern-)Erfahrungen in der Basisbildung und Alphabetisierung ermöglichen.

Lernen erleben die meisten Teilnehmenden wohl als sinnvoll und interessant,

wenn sie die Inhalte und Themen mit ihrer eigenen beruflichen und/oder

alltäglichen Realität in Beziehung setzen können und wenn die gelernten

Fertigkeiten und Kenntnisse sich als hilfreich für ihr Leben erweisen. Das ist

der Fall, wenn es im Kurs um sie selbst geht und wenn sie - neben neuem

Wissen - das lernen können, was sie lernen wollen und was ihnen hilft, ihre

Alltagsprobleme zu meistern und ihre Lebenschancen zu vergrößern.

Positive Lernerfahrungen entstehen häufig durch die Anerkennung und

Wertschätzung anderer für ihre Anmeldung und Teilnahme am Kurs, für das

Schreiben und Vorlesen von (eigenen) Texten, für erkennbare individuelle

Lernfortschritte im Umgang mit der Schriftsprache, dem Computer und den

Zahlen, wodurch sie konkrete Situationen in ihrem Lebenskontext -

unabhängig von anderen Menschen - (besser) bewältigen und leichter ihre

persönlichen Ziele erreichen können. Gleichzeitig nimmt bei vielen Lernenden

auch die Sicherheit, das Selbstvertrauen und die Lernmotivation zu.

Erfolgreiches Lernen wird den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den

Kursen vor allem durch eine flexible und individuell ausgerichtete Beratung,

Begleitung und Unterstützung eröffnet. Es gibt in der Basisbildung und

Alphabetisierung unzählige Wege, wie Lernen gelingen und auch Spaß machen

kann. Die innere Überzeugung, nicht lernen zu können, hat zusätzlich zur

verspürten Scham (wegen ihres Versagens in der Schulzeit) und der Angst vor

neuerlichem (nun vielleicht entgültigem) Versagen viele Teilnehmerinnen und

Teilnehmer bislang davon abgehalten, es überhaupt nochmals zu versuchen.

Erfolgserlebnisse ab Beginn sind aus diesem Grund ein ganz wesentlicher

Punkt, um sich selbst als lernfähig zu erfahren, wie Brigitte Bauer am Beispiel

eines Projektes für Frauen aus ländlichen Regionen schildert:

Wenn die ersten Lernfortschritte sichtbar werden und das bisher vorherrschend negative Selbstbild („Ich war und bin zu dumm zum Lernen!“) sich zu verändern beginnt, lässt auch der Druck nach. Die Frauen beginnen entspannter und mit Freude zu lernen. In

575 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-10. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008).

142

vertraulicher Atmosphäre können die persönliche Lerngeschichte und die Veränderungen, die das Lernen für die Frauen mit sich bringt, thematisiert werden.576

Die Teilnehmenden können in den Kursen offen so sein, wie sie sind. Das

bedeutet, Wissen und Kompetenzen vorzugeben, die nicht vorhanden sind, ist

für sie hier nicht mehr notwendig und das kann sehr entlastend sein. In der

Lerngruppe ist es ihnen möglich, sich mit anderen über ihre Erlebnisse

auszutauschen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu unterstützen,

Gemeinschaft zu erleben und miteinander Freundschaften zu schließen. In

Gesprächen, z.B. im Einzelunterricht und in der Lernberatung, können die

Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigene Lernstrategien entwickeln, ihren

Lernprozess selbst organisieren und reflektieren.

Ausgehend von ihrem vorhandenen Wissensstand und von ihren Stärken

werden neue Inhalte und Themen, die ihren Lernbedürfnissen und Motiven,

ihrem Alter, ihren Lebensumständen und -kontexten entsprechen und ihren

Interessen und Vorlieben entgegenkommen, in unterschiedlicher Art und

Weise angeboten. Ein erfolgreiches Mittel auf dem „Weg zum autonomen

Lernen“ ist beispielsweise das Führen eines Kursbuches, in welches die bereits

gemachten Lernfortschritte, die erreichten Teilziele und individuellen

Lernprozesse von den Teilnehmenden selbst oder durch die Trainerinnen und

Trainer eingetragen werden. „Das persönliche Erfolgstagebuch als Bestandteil

des Kursbuches unterstützt die Kursteilnehmerinnen, die allesamt negative

Lernerfahrungen mitbringen, ihre Lernbiographie neu fortzuschreiben“, fügt

Brigitte Bauer ergänzend hinzu.577

Die Teilnehmenden können in den Kurseinheiten aktiv mitarbeiten,

machen womöglich erstmals positive Erfahrungen mit dem Lernen und

entwickeln neue erfolgreiche Bilder von sich selbst. Nach Antje Doberer-Bey

lösen positive „(Lern-)Erfahrungen“ bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern

bestimmte Veränderungen aus:

Positive Erfahrungen von Unterstützung und Kooperation, von Wertschätzung und (Selbst-)Reflexion, von Entwicklung und Autonomie verändern den Selbstwert der TeilnehmerInnen und fördern die Lernbereitschaft, Teilhabe und aktive Lebensgestaltung.578

576 Bauer, Brigitte: Wenn sich Türen öffnen, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 10-6. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_10_bauer.pdf (03.06.2008). 577 In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 48. 578 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 39.

143

Brigitte Bauer unterstreicht: „Sichtbare Lernerfolge von Beginn an und das

Sichtbarmachen der vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen bekräftigen

das Selbstwertgefühl“.579 Der Fokus richtet sich in den Basisbildungskursen

verstärkt auf die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der Lernenden,

die ihnen jedoch oft erst bewusst werden müssen, wie Otto Rath berichtet:

Erwachsene mit geringer Basisbildung kommen meist gar nicht auf die Idee, dass sie über Kompetenzen verfügen. Viel eher dominiert das in der Schule erlernte Selbstbild, nämlich dass sie dumm, faul oder Ähnliches seien. Der Blick auf ihre Kompetenzen, die sie non-formal oder informell erworben haben, ist ihnen versperrt. Umso wichtiger ist es gerade für diese Gruppe zu lernen, die eigenen Kompetenzen zu reflektieren und darzustellen.580

Marion Döbert und Peter Hubertus betonen ebenfalls: „Den Lernenden soll

möglichst schnell ein Kompetenzerlebnis vermittelt werden, denn Erfolg ist

Grundlage jedes gelingenden Lernprozesses“.581 Eine weitere fundamentale

Voraussetzung für gelingendes Lernen wird von Alfred Berndl aufgezeigt:

Die existentielle Absicherung der Begünstigten erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bildungsprozessen

Existenzdruck steigert die Lernmotivation nicht, sondern führt eher zu vielfältigen Stress- und Verweigerungsreaktionen.582

Nachdem nun einige der vielen Faktoren erwähnt wurden, die zu positiven

(Lern-)Erfahrungen der Kursteilnehmenden beitragen können, sollen jetzt

einzelne förderliche Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen für

gelingendes Lernen in der Basisbildung und Alphabetisierung genannt werden.

7.2 Konzepte

Weltweit existieren zahlreiche eindrucksvolle Konzepte, eine große

Auswahl an interessanten Projekten und Programmen sowie langjährige,

instruktive Praxiserfahrungen in der Alphabetisierung und Basisbildung mit

Jugendlichen und Erwachsenen. „Projekte von der Hand zu weisen, die in

einem anderen Kontext durchgeführt wurden, ist ebenso falsch, wie sie naiv

zu übernehmen, sie schlicht und einfach zu importieren“, erklärt Paulo

579 In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 16. 580 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-9f. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 581 Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 88. 582 Berndl, Alfred: Thesen einer nicht diskriminierenden Kommunikation, S. 4. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Kommunikationsempfehlungen.pdf (14.11.2007).

144

Freire.583 Er spricht sich dafür aus, dass Projekte von jenen, die sie initiieren,

stets im Zusammenhang mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext

diskutiert und an Ort und Stelle neu geplant und entwickelt werden müssen.

Das Netzwerk „In.Bewegung“ arbeitet im Rahmen eines transnationalen

Netzwerkes mit Finnland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Otto

Rath notiert dazu:

Wir sind weiters zur Überzeugung gelangt, dass das Übernehmen von in anderen Kontexten bewährten Konzepten im Sinne einer nachhaltigen Wirkung gut geprüft werden muss. Wir haben europäisches Know-how sorgsam und so weit wie möglich in unsere Entwicklungsarbeit integriert und auch festgestellt, dass wir durchaus in der Lage sind, in einem befruchtenden Dialog Eigenständiges zu entwickeln.

Unsere Prämisse lautet: Innovation statt Imitation und das heißt auch, wir schreiben lieber nicht ab.584

In Österreich gibt es derzeit eine Vielfalt an unterschiedlichen Zugängen

und innovativen Modellen in der Basisbildungs- und Alphabetisierungsarbeit.

Beeinflusst von der eigenen Entstehungsgeschichte der Einrichtung und den

institutionellen Zielsetzungen und Rahmenbedingungen, geprägt von den

jeweiligen örtlichen Gegebenheiten, sowie den vorgegebenen finanziellen

Möglichkeiten und Grenzen, charakteristisch durch die einrichtungsbezogenen

Schwerpunktsetzungen und die individuelle Kursgestaltung der Trainerinnen

und Trainer gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern,

präsentieren sich die Basisbildungsangebote der verschiedenen Institutionen

wahrlich sehr vielgestaltig und abwechslungsreich. So kann es daher auch

nicht verwundern, wenn die Verantwortlichen und die Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter der Einrichtungen unterschiedliche Begrifflichkeiten verwenden.

7.2.1 Bezeichnungen und Konzepte

Eine Annäherung an diesen Bildungsbereich über die unterschiedliche

Terminologie, wie bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit beabsichtigt, fällt

nicht leicht. Die Begriffe sind dynamisch und kontextbezogen. Sie werden von

den anbietenden Institutionen uneinheitlich verwendet. Je nach Bundesland

wird in einigen Einrichtungen von Grundbildung gesprochen und in anderen

von Basisbildung. Inhaltlich sind beide Bezeichnungen identisch, obwohl sie,

583 Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 82. 584 Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007).

145

nach Christian Kloiber, in unterschiedliche Richtungen weisen: „‘Basisbildung‘

ist der allgemeinen Bildung näher (und somit dem Zweiten Bildungsweg),

während die Bezeichnung ‚Grundbildung‘ auf die berufliche Bildung zeigt“.585

Vom Netzwerk „In.Bewegung“ wird in offiziellen Dokumenten der Begriff

„Basisbildung“ verwendet. Damit soll, nach Antje Doberer-Bey, dem negativ

konnotierten und diskriminierenden Begriff „Analphabetismus“ entgegen-

gewirkt werden.586 Gleichfalls wurde von den Vertreterinnen und Vertretern

des Netzwerks die Bezeichnung „Begünstigte“ eingebracht, die anstatt der,

von den so benannten oft als diskriminierend empfundenen, Begriffe

„funktionale Analphabetin“ bzw. „funktionaler Analphabet“ verwendet wird.587

Alfred Berndl definiert diesen Begriff folgendermaßen: „Begünstigte: Die

Zielgruppe der Personen mit Bedarf an Basisbildung“.588

Innerhalb des Netzwerks „In.Bewegung“ ist gerade ein Diskussionsprozess

in Gange, welche Begrifflichkeiten und dahinterstehende Konzepte hierzulande

künftig verwendet werden. Zur Diskussion stehen das in Deutschland

entwickelte Konzept des funktionalen Analphabetismus nach Peter Hubertus,

die acht Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen der EU, das aus

Großbritannien stammende Konzept „Skills For Life“, sowie Konzepte der

OECD (Competences in the Information Age; Framework).589

7.2.2 Inhalte von Basisbildung

Um ein gemeinsames Konzept von Basisbildung zu entwickeln, kamen die

im „Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich“ engagierten

Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Institutionen darin

überein, die folgenden Inhalte zur Basisbildung zu zählen, welche an den

Konzepten der Europäischen Kommission, der OECD und dem Konzept „Skills

for Life“ orientiert sind. Die Definition von Basisbildung, von der hier

ausgegangen wird, bewegt sich deutlich über den Bereich der normalerweise

585 Kloyber, Christian: Editorial, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, S. 01-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_01_kloyber.pdf (23.09.2007). 586 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 10. 587 In der neueren österreichischen Fachliteratur scheint jedoch die Bezeichnung „Zielgruppe“ gebräuchlicher zu sein, als die Bezeichnung „Begünstigte“. 588 Berndl, Alfred: Beratungsleitfaden, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Beratungsleitfaden.pdf (14.12.2007). 589 Dieser Entscheidungsprozess war zum Zeitpunkt der Texterstellung (Nov. 2007) noch nicht abgeschlossen.

146

dazu assoziierten Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT)

hinaus. Otto Rath stellt diese Inhalte vor:

Schreiben, Lesen, mündliche Sprachkompetenz, Zuhören, Verstehen, Rechnen, Umgang mit Daten und Zahlen, Umgang mit Maßen und Formen; IKT (Informationstechnologien) und die Schlüssel-kompetenzen: Kommunikation, Problemlösung, Arbeiten mit anderen und Lernkompetenz; DaZ (Deutsch als Zweitsprache): mündliche Kommunikation, Lesen, Schreiben.

Die Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen, IKT – werden als primär notwendig und als Voraussetzung für den Erwerb weiterer Kompetenzen betrachtet.590

Die inhaltliche Auseinandersetzung der Mitglieder des „Netzwerks

Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich“, bezüglich des zu

erreichenden Niveaus der unterschiedlichen Basisbildungskompetenzen, über

welches Jugendliche und Erwachsene hierzulande zumindest verfügen können

sollten, ist zur Zeit noch nicht abgeschlossen.

7.2.3 Zielsetzung und Lernprozesse

Für die Kurse der Alphabetisierung und Basisbildung nennt Antje Doberer-

Bey als maßgebliche Intention: „Zentrales Ziel ist die maximale Förderung der

einzelnen Lernenden und ihre Reintegration in Lernprozesse und in das

lebensbegleitende Lernen“.591

Die Lernprozesse werden dazu idealerweise sehr selbstgesteuert,

individualisiert und erwachsenengerecht, bedarfs- und lösungsorientiert in

kleineren maßgeschneiderten Angeboten für spezifische Lerngruppen

arrangiert. Das bedeutet, dass das Lernangebot zeitlich, örtlich, inhaltlich,

sprachlich, in Umfang, Methode und im Material möglichst flexibel an den

individuellen Bedürfnissen, Interessen, Wünschen und Potentialen der

Teilnehmenden, sowie an ihren konkreten Lebenskontexten und nicht an

einem vorgegebenen Fächerkanon orientiert ist. Die Verantwortlichen und die

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der anbietenden Einrichtungen beobachten

zugleich aufmerksam gesellschaftliche, technologische und arbeitsmarkt-

bezogene Veränderungen, die neue Lernbedürfnisse hervorrufen.

590 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-2. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 591 Doberer-Bey, Antje: Qualitätsentwicklung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung. at, 01/2007, S. 03-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_03_doberer-bey.pdf (03.06.2008).

147

Im Kurs soll den Teilnehmenden gemeinsames Lernen in kleinen Gruppen

in einer angenehmen Atmosphäre ohne Leistungs- Zeit- und Konkurrenzdruck

möglich sein. Die Lernziele werden individuell mit den einzelnen Personen im

(Einzel-)Unterricht und in den Beratungsangeboten geplant und überprüft.

Regelmäßige reflektierende Gespräche sind für die Lernenden von Vorteil, um

ihre bisherigen Lernfortschritte wahrzunehmen, ihre negativen Lern- und

Lebenserfahrungen zu verstehen und ihre Lernschwierigkeiten aufzulösen.

7.2.4 Erwartungen an Basisbildung

In der Basisbildung und Alphabetisierung lassen sich unterschiedliche

Interessenslagen ausmachen. Dazu finden sich in der Broschüre des

Netzwerks Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich folgende Angaben:

● KursteilnehmerInnen erwarten sich den Erwerb von Kompetenzen, die ihnen höhere Beschäftigungsfähigkeit, mehr Unabhängigkeit oder eine Erhöhung des gesellschaftlichen Status garantieren.

● Die Wirtschaft erwartet sich funktionale Qualifizierung, einen starken Arbeitsmarktbezug und einen volkswirtschaftlichen Beitrag.

● Anbieter wiederum betonen oft den emanzipatorischen Bildungsanspruch und lehnen reine Ausrichtung auf Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Verwertbarkeit ab.

Das Netzwerk Basisbildung strebt ein Verständnis von Basisbildung an, das dieses System in Balance hält und wendet sich gegen Polarisierungen.592

Wie nun das Netzwerk „In.Bewegung“ die verschiedenen Ansprüche an

Basisbildung in Balance halten will, wird in den von Antje Doberer-Bey im

Rahmen der Qualitätsstandards formulierten Zielsetzungen zu Teil deutlich:

● Das arbeitsmarktpolitische Ziel einer überregionalen Qualitäts-sicherung ist es, von einem qualitätsgesicherten Basisbildungs-angebot zu einem qualitätsgesicherten, gleichstellungs-orientierten Weiterbildungsangebot zu kommen, um damit die

● Ziele der Integration in den Arbeitsmarkt und die Sicherung der Beschäftigung effektiv und effizient zu unterstützen.

● Aus demokratiepolitischer Sicht gilt es, unabhängig von der Frage nach der Integration in den Arbeitsmarkt, allen Menschen den Zugang zu einer umfassenden Basisbildung zu ermöglichen, damit sie an der Gesellschaft partizipieren und ihr Berufs- und Alltagsleben aktiv gestalten können. Dies ist auch die Grundlage zur Inanspruchnahme von lebensbegleitendem Lernen.

● Integriertes Ziel in allen Aktivitäten und auf allen Ebenen ist die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern.

592 In.Bewegung: Basisbildung für Erwachsene in Österreich 2007, S. 11.

148

● Auf individueller Ebene bedeutet dies die Förderung schriftsprachlicher Grundfähigkeiten als Voraussetzung zur Wahrnehmung des Rechtes auf Bildung sowie für den Wissenserwerb und die Entwicklung von Fähigkeiten wie Autonomie und Selbstbestimmung

● Es sind niederschwellige und qualitativ hochwertige Beratungs- und Basisbildungsangebote für die begünstigten Zielgruppen bereitzustellen.593

7.2.5 Personengruppen und Konzepte

Mancherorts werden Basisbildungs- und Alphabetisierungsangebote für

bestimmte Personengruppen durchgeführt. Beispielsweise wurde für Frauen

mit deutscher Muttersprache aus dem ländlichen Raum ein computer-

unterstützter Basisbildungskurs in Bischofshofen (Salzburg) abgehalten. Das

Angebot wurde von allen Projektverantwortlichen und -mitarbeitenden

detailliert beschrieben und ermöglicht daher einen fundierten Einblick in

dieses Pilotprojekt. So wurden u.a. die „sechs Eckpunkte des Basisbildungs-

angebotes“, die strukturell bedingten (Lern-)Hindernisse der Frauen594 sowie

die speziellen Vorteile von Einzelunterricht zu Kursbeginn ausführlich

dargestellt.595 Neu sind außerdem maßgeschneiderte Grundbildungskurse für

Arbeiterinnen und Arbeiter im betrieblichen Kontext. Es wurden gemeinsam

mit Kärntner Firmen erste Kurse für Frauen in ihren Betrieben abgehalten und

begleitend evaluiert. Eine genaue Darstellung des Ablaufs der Lehrgänge und

der erreichten Vorteile für die Teilnehmerinnen und die kooperierenden

Betriebe finden sich in Beiträgen von Isabella Penz und Monika Kastner. Wie

auch in betrieblichen Grundbildungskursen in Oberösterreich erfolgte die

Ansprache der Teilnehmenden dabei über gewerkschaftliche Strukturen.596

Desgleichen werden die über das AMS (Arbeitsmarktservice) finanzierten

Basisbildungskurse überwiegend für den Personenkreis der arbeitslosen bzw.

Arbeit suchenden Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt. In manchen

Bundesländern werden außerdem Kurse speziell für Insassinnen und Insassen

von Justizanstalten abgehalten. Daran können meist Personen mit deutscher

Muttersprache bzw. Migrantinnen und Migranten während und nach der Haft

teilnehmen. Ein Grundbildungsprojekt in Graz widmet sich verstärkt Familien,

593 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 7. 594 vgl. In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 12ff. 595 vgl. ebd., S. 42ff. 596 Siehe: Kastner, Monika; Penz, Isabella: Betriebe und Basisbildung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_13_kastner_penz.pdf (03.06.2008); In.Bewegung: Sensibilisierung im

149

insbesondere Frauen mit kleinen Kindern und ist in dieser Form das erste im

deutschsprachigen Raum. Hier erhalten Familien ebenso „TIPPS&TRICKS“ für

die Unterstützung ihrer Kinder während der Volksschulzeit.597

7.3 Methoden

Im deutschsprachigen Raum waren zu Beginn der 80er Jahre keinerlei

methodische Ansätze und Unterrichtsmaterialien für die Alphabetisierung

Erwachsener vorhanden. Die Trainerinnen und Trainer begannen auf alle

ihnen verfügbaren Ressourcen (Schulfibeln, Lernprogramme für die Lese-

Rechtschreib-Schwäche, Methode nach Paulo Freire) zurückzugreifen und

diese bestmöglich für ihre Lernenden zu adaptieren. Jedoch wurde die

Verwendung schulischer Methoden und Materialien, die die Lebens- und

Lernerfahrungen der Erwachsenen unberücksichtigt ließen und die schon

zuvor bei ihnen nicht erfolgreich waren, stark kritisiert. In der Praxis

begannen sich drei methodische Ansätze für den Schriftpracherwerb

durchzusetzen, welche anfänglich sehr kontrovers diskutiert wurden: der

sprachsystematischer Ansatz (Morphemmethode), der Fähigkeitenansatz und

der Spracherfahrungsansatz.598

Heutzutage wird nicht ein einzelner Ansatz, sondern Methodenvielfalt, die

sich an den aktuellen Interessen, Bedürfnissen, Zielen, Kenntnissen und

Ressourcen der Lernenden verortet, favorisiert. Da Menschen unterschiedlich

lernen, kann eine für alle entwickelte Methode nicht erfolgreich sein. Deshalb

werden teilnehmerinnen- und teilnehmerorientiert unterschiedliche Methoden

und Materialien miteinander kombiniert, um den Lernenden mannigfaltige

Zugänge zur Schrift zu eröffnen.599 Auch entstehen durch den Einsatz des

Computers, z.B. durch eigens konzipierte Lernsoftware, viele abwechslungs-

reiche Wege für neue Lehr- und Lernerfahrungen mit der Schrift.

betrieblichen Kontext in Oberösterreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Materialien/leitfaden_oegb.pdf (14.12.2007). 597 Die Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Aktuelle Informationen zu den zahlreichen Basisbildungsangeboten sind durch das Alfa-Telefon (0810/200810) und über die Netzwerk-Hompage erhältlich. Siehe: Netzwerk "Alphabetisierung und Basisbildung" in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at. 598 vgl. Romberg, Susanne: Wege Erwachsener in die Welt der Schrift 1993, S. 43f. 599 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 86f.

150

7.3.1 Spracherfahrungsansatz

In diesem Abschnitt soll der Spracherfahrungsansatz näher vorgestellt

werden, da mir diese Methode von den Verantwortlichen der Basisbildung und

Alphabetisierung mehrfach in Verbindung mit Paulo Freire genannt wurde.

Der in den Vereinigten Staaten von Roach Van Allen bereits in den 40er

Jahren entwickelte „Language-Experience-Approach“600 wurde insbesondere

von Ruth Gümbel in den 80er Jahren im deutschsprachigen Raum erstmals

publiziert.601 Durch diesen angstreduzierenden Ansatz erfassen die Lernenden

die Verknüpfung vom eigenen Gedanken zur mündlichen Sprache, die

verschlüsselt wird zur Schrift und als solche gelesen werden kann602:

‚1. What I think about, I can talk about. 2. What I say, I can write (or someone for me). 3. What I can write, I can read. 4. I can read, what I have written, and I can also read,

what other people have written for me to read.‘603

Widerspruch fand der Spracherfahrungsansatz v.a. durch die „(…)

Annahme, Lesen- und Schreibenlernen seien natürliche Prozesse“, die

hauptsächlich einer „anregenden Sprachumgebung“ bedürfen. Die beim

Schriftspracherwerb erforderliche Unterweisung der Lernenden in die

Sprachanalyse (besonders in die Phonemanalyse) wurde hintangestellt.

Deshalb begann Hans Brügelmann, der bekannteste Vertreter des

Spracherfahrungsansatzes in Deutschland, die Methode neu zu konzipieren.

Der Schriftspracherwerb wird nunmehr als eine „Denkentwicklung“ betrachtet,

die eine individuelle systematische Förderung der Schriftsprachentwicklung

auf dem Fundament der bisherigen (schrift-) sprachlichen Erfahrungen und

Fertigkeiten der Lernenden beinhaltet und sie bei der aktiven Verwendung der

Schriftsprache unterstützt, ihren eigenen „Zugang zur Schrift“ zu

entdecken.604

Beim Spracherfahrungsansatz wird nicht mit vorgegebenen Texten und

Übungsbeispielen aus Fibeln oder Lehrbüchern gearbeitet. In der Basisbildung

600 Der Spracherfahrungsansatz wird u.a. auch auf Kenneth S. Goodmans Konzept von Lesen als psycholinguistischem Ratespiel zurückgeführt. 601 vgl. Deneke, Sandra: Konstruktionen über Schriftsprache, S. 21. (Homepage) URL: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=981904149&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=981904149.pdf (26.06.2008). 602 vgl. Young, Peter; Tyre, Colin: Der Leseprozeß, in: Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred 1991, S. 410. 603 Tymister, Ulrike: Schriftspracherwerb 1994, S. 45. 604 vgl. Valtin, Renate: Methoden, in: Bredel, Ursula u.a. 2006, S. 765.

151

und Alphabetisierung werden die Gedanken der Lernenden von ihnen selbst

oder mit Hilfe anderer Personen schriftlich festgehalten. Übernehmen andere

die Funktion des Schreibens, wird vom „stellvertretenden Schreiben“

gesprochen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entdecken, dass ihre

eigenen Gedanken und Worte als wertvoll gelten und aus diesem Grund

aufgeschrieben werden. Ihre persönliche Sprach- und Lebenserfahrung und

die für sie aktuell interessanten und bedeutsamen Themen rücken in den

Vordergrund. Lerntätigkeiten sind erfolgreicher, wenn diese aus „emotional

bedeutsamen Inhalten“ resultieren, wie die Lernpsychologie herausfand. Ihre

eigenen Wörter und Texte bilden folglich, beispielsweise als Lesetexte, die

motivierende Basis für ihre weitere selbstbestimmte Auseinandersetzung mit

der Schrift.605

Äußerungen in der mündlichen Sprache, z.B. das Mitteilen von Erlebtem,

fallen naturgemäß leichter, da der eigene Wortschatz und Sprachgebrauch

vertraut ist. Außerdem ist die Alltagssprache grammatikalisch nicht so exakt

und komplex wie die schriftliche Sprache. Biographische Inhalte über den

familiären und kulturellen Kontext sowie über die eigenen Erfahrungen,

Gedanken, Gefühle, Wünsche, Phantasien, Hoffnungen und Befürchtungen, als

auch möglichst viele funktionelle, berufs- und gruppenbezogene Lese- und

Schreibanlässe dienen als Schreibimpulse im Kurs. Im Mittelpunkt steht der

Gebrauch der Schrift und der durch die aktive kognitive Auseinandersetzung

erfolgende stetige Prozess der Hypothesengenerierung über den Aufbau der

Schriftsprache. Das Wissen der Lernenden über die Schrift verändert und

aktualisiert sich ebenso dadurch, dass sie aus ihren Fehlern lernen. Fehler

sind innerhalb dieses Modells „(…) nicht nur Abweichungen von der

orthographischen Norm, sondern entwicklungspsychologisch betrachtet

Annäherungen im Sinne von Näherungslösungen an die Normschrift“, die die

Lernenden nach Möglichkeit selbst korrigieren sollen.606 Die Übernahme des

Gelernten in ihre reale Alltagssituation, ist ein weiteres wesentliches Element

im individuellen Lernprozess und muss schrittweise eingeübt werden.

Parallelen zur Methode nach Paulo Freire lassen sich klar erkennen. Die

Lerntätigkeit ist bei beiden Ansätzen ein konstruktiver Erkenntnisprozess und

kein rezeptiver Vorgang. Mit der Orientierung an der Lebenswelt der

Menschen, an ihren aktuellen Interessen und alltäglichen Problemen, an ihren

605 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 87f. 606 vgl. ebd., S. 88.

152

bedeutsamen (Schlüssel-)Wörtern und ihrem Wortschatz wird auch bei Paulo

Freire mit dem Lesen- und Schreibenlernen zunächst in mündlicher Form

begonnen, wie Sonja Muckenhuber konkret aus ihrer Praxis bestätigen kann:

Aber der Spracherfahrungsansatz in Form von Diskussionskreisen, die entsprechen diesen Freireschen Kulturzirkel, der wird von uns auch verwendet, eben auch zur Themenerhebung, zur Selbsterfahrung der Teilnehmenden, so dass sie sich erfahren als sehr ganzheitliche und sehr gut funktionierende Menschen.607

Aber einfach diese Diskussionskreise, die ja Diskussionskreise, Diskussionsrunden sind einfach Spracherfahrung für die Teilnehmenden. Und sie erfahren damit natürlich in weiterer Folge, wie man verschriftlicht, die Schriftform der Sprache, also die Schriftlichkeit, aber sie erfahren auch sich als wissende und teilhabende Menschen. Dieser Aspekt erscheint mir fast der wichtigere.608

7.4 Rahmenbedingungen

Die Alphabetisierungs- und Basisbildungskurse werden österreichweit von

verschiedenen Institutionen durchgeführt. Sie variieren daher im Hinblick auf

die Kursdauer und die anfallenden Kosten. Manche anbietende Institutionen

geben fixe Zeiten für den Einstieg und/oder das Kursende vor. Die meisten

Angebote laufen jedoch das ganze Jahr hindurch und ermöglichen den

Lernenden selbst darüber zu entscheiden, wann sie den Kurs beenden wollen.

Einige Angebote sind für die Lernenden kostenlos, da die Kurse zu 100%

gefördert werden. In anderen Institutionen sind (geringe) Gebühren zu

bezahlen. In diesem Fall erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer

zumeist Ermäßigungen oder individuelle Förderungen seitens des

Arbeitsmarktservices, des Landes oder der Arbeitnehmervertretung. Die Kurse

finden üblicherweise ein- bis zweimal pro Woche mit je zwei Einheiten (100

Minuten) statt.609

Die Lernangebote orientieren sich möglichst flexibel an den jeweiligen

Bedürfnissen (Arbeitszeit, Betreuungspflichten, Interessen, Zielen, Vorwissen)

der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der (gemeinsamen) Planung der

Kurszeiten, der Inhalte und der Gruppengröße. Gelernt wird einzeln oder in

kleinen Gruppen, die bis zu sechs Lernende mit einer Lehrperson oder bis zu

zehn Lernende mit zwei Lehrenden umfassen. Damit soll sicher gestellt

607 Muckenhuber, Sonja, in: Mitschrift: Gespräch vom 29. 06.2007. 608 ebd. 609 vgl. Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=160 (25.06.2008).

153

werden, dass jeder Person die passende individuelle Unterstützung

(Lerninhalte, -beratung, -tempo) in ihrem Lernprozess erhalten kann.610

Bei den Räumlichkeiten wird vor allem darauf geachtet, dass sie nicht an

Schulräume erinnern, um die Reaktivierung der negativen Lernerfahrungen

der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu vermeiden. Wichtig ist auch, Räume

auszuwählen, die groß genug, hell und ansprechend sind und die zusätzlich

die Anonymität der Lernenden gewährleisten. Diverse erwachsenen- und

gendergerechte Lernmaterialien in ausreichender Menge sowie der Zugang zu

Computer, Drucker und Internet wird allen Lernenden eröffnet.611 Die Kurse

werden jedoch nicht nur in den Räumen der Erwachsenenbildungsinstitutionen

abgehalten, sondern auch je nach Lerngruppe regional in Betrieben, Bildungs-

einrichtungen, Gefängnissen, usw. angeboten.

7.4.1 Trainerinnen und Trainer

Den Trainerinnen und Trainern kommt eine Schlüsselrolle für ein

erfolgreiches Lernen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Basisbildung

und Alphabetisierung zu. „Zentrale Aufgabe der TrainerInnen ist es, effiziente

Lernkontexte zu schaffen, die es allen Lernenden ermöglichen, ihre

Fähigkeiten maximal zu nutzen und zu entwickeln“, formuliert Antje Doberer-

Bey.612 In den „Qualitätsstandards für die Alphabetisierung und Basisbildung“

wird das für diese Zielsetzung notwendige allgemeine Wissen und Verständnis

sowie das erforderliche Fachwissen (Theorie, Methoden, praktische

Umsetzung) und die nötige personale Kompetenz vorgestellt.613 Die

Trainerinnen und Trainer von Basisbildungs- und Alphabetisierungskursen

benötigen im Allgemeinen ein „Verständnis und Wissen der verschiedenen

Wirkungszusammenhänge“614 über:

● die Bedeutung von nicht ausreichender Basisbildung im gesellschaftlichen Kontext

● Implikationen für Erwachsene mit Basisbildungsdefiziten, soziale, kulturelle und ökonomische Auswirkungen und Bedeutung für das Lernen und Lehren

● Ursachen für nicht entwickelte Basisbildung ● Anspruchserwartungen in Arbeitswelt und Alltagsleben ● Geschlechterkonstruktionen und Diversität615

610 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 34f. 611 vgl. ebd., S. 27f. 612 ebd., S. 39. 613 Wegen seines Umfangs wird das Kompetenzprofil nur auszugsweise wiedergegeben. 614 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 40. 615 ebd.

154

Die Fachkompetenz umfasst einerseits theoretisches Wissen:

● Fachadäquates theoretisches Wissen (Lesen, Schreiben, Rechnen, IKT)

● Legasthenie, Diskalkulie ● Lerntheorie: Lernbedingungen und –voraussetzungen ● Ansätze und Konzepte der Alphabetisierung und Basisbildung (nach Freire, biographischer Ansatz, Spracherfahrungsansatz)

● Gender Mainstreaming: Konzept und Analyse, bezogen auf die Unterrichtspraxis616

Andererseits gehört dazu auch didaktische und methodische Kompetenz in

den Bereichen (Erst-)Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT für Teilnehmende

mit unterschiedlich hohen Kenntnissen, für den „Umgang mit mathematischen

Operationen des Alltags“ sowie für die Einbindung von IKT in den Lernkontext.

Des Weiteren sind damit auch methodische Kompetenzen in der Beratung der

Teilnehmenden sowie didaktisch/methodische Fähigkeiten für die „Arbeit an

der Sprache“ gemeint.617 Letztere umfassen:

▪ Vermittlung von Verständnis von Sprachstrukturen – dies bezieht sich auf die Wort-, Satz- und Textebene der geschriebenen und der gesprochenen Sprache

▪ Vermittlung von Regelbewusstsein ▪ Sensibilisierung für unterschiedliche Sprachstile und ihre Kontexte618

Bestandteil der Fachkompetenz ist ebenso die praktische Umsetzungs-

kompetenz, wie z.B.: diagnostische Kompetenz (Erhebung des Lernbedarfs,

der vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten, Hilfestellung bei der Ziel-

formulierung); in der Planung und Gliederung von Lernprozessen und der

Führung von Gruppen; in der gemeinsamen Wahl der „Inhalte, Themen und

Ziele“ durch die Lernenden, Trainerinnen und Trainer; in der Schaffung eines

angenehmen und vertrauensvollen Lernkontextes; durch die Aufmerksamkeit

und Lösungsorientierung gegenüber Problemstellungen; in der Beratung

(Lernfortschritt, -schwierigkeiten, Entwicklungen, Konfliktsituationen, …); bei

der Auswahl bzw. Herstellung von erwachsenengerechten und individuell

abgestimmten Lehr- und Lernmaterialien (Texte, Computerprogramme, …); in

der Förderung der „Autonomie und Selbstständigkeit“, „des mündlichen

Ausdrucks, des Zuhörens und Verstehens“ und der „interkulturelle(n)

Kompetenz“ der Teilnehmenden; bei der Evaluation, Dokumentation, uam.619

616 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 40. 617 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 41. 618 ebd. 619 vgl. ebd, S. 41ff.

155

Wesentlich für ein gelingendes Lernen der Teilnehmenden sind neben

allgemeinen Wissen und fachlichen Kompetenzen auch bestimmte persönliche

Fähigkeiten und Werthaltungen, die von den Trainerinnen und Trainer bereits

mitgebracht oder entwickelt werden. Diese sind nach Antje Doberer-Bey:

● Reflexionsvermögen: kritische Selbstreflexivität und Analysefähigkeit ● Haltung des Respekts, der Wertschätzung ● Interesse an der Zielgruppe ● Fähigkeit, die Lernenden als Erwachsene wahrzunehmen ● Fähigkeit zur Wahrnehmung der Ressourcen und Ziele der Lernenden ● soziale Kompetenz und Kommunikationsfreudigkeit ● Sensibilität und Einfühlungsvermögen ● Konfliktfähigkeit ● Flexibilität und Belastbarkeit ● Team-Fähigkeit ● Weiterbildungsbereitschaft und Bereitschaft zur eigenen Weiterentwicklung620

Eine spezielle Qualifizierung und/oder berufliche Erfahrung ist die Basis für

eine qualitätsgesicherte Tätigkeit als Trainerin oder Trainer in der Basisbildung

und Alphabetisierung.621 Antje Doberer-Bey betont zudem: „Lernprozesse sind

ein Kontinuum, sie enden auch nach langjähriger Praxiserfahrung nicht“622,

womit sie eine Haltung kontinuierlicher Weiterbildung der Trainerinnen und

Trainer voraussetzt, die ihre Professionalität bewirkt und den Teilnehmenden

die „Integration in den Prozess des lebensbegleitenden Lernens gelingen“

lässt.623 Dringend notwendig ist dafür auch eine „finanzielle Absicherung der

TrainerInnen (Sicherung von Kontinuität und Professionalisierung) und der

Angebote (Kontinuität)“.624 Nur hauptberuflich tätige Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter sichern und entwickeln langfristig das für diesen Bildungsbereich

benötigte Know-how und damit die Qualität der Maßnahmen.625 Eine fixe

Anstellung ist wahrscheinlich für viele Trainerinnen und Trainer nicht nur als

finanzielle Absicherung bedeutsam. Sie wäre als Zeichen der Wertschätzung

ihrer Basisbildungs- und Alphabetisierungsarbeit vermutlich genauso wichtig,

wie diese für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist, um die es im nächsten

Kapitel geht.

620 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 43. 621 Siehe: In.Bewegung: Aus- und Weiterbildung von TrainerInnen der Alphabetisierung und Basisbildung; Berufsbild-TrainerInnenprofil für die Basisbildung & Alphabetisierung. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at. 622 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 43. 623 vgl. ebd. 624 vgl. ebd., S. 20. 625 vgl. ebd., S. 21.

156

8. LEBENSWELTEN

Wenn ich mit anderen über das Thema meiner Diplomarbeit spreche,

treffe ich zumeist auf ungläubige Reaktionen, wie: „Das gibt es nicht“. „Ich

kenne niemanden“. Nur wenige wissen, dass es in Österreich eine große

Anzahl von Menschen mit Handikaps im Lesen, Schreiben und Rechnen gibt.

Einzelne dieser, für andere „unsichtbaren“, Menschen beschreiben in Form

von Texten und Gedichten ihr Leben. Aber auch Interviews und

Medienberichte werden davon erzählen.

In diesem Abschnitt soll von der oft erlebten Isolation, den entstehenden

Abhängigkeiten der Lernenden und von der Unmöglichkeit berichtet werden,

selbst mit engen Familienangehörigen über das Schriftsprachproblem zu

sprechen. Menschen, deren Lese- und Schreibkenntnisse häufig nicht für die

Grundsituationen im Alltags- und Berufsleben ausreichen, entwickeln

bestimmte Bewältigungsstrategien. Durch die Schilderung ihrer familiären,

schulischen und beruflichen Erfahrungen sollen die Leserinnen und Leser, die

mit der Personengruppe nicht vertraut sind, einen Einblick erhalten, wie die

Lernenden selbst ihre Situation erleben.

Die ausgewählten autobiographischen Lebenstexte und Gedichte werden

von verschiedenen Beiträgen aus der Fachliteratur ergänzt, mit dem Ziel, die

individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Motive für das Lernen, mögliche

Ursachen für das Scheitern in der Schule und die unterschiedlichen

Bewältigungsstrategien anzusprechen. Die Beiträge bieten auch Antworten zu

den Forschungsfragen dieser Diplomarbeit, die hier verkürzt wiedergegeben

werden: Was soll den Lernenden Lesen und Schreiben bringen? Was bringt es

ihnen tatsächlich?626 Beenden werde ich das Kapitel mit zwei daran

anknüpfenden Themen: Scheitern in der Kindheit/Jugend und Respekt.

8.1 Lebenstexte

Viele der Texte und Gedichte entstanden im Kursunterricht und erschienen

erstmals in der Online-Literaturzeitung „Bumerang“. Schreibend miteinander

zu kommunizieren eröffnet den Lernenden soziale Begegnungen im

gegenseitigen Austausch von Gedanken, im Mitteilen von Ideen, Emotionen,

Erlebnissen, Hoffnungen, Herzenswünschen, Sorgen, usw.

626 Die Forschungsfragen sind im vollen Wortlaut im Vorwort auf Seite 12 zu finden.

157

Die nächsten beiden Texte wurden repräsentativ für die vielen

vorhandenen beeindruckenden Lebenserzählungen ausgewählt:627

10 Jahre628

Neue LehrerInnen sind mir unangenehm.

Einzelunterricht wäre nicht schlecht.

Der Unterricht könnte öfter sein.

Schlechte Laune mag ich nicht.

Traurigkeit darüber, dass leichte Dinge schwer von der Hand gehen.

Adresse schreiben.

MiR geht es zu langsam. Ich weiß, ich bin selber schuld.

Am CompuTer arbeite ich nicht gern.

Die Eltern haben sich nicht Gekümmert.

FoRmular ausfüllen.

Mit der RUte haben sich meine Eltern engagiert, das Lineal und den

angeweichten Pracker kenne ich zu gut.

Ich bin schoN lange da.

Der Tag ist zu kurz, ich komme nicht zum Lernen.

Ich habe mich durch das Bildungssystem geschummelt, auch jetzt schummle

ich noch. Mein Mann und mein Sohn wissen nichts davon!

Ich will lesen können.

Anzipf, dass ich nicht Lesen kann.

Ich Dodl.

Anzipf, dass ich nichts aUsfüllen kann.

Die richtigen Eltern sind gaNz wichtig.

Es ist mir unanGenehm, wenn neue Leute in die Gruppe kommen.

Ich schäme mich.629

627 Zwei Punkte müssen ergänzt werden: In der Literaturzeitung Bumerang werden Texte und Gedichte zu den unterschiedlichsten Themenbereichen vorgestellt. Für diese Arbeit habe ich thematisch passende Beiträge ausgesucht, ohne damit die Lernenden auf diesen Aspekt, ihr Handikap mit der Schriftsprache, reduzieren zu wollen. Die Texte und Gedichte bleiben unkommentiert. Sie sprechen ja für sich selbst. Damit möchte ich der Gefahr entgehen, die Lernenden zu Objekten zu machen, um ihre Worte zu interpretieren, zu bewerten, zu analysieren. Die Resultate hätten bekanntlich ohnehin mehr mit mir selbst zu tun, als mit den von mir kommentierten Autorinnen und Autoren. 628 Folgende Zeilen entstanden anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von „Neustart Grundbildung“. 629 Astrid: 10 Jahre, in: BUMERANG, 07/2006, S. 7. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).

158

Meine Lebensgeschichte beginnt, als ich von der Volksschule in die Sonderschule kam und ich wusste nicht warum. Die Jahre vergingen, in der letzten Klasse kannte ich mein Problem.

Ich kann nicht lesen und schreiben. Und ich wusste, das kann ich keinem Menschen sagen. Ich kam aus der Schule. Meine Mutter sagte, ich muss einen Beruf lernen. Ich hatte große Probleme, einen Lehrplatz zu finden. Ich bekam eine Chance. Ich wurde Zimmerer. Ich kam in die Schule und die großen Probleme kamen wieder. Ich hatte keine Chance, ich hatte lauter Fünfer. Mein Chef sagte, es hat keinen Sinn und ich löste meinen Lehrvertrag. Meine Suche ging weiter. Mein Bruder sagte, dass ich bei ihm anfangen kann. Ich wurde Hilfsarbeiter, aber nicht lange. Dann bin ich zum Bundesheer gekommen und hatte dort auch Probleme bei Mitschriften. Als ich beim Bundesheer fertig war, fing ich bei meiner Firma an. Dort arbeitete ich mich von ganz unten bis fast zum Vorarbeiter hinauf. Dann kam meine Angst wieder. Ich musste Formulare ausfüllen und hatte Panik davor. Da ich mich meinem Chef nicht anvertraute, hatte ich 17 Jahre lang umsonst gearbeitet. Immer wenn es ums Schreiben ging, wie z.B. bei der Inventur, ging ich lieber in den Krankenstand als mich dieser Situation auszusetzen. Einmal holte mich mein Chef ins Büro und machte mich aufmerksam, dass er mich kündigen wird, wenn ich weiterhin so oft im Krankenstand bin. Ich nahm die Kündigung ernst, aber ich konnte aus meiner Rolle nicht ausbrechen. Ich ging abermals in den Krankenstand, daraufhin bekam ich die Kündigung. Kurze Zeit später nahm ich einen Job in einer anderen Firma an. Nach einem halben Jahr fing das gleiche wie in der alten Firma an. Diesmal kündigte ich. Jetzt schaffte ich es, mich über das Radio über einen Lese- und Schreibkurs zu informieren und meldete mich bei der Volkshochschule zu diesem Kurs an. An diesem Tag führte ich ein ehrliches Gespräch mit meiner Frau. Meine Frau glaubte mir zuerst gar nicht, dass ich Probleme beim Lesen und Schreiben habe. Nach diesem Tag ist es mir so gut gegangen wie noch nie. Einfach „Wahnsinn“!!!!!! Meine Frau hält zu mir, ich kann jetzt wieder beruhigt schlafen. Mein großes Ziel ist es, so halbwegs lesen und schreiben können. Oder wenn ich eine Zeitung aufschlage, möchte ich sie lesen können. Meinem Sohn möchte ich was vorlesen können.630

8.1.1 Von der Angst vor und der Liebe zu den Buchstaben

Schreiben ist eine soziale Kommunikationsform. Es dient dazu, „lesbar“ zu

sein, für andere und für sich selbst. Es ist ein Medium des Ausdrucks, mit dem

die persönliche Meinung und Erfahrung sichtbar, mitteilbar und besser

verstehbar gemacht werden kann. Schreiben ist grundlegend für viele

Lernprozesse, d.h. für die Erweiterung des eigenen Wissens (auch außerhalb

von Grammatik, Rechtschreibung, usw). Texte und Gedichte zu schreiben

belebt die eigene Kreativität. Zudem ist Schreiben eine Form des Erzählens

und Neu-Erzählens der individuellen Geschichte und hat daher auch heilsames

630 Anonym, zit. in: Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=234 (25.06.2008).

159

Potential. Schreiben ist eine Verlautbarung des Selbst, eine Reise zu sich

selbst. Im Formulieren von Überlegungen, im Erzählen der persönlichen

Erlebnisse rückt die eigene Person, das eigene Befinden zunehmend ins

Zentrum der Aufmerksamkeit. Durch „meine Worte“, durch „mein Schreiben“

wird der Stellenwert des Selbst in besonderer Weise hervorgehoben. Der

vermutlich wichtigste Punkt für die Lernenden ist jedoch: Schreiben verleiht

Sicherheit und stärkt das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es ersetzt im

Laufe der Zeit womöglich die Angst vor den Fehlern durch die Liebe zu den

Buchstaben. Jetzt folgen einige Texte von Teilnehmenden:

Worte machen Angst.

Nicht lesen können ein Wort. Angst vor Versagen und Diskriminierung. Erschwernisse beim alltäglichen Leben. Nicht wissen wie man ausfüllt ein Formular. Nicht lesen können eine Gebrauchsanweisung. Produkte nicht finden in einen Regal. Sich nicht zu Recht finden im öffentlichen Leben. Nicht wissen wohin die Straßenbahn fährt. Angst vor Entdeckung. Angst dem Partner zu verlieren, die Freunde, den Arbeitsplatz. Wut gegen sich selbst, Mutlosigkeit und Resignation. Nicht lesen können ein Wort.631

Gedankenerguss

Ich schreib, weil ich schreiben muss. Ich schreibe für mich und um meine Rechtschreibung zu verbessern, was mir nicht leicht fällt, denn das Schreiben ist für mich mit Angst verbunden, mit der Angst, Rechtschreibfehler zu machen. Was für viele selbstverständlich ist, ist für mich ein Drahtseilakt, denn jedes Mal, wenn ich einen Fehler mache oder ich nicht weiß, wie man ein Wort schreibt, neige ich dazu, aufzugeben. Vielleicht bin ich ein Minimalist, der nie gelernt hat, zu kämpfen, der nie gelernt hat, eine Sache durchzuziehen, der aber gelernt hat, aufzugeben. Ich schreibe, um mich zu verändern. Ich schreibe nicht, um meine Umgebung zu verändern. Ich schreibe für mich und um meiner Rechtschreibung Willen.632

Mein Tag

Für mich ist es besonders wichtig, einen ganzen Tag für mich zu haben. An diesem Tag versuche ich immer meinen Traum zu verwirklichen: Schreiben, schreiben und noch einmal schreiben. Einfach Wörter und Sätze niederschreiben, ohne Angst vor Fehlern zu haben.

631 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript. 632 Jankowitsch: Gedankenerguss, in: BUMERANG, 07/2006, S. 21. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).

160

Nicht nervös sein und einfach automatisch die Wörter im Kopf finden! Das ist mein absoluter Traum! Ich will einfach keine Angst mehr haben, wenn mir einer etwas sagt, das ich dann aufschreiben soll. Heute macht mir das Spaß mit dem Computer zu arbeiten. Ich habe keine Angst mehr. Es ist schön mit Heike und den anderen Kursteilnehmern Gespräche zu führen.

Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, mich für den Kurs zu melden.633

8.1.2 Ver-LESEN

Ich las vor viereinhalb Jahren sehr wenig, sehr langsam, sehr leise und sehr schlecht. Heute lese ich ein kleines Büchlein von 180 Seiten in vier Tagen aus. Das Lesen macht mir Spaß, ich verschlinge fast die Bücher. Ich freue mich schon auf den neuen bumerang:. Der wird an einem Nachmittag gelesen. Wie wäre es, wenn wir die Vergangenheit in ein Tagebuch schreiben und somit die Vergangenheit loslassen und ein neues Leben beginnen?634

8.1.3 Ver-SCHREIBEN

Schrift:

Wo finde ich sie. Suche in der Vergangenheit.

Die Vergangenheit, sie hat keine Schrift. Es ist ein leeres Blatt Papier.

Ein leeres Blatt das die Vergangenheit verdeckt. Aber was ist unter diesen leeren Blatt.

Die Sehnsucht dieses leere Blatt Papier zufüllen mit Gedanken.

Gedanken die einem Hoffnung geben. Auszubrechen aus dieser Situation, den Druck,

denn es ist der reinste Horror. Die Gedanken nicht schreiben können,

auf ein leeres Blatt Papier.635

Ordnung im Buchstabensalat des Lebens

Ich will schreiben ohne Angst zu haben, dass es jemand liest. Ich will Listen und Verträge ohne Schwierigkeiten ausfüllen. Ich will SMS an meine Bekannten schicken. Ich will meine Gedanken niederschreiben können. Ich will kleinen Kindern Geschichten vorlesen. Ich will als ganz normaler Mensch gelten.

633 Anonym: Mein Tag, in: BUMERANG, 07/2006, S. 19. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 634 Rosa: Lesen, in: BUMERANG, 04/2005, S. 21. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 635 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript.

161

Nie wieder ausgelacht, nie wieder mitleidig belächelt werden! Aufrecht mit erhobenem Haupt den Tiefschlägen des Lebens entgegen treten! Ordnung in den Buchstabensalat des Lebens bringen!636

8.1.4 Ver-SAGEN

Bin ich dumm?

Ich bin eigentlich sehr traurig, dass man Menschen mit Rechtschreib-, Lese- und/oder Rechenschwäche gleich als dumm hinstellt. Diese Menschen werden von anderen als nicht klug genug betrachtet, ihr Leben zu meistern. Dabei sind sie im Leben mit viel mehr Schwierigkeiten belastet als andere. Darum finde ich, dass diese Menschen nicht als blöd hingestellt werden dürfen. Hier bei Neustart Grundbildung sind ganz liebe Leute, die uns helfen, bei jeglicher Art von Schwierigkeiten und Schwächen. Man fühlt sich nicht als nicht gut genug, im Leben bestehen zu können. Man fühlt sich verstanden und es wird einem geholfen.637

Dass Probleme beim Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen nicht

unbedingt mit mangelnder Intelligenz zu tun haben, zeigen anschließende

Beiträge. „Die Zeit“ brachte im Jahre 2004 folgendes Interview:

Gefragt

BETTINA WANNAGS-LESNY, 45 Bundessiegerin im Literaturwett-bewerb ‚Wir schreiben’ für Analphabeten

Als Analphabetin einen Literaturwettbewerb gewinnen – hätten Sie sich das vorstellen können?

Absolut nicht. Ich bin funktionale Analphabetin. Das heißt, ich konnte perfekt lesen, doch mit dem Schreiben hatte ich Schwierigkeiten. Aber ich bin in einem Kurs für kreatives Schreiben. So hatte ich schon ein bisschen geübt. Trotzdem war ich von den Socken, als ich gehört habe, ich hätte den ersten Preis gewonnen. Das konnte ich gar nicht glauben.

Sie waren nicht überzeugt von Ihrem Text?

Ich war versucht, ihn gar nicht abzugeben, denn ich fand ihn nicht besonders gut. Dabei hat mich das Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich sehr angesprochen. Das Bild, das einen Wanderer auf dem Gipfel stehend zeigt, diente als Anregung. Dieser Berg symbolisiert mein Orthografie-Defizit. Im Text wandere ich auf den Gipfel, wobei ich immer wieder stolpere. Wie in den vergangenen neun Jahren, in denen ich schreiben lernte.

Wie ist das, als Erwachsene schreiben zu lernen?

636 Martin: Buchstabensalat, in: BUMERANG, 03/2004, S. 24. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 637 Michaela: Bin ich dumm?, in: BUMERANG, 07/2006, S. 12. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).

162

Schwierig. Ich hatte erst versucht, mit meiner Tochter mitzulernen. Das funktionierte nicht. Ich brauchte einen eigenen Kurs, musste alles neu pauken und alte Muster vergessen – etwa, bewusst unleserlich zu schreiben, damit keiner die Fehler bemerkt. Ich bin Kauffrau für Groß- und Außenhandel und habe als Kontoristin gearbeitet. Da habe ich mich mit Tricks und Ausreden durchgewurschtelt. Das ist sehr stressig und für das Selbstvertrauen nicht gerade erbaulich. Wie hat Ihre Familie nun darauf reagiert, dass Sie den Wettbewerb gewonnen haben?

Meine inzwischen 17-jährige Tochter wusste bis dahin gar nicht von meiner Schreibschwäche. Ich musste ihr erst einmal erzählen, dass ich an einem Schreibkurs teilnehme. Sie hat aber toll reagiert. Überhaupt: Meine Familie war stolz auf mich. Ich hingegen habe überlegt, ob ich in dem Rummel um die Preisverleihung anonym bleiben soll.

Und nun geben Sie ein Interview.

Manchmal frage ich mich, ob das wirklich so gut ist. Aber ich kann ja stolz sein auf den Preis. Meine Familie hat mich ermuntert, dazu zu stehen – und so ist das mein Coming–out.638

Frau Wannags-Lesny’s siegreicher Text im Wettbewerb lautete:

Nebel

Einsam auf der Spitze und unter mir nur Nebel. Meine Hände sind kalt und feucht. Wieder ein Berg, den ich erklimmen musste. Es war sehr schwer, doch es hat sich gelohnt. Zuerst war alles verschwommen. Langsam, ganz langsam kamen die Konturen. Ab und zu fiel ich zurück, doch immer gab es auch Hoffnung. Man rafft sich auf von Etappe zu Etappe. Manchmal war es zum Greifen nah, doch irgendwie entwich es wieder. Sie tanzen vor meinen Augen, als wollten sie mich verspotten. Mal reihten sie sich fein ins Glied, ein anderes Mal standen sie schief. Meine Augen trauten dem Bild, doch oft war es nur ein Trug. Immer öfter zwang ich sie ins richtige Glied. Doch der Kasus, der saß tief. Der richtige Klang stellte sich nicht ein, die Fragen waren falsch wie die Antworten. Noch immer bleiben sie im Nebel.

Doch ich gebe nicht auf, sei der Gipfel noch so fern. Einsam auf der Spitze und unter mir lichtet sich langsam der Nebel.639

Der Standard veröffentlichte im Jahr 2005 einen Artikel mit dem Titel:

„Funktionaler Analphabet als gefeierter Starcoach“.640 Darin wird vom

mehrfach ausgezeichneten kanadischen Eishockey-Coach Jacques Demers

berichtet, der mit 61 Jahren als gefeierter Trainer und nun auch als Buchautor

alle mit der Mitteilung überraschte, dass er weder schreiben noch lesen kann.

Für das Entstehen seiner Lernblockade macht er seine Familie verantwortlich,

638 Walser, Jörg: Gefragt, in: Die Zeit, Nr. 36, 26.08.2004, S. 70. 639 Wannags-Lesny, Bettina: Nebel, in: Fiebig, Christian 2004, S. 8. 640 Rathmanner, Stefan: Funktionaler Analphabet als gefeierter Starcoach, in: Der Standard, 14.11.2005, S. 19.

163

denn sein Vater war Alkoholiker und prügelte seine Frau. Jacques Demers war

offensichtlich bisher nicht nur im Sport sehr erfolgreich, sondern es war ihm

auch gelungen, sich zeitlebens die benötigte Hilfestellung beim Lesen und

Schreiben zu organisieren.

Peter Bichsel, einer der bekanntesten Schweizer Autoren, schrieb über

seine Erfahrungen mit dem Lesen und Schreiben lernen:

Ich hatte in der Schule furchtbar Mühe mit der Rechtschreibung - und ich bin auch heute total unfähig, eine Fremdsprache schriftlich zu benützen. Es ist wohl anzunehmen, dass ich ein Legastheniker bin. Nur hatte ich das Glück, dass man diese „Krankheit“ damals noch nicht ge- und erfunden hatte.

Ich wurde trotz allem sehr früh ein leidenschaftlicher Leser, und die Hoffnung meiner Eltern, dass das Lesen die Diktate verbessern würde, war nichts, je mehr ich las, desto verwirrter wurde meine Rechtschreibung, bis ich in der fünften Klasse einen Lehrer fand, der meine Aufsätze liebte und trotz vierzig Rechtschreibefehlern erkennen konnte, dass sie „schön“ geschrieben sind. Nun begann ich wie wild zu schreiben – Rechtschreibung spielte jetzt keine Rolle mehr, und plötzlich war sie doch ein bisschen da, und ich schaffte die Prüfung in die Bezirksschule.

Ich bin überzeugt, dass ich ohne diesen Lehrer später auch Abschied genommen hätte von den Buchstaben, mit oder ohne Legastheniebehandlung. Ich habe es geschafft, die Schrift zu benützen, ohne sie zu „können“.

Das wünsche ich allen Menschen. Man muss die Schrift nicht „können“, um sie zu benützen, man muss sie nur lieben können, mit Buchstaben leben – man muss nur ohne Buchstaben nicht leben können. Mit Schule hat das nur am Rande und – wie in meinem Falle – nur zufällig zu tun, der Zufall eines Lehrers, der meine Aufsätze liebte – und mich auch. Der Zufall eines Lehrers, der selbst ein Leser war – Leser sind unter Lehrern so selten wie unter anderen Berufsgruppen. Wie will ein Nichtleser die Nichtleser zu Lesern machen? [...].

Und vielleicht habe ich mich damals auch daran erinnert, dass auch ich zum Analphabeten bestimmt war – zu einem Buchstabenflüchter -, das war sozusagen vorprogrammiert. Ein einziger Lehrer hat zu meinen Gunsten das Programm missachtet. So bin ich halt jetzt ein Analphabet, der lesen und schreiben kann, und mein Lehrer und ich haben der Welt und ihrem Programm ein Schnippchen geschlagen. 641

8.1.5 Los-SCHREIBEN

„Es gibt keine absolute Unwissenheit, ebensowenig wie es absolutes

Wissen gibt“, formuliert Paulo Freire.642 In dieser Diplomarbeit wird von der

Annahme ausgegangen, dass jede und jeder etwas lernen kann. Natürlich darf

nicht darauf vergessen werden, dass es neurologische und physiologische

Grenzen gibt, die nicht überwunden werden können. Das Scheitern beim

641 Bichsel, Peter: Ich kann nicht lesen, in: Kazis, Cornelia 1991, S. 228ff. 642 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48.

164

Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen in der Schule liegt nicht, wie im

Allgemeinen oftmals angenommen, an Unfähigkeit oder Bequemlichkeit,

sondern wird durch verschiedene Ursachen ausgelöst. Wenn Erwachsene sich

aufraffen und in Basisbildungskursen Lernschritte schaffen, so wäre ihnen das

auch als Kind möglich gewesen. Die kognitiven Voraussetzungen waren auch

damals schon vorhanden. Eine Kursteilnehmerin berichtet:

Immer wieder bekam ich als Kind zu hören: Du kannst nichts, du bist nichts, und du wirst auch nichts. Das wurde mir so lange eingetrichtert, bis ich es selber geglaubt habe. Heute noch tue ich mir schwer, das Gegenteil zu glauben.643

Menschen mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen sind

nicht „dumm“, auch wenn sie das womöglich selbst von sich denken, da sie

diese Defizit-Zuschreibung übernommen haben. Sie haben meist jahrelangen

Schulbesuch hinter sich und verfügen über ausreichende intellektuelle

Fähigkeiten. Im Basisbildungskurs können sie ihre Geschichte aufschreiben

und folglich ihr Leben auf neue Weise artikulieren. Damit sie sich zutrauen die

im Kurs (wieder-)erlernten Fertigkeiten im Alltag anzuwenden, braucht es

eine Veränderung in ihrem Selbstbild. Sie können durch Erfolgserlebnisse

mehr Sicherheit, Zuversicht, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gewinnen

und sich möglicherweise von negativen Zuschreibungen los-schreiben. Eine

hervorragende Gelegenheit dazu bietet die Literaturzeitung Bumerang.

Ein weiterer Beitrag der Lernenden, ihren Lebenstext neu zu formulieren,

stellt, meines Erachtens, der in vielen Kursen wiederkehrende Wunsch nach

Diktaten dar. Diesem Wunsch wird seitens der Lehrenden bisweilen nicht

bereitwillig nachgekommen, aus dem Bemühen, negative Schulerfahrungen

der Lernenden nicht zu wiederholen und sie durch erwachsenengerechte

didaktische Arrangements so zu unterstützen, dass keine weiteren

Frustrationen entstehen. Da dieser Wunsch jedoch sehr häufig genannt wird,

müssen Diktate eine besondere Bedeutung für die Lernenden besitzen. Heike

Solga gibt folgenden wertvollen Hinweis:

Zudem teilen sie (gering qualifizierte Jugendliche-G.G.) – infolge ihrer Sozialisation im Bildungssystem – häufig das Bewertungssystem nach Leistung, da es ihnen einerseits die (wenn auch vage) Chance lässt, es doch noch zu schaffen (…).644

643 Lela: Meine Volksschulzeit, in: BUMERANG, 03/2004, S. 7. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 644 Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 104.

165

Eine mögliche Erklärung für den Wunsch nach Diktaten könnte also sein,

sich endlich einmal erfolgreich bei dieser schwierigen Aufgabe zu erleben, die

in der Schulzeit nur mangelhaft bewältigt werden konnte.645 Peter Faulstich

und Petra Grell erwähnen folgenden Aspekt: „Die Möglichkeit, sich

punktgenau auf Prüfungen vorzubereiten, stellt (…) ein wichtiges Element der

Zufriedenheit dar“.646 Die Diktate im Kurs zu üben wäre dann ein plausibler

Versuch, sich auf aktuelle und künftige öffentliche Situationen vorzubereiten,

in welchen aufgeschrieben werden soll, was andere (an-)sagen und wäre

damit ein wesentliches Moment für die eigene Selbstzufriedenheit und die

Verringerung der Angst vor dem Schreiben.

8.2 Leben in einem Tabubereich

Wir sind tagtäglich von geschriebenen Texten umgeben und werden

unausweichlich mit schriftsprachlichen Anforderungen konfrontiert. Kann nun

jemand in der eigenen Muttersprache ein paar Buchstaben lesen, diese

womöglich langsam zusammenlauten, aus einem Satz einzelne Wörter

herauslesen oder auch Sätze und Texte lesen, wobei der Person aber der Sinn

des Gelesenen verschlossen bleibt, wird diese Person sich mit der

eigenständigen Alltagsbewältigung schwerer tun als andere. Dann sind die in

der Schulzeit vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten niedriger als allgemein

gesellschaftlich erwartet wird. Genauso ist es beim Schreiben, wenn jemand

beispielsweise nicht alle Buchstaben schreiben kann, Wörter lieber abschreibt,

unleserlich oder öffentlich überhaupt nicht schreibt, weil sonst für andere im

geschriebenen Text auffallend viele Fehler erkennbar sind.

Was die geringe schulische Qualifizierung für den einzelnen Menschen

bedeutet, kann aus obigen Texten entnommen werden. Situationen, die

Lesen, Schreiben und Rechnen in der Öffentlichkeit erfordern, werden, wenn

möglich, durch Ausreden (Brille vergessen) und „schummeln“ (abschreiben,

auswendig lernen, in den Krankenstand gehen) vermieden. Oft übernehmen

Vertrauenspersonen die schriftsprachlichen Aufgaben.

Als erwachsener Mensch nicht richtig Lesen, Schreiben und Rechnen zu

können ist in westeuropäischen Staaten ein gesellschaftliches Tabu. Wir alle

meiden Dinge, die uns verlegen machen. Diese Menschen reden darum

verständlicherweise meist nicht oder nur mit wenigen Personen darüber und

645 Für diesen Hinweis danke ich Florian Bauer. 646 Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 50.

166

versuchen ihre Probleme mit der Schriftsprache zu verbergen. Sie können sich

nicht einfach zusammenschließen, um für ihr Recht auf Bildung, das ihnen

bislang vorenthalten wurde, einzutreten. Sie bleiben für die Gesellschaft lieber

unsichtbar.

Auch in der Öffentlichkeit fand bisher eine präzisere Betrachtung und

Erforschung dieses gesellschaftlichen Tabuthemas nur in einem bescheidenen

Ausmaß statt. Fehlende Informationen und wenig wissenschaftliche

Untersuchungen kennzeichnen bislang den Bereich der Basisbildung und

Alphabetisierung. Tatsächlich gehen die in diesem Bereich Tätigen von

670.000 bis 1,34 Millionen erwachsenen Menschen (über 15 Jahre) in

Österreich647 aus, welchen es tagtäglich gelingt, vor ihrem beruflichen und

privaten Umfeld weitgehend geheim zu halten, dass sie Probleme mit dem

Lesen, Schreiben und Rechnen haben. Häufig wissen nicht einmal nahe

Angehörige davon. Dass es ihnen möglich ist, ihr Handikap vor anderen zu

verbergen, erspart ihnen Schmach und Schande.

Was wäre, wenn dieses Tabuthema in der Gesellschaft nicht bestünde?

Diese Menschen würden von enormen Druck und ständiger Angst befreit. Es

würde ihnen eher möglich sein, Lese-, Schreib- und Rechenschwächen

öffentlich zu machen. Es würde ihnen nicht so großen Mut abverlangen, sich

zu einem Kursbesuch zu entschließen. Dann könnten Basisbildungsangebote

diese Menschen leichter erreichen. Sie könnten anderen über den Kurs und

über ihre erzielten Fortschritte und Erfolge im Lesen, Schreiben und Rechnen

erzählen. Sie könnten ihr Leben und ihre Gedanken schriftlich festhalten, sie

würden unabhängiger von anderen Menschen und könnten sich eigenständig

neues Wissen erlesen. Sie würden „ein anderes Leben leben“.648

Die Tabuisierung trägt dazu bei, dass das Problem am Leben erhalten

wird. Darum ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema so

wichtig, „(…) weil man heute als Erwachsene (r) alles lernen darf – nur nicht

ein zweites Mal Lesen, Schreiben und Rechnen“.649 Die Energien der

Erwachsenen müssten nicht mehr ins Verdecken der vorhandenen

Schriftsprachprobleme fließen, sondern könnten für das (Wieder-)Erlernen

647 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 648 vgl. Scholz, Achim: „Ich würde ein anderes Leben leben“, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 21. 649 vgl. In.Bewegung: Warum?…dieses Engagement? (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/84.0.html (03.06.2008).

167

von Lesen, Schreiben und Rechnen genutzt werden. Und dann würde es die

Schriftsprachprobleme möglicherweise schon nicht mehr in diesem Umfang in

Österreich geben.

8.2.1 Alphabetisierungshindernisse

Eine oft gestellte Frage in diesem Zusammenhang ist die nach den

Ursachen für die bestehenden Schriftsprachprobleme. Wie ist es überhaupt

dazu gekommen, dass Menschen trotz jahrelangem Schulbesuch nicht

ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben? Jürgen Genuneit

hat als Ursachen des funktionalen Analphabetismus in Deutschland folgende

Armutszeugnisse ausgearbeitet:

-ökonomische Armut: Häufig betroffen sind Familien in wirtschaftlich

ungünstigen Verhältnissen, die aufgrund der finanziellen Enge ihren Kindern

nicht die nötige Zuwendung geben können.

-soziale Armut: Die vorherrschende Lebenserfahrung von Menschen mit

Problemen im Lesen, Schreiben und Rechnen sind gesellschaftlicher

Ausschluss, Angst und Diskriminierung, anstelle von Verständnis und Hilfe.

-kommunikative Armut: Im Elternhaus hat niemand geschrieben und

(vor-)gelesen. Diesen Kindern fehlt das Lerninteresse in der Schule, da ihnen

unklar ist, wofür Lesen und Schreiben benötigt wird. Noch belastender ist,

dass gemeinsame Gespräche zwischen Eltern und Kindern in ausreichendem

Maße, auch aufgrund von Medien, wie Fernseher und Computer, fehlen. Durch

die fehlende Kommunikation wird die Sprachentwicklung verzögert oder

gehemmt und in der Folge das Erlernen des Lesens und Schreibens erschwert.

-pädagogische Armut: Schulen und Lehrkräften ist es vielfach nicht

mehr möglich, gesellschaftliche Veränderungen, die sich ungünstig auf die

kindliche Entwicklung auswirken, mit neuen passenden pädagogischen

Konzepten auszugleichen. Daraus resultiert die steigende Zahl der

Schulabgänger ohne ausreichend gefestigte Schriftsprachkenntnisse. Fehlt

aber die Sicherheit im Lesen und Schreiben, führt die Angst vor Misserfolg

dazu diese Tätigkeiten zu vermeiden, sodass die Jugendlichen die wenigen

erlernten Kenntnisse und Fertigkeiten später ebenfalls nicht mehr können. Die

Folge dieser Entwicklung ist letztlich der Analphabetismus.

-politische Armut: Der Poltik war es bislang nicht möglich, die

Schulstrukturen und die Ausbildung des Lehrpersonals so zu reformieren, dass

168

die angeführten Schwierigkeiten überwunden werden können. Somit ist

Analphabetismus in Deutschland auch ein Resultat politischer Armut.650

Nicht eine Ursache allein, sondern das gleichzeitige Auftreten mehrerer

individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Faktoren wirken

sich hemmend auf das Lernen der Kinder in der Schule und auch später im

Erwachsenenalter aus. Marion Döbert und Sven Nickel entwickelten dazu

folgendes Modell:

Abbild 4: Ursachenkomplex von Analphabetismus in Elternhaus, Schule und Erwachsenenalter.

650 vgl. Genuneit, Jürgen: Analphabeten in Deutschland – ein Armutszeugnis, in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 45.

169

Analphabetismus wird, so resümiert Andrea Linde, in der Fachliteratur

„(…) nicht als individuell verschuldet, sondern als gesellschaftliches und damit

bildungspolitisches Problem betrachtet“.651 Sie gibt nachstehende häufig

angeführte Ursachen an:

Fehlzeiten in den ersten beiden Schuljahren wegen Krankheit, Schulwechsel etc.; Nichtbeachtung und mangelndes Verständnis durch die Lehrkräfte; häufige Wechsel der Lehrkräfte und Unterrichts-methoden; ungünstige familiäre Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit der Eltern etc.; anregungsarmes Umfeld, in dem nicht gelesen oder geschrieben wird; unentdeckte und/oder nicht therapierte gesundheitliche Störungen des Kindes.652

Es gibt Kinder mit Lernproblemen, die in behüteten Verhältnissen

aufwachsen, in Familien, in welchen Arbeit, Fernsehen und Computerspiele

dominieren, Bildung, Schreiben und Bücher jedoch keine oder nur eine

geringe Bedeutung erhalten. Sie werden nicht zum Lesen und Schreiben

ermuntert und erleben disbezüglich auch keine Vorbilder. Andere Eltern

wollen ihren Kindern bei den schulischen Problemen helfen, sind dabei jedoch

überfordert und bekommen auch von der Schule keinerlei Hilfestellung.653

Manche Kinder leben in sehr lernungünstigen Familiensituationen. Marion

Döbert berichtet:

Als typische Erfahrungen im Elternhaus werden von TeilnehmerInnen in Alphabetisierungskursen immer wieder genannt: Gleichgültigkeit/ Interesselosigkeit der Eltern, negative Kommunikationserfahrungen (Brüllen, Schreien, Schweigen), emotionales Desinteresse, fehlende Hilfe bei schulischen Problemen, Ablehnung im Familienverband (Sündenbock, Aschenputtel), physische und psychische Gewalt als Strafmittel, Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft, Ausbrüche roher Gewalt (Alkoholeinfluß), Entmutigung („Du bist zu dumm dazu.“), Abwesenheit, Verlust von Bezugspersonen, parallele Kopplung kritischer Ereignisse (Alkoholexzesse, Ehescheidung, Einschulung, erstes Schulversagen, physische und psychische Strafen, völliges Desinteresse der Bezugspersonen. (...). Kinder mit schulgünstigen Voraussetzungen sitzen so neben Kindern mit ungünstigen, ja schulfeindlichen Erfahrungen aus der Primärsozialisation, doch das Lernziel ist für alle dasselbe.654 (Hervorhebung-G.G.).

Unabhängig vom Einfluss förderlicher oder lernungünstiger schulischer und

familiärer Bedingungen, unabhängig von den beträchtlichen Entwicklungs-

unterschieden der Kinder zu Schulbeginn und von ihrer unterschiedlichen

651 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 19. 652 ebd., S. 19. 653 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 45f. 654 Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 129.

170

Schriftsprachentwicklung während des Unterrichts wird in den ersten zwei

Schuljahren mit den Schülerinnen und Schülern die Grundlagen im Lesen,

Schreiben und Rechnen geübt. Scheitert das Kind daran, hat es keine

Möglichkeit mehr, später diese Kulturtechniken von Grund auf zu wiederholen,

da das im Lehrplan nicht vorgesehen ist. Der weitere Schulunterricht baut auf

der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz auf, ob diese nun real vorhanden

ist oder nicht.655 Die lernhemmenden soziokulturellen und psychosozialen

Vorbedingungen der Kinder werden von der Schule nicht ausgeglichen. Damit

scheitert nicht nur das Kind, sondern auch das Schulsystem selbst an seinem

Bildungsauftrag, ausnahmslos allen Kindern die notwendigen Fertigkeiten und

Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen.

Aus diesem Grund gelang es vielen Jugendlichen bereits in den ersten

Volksschuljahren nicht mehr den Rückstand im Lesen, Schreiben und Rechnen

aufzuholen. Was dieses Manko für die weitere Schulzeit, die Arbeitssuche und

die künftige berufliche und private Lebenswelt bedeutet, wurde vielen erst

später bewusst. Ihre Eltern konnten ihnen oftmals nicht (genug) helfen, da sie

selbst nur über geringe Bildung verfügten.

Die ungleichen Lernvoraussetzungen in der Schulzeit ergeben sich aus

verschiedenen Faktoren: den individuellen Voraussetzungen des Kindes, wie

Persönlichkeit, Alter, Entwicklungsstand, Geschlecht, Gesundheit, Interessen,

sprachliche Fähigkeiten, Lernmotivation, Lerntempo, Vorerfahrungen mit

Schrift, Selbstbewusstsein, Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, usw. und der

Familiensituation, intakte oder problematische Bedingungen (Alkoholismus,

Scheidung, Existenzängste), von vorhandenen Vorbildern, der sozialen

Herkunft, dem Wohnort, der Kinderzahl, dem Stellenwert von Bildung, Lernen

und Schule in der Familie, von der Ausbildung und Berufstätigkeit oder

Arbeitslosigkeit der Eltern, dem Einkommen, der nationalen und ethnischen

Zugehörigkeit und anderem.

Von großer Bedeutung ist auch, wieviel Zeit, Interesse, Wille und

Wissensstand die Eltern aufbringen (können), um bei Bedarf ihren Kindern bei

den Schulaufgaben zu helfen oder ihre finanziellen Möglichkeiten, ihnen

Nachhilfestunden bezahlen zu können. Otto Rath erläutert: „Im Schnitt

verdienen Erwachsene mit mangelhafter Grundbildung weniger und sie sind

häufiger arbeitslos. Sie sind in diesem Zusammenhang eher armutsgefährdet

655 vgl. Füssenich, Iris, in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 49; vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 74f.

171

und von Sozialleistungen abhängig“.656 Die Armutsstatistik bestätigt diese

Einschätzung, da ca. „(…) 90% der armutsgefährdeten Bevölkerung

Österreichs den gering qualifizierten Gruppen und Schichten entstammen“.657

Die Herkunftsfamilie hat nachhaltigen Einfluss auf die Höhe des

Bildungsabschlusses und prägt den weiteren beruflichen Lebensweg,

insbesondere der Mädchen. Bildungsdefizite nehmen ihren Ausgang im „(…)

sozioökonomische(n) und soziokulturelle(n) Familienkontext, in dem der

Mangel an kulturellem Kapital von Generation zu Generation weitergegeben

wird (...).“658 Doch entsteht funktionaler Analphabetismus erst durch das

kollektive Versagen der kindlichen Sozialisationssysteme: der Familie, der

Schule, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.659 Infolge ihre wenig

hilfreichen, gegenseitigen Schuldzuschiebung werden sowohl die Schul-

organisation als auch die Eltern ihrer Verantwortung gegenüber dem Recht

des Kindes auf Bildung nicht gerecht. Otto Rath gibt zu bedenken:

Die Basis der Benachteiligungen wird in der Familie gelegt, Kompensation in der Schule findet zu wenig oder gar nicht statt, so wird die Verantwortung an die Familien zurückgespielt, die aus soziokulturellen oder sozioökonomischen Gründen nicht immer in der Lage sind, diese zu übernehmen.660

Folgende, vom Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung erstellte

Fadengraphik zeigt die untereinander verknüpften und zusammenwirkenden

Ursachen für die geringe Basisbildung und ihre Auswirkungen:

Abbild 5: Ursachen und Auswirkungen.

656 Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 219. 657 vgl. Egger, Rudolf: Gesellschaft mit beschränkter Bildung 2006, S. 59. 658 vgl. Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 218. 659 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 58. 660 Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 219.

172

8.2.2 Basisbildungshindernisse

Wegen der permanenten Gefahr der Entdeckung ihrer Schwächen und der

Angst vor Diskreditierung tendieren Menschen mit Schriftsprachproblemen

eher dazu sich von der Gesellschaft zurückzuziehen. Sie sprechen kaum über

dieses Problem und vermuten oftmals, sie wären die Einzigen, die nicht richtig

Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben. Häufig gibt es jemand an ihrer

Seite, um die schriftsprachlichen Angelegenheiten zu erledigen, wodurch sich

jedoch mitunter eine einengende Abhängigkeitsbeziehung entwickeln kann.

Ein erster Schritt, sich von dieser Abhängigkeit zu lösen, wäre es lesen und

schreiben zu lernen. Umgekehrt können durch die angestrebte oder erlangte

Unabhängigkeit im Lesen, Schreiben und Rechnen liebsame und unliebsame

persönliche Beziehungen ins Wanken geraten, was das Lernen begünstigen

oder hemmen kann.

Wie es Gründe dafür gibt, etwas zu lernen, gibt es auch gute Gründe es

lieber nicht zu tun. Ein hemmendes Kriterium für Erwachsene stellt neben der

allgemeinen und finanziellen Belastung auch die Tatsache dar, dass die

Anmeldung für einen Basisbildungskurs einer Selbststigmatisierung

gleichkommt. Erst wenn sich jemand mit den eigenen Schriftsprach- und/oder

Rechenschwächen „geoutet“ und das lange Stillschweigen darüber - vielleicht

erstmals - gebrochen hat, ist es diesem Menschen möglich, Lesen, Schreiben

und Rechnen (wieder) zu erlernen.661

Selbst wenn nach PISA (2003) 20% der Jugendlichen, d.h. rund 18.000

Schülerinnen und Schüler zur Lese-Risikogruppe gehören, werden mangelnde

Schriftsprachkompetenzen nach wie vor dem einzelnen Menschen als ihr oder

sein individuelles Defizit angelastet. Wesentlich ist, nach Andrea Linde, „(…)

den Betreffenden nicht als selbstverschuldeten Problemfall zu betrachten“.662

Sie argumentiert ebenfalls damit, dass diese „individuelle Schuldzuweisung“

unhaltbar ist und fügt hinzu, dass gerade diese Annahme für die Betreffenden

oft zum Alphabetisierungshindernis werden kann.663

Paulo Freire meint in einer Randbemerkung zu persönlichen Problemen,

diese sind „(…) im übrigen nie persönliche (…), weil sie soziale Probleme

widerspiegeln“.664

661 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-12. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 662 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 20. 663 vgl. ebd. 664 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 74.

173

8.2.3 Schulische Gegenmaßnahmen

Als Resultat der alarmierenden Ergebnisse der PISA-Studien (2000, 2003),

der Ziele der UNESCO und der Benchmarks der EU665 sind in Österreich in den

letzten Jahren einige Erneuerungen in der Schulbildung eingetreten. Im

Lehrplan für Volksschulen ist ausdrücklich vorgesehen, „(…) den Unterricht

grundsätzlich am Kind zu orientieren“, die unterschiedlichen Lernvoraus-

setzungen, z.B. die „Entwicklungsstufen und Individuallagen der Schülerinnen

bzw. der Schüler“ durch „differenzierende und individualisierende Maß-

nahmen“666 zu berücksichtigen und ihre bisher gemachten Lernerfahrungen im

Unterricht miteinzubeziehen.667 Zudem ist die Förderung der Lesekompetenz

der Kinder und Jugendlichen, nach dem „Grundsatzerlass zum Unterrichts-

prinzip Leseerziehung“, nicht eine Aufgabe der Grundschule allein, sondern

richtet sich als fächerübergreifender Bildungsauftrag an die „Lehrerinnen und

Lehrer aller Unterrichtsgegenstände und Schularten“.668

Die Tendenz geht dahin, schulisches Lernen zu standardisieren. Anhand

von vorgegebenen Bildungsstandards für die 4. Klasse Volksschule (Deutsch,

Mathematik) und die 4. Klasse AHS oder Hauptschule (Deutsch, Mathematik

und Englisch)669, wird zu Schulende der Lernstand der Schülerinnen und

Schüler in diesen Fächern erhoben. Dabei werden fachliche Basis-

qualifikationen definiert, die als normative Zielvorgaben von allen Schulen

erreicht werden sollen. Die Bildungsstandards befinden sich derzeit

österreichweit an über 100 Schulen in einer Testphase. Sie werden nach ihrer

Evaluierung durchgängig eingesetzt werden.670

Ein weiteres aktuelles Testverfahren für die Grundschule und die 5.-8.

Schulstufe ist das „Salzburger Lese-Screening (SLS)“. Die Schülerinnen und

Schüler erhalten die Aufgabe, möglichst schnell einfache Sätze zu lesen und

an dessen Ende anzuzeichnen, ob die Satzaussage wahr ist oder falsch.

Erhoben werden dadurch die basalen Lesefertigkeiten über die Lese-

665 Zu den Zielen der UNESCO: siehe 2. Kapitel; Benchmarks der EU: siehe 5. Kapitel. 666 Differenzierter und individualisierter Unterricht ist auch für den Sekundarbereich vorgesehen. 667 vgl. Bundesministerium: Verordnung der Bundesministerin BGBl. Nr. 134/1963 in der Fassung BGBl. II Nr. 107/2007 vom 09.05.2007, S. 22. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/14055/lp_vs_gesamt.pdf (03.06.2008). 668 vgl. Bundesministerium: Grundsatzerlass Leseerziehung GZ 29.540/4-V/3c/99, Nr. 18/1999 vom 25.03.1999. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/prinz/Leseerziehung1594.xml (30.07.2007). 669 Zu den Inhalten siehe unter: www.gemeinsamlernen.at. 670 vgl. Bundesministerium: Bildungsstandards Folder. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/ba/bildungsstandards.xml (31.07.2007).

174

geschwindigkeit der Kinder und Jugendlichen, das heißt „die Fertigkeit des

fehlerfreien, schnellen und mühelosen Lesens“, in seinem „technischen

Aspekt“, ohne dabei das an „Sprachkompetenz und Wissensvoraussetzungen

gebundene Textverständnis“ ebenfalls zu messen.671 Die Ursachen für die

großen Schwierigkeiten der Kinder beim Lesen lernen werden im Salzburger

Lese-Screening vor allem auf „neurokognitive“ Faktoren reduziert:

Bei zumindest einem beträchtlichen Teil der Kinder mit Anfangs-schwierigkeiten oder mit Schwierigkeiten bei der Automatisierung liegt eine gehirnorganisch bedingte spezifische Behinderung vor, die in relativ vielen Fällen eine genetische Verursachung hat.672

Bei starken „Defiziten der basalen Lesefertigkeit“, so wird betont, handelt

es sich mehrheitlich um eine „spezifische Behinderung“, an der niemand

Schuld trägt und die wie eine Form von „musikalischer Minderbegabung“

angesehen werden kann, allerdings mit belastenden negativen Konsequenzen

für die schulische und berufliche Zukunft der Kinder.673

Im Rahmen der Initiative „LESEFIT. Lesen können heißt lernen können“,

durchgeführt durch das Bildungsministerium und dem Buchklub, sollen

„österreichweite Standards für Leseförderung und –didaktik“, als Grundlage

für den schulischen Leseunterricht entwickelt werden. Weitere Schwerpunkt-

setzungen der Initiative sind vor allem Aktionen, die die Leseförderung zu

Hause in Form einer Lesepartnerschaft zwischen Eltern, Schule und Kind zum

Ziel haben, das Salzburger Lese-Screening mit dem dazugehörenden

Fördermaterial, sowie aktuelle fachliche Informationen, Unterrichtsmaterialien

und Seminarangebote für die Lehrpersonen.674 Einige Maßnahmen der

Initiative sind: der LESEFIT-Rucksack „Sachbücher“ für die Volks- und

Hauptschule, schulinterne und externe Lesepartnerschaften, die Zeitschrift

TRIO für den mehrsprachigen Unterricht (Bosnisch-Kroatisch-Serbisch,

Deutsch und Türkisch), u.a.m.

Eingesetzt wurde diese Initiative als korrigierende Maßnahme auf die PISA

Resultate (2000), worin 14% der getesteten Schülerinnen und Schüler nur

schwache bzw. sehr schwache Leseleistungen erbringen konnten. „Ziel ist es,

671 vgl. Mayringer, Heinz: Salzburger Lese-Screening, in: LESEFIT. (Homepage) URL: www.lesefit.at (31.07.2007). 672 Mayringer, Heinz; Wimmer, Heinz: Volksschul-Test, in: LESEFIT. (Homepage) URL: www.lesefit.at (31.07.2007). 673 vgl. ebd. 674 vgl. Bundesministerium: Fit beim Lesen. (Homepage) URL: www.lesefit.at/projekt.htm (31.07.2007).

175

die Zahl der leseschwachen Schüler/innen zu halbieren und bei allen Kindern

Lust und Freude am Lesen zu wecken und zu stärken“.675 Letzteres ist

erforderlich, da nach PISA (2000, 2003) „(…) fasst die Hälfte der 15-/16

jährigen Schülerinnen und Schüler nicht mit Vergnügen lesen“.676

Alle genannten Maßnahmen fördern in erster Linie die Lesekompetenz und

weniger (wenn überhaupt) die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im

Schreiben und Rechnen. Wesentliche Kriterien sind, neben dem zweifellos

engagierten Bemühungen vieler Lehrkräfte, sicherlich auch die vorgegebenen

Rahmenbedingungen der Schulen, wie die Schulorganisation (geteiltes oder

Gesamtschulsystem), die Schulautonomie, die Klassengröße, die Anzahl der

Förderstunden, die personalen und finanziellen Ressourcen, usw.

Ob die beinahe unzähbaren Leseförderprojekte, die Testprogramme und

Bildungsstandards den Kindern und Jugendlichen die erforderliche

Unterstützung beim Lernen bieten können oder ob sie ihnen, wie Heike Solga

es ausdrückt, als Sondermaßnahmen einen „‘amtlichen Stempel des

Defizitären‘“ aufdrückt, wird die (Test-)Zukunft zeigen.677

8.2.4 Chancen(un)gleichheit

Bildung ist ein öffentliches Gut und ein Bürgerrecht. Bekanntlich bietet

jedoch das gesellschaftliche Bildungssystem nicht allen die gleichen Chancen.

Verschiedene Studien (PISA, IGLU) zeigen unbestreitbar das Vorhandensein

einer „strukturell angelegte(n) Benachteiligung im Bildungswesen“ auf.678 Zur

Forderung nach Chancengleichheit meint daher R. H. Tawney:

Wer Ungleichheit kritisiert und Gleichheit fordert, verfällt keineswegs, wie gelegentlich behauptet, der romantischen Illusion, die Menschen seien im Blick auf Charakter und Intelligenz gleich. Er glaubt vielmehr, dass die Menschen zwar in ihrer natürlichen Begabung große Unterschiede aufweisen mögen, dass es aber einer zivilisierten Gesellschaft geziemt, Ungleichheiten zu beseitigen, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondern in der [sozialen] Organisation haben.679

675 Bundesministerium: Lesefit, S. 2. (Homepage) URL: www.klassezukunft.at/dbstatisch/index.php?artikel_id=n_lese2&artikel_seiten=n_lese|n_lese2|n_lese3|n_lese4|n_lese5|n_lese6|n_lese7|n_lese8&titel_color=000000&tbl_bgcolor=E5C6F7&tbl_border_color=000000&reform_typ=&zurueck_lnk= (16.08.2007). 676 vgl. Bundesministerium: Lesen fördern!, S. 9/27. (Homepage) URL: www.klassezukunft.at/statisch/zukunft/de/lesen_foerdern.pdf (15.08.2007). 677 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 111. 678 vgl. Egger, Rudolf: Gesellschaft mit beschränkter Bildung 2006, S. 56. 679 Tawney, R. H., zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 316.

176

Persönliche Eigenschaften wie Lernbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Fleiß

und Intelligenz sind nicht allein ausschlaggebend für den schulischen und

beruflichen Erfolg. Richard Sennett führt folgende entscheidende Faktoren an:

(...) einfache Messungen der Intelligenz vermögen die Ungleichheit im schulischen oder beruflichen Erfolg zwar zu einem gewissen, aber doch nur kleinen Teil zu erklären. Die familiäre und soziale Herkunft, persönliche Motivation und pures Glück haben zusammen größeren Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft.680

Ist Bildung somit lediglich ein Glücksfall? Das Glück, in einer intakten

österreichischen Familie geboren und mit wohlhabenden Eltern aus einer

höheren Bildungsschicht aufgewachsen zu sein? Auch hierzulande ist seit

Jahrzehnten unverändert die Höhe des Bildungsabschlusses, die berufliche

Laufbahn, das Einkommen und der gesellschaftliche Status eines Menschen

von der sozialen Herkunft beeinflusst, weshalb Christoph Reinprecht bemerkt:

Berufliche Karrieren stabilisieren sich sehr früh, Bedingungen der Herkunftsfamilie, die sich in der Schullaufbahn festmachen, lassen sich nicht nur schwer korrigieren, sondern prägen den weiteren Lebenslauf, vor allem die berufliche Karriere.681

Das Bildungssystem trägt erheblich zur sozialen Ungleichheit bei. Nach

Ansicht des Autors unterliegen die Ausgangsbedingungen und die

persönlichen Handlungsoptionen jedes Einzelnen beim Erreichen von

Statuspositionen, im Sinne von Pierre Bourdieu, wesentlich der familiären

„Verfügbarkeit an (ökonomischem, kulturellem und sozialem) Kapital (...),

während das Bildungsystem dafür sorgt, dass die oberen sozialen Schichten

bevorzugt werden“.682 Beispielsweise untersuchte eine UNICEF Studie (2002)

die Bildungschancen in den OECD-Ländern mit dem Ergebnis, dass für die

Schullaufbahn und den Bildungserfolg österreichischer Kinder das

Bildungsniveau ihrer Eltern von entscheidender Bedeutung ist:

Österreichischen (sic!-G.G.) Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsstand weisen eine um den Faktor 1,7 erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, nur unzureichend Lesen und Schreiben zu lernen. (Spitzenreiter hinsichtlich Chancengleichheit sind Finnland, Irland, Polen mit jeweiligem Faktor 1,4; Deutschland 3,0).683

680 Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 105. 681 Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 135. 682 vgl. ebd., S. 139. 683 UNICEF, zit. in: Egger, Rudolf 2006, S. 69.

177

Auch die PISA-Ergebnisse zeigen, dass in Österreich der sozioökonomische

Hintergrund von stärkerem Einfluss auf die Schulleistungen der Jugendlichen

ist, als in anderen Ländern.684

8.3 Scheitern als Tabu

Es ist ein Teil unserer Kultur, „(…) dass Menschen sich tatsächlich

gedemütigt fühlen, wenn sie um Hilfe bitten oder ihre Schwächen offenbaren

müssen“.685 In persönlichen Lebensberichten kommen Erfahrungen des

Scheiterns und der eigenen Unzulänglichkeit daher kaum vor. „Das Scheitern

ist das große moderne Tabu“, bemerkt Richard Sennett. Er betont: „Wie bei

allem, das man sich auszusprechen weigert, werden sowohl die innere

Besessenheit als auch die Scham dadurch nur größer. Unbehandelt bleibt der

harte innere Satz: ‚Ich bin nicht gut genug’“.686

Wenn es gelingt das Tabu im Laufe der Zeit zu brechen, indem Menschen

sich einander vertrauensvoll öffnen und sich gegenseitig unterstützen, kann

ihre Erzählung eine selbstheilende Wirkung entfalten. Das ist, nach

Auffassung des Autors, „eine Überlebensstrategie für die stetig wachsende

Zahl jener, die im modernen Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sind“.687

8.3.1 Scham

Scheitern wird häufig mit dem Gefühl der Scham verbunden. „Scham sei“,

nach den Worten Gerhart Piers, „ein Gefühl der Unvollkommenheit, das sich

auch durch tatsächliche Leistung und Belohnung nicht verdrängen lässt“.688

„Die Angst vor einer Bloßstellung gehört in den Bereich der Scham (...)“,

erklärt dazu Richard Sennett.689 Im schulischen Kontext lässt sie sich gut

beobachten. Als allgemein nachvollziehbares Beispiel für die zu treffende

Unterscheidung zwischen Schuld und Scham führt Richard Sennett eine

Prüfungssituation an: „Wer bei einer Prüfung schummelt, fühlt sich schuldig,

wer dabei versagt, empfindet Scham“.690 Nach Ansicht von Erik Erikson treten

Schamgefühle im Zusammenhang mit einem ungewollten Kontrollverlust auf,

684 vgl. Haahr, Jens H.: Explaining Student Performance, S. 6. (Homepage) URL: wien.arbeiterkammer.at/pictures/d38/Praesentation_PISA_Ergebnisse.pdf (16.07.2007). 685 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 147. 686 Sennett, Richard: Der flexible Mensch 1998, S. 159. 687 vgl. ebd., S. 185. 688 Piers, Gerhart, zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 144. 689 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 209. 690 ebd., S. 143.

178

wenn ein Mensch „’sich den Blicken der Welt höchst unvorbereitet ausgesetzt’

fühlt, etwa wenn ein Kind, das Lesen lernt, vom Lehrer wegen eines Fehlers

bloßgestellt wird“.691

Christioph W. Aigner beschreibt das emotionale Empfinden von Scham mit

den folgenden Zeilen in einem seiner Texte:

Ich weiß auch kaum noch, was ich lernen soll, auch vor Scham, denn ich stehe verständnismäßig etwa dort, wo wir am Anfang des Schuljahres waren, und ich schäme mich zuzugeben, dass ich alles nur so vage mitbekomme, und frage also niemanden, wie das und dies so geht, es wäre, wie gestehen zu müssen, dass man nicht lesen und schreiben kann. [...]. Ich habe Angst vorm Lernen. Abends über dem Mathematikbuch sitzen und durch Hineinstarren versuchen, etwas zu verstehen. Dieses Verstehenwollen und nicht können, dieses ohnmächtige Formelanstarren, hat mir jedesmal ein tennisballgroßes Loch durch den Bauch gebohrt, einen Tunnel der Hilflosigkeit, worüber ich mit niemandem reden konnte. Danach legst du dich nieder, mitten in Albträume hinein.692

8.3.2 Individuelles Scheitern

Die Schulzeit ist reich an Möglichkeiten, Scham und Schuld zu empfinden

und eigenes oder fremdes Scheitern zu erleben. Thomas Heinze argumentiert:

In der Schule ermöglicht das Versagen eines Schülers den Erfolg eines anderen. Da fast alle Kinder diese Erfahrung machen müssen, entsteht Haß, der in unserer Gesellschaft mit Neid umschrieben wird. Mitvermittelt wird die Angst vor dem Scheitern.693

Die Kinder und Jugendlichen, die die geforderte Klassennorm „in derselben

Zeit dasselbe gelernt (zu-G.G) haben“ nicht erreichen, machen „schnell die

Erfahrung von Diskriminierung, von Versagen und Unzulänglichkeit“.694 Sie

lernen leidvoll, dass sie schlechter abschneiden als ihre Altersgenossen und

reagieren eventuell mit Frustration, vielen Fehlzeiten, Verhaltensweisen, die

den Unterricht stören bis hin zu Aggression. Sie versuchen auf ihre Art mit

den Lernschwierigkeiten in der Schule zurechtzukommen, indem sie z.B.

schriftliche Aufgaben von Geschwistern oder Freunden erledigen lassen.695

Wenn den Kindern und Jugendlichen zu ihren Lernschwierigkeiten erklärt

wird, dass ihnen die „Motivation, der Wille zum Lernen fehlt“, ist es ihnen aus

psychologischer Sicht nahezu unmöglich, „gegen Selbstvorwürfe anzugehen“,

691 Erikson, Erik, zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 146. 692 Aigner, Christoph W.: Nichts und nüll und null, in: Die Presse, 23.09.2006, S. VIII. 693 Heinze, Thomas: Schülertaktiken 1980, S. 36. 694 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 48. 695 vgl. ebd., S. 50.

179

weil auf diese Weise die „Bedeutung des Lerninhaltes“ herabsetzt wird. Das

lässt sie vermuten: „Irgendetwas muss mit mir nicht stimmen“.696

Und „(…) der Abschied von der Schule ist für viele auch ein Abschied von

den Buchstaben, von dieser grauenhaften Qual, mit der man sich lächerlich

machte“, fügt Peter Bichsel hinzu.697

8.3.3 Institutionelles Scheitern

Heike Solga erforscht die „institutionellen Ursachen des Scheiterns“698 von

„gering qualifizierte(n) Jugendliche(n)“ an den gesellschaftlichen Bildungs-

normen. Mit dieser nicht diskriminierenden Bezeichnung will die Autorin die

„gesellschaftliche Produktion dieser Personengruppe“ veranschaulichen. Der

Begriff „(…) kennzeichnet damit nicht Personen mit geringer Qualifikation,

sondern Personen, die vom Bildungssystem zu wenig qualifiziert und/oder

ohne Zertifikat entlassen wurden“.699 Folglich wird das „Bildungsversagen“

dieser Jugendlichen von der Autorin nicht als deren individueller

Leistungsmangel interpretiert, sondern als „institutionell definiertes und damit

sozial konstituiertes Merkmal“.700

Schulsysteme haben u.a. die Aufgabe Jugendliche in die Gesellschaft zu

integrieren. Sie sind wesentlich bei der Vergabe von Sozialstatus beteiligt.

Mittels „genormten Leistungen“ werden durch Schulnoten und Tests die

individuellen Erfolge der Schülerinnen und Schüler festgestellt, wobei davon

ausgegangen wird, dass alle Kinder die Bildungslaufbahn erfolgreich

abschließen werden. Die Schülerinnen und Schüler lernen anhand der

„hierarchischen Leistungsmessung im Schulalltag (von sehr gut bis sehr

schlecht, von leistungsstark bis leistungsschwach)“, wer sie sind. Die

Bewertungen zeigen auf, wo sie sich im „Vergleich (bzw. im Wettbewerb)“ zu

den anderen Kindern im Klassenverband befinden.701 Heike Solga zitiert

Erving Goffman: „Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von

Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder

jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet“.702

696 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 100. 697 vgl. Bichsel, Peter: Ich kann nicht lesen, in: Kazis, Cornelia 1991, S. 228. 698 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 98. 699 vgl. ebd., S. 97. 700 vgl. ebd., S. 97f. 701 vgl. ebd., S. 98. 702 Goffman, Erving, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 98.

180

Durch die schulischen Beurteilungverfahren werden „Abweichungen“, die

die normierten Leistungsstandards unterlaufen, „konstituiert“.703 Heike Solga

bezieht sich dabei auf Howard S. Becker, der die These formuliert, dass

(...) gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere (...).704

Die Abweichungen werden zudem mit demotivierenden Begriffen, wie

„Begabungsmangel, Intelligenzdefizit, Verhaltens- und Lernprobleme

(‚Lernbehinderte’)“ belegt, die ihrerseits zu verringerten Leistungs-

bemühungen der so bezeichneten Personen beitragen können.705 Sobald die

Abweichungen allseits bei den Lehrenden und den Lernenden bekannt sind,

wird deren Verhalten dieser Personengruppe gegenüber von „antizipatorischen

Erwartungen“ beeinflusst. Die Etikettierung wird nun in der Folge zu einem

„Persönlichkeitsmerkmal“ ausgebaut, bei dem im Zuge des „psychologischen

Halo-Effekts“ mit weiteren „negativen Zuschreibungen und Identitäts-

zumutungen“ zu rechnen ist. Von den Lehrenden droht diesen Schülerinnen

und Schülern die „Gefahr eines pädagogischen Pessimismus“, möglicherweise

durch „geringe(re) Leistungserwartungen und –anforderungen sowie verzerrte

Leistungsbewertungen“ und seitens ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler eine

über die Unterrichtszeit hinausgehende Fixierung auf diesen ‚Makel’.706

Als Voraussetzung für die „Integration und gesellschaftliche Teilhabe“ wird

von diesen Kindern und Jugendlichen unter den „Bedingungen der

Ausgrenzung und Diskriminierung“ eine Verbesserung ihrer Leistungsdefizite

gefordert. Zu den Auswirkungen der sich im Schulalltag wiederholenden

„Prozesse von Ablehnung oder Zurückweisung“ zählen „Schulangst, Anomie

(Gefühl der Machtlosigkeit) sowie Entfremdung und Distanzierung leistungs-

schwacher Schüler vom Lernprozess“.707 Ein deutlicher Hinweis sind ebenfalls

die „hohen Schulabbruchs- und Schulverweigerungsquoten“, die im „OECD-

703 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 99. 704 Becker, Howard S.: Außenseiter 1981, S. 8. 705 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 99. 706 vgl. ebd. 707 vgl. ebd., S. 100.

181

Durchschnitt bei 5%“ betragen.708 Studien (TIMSS) belegten folgenden

Zusammenhang: Die Wahrscheinlichkeit der Fehlzeiten steigt an, je geringer

die Schulleistungen des Kindes und „je geringer der Leistungsdurchschnitt der

Schule ist“. Als vorrangige Ursache für das Schulschwänzen wird von den

Kindern und Jugendlichen ein „negatives Verhältnis zu Lehrern sowie zu

Mitschülern“ angegeben. Unter den Jugendlichen, die der Schule fernblieben,

waren viele, die die Klasse ein- oder mehrmals repetieren mussten und für die

dieses „Sitzenbleiben“ gleichbedeutend war mit persönlichen Versagen und

sozialer Diskriminierung.709

Viele Untersuchungen belegen eine enge Verbindung zwischen den

Schulleistungen und der sozialen Anerkennung durch Gleichaltrige. So

beziehen, nach einer Studie von Hanns Petillon, bereits Schulanfängerinnen

und -anfänger die Schulleistungen bei der Wahl von Freunden, Spielgefährten,

Sitznachbarn und Bezugspersonen mit ein. Sehr schwierig ist dabei die soziale

Situation von Repetenten. Sie werden vielfach abgelehnt und isoliert und sind

der „Schadenfreude der Mitschüler ausgesetzt“. Es wird weithin angenommen,

„(…) daß Schulunlust in dem Maße zunimmt, in dem Lehrer und Mitschüler

einem Schulkind die soziale Anerkennung versagen“.710

Schulischer Misserfolg verbunden mit geringer sozialer Anerkennung zieht

eine Reihe von negativen Konsequenzen (insbesondere für Mädchen) nach

sich: innerer Widerstand gegen die Schule, geringere Motivation, Erfolgs-

zuversicht und Lernbereitschaft, sowie abwertende Bemerkungen,

Ausgrenzung, Hänseleien, fehlender positiver Kontakt und keine

Unterstützung seitens der Schülergruppe, usw.711

Aufgrund verschiedener Untersuchungen ist ebenfalls anzunehmen, dass

„Zusammenhänge zwischen dem Lehrerverhalten und dem sozialen Status

eines Schülers“ bestehen. Ihr Verhalten beeinflusst z.B. die Ängstlichkeit,

Lernbereitschaft und das Selbstkonzept der Kinder. Diese Faktoren wiederum

sind wesentlich für die Statusvergabe in der Klasse.712 Allgemein lässt sich

festhalten, dass „(…) ein gutes Verhältnis zum Lehrer das Zurechtkommen

des Kindes mit seinen Mitschülern fördert“.713 Kinder mit schlechteren

708 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 100. 709 vgl. ebd. 710 vgl. Petillon, Hanns: Das Sozialleben des Schulanfängers 1993, S. 123. 711 vgl. ebd., S. 123f. 712 vgl. ebd., S. 125. 713 vgl. ebd., S. 126.

182

Schulleistungen tun sich schwerer, Leistungsdefizite aufzuholen, da sie eher

selten von den Lehrern die erforderliche Zuwendung erhalten und verlieren

zugleich „zunehmend an positiven Kontaktmöglichkeiten in der Gruppe“.714

8.3.4 Identitätszuschreibungen

Im Schulalltag bewerten die Kinder das Verhalten anderer Kinder und das

ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Umgekehrt wird auch ihr eigenes Verhalten von

den anderen Schulkindern und den Lehrpersonen bewertet und beurteilt.

Diese Bewertungen erfolgen über „signifikante Symbole“, deren Bedeutung

von allen gemeinsam geteilt wird. Entscheidende signifikante Symbole sind

z.B. Leistungsbeurteilungen der Lehrenden im Unterricht, Noten, Testresultate

und letztlich auch Bildungsabschlüsse, weil sie „(…) für selbstverständlich

gehalten werden und (legitimierte) Maßstäbe für die Beurteilung ange-

messenen Verhaltens in der Schule moderner Gesellschaften darstellen“.715

Die pädagogischen Leistungssolls und Verpflichtungen bilden einen

„intersubjektiven Interpretationsfilter“, der, aufgrund der jeweils erreichten

Schulleistungen, als „Bildungskategorisierung“ Auskünfte über das Handeln

der Kinder in unterschiedlichen Schulsituationen gibt und „(…) zugleich auch

die Selbstwahrnehmung der Schüler und Schülerinnen hinsichtlich ihrer

Leistung im Vergleich zu und in Reaktion auf die anderen formt“.716

Heike Solga erwähnt in ihrer Arbeit George Herbert Mead, der von der

„Herausbildung einer sozialen Identität (‚Me’)“ ausgeht, die „’meiner

Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat, bzw. auf primitiverer

Stufe meiner Verinnerlichung seiner Erwartungen an mich’“ entspricht.717

Leistungsbezogene Schülerkategorien, generalisiert in „’normkonformes’ oder

‚abweichendes’ Verhalten“, bewirken „Etikettierungen“, durch die sich die

Schülerinnen und Schüler gleichsam von außen betrachten und ihr „Leistungs-

wie auch Sozialverhalten“ an diesen schulischen Fremdbildern orientieren.718

Im Rahmen der sich über Schulleistungen vollziehenden Identitätsbildung

werden neben den „Erwartungen eines anderen (significant other)“ auch „die

eines – in der Abstraktion aller bedeutsamen Anderen – ‚generalisierten

Anderen’ (generalized other)“ reflektiert. Schlechte Schulleistungen werden

714 vgl. Petillon, Hanns: Das Sozialleben des Schulanfängers 1993, S. 128. 715 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 101. 716 vgl. ebd. 717 vgl. ebd. 718 vgl. ebd.

183

durch Letzteren in der Schule in dreifacher Weise als gesellschaftliche

Normabweichung von der Leistungserbringung und dadurch als „individuelles

Scheitern“ dargestellt: Erstens als ein folgenschweres Zuwiderhandeln gegen

gesellschaftlich vorgegebe Bildungsstandards (unattraktive und körperlich

anstrengende Berufe, z.B. in der Müllabfuhr, Straßenreinigung, usw. oder

Arbeitslosigkeit drohen), zweitens als „Dead-end-Erklärung“ der intellektuellen

Fähigkeiten des Kindes („’Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer-

mehr’“) und/oder drittens auch als „(…) soziale Verantwortungslosigkeit, da

sie ihren Beitrag zum Gemeinwohl in Form guter Schulleistungen scheinbar

nicht erbringen wollen“719

Die in ihrem Leistungsverhalten erfolgreicheren Mitschülerinnen und

Mitschüler und die Lehrpersonen begegnen diesen Kindern und Jugendlichen

mit „Ignoranz, Ablehnung, Erniedrigung oder Verurteilung ihres Verhaltens“.

Schülerinnen und Schüler, welchen diese negativen Reaktionen gespiegelt

werden, haben in einem „sozialisatorischen Prozess der Rollenübernahme

(role-taking)“ mit fortwährendem abweisendem Verhalten und negativen

Zuschreibungen ihres Umfeldes umzugehen. Sie lernen, wie andere Personen

auf ihre schlecht(er)en Schulleistungen reagieren und dass diese generell als

„wahrnehmbare, gesellschaftlich hochbewertete sowie als ‚zuverlässig’

bewertete Zeichen zur Charakterisierung von Personen“ gelten.720 Sie lernen

auch mit der ihnen - wegen ihres „‚abweichenden’ Schul- und Lernverhaltens“

- zumeist als selbstverschuldet „(zugeschriebenen) sozialen Identität der

‚Leistungsschwäche’“ zurechtzukommen.721

Im Umgang mit dieser vom Bildungssystem ausgehenden Zuschreibung,

die zu einer „‚institutionalisierten Identitätsbeschädigung’“ führt, stehen den

Schülerinnen und Schülern zwei Möglichkeiten offen: „eine ‚Verdopplung’ ihrer

Anstrengungen als Rebellion und Protest oder ein Sich-Fügen als Anpassung

an das Fremdbild (mit oder ohne Korrektur des individuellen Selbstbildes)“.722

Beide Variationen sind möglich und gestatten damit der Schülerin und dem

Schüler eine „Identitätsinterpretation (role-making)“. Die ‚beschädigte’ soziale

Identität muss nicht gleichzeitig die persönliche Identität verringern, wenn es

gelingt beide Ebenen zu trennen. Vermehrte Anstrengungen der Kinder und

719 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 102. 720 vgl. ebd. 721 vgl. ebd., S. 103. 722 vgl. ebd.

184

Jugendlichen scheitern aber häufig an dem „(institutionalisierten) Fremdbild“

der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie der Lehrpersonen, die ihnen mit

ihrer „stereotypen Sichtweise“ Grenzen setzen.

Zum zweiten Weg, dem Rückzug und der verringerten Leistungs-

anstrengungen und Schulverweigerung ist zu ergänzen, dass es sich hier nicht

unbedingt um eine „passive Anpassung, sondern eher um eine Bewahrung

eines Stücks persönlicher Identität“ der als leistungschwach etikettierten

Jugendlichen handelt. Ihre Wahl der Situationen, in welchen sie sich eher

einfinden und welche sie meiden, erlaubt ihren eine „gewisse Souveränität“.723

Edward E. Jones erklärt: „Each decision to connect with the social world will

involve a special effort, a conscious decision of whether the contact is worth

the possible humiliation and further negative reaction“.724

„Selbstselektion und negative Selbsttypisierungsprozesse“ führen oftmals

zu einem Ausbildungsverzicht bei Sonderschul- und Hauptschulabgängern

ohne Schulabschluss. Beispielsweise zeigte die EMNID Studie (1990) über

westdeutsche Jugendliche (20-24 Jahre), dass 70% der Sonderschulabgänger

und 67% der Hauptschabgänger ohne Abschluss sich nie um eine Ausbildung

beworben haben. Als Begründungen dafür nennen diese Jugendlichen ihre

„mangelnde schulische Vorbildung, ihre Resignation auf Grund von

antizipierten Problemen bei der Ausbildungssuche, Motivationsprobleme, ihre

ungenügende berufliche Orientierung und Beratung“.725 Sie geben sich selbst

keine Chance auf einen Ausbildungsplatz, sind „schulmüde“ und wollen nach

der Schule Geld verdienen.

Sie setzen sich dem einfach nicht aus, wohl auch aus „Angst vor

‚Entdeckung’ ihrer fehlenden Schulleistungen“ und entscheiden sorgsam, „(…)

wann sie welche (diskreditierenden) Informationen über sich selbst

preisgeben (wollen)“.726 Andererseits kann ihre „Strategie der Selbstselektion“

zu einer „’normativen Misere’“ führen, indem sich die Jugendlichen „von der

Gesellschaft entfremden bzw. zu ‚Außenseitern’ werden“.727

Heike Solga spricht hier von einem „Teufelskreis, indem sich diese Kinder

und Jugendlichen befinden“. Sie können die geforderten Bildungsnormen nicht

723 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 103f. 724 Jones, Edward E., zit. in: Solga, Heike 2004, S. 104. 725 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 104. 726 vgl. ebd. 727 vgl. ebd.

185

erfüllen und erhalten keine oder zu wenig schulische Förderung. Als Folge von

Etikettierungsprozessen verringert sich ihr schulisches Engagement, wodurch

sich ebenfalls ihre Schulleistungen weiter verschlechtern. Diese werden in

späteren Interaktionen von ihren Partnerinnen und Partnern (zunächst) auf

eine „geringere individuelle Leistungsfähigkeit“ zurückgeführt, ohne zugleich

„blockierte Gelegenheiten“ mitzubedenken. Dadurch kommt es wiederum zu

einer Verringerung des Engagements auch in diesen Kontexten und damit

entgeht den Kindern und Jugendlichen eine weitere „Gelegenheit zum

Kompetenzerwerb“. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebenszufriedenheit

können sie eher dann bewahren, wenn sie sich möglichst wenig mit Schule

und mit Leistung identifizieren. 728 Die Autorin zitiert Jennifer Crocker:

A vicious cycle may occur in which discrimination and blocked opportunities in a particular domain lead to devaluing of that domain to protect self-esteem, which in turn produces decreased motivations to achieve in that domain. Lack of achievement in that domain is then erroneously interpreted by others as reflecting lack of ability, rather than blocked opportunities.729

8.3.5 Soziales Stigma

Unter Stigmatisierung ist, laut Heike Solga, die auf Gruppen und nicht auf

Einzelne bezogene „Extremform einer negativen Identitätszuschreibung bzw.

Etikettierung in Bezug auf Verhalten und Charakter“ zu verstehen.730 Das

abweichende Verhalten wird nicht nur als negativ beurteilt, sondern führt in

den verschiedensten Lebensbereichen dieser Personen zur „allgegenwärtigen

Defizit-Charakterisierung“, verknüpft mit der „Gefahr, dass es Bestandteil

ihres Selbstkonzeptes wird“. Die Etikettierungen (Stigma-Symbole) erreichen,

im Sinne Erving Goffmans, einen „Masterstatus“ in den verschiedenen

Interaktionszusammenhängen dieser Personen.731

Nach Erving Goffman lassen sich drei Formen von Stigma-Symbolen

ausmachen, die in der Abhandlungen von Heike Solga angegeben werden:

„(1) Abscheulichkeiten des Körpers, (2) Stigmata, die als individuelle

Charakterfehler interpretiert werden (wie Arbeitslosigkeit), und (3)

phylogenetische Stigmata (Rasse, Religion, Nation, Klasse)“.732 Ihre „zutiefst

728 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 105. 729 Crocker, Jennifer, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 105. 730 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 106. 731 vgl. ebd. 732 vgl. ebd.

186

diskreditierende und allgegenwärtige Wirkung“ erhalten diese Attribute durch

die folgenden Aspekte:

- sie sind ständig wahrnehmbar, - sie sind „eindeutig“ und erlauben „vermeintlich ‚unfehlbare’

Bewertungen“, - sie sind „’erworbene’ und individuell ‚kontrollierbare’ Merkmale“,

daher wird „ihre Existenz als das Ergebnis ‚unzureichender’ individueller Anstrengungen hinsichtlich der erwarteten und teilweise geforderten ‚Behebung’ gewertet“,

und/oder - sie sind „nicht zu ‚korrigieren’“, da durch die Korrektur keine

vollständige „Normalisierung“ der Person erfolgt, sondern nur eine „’Transformation eines Ich mit einem bestimmten Makel zu einem Ich mit dem Kennzeichen, ein bestimmtes Makel korrigiert zu haben’, (...) (z.B. bei Alkoholkranken)“.733

Die jeweilige Gruppengröße beeinflusst die Gefahr von Stigmatisierungs-

prozessen, welche ansteigt, je kleiner die Gruppe und dadurch „seltener“ und

somit auffälliger das negativ beurteilte Gruppenmerkmal ist. Begründet wird

das auch damit, dass kleinere Gruppen über eine „geringere Definitionsmacht

in Aushandlungsprozessen“ verfügen. Kleine Gruppen von leistungsschwachen

Schulkindern und Jugendlichen sind häufiger homogen bezüglich einer „eher

bildungsfernen Familie und Peer group“, wodurch sie über weniger Kontakt zu

„’high-status link persons“ verfügen. In den eigenen sozialen Kreisen entsteht

weniger „Widerspruch“ hinsichtlich „bildungsferner Verhaltensweisen“, jedoch

kommt es häufiger zu Prozessen einer „‚doppelten negativen Kategorisierung’

durch ihre Umwelt – nämlich ‚leistungs- und sozial schwach’“.734

Im Kontext der Bildungsexpansion und der heutzutage erhöhten Zahl der

Arbeitssuchenden stellt Heike Solga Thesen für mögliche Auswirkungen einer

„geringen Bildung“ und einer „institutionelle(n) Identitätsschädigung“ auf:

Eine stark wachsende Bildungsbeteiligung der Mehrheit erhöht die Diskreditierungsgefahr gegenüber gering qualifizierten Jugendlichen und verstärkt ‚beschädigende’ Selbsttypisierungsprozesse.735

Die Bildungsexpanison in den meisten westlichen Gesellschaften führte,

nach Meinung der Autorin, dazu, dass geringe Bildung von einem Massen- zu

einem „‚Randgruppen’-phänomen“ wurde.736 Die mit diesem Etikett

733 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 106f. 734 vgl. ebd., S. 107. 735 ebd. 736 Verändert wurde durch die Bildungsexpansion auch die Beurteilung von Bildungserfolg und –misserfolg (wobei beispielsweise der Hauptschulabschluss eine

187

bezeichneten Personen bilden „mehr als früher eine normabweichende

Minderheit“ und sind damit gefährdeter, wegen ihrer „geringen Bildung’“ eines

„’individuellen Charakterfehlers’ – dem zweiten Stigma-Typus von Goffman“

bezichtigt zu werden. 737 Sie zitiert CEDEFOP:

Die heutigen gering Qualifizierten befinden sich in einer grundlegend anderen Situation als ihre Eltern. Diese hatten die Arbeitswelt nach Abschluss der Pflichtschule betreten, während die heutigen gering Qualifizierten trotz einer bisweilen beachtlichen Zahl absolvierter Schuljahre Schulversager sind.738

Eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem Bildungserfolg und den Bildungszertifikaten führte zu einer erhöhten Wahrnehmbarkeit (Visibilität) von ‚geringer Bildung’.739

In Österreich werden als Folge der allgemein angestiegenen Bildungs-

beteiligung eine „höhere Sekundarbildung“ sowie eine Berufsausbildung als

„(…) obligatorischer Standard für den Arbeitsmarktzugang gesellschaftlich

erwartet“.740 Bildungslaufbahnen und Übergänge in die Arbeitswelt geschehen

zunehmend standardisiert und normalisiert. Die in vielen westlichen Ländern

für alle Gesellschaftsmitglieder geltende stärkere Verpflichtung auf die so

genannte „(…) Normalbiografie – bestehend aus erfolgreichem Schulbesuch,

abgeschlossener Berufs- oder Hochschulausbildung und kontinuierlicher (Voll-

bzw. bei Frauen Teilzeit-)Erwerbstätigkeit (...)“, macht jegliche Abweichung

davon rasch auffällig.741 Für alle Personen, die dieser Normalbiografie nicht

entsprechen können, z.B. wegen ihrer niedrigen oder fehlenden Bildungs-

zertifikate, steigt die Gefahr der Ausgrenzung und Stigmatisierung.742

‚Geringe Bildung’ in Zeiten einer stark erhöhten Bildungsbeteiligung läuft Gefahr, als eine von individuellen – und nicht mehr von sozialen - Faktoren gesteuerte Permeabilität von Bildungsgruppenzugehörigkeiten gewertet und verstärkt mit Interpretationen der Selbstverschuldung verknüpft zu werden.743

Entwertung erfahren hat), sowie die Regelungen bezüglich der Zertifizierungen von Bildungsleistungen und ihre Alterskriterien und Fristen. 737 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 107. 738 CEDEFOP, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 107. 739 Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 108. 740 vgl. ebd. 741 vgl. ebd. 742 vgl. ebd., S. 109. 743 ebd.

188

Die Verantwortung für die gelingende und fristgemäße Beendigung der

aufeinanderfolgenden Stufen im Bildungsverlauf der Normalbiografie obliegt

immer mehr der und dem Einzelnen. Nur einen Pflichtschulabschluss

vorweisen zu können oder die Schule gar ohne diesen beendet zu haben, ist

aufgrund der allgemein höheren Bildungsbeteiligung ein zunehmend

belastender Makel geworden. Heike Solga führt nachstehenden Satz von

CEDEFOP an, der die Auswirkungen dieses Makels auf den einzelnen

Menschen näher beschreibt:

Der Begriff ‚gering Qualifizierte’ impliziert einen Mangel an etwas, dass (sic!-G.G.) die Gesellschaft im allgemeinen als positiv wünschenswert ansieht und impliziert daher für die solchermaßen Bezeichneten, dass sie in irgendeiner Weise unzulänglich sind.744

Durch die „Verlängerung der staatlich finanzierten Schulpflicht und der

Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen“ scheint nun auch für „Kinder

unterer Schichten“ die Chance auf höhere Bildung leicht(er) gegeben zu sein.

Daher wird vielfach angenommen, ein „Verbleib in der unteren Bildungs-

kategorie“ sei „‘selbstverschuldet‘ und ‚abwendbar‘“. Vollkommen unbeachtet

bleiben damit jedoch die „sozialen Gelegenheitsstrukturen des Bildungs- und

Kompetenzerwerbs“, die das Kind innerhalb seines familiären und schulischen

Kontextes vorfindet. Die Gefahr nimmt zu, von einer Realität gewordenen

„‘Chancengleichheit‘“ auszugehen und die gering qualifizierten Jugendlichen,

die offenbar ihre Chance nicht ergriffen haben als „‘zu dumm‘ oder ‚zu faul‘“

bzw. als „‘lernunzugänglich‘ oder ‚lernungewohnt‘“ zu etikettieren.745

Probleme in der Schule und beim Übergang ins Arbeitsleben werden aus

dieser Perspektive als in ihren „Persönlichkeitseigenschaften zu suchende

Leistungs- und Motivationsdefizite“ interpretiert. Mittels „institutioneller

Sonderbedingungen“ soll ihnen möglich gemacht werden, sich „ihrerseits an

die herrschende Bildungsnorm“ anzupassen ohne dass gleichfalls die

Verwirklichung der „Chancengleichheit durch Strukturveränderungen in der

Bildungs- und Erwerbslandschaft“ in den Blick gerät.746

‚Geringe Bildung’ als Minderheitenstatus bewegt sich immer stärker im Spannungsfeld von Korrekturnotwendigkeit und –unmöglichkeit.747

744 CEDEFOP, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 109. 745 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 109f. 746 vgl. ebd., S. 110. 747 ebd.

189

Angesichts der erhöhten Bildungsbeteiligung wird von gering qualifizierten

Jugendlichen erwartet, „ihre“, eher als „individuelle ‚Charakterfehler‘ und

Persönlichkeitseigenschaften“ interpretierten, „Leistungsdefizite“ nachträglich

zu beheben.748 Hilfsangebote für diese Jugendlichen gehen immer noch vom

Vorhandensein eines „weitgehend intakten Arbeitsmarktes und eines weiterhin

für alle als erreichbar gedachten, durchschnittlichen lohnarbeitzentrierten

Lebensentwurfes“ aus.749 Nicht die bestehende Arbeitsplatzknappheit ist

demnach das Problem, sondern die „Fehler“ werden „primär“ bei den gering

qualifizierten Jugendlichen selbst gesucht, weil „(…) sie auf Grund ihrer (zu)

geringen Bildungsleistungen nicht konkurrenzfähig und angesichts der

modernen Berufswelt ‚nicht berufsreif‘ sind“.750

Ihre „Integration“ über Sondermaßnahmen im Rahmen der Berufsbildung

oder der Arbeitsmarktpolitik erscheint vielen gering qualifizierten Jugendlichen

als eine „Verlängerung ihrer ‚institutionellen Aussonderung‘ in der Schule“.751

Voraussetzung für die (Pflicht-)Teilnahme ist für manche, dass sie ihren

„fehlenden Schulabschluss als ein ‚Zeichen ihrer Unfähigkeit‘“ vorweisen und

sich dadurch quasi einem „Prozess der Selbststigmatisierung“ ausliefern.752

Mit diesen meist eher kurzzeitigen „arbeitsmarktpolitisch intendierten –

Hilfsangeboten“ absolvieren die gering qualifizierten Jugendlichen kein klar

strukturiertes aufeinanderfolgendes Qualifizierungsprogramm, viel mehr

ereignet sich ihr Berufseinstieg als ein „‘diffuses Arrangement sich bietender

Gelegenheiten‘“.Damit schwinden ihre Chancen auf eine fortwährende

berufliche Lebensplanung und das Entstehen einer „berufsorientierten

Identität“. Parallel dazu verringert sich erneut das Selbstvertrauen der

Jugendlichen, die diese beruflichen „‘Chancen‘“ als stigmatisierend empfinden

und folglich ihre Motivation und beruflichen Ansprüche herabsetzen. 753

Die Kontinuität ihrer „Maßnahme(n)karrieren“, eines, wie Heike Solga

schreibt, „‘kontinuierlichen Weges ins diskontinuierliche Aus‘“, bilden in Form

von „lückenlosen Lebensläufe(n) des ‚Scheiterns‘ im Bildungs- wie nun auch

748 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 110. 749 vgl. ebd., S. 110f. 750 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 111. 751 vgl. ebd., S. 112. 752 vgl. ebd. 753 vgl. ebd.

190

im Ausbildungs- und Erwerbssystem“ die Basis für verstärkt etikettierende

Fremdtypisierungen:754

Diskreditierung und verengte Gelegenheitsstrukturen können die Motivation und Anstrengungen bei der Suche nach einem Ausbildungs- und (qualifizierten) Arbeitsplatz verringern. Diese geringe(re)n Anstrengungen werden seitens der Gatekeepers im Berufsbildungs-system sowie der Beschäftiger als ein ‚Mangel‘ an Leistungswillen, -motivation und –fähigkeit gewertet und können so zu einer Perpetuierung blockierter Gelegenheiten führen.755

Im Wechselspiel der Selbst- und Fremdtypisierungen entwickelt sich eine

„‘stabilisierte Benachteiligung‘“, die diese Jugendlichen „selbst bei vermehrten

(nachträglichen) Bildungsanstrengungen immer weniger aufbrechen können“

und die sich unerwünschterweise auf ihre beruflichen und persönlichen

Interaktionen und Lebenschancen fortschreibt.756

Wenn Jugendliche an der „Normalbiographie“ scheitern, lernen sie letztlich

sich selbst als nicht normal zu betrachten. Von der Schule, in der sie wegen

ihrer Leistungsdefizite abgelehnt wurden und die sie selbst aufgrund von

zahlreichen Misserfolgserfahrungen abgelehnt haben, sind sie in Sonder-

programmen erneut einer schulähnlichen Situation ausgesetzt, die sie

vermutlich abermals ablehnen werden. Das Scheitern in der Schule setzt sich

hier unter Umständen lebenslang fort, wenn es den Jugendlichen und

Erwachsenen nicht möglich gemacht wird, in respektvoller, ressourcen- und

erwachsenenorientierter Art und Weise erfolgreich Lesen, Schreiben, Rechnen

und Computerkenntnisse zu erlernen. Und das hat nicht nur für die

Betroffenen weitreichende Konsequenzen, wie Marie-Therese Hermanage in

einem Arbeitspapier des Europäischen Parlaments festhält:

The most distressing aspect of life for people living in extreme poverty is not being accepted as full citizens and being considered useless and insignificant members of society. Combating illiteracy is not only a challenge to educationalists and teachers, but to all members of society. By failing to enable all citizens to succeed at school, learn job skills and actively participate in new technology training programmes, our society is depriving itself of a great source of human potential. If non-access to fundamental training and illiteracy are intolerable violations of human rights, this is not only because they deprive some citizens of the tools of reading and writing which are indispensable in our changing society, but also because they reduce them to silence,

754 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 113. 755 ebd., S. 114. 756 vgl. ebd., S. 113.

191

non–communication, enforced idleness and thus to social exclusion and de facto non-citizenship.757

8.4 Respekt

Die Gesellschaft verwehrt Erwachsenen, die die Schriftsprache nicht

ausreichend beherrschen, die soziale Anerkennung. Sie erhielten in der Schule

für ihre Leistungen wenig Wertschätzung und wurden als defizitär betrachtet.

Im Ausbildungs- und Erwerbsleben bekommen sie oft ebenfalls wenig

Anerkennung. Die sich daraus ergebenden Folgen untersuchte Otto Rath:

„Mangelnde Wertschätzung hat negative Auswirkungen auf das Selbstbild, auf

das subjektive Wohlbefinden und letztlich auf die Gesundheit“.758 Peter

Hubertus und Sven Nickel sehen in der geringen Anerkennung eine Ursache

für die bestehenden Schriftsprachprobleme: „Was den Betroffenen sowohl im

Elternhaus als auch in der Schule gefehlt hat, ist die Anerkennung der Person

und ihrer Fähigkeiten. Das Nichtlernen ist damit wesentlich als Selbstbild-

problem zu erkennen“.759

Gesellschaftliche Wertschätzung kann, nach Richard Sennett, auf drei

Arten erworben werden: durch die „Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und

Fertigkeiten“, durch das Vermögen „für sich selbst sorgen (zu-G.G.) können“

und durch das „Bestreben, den anderen etwas zurückzugeben“.760 Die dabei

entstehenden Ungleichheiten zwischen den Menschen dienen vielfach dazu,

den „ungleichen Zugang zu Ressourcen oder ein geringeres Ansehen von

Menschen“ zu legitimieren.761

Arbeit ist von großem Einfluss auf den Respekt anderer und auf das eigene

Selbstwertgefühl. Der Status eines Menschen hängt stark vom Ansehen der

eigenen Tätigkeit in der Gesellschaft ab. Gering qualifizierte Menschen gelingt

es seltener, anspruchsvollere Arbeitsplätze zu (er-)halten. Sie sind häufiger

von Arbeitslosigkeit bedroht. Arbeit ist zugleich mit moralischen Ansprüchen

besetzt, weshalb nach Ansicht von Richard Sennett „der Unproduktive kaum

auf Mitleid zählen“ kann.762

757 Hermange, Marie-Therese, zit. in: Rath, Otto 45/2004, S. 28. 758 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 157. 759 Hubertus, Peter; Nickel, Sven: „Alphabetisierung von Erwachsenen“, in: Didaktik der deutschen Sprache – ein Handbuch, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/Handbuch_Didaktik_der_deutschen_Sprache.pdf (13.05.2007). 760 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 83f. 761 vgl. ebd., S. 84. 762 vgl. ebd., S. 137.

192

Wer nicht ausreichend mit Buchstaben und Zahlen umzugehen vermag,

erhält demnach wenig soziale Anerkennung und wird häufig vom

gesellschaftlichen Leben und vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgegrenzt.

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.763

In Anlehnung an das Zitat Theodor W. Adornos geht es hier um folgendes:

Basisbildung und Alphabetisierung sind wichtig, jedoch wird es auch weiterhin

Erwachsene geben, die nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen können

oder wollen. Daher ist zu fragen: Hängt die Wertschätzung und die Würde

eines Menschen ab von ein paar Buchstaben, die jemand kann oder nicht

kann? Was müsste geschehen, dass diese Menschen, wenn schon nicht Liebe,

dann zumindest soziale Anerkennung und Akzeptanz erhalten? Wohl nicht zu

leugnen ist, dass alle Menschen Grenzen haben und diese auch beständig

erleben und dass der Wert und die Würde einer Person nicht von 26

Buchstaben abhängen, sondern von ihrem und seinem Menschsein.

An ihren Fähigkeiten ansetzend, gibt Agneta Lind zu bedenken: „Non-

literate or functionally illiterate women and men are adults with valuable

knowledge, life skills, and relevant work and family experiences, and must

therefore not be treated as ignorant“.764

Richard Sennett befasst sich in einem seiner Bücher ausführlich mit der

Frage: „Wie kann man verhindern, dass Menschen sich angesichts ungleicher

Talente entmutigen lassen oder Ressentiments entwickeln“?765 Es folgen

einige seiner Gedanken:

Mangelnder Respekt mag zwar weniger aggressiv erscheinen als eine direkte Beleidigung, kann aber ebenso verletzend sein. Man wird nicht beleidigt, aber man wird auch nicht beachtet; man wird nicht als ein Mensch angesehen, dessen Anwesenheit etwas zählt.

Wenn die Gesellschaft die Mehrzahl der Menschen so behandelt und nur wenigen besondere Beachtung schenkt, macht sie Respekt zu einem knappen Gut, als gäbe es nicht genug von diesem kostbaren Stoff. Wie viele Hungersnöte, so ist auch diese Knappheit von Menschen gemacht; aber im Unterschied zu Nahrungsmitteln kostet Respekt nichts. Insofern stellt sich die Frage, warum auf diesem Gebiet Knappheit herrschen sollte.766

763 Adorno, Theodor W., zit. in: DUDEN 1998, S. 758. 764 Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168. 765 Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 120. 766 ebd., S. 15.

193

Wir sind aufgerufen Möglichkeiten zu erkunden, in denen Begegnungen

unter Gleichen gelingen können und in welchen gegenseitiges respektvolles

Verhalten gezeigt werden kann.767 Gleichheit entsteht durch stetige Prozesse

der Anerkennung der Autonomie anderer und das bedeutet vor allem auch,

„(…) dass man an anderen Menschen akzeptiert, was man nicht versteht.

Wenn ich das tue, behandle ich andere als ebenso autonome Wesen wie mich

selbst“.768 Eine Begegnung unter Gleichen setzt nach den Worten Paulo

Freires Selbsterkenntnis voraus:

Wer sich nicht selbst als ebenso sterblich wie jeder andere erkennt, hat noch einen weiten Weg vor sich, ehe er den Punkt der Begegnung erreichen kann. Dort, wo man sich begegnet, gibt es weder totale Ignoranten noch vollkommene Weise – es gibt nur Menschen, die miteinander den Versuch unternehmen, zu dem, was sie schon wissen, hinzuzulernen.769

767 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 78. 768 vgl. ebd., S. 316f. 769 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 74.

194

9. EMPIRISCHE FORSCHUNG

9.1 Zur Methodik

Die für diese Untersuchung gewählten Methoden der Informations-

erhebung, der Datenaufbereitung und der daran anschließenden Auswertung,

welche herkömmlicherweise im Rahmen der qualitativen Forschung zur

Verwendung kommen, werde ich in der ersten Hälfte kurz darstellen und

begründen. Für das Erhebungsverfahren wählte ich das problemzentrierte

Interview nach Andreas Witzel aus. Als Aufbereitungsverfahren diente die

wörtliche Transkription, d.h. die „Übertragung in normales Schriftdeutsch“.770

Die Auswertung der Interviews erfolgte mittels der qualitativen Inhaltsanalyse

nach Philipp Mayring. Die Ergebnisse werden im zweiten Teil bekanntgegeben.

Die insgesamt sechs Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sind alle

in die österreichische Alphabetisierungs- und Basisbildungsarbeit als Kurs-

teilnehmende oder Projektverantwortliche eingebunden. Die Teilnehmenden

kannte ich zuvor nicht, zu den Projektverantwortlichen (Brigitte Bauer, Sonja

Muckenhuber und Peter Webhofer) hingegen bestanden bereits Kontakte. Für

die Gruppe der Teilnehmenden und die Gruppe der Projektverantwortlichen

habe ich jeweils eigene Interviewleitfäden erstellt, die in Inhalt und Umfang

variieren. Die Fragen bezogen sich allesamt auf die Motive und Ziele in der

Alphabetisierung und Basisbildung, auf die Lern- und Lehrprozesse in den

Kursen und ihre Auswirkungen auf die befragten Personen. Die Projekt-

verantwortlichen befragte ich zusätzlich noch ausführlicher zu den aktuellen

Kursen bzw. Projekten und über die in Zukunft geplanten Vorhaben. Die

Interviews mit ihnen fanden in den Kurs- und Büroräumen statt.

Bei der Suche nach Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern aus dem

Kreis der Kursteilnehmenden waren mir freundlicherweise einige Trainerinnen

und Trainer behilflich. Die Interviews mit den Lernenden fanden zur Kurszeit

oder im Anschluss daran in den Kursräumen statt. Es war vermutlich ihr

erstes Interview, zu dem sich die Teilnehmerin und die beiden Teilnehmer hier

dankenswerterweise bereit erklärt haben.

Zuerst möchte ich die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner kurz

vorstellen und einzelne Informationen zur Interviewsituation vorausschicken:

770 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 91.

195

Herr E. steht kurz vor seinem 50 Geburtstag. Aufgewachsen am Land,

besuchte er die achtklassige Volksschule. Nach deren Auflösung wurde er in

die dritte Klasse Hauptschule versetzt, die er ohne Pflichtschulabschluss

verließ. Dank seiner Großeltern konnte er eine Lehre als Betriebsschlosser

beginnen, die er erfolgreich beendete. Nach der Schließung der Firma nützte

er die Möglichkeit, sich zum Stationsgehilfen umschulen zu lassen. Seit dieser

Zeit betreut er Menschen mit Behinderungen. Aufgrund verpflichtender

Aufschulungen bildete Herr E. sich zuerst zum Pflegehelfer und anschließend,

mit Unterstützung durch den Basisbildungskurs, zum Altenfachbetreuer

weiter. Er ist seit ca. drei Jahren im Kurs und nimmt dafür einen langen

Anfahrtsweg inkauf. In der Gesprächssituation war er sehr entgegenkommend

und zeigte mir zum Schluss noch einige seiner eindrucksvollen Texte.

Frau F. ist 46 Jahre alt. Sie besuchte die Volksschule (1. und 2. Klasse)

und wurde anschließend in die Sonderschule versetzt. Nach der Schulzeit

konnte sie sich ihren Berufswunsch, Schneiderin zu werden, nicht erfüllen, da

sie keinen Lehrplatz bekam. Sie arbeitete als Anlernkraft in der Gastronomie,

in der Altenbetreuung und in einer Fabrik. Frau F. ist verheiratet. Sie blieb 18

Jahre lang bei ihren drei Kindern zu Hause. Nach dieser Zeit arbeitete sie

erneut in einer Fabrik, bis sie wegen betrieblicher Einsparungen ihren

Arbeitsplatz verlor. Nun ist sie Mitarbeiterin bei einem Schiliftbetrieb. Am

Wochenende arbeitet sie außerdem auf Parkplätzen als Parkplatzwächterin

und Auskunftsperson für die Urlaubsgäste. Sie besucht den Basisbildungskurs

nunmehr seit 1 ½ Jahren und hat ebenfalls einen langen Anfahrtsweg zum

Kurs zu bewältigen. Frau F. erkundigte sich vor unserem Gespräch, ob sie

hoffentlich eh nur meine Fragen zu beantworten hätte. Im Interview selbst,

erzählte sie dann sehr frei, ausführlich und teilweise sehr humorvoll über sich

und ihr Leben.

Herr M. ist 59 Jahre. Er ist am Land aufgewachsen und hat die

Volksschule nur sehr sporadisch besucht, da er daran keine Freude hatte und

ihn sein Großvater immer zum Viehhandeln mitnahm. Nach der Schulzeit

erlernte er keinen Beruf. Er war allerdings 25 Jahre als Angestellter bei einer

Firma im Außendienst (Verkauf) tätig und ist nunmehr Pensionist. Herr M. ist

geschieden. Er nimmt seit 1 Jahr am Basisbildungskurs (2 Abende pro Woche)

teil. Er sprang freundlicherweise als Interviewpartner ein, als ein anderer

Teilnehmer nicht kommen konnte. Das Interview fand nach dem Kurs statt

und war inhaltlich kurz und prägnant.

196

Frau Sonja Muckenhuber ist 52 Jahre alt. Sie hat die pädagogische

Akademie besucht und darüber hinaus ein Soziologiestudium abgeschlossen.

Seit 12, 13 Jahren ist sie Alphabetisierungstrainerin in der Volkshochschule in

Linz. Bis vor zwei Jahren war sie als Projektleiterin und Trainerin in den

Kursen aktiv. Nun leitet sie das Grundbildungszentrum der Volkshochschule

Linz und ist ebenfalls mit der Entwicklung und Durchführung der Projekte,

Netzwerke und Serviceeinrichtungen zum Themenbereich beschäftigt. Das

Interview mit ihr gelang erst beim dritten Versuch. Unseren ersten Termin

konnte sie krankheitsbedingt nicht wahrnehmen. Beim zweiten Termin hatte

mein Aufnahmegerät leider das Interview nicht aufgezeichnet. Unser dritter

Gesprächstermin war zeitlich knapp bemessen, jedoch zum Glück erfolgreich.

Herr Peter Webhofer ist 30 Jahre alt. Er absolvierte die Ausbildung zum

Hauptschullehrer für Deutsch und Biologie sowie zum Integrationslehrer. Vor

5 Jahren begann er als Trainer in der Alphabetisierung zu arbeiten, indem er

die Regionalstelle in der Obersteiermark eröffnete und leitete. Seit 1 Jahr ist

er nun Projektleiter des Alphabetisierungsprojektes Neustart Grundbildung in

Graz. Außerdem ist er weiterhin als Trainer in den Kursen tätig und bei der

Entwicklung neuer Projekte und der Verbesserung und Sicherung bestehender

Strukturen (Qualitätsstandards, Know-how) beteiligt. Das Gespräch mit ihm

fand ca. 1 Jahr vor allen anderen Interviews statt. Es war mir mit seiner

hilfreichen Unterstützung möglich, die von mir formulierten Fragen an die

Teilnehmenden vorab auf ihre Klarheit und Verständlichkeit zu testen.

Frau Brigitte Bauer ist 48 Jahre alt und vom Beruf Volksschullehrerin.

Nachdem sie sieben Jahre unterrichtet hatte, gab sie ihre Pragmatisierung auf

und übte verschiedene andere Tätigkeiten im In- und Ausland aus. Als sie

Nachhilfe für Kinder in der Volksschule anbot, kam sie persönlich in Kontakt

mit Erwachsenen, die Basisbildungsbedarf hatten. Das bewog sie 1999 die

Alphabetisierungsstelle „abc Lesen und Schreiben für Erwachsene“ in Salzburg

zu gründen. Seit ca. 10 Jahren ist sie nun als Leiterin und Trainerin in dieser

Einrichtung aktiv. Aktuell ist sie mit der Fortführung und Erweiterung der

bestehenden Basisbildungsprojekte und der Entwicklung und Durchführung

neuer Projekte und Netzwerke beschäftigt. Nach dem Interview gab sie mir,

bei Kaffee und Kuchen, noch zusätzliche wertvolle Informationen und Tipps,

die für den Theorieteil dieser Arbeit sehr nützlich waren.

Methodisch erschien es mir gerade bei der Gruppe der Teilnehmenden

ratsamer, ein Gespräch einer schriftliche Erhebung vorzuziehen.

197

9.1.1 Problemzentriertes Interview

Wichtig war mir, die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen der sich zur

Verfügung stellenden Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über das

Lernen und Lehren in den Basisbildungs- und Alphabetisierungskursen zu

erkunden und sie in einem respektvollen Miteinander ausführlich zu Wort

kommen zu lassen. Daher wählte ich diese Interviewform. In der von Andreas

Witzel als Teil einer Methodenkombination, dem problemzentrierten Interview,

vorgestellten Erhebungsform, kommen die nach Leitfaden halb-strukturiert

geführten Befragungen offenen und vertrauensvollen Gesprächen in möglichst

egalitären Beziehungen gleich. Bedeutsam sind nach Philipp Mayring folgende

Grundgedanken: ● Das Problemzentrierte Interview wählt den sprachlichen Zugang, um seine Fragestellung auf dem Hintergrund subjektiver Bedeutungen, vom Subjekt selbst formuliert, zu eruieren.

● Dazu soll eine Vertrauenssituation zwischen Interviewer und Interviewten entstehen.

● Die Forschung setzt an konkreten gesellschaftlichen Problemen an, deren objektive Seite vorher analysiert wird.

● Die Interviewten werden zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Fragestellungen hingelenkt, sollen aber offen, ohne Antwortvorgaben, darauf reagieren.771

Andreas Witzel selbst gibt es als ein „theoriegenerierendes Verfahren“ an,

bei dem der „Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel“ angelegt

ist.772 Das Vorwissen dient dazu, Fragen zu generieren, die den Erzählfluss

anregen sollen und zugleich den Themenbereich eingrenzen. Nach Philipp

Mayring hat das problemzentrierte Interview folgenden Ablauf:

Problemanalyse

Leitfadenkonstruktion

Pilotphase Leitfadenerprobung und Interviewerschulung

Interviewdurchführung

Sondierungsfragen, Leitfadenfragen, Ad-hoc-Fragen

Aufzeichnung

Abbild 6: Ablaufmodell des problemzentrieren Interviews

771 Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 69. 772 vgl. Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview, in: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 1, 1/2000, S. 1. (Homepage) URL: www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.pdf (24.11.2007).

198

Zentrales Ziel dieser Interviewform ist nach Andreas Witzel „(…) eine

möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie

subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher

Realität“.773 Er entwirft es als ein „‚diskursiv-dialogisches Verfahren‘“, welches

„(…) die Befragten als Experten ihrer Orientierungen und Handlungen begreift,

die im Gespräch die Möglichkeit zunehmender Selbstvergewisserung mit allen

Freiheiten der Korrektur eigener oder der Intervieweraussagen wahrnehmen

können“.774

Für die Arbeit habe ich diese Interviewform auch ausgesucht, weil es sich,

wie Philipp Mayring betont, besonders gut eignet, wenn bereits Vorwissen775

über einen Gegenstandsbereich vorhanden ist, das durch die spezifische

Sichtweise der Befragten verglichen, ergänzt oder auch modifiziert und so zu

einem theoretischen Konzept zusammengefügt werden kann. Zusätzlich wird

bei der Verwendung eines Leitfadens durch deren „teilweise Standardisierung“

die Vergleichbarkeit und Auswertung der Interviews vereinfacht.776

9.1.2 Wörtliche Transkription

Um die gesprochene Sprache für die Auswertung zugänglich zu machen,

muss sie zumeist in eine schriftliche Form gebracht werden. Für den Vorgang

der Transkription gibt es mehrere Wege. Da in dieser Arbeit Expertinnen und

Experten befragt wurden und das Interesse eher an den angesprochenen

Inhalten und Themen als an der von ihnen verwendeten Sprache bestand,

wurde, auch zum Zwecke der besseren Lesbarkeit, eine Transkription in

„normales Schriftdeutsch“ bevorzugt.777 Philipp Mayring erläutert diesen

Vorgang folgendermaßen: „Der Dialekt wird bereinigt, Satzbaufehler werden

behoben, der Stil wird geglättet“.778 Alle Interviews wurden nach dem

Einverständnis der Befragten aufgenommen. Die Gesprächspartnerinnen und

Gesprächspartner konnten ihr transkribiertes und bei den Teilnehmenden

zusätzlich anonymisiertes Interview lesen und es, wenn sie das wünschten,

gegebenfalls auch korrigieren bzw. Streichungen vornehmen.

773 vgl. Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview, in: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 1, 1/2000, S. 1. (Homepage) URL: www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.pdf (24.11.2007). 774 vgl. ebd, S. 4. 775 Lehrgang, Praktikumserfahrungen, Literatur, Tagungen, Kongresse, Gespräche, … 776 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 70. 777 vgl. ebd., S. 89ff. 778 ebd. S. 91.

199

9.1.3 Qualitative Inhaltsanalyse

Bei der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring handelt es sich

um einen Auswertungsansatz, mit dem Texte schrittweise und „streng

methodisch kontrolliert“ durchgearbeitet werden können.779 Seine Methode

beinhaltet die folgenden „Grundgedanken: Qualitative Inhaltsanalyse will

Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise mit

theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet“.780

Mit Hilfe dieser Kategoriensysteme wird festgesetzt, welche Aspekte aus dem

Text herausgesucht werden sollen. Dazu bedarf es transparenter Verfahren,

die erkennbar und nachvollziehbar werden lassen, wie die Kategorien am Text

entwickelt wurden. Der Autor gibt drei Grundformen der qualitativen Inhalts-

analyse an: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung.

Ich orientiere mich hier an der inhaltsanalytischen Zusammenfassung,

deren Zielsetzung Philipp Mayring mit dem folgenden Satz umreißt: „(…) das

Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben,

durch Abstraktion ein überschaubares Korpus zu schaffen, das immer noch ein

Abbild des Grundmaterials ist (…)“.781 Diesen Prozess der Reduktion auf

wesentliche Inhalte verbinde ich, wie es der Autor vorschlägt, mit dem Ansatz

der induktiven Kategorienbildung, welche bestimmte Analyseschritte aufweist:

Gegenstand, Material Ziel der Analyse

Theorie

Festlegen des Selektions- kriteriums und

des Abstraktionsniveaus

Materialdurcharbeitung Kategorienformulierung

Subsumption bzw. neue Kategorienbildung

Revision der Kategorien nach etwa 10-50 % des Materials

Endgültiger

Materialdurchgang

Interpretation, Analyse

Abbild 7: Prozessmodell induktiver Kategorienbildung

779 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 114. 780 ebd. 781 vgl. ebd., S. 115.

200

Entscheidend für die Bevorzugung dieser Auswertungsform war für mich,

dass sie mir ermöglicht, sehr systematisch zu arbeiten und dabei nahe an der

in Textform vorliegenden subjektiven Problemsicht der Befragten zu bleiben.

9.2 Auswertung der Interviews

Eingang in den Prozess der Auswertung fanden die von mir nach zwei

verschiedenen Leitfäden geführten Interviews mit den Kursteilnehmenden und

den Projektverantwortlichen.782 Die im Interview angesprochenen Themen

sollten die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner anregen, möglichst

frei zu erzählen. Die Teilnehmerin und die beiden Teilnehmer wurden von

einigen Trainerinnen und Trainern direkt ausgesucht und angesprochen.

Infrage kamen Teilnehmende, die sich schon länger in ihrem Kurs befanden

und die sich freiwillig dazu bereit erklärten, mit mir das Interview zu machen.

Bei den drei Projektverantwortlichen war mir in erster Linie wichtig, Personen

mit langjähriger Kurserfahrung aus unterschiedlichen Einrichtungen

auszuwählen. Wegen der ungleichen Fragestellungen habe ich die Ergebnisse

der Interviews für beide Gruppen getrennt ausgearbeitet.

Wie im Prozessmodell induktiver Kategorienbildung783 ersichtlich ist,

beginnt der Auswertungsprozess mit der Festlegung des Gegenstandes der

Analyse und der Formulierung einer theoriegeleiteten Forschungsfrage. Was

nun Theoriegeleitetheit, als wesentliches Element der Inhaltsanalyse und

Kriterium für die zu formulierende Forschungsfrage, bedeutet, erläutert

Philipp Mayring in seiner Argumentation gegen eine sich ausbreitende

Theoriefeindlichkeit:

Begreift man jedoch Theorie als System allgemeiner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die geronnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar. Theoriegeleitetheit heißt nun, an diese Erfahrungen anzuknüpfen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen.784

Gegenstand meiner Analyse war die subjektive Wahrnehmung der

befragten Personen zu den Motiven und Zielen in der Alphabetisierung und

Basisbildung, zu den Lern- und Lehrprozessen in den Kursen und zu den

Veränderungen, die sich daraus für die Lernenden ergeben. Vor aller

theoretischen Auseinandersetzung sammelte ich zunächst am Beginn der

782 Alle Befragten wurden in Österreich geboren und sind hier auch aufgewachsen. 783 Das Modell der induktiven Kategorienbildung ist auf der Seite 199 abgebildet. 784 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 1988, S. 47.

201

Diplomarbeit ein schichtenreiches Konglomerat an möglichen Fragestellungen,

die inhaltlich die Interviewleitfäden prägten.785 Während des Arbeitsprozesses

kristallisierten sich durch die Beschäftigung mit den theoretischen Aspekten

sowie den Erfahrungen und Deutungen der Interviewpartnerinnen und Inter-

viewpartner folgende Fragestellung als Ziel der Analyse heraus:

ssss Welche Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Teilnehmender an

Basisbildungskursen werden von den Teilnehmenden selbst und von

den Projektverantwortlichen hauptsächlich genannt?

Im Modell der induktiven Kategorienbildung werden nun als Nächstes

Kategorien - ohne Bezugnahme auf theoretische Konzepte - aus dem Material

heraus entwickelt.786 Entsprechend der Einschätzung von Philipp Mayring ist

induktives Vorgehen innerhalb der qualitativen Ansätze von großer Bedeutung

und lässt sich, gemäß seinen Ausführungen, auf folgende Weise beschreiben:

„Es strebt nach einer möglichst naturalistischen, gegenstandsnahen Abbildung

des Materials ohne Verzerrungen durch Vorannahmen des Forschers, eine

Erfassung des Gegenstands in der Sprache des Materials“.787

Das weitere Vorgehen besteht zunächst darin, ein Selektionskriterium zu

formulieren. Dieses gibt an, zu welcher Thematik Kategorien aus dem Text

heraus gebildet werden sollen und vernachlässigt alles Material, das damit

nicht übereinstimmt. Gleichfalls muss nun das Abstraktionsniveau formuliert

werden, damit ein „einheitliches Kategoriensystem“ erstellt werden kann.788

Als Selektionskriterium für die Kategorienbildung werden bei der Gruppe

der Teilnehmenden die von ihnen im Interview genannten Lerngründe und

(Lern-)Erfahrungen ausgewählt. Lerngründe meint hier Einflüsse von außen,

eigene Gedanken, Wünsche, Interessen, Bedürfnisse, Erlebnisse und Ziele, die

Jugendliche und Erwachsene veranlassen können, im Kurs Lesen, Schreiben

und Rechnen zu lernen. Unter (Lern-)Erfahrungen werden die Gedanken und

Erlebnisse der befragten Teilnehmenden zu den Kursen, dem Lernen (im Kurs,

zuhause und in Zukunft), zu den Trainerinnen und Trainern und den anderen

Teilnehmenden gezählt sowie all ihre Bemerkungen dazu, was sie im Kurs

gelernt bzw. dazugewonnen haben und was von ihnen angewendet wird.

785 Die Fragestellungen sind im Vorwort auf Seite 12 verzeichnet. 786 Die deduktive Kategorienbildung vollzieht sich in der umgekehrten Richtung: von den theoretischen Überlegungen zum Textmaterial. 787 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 2007, S. 75. 788 vgl. Mayring, Philipp: Neuere Entwicklungen, in: Mayring, Philipp; Gläser-Zikuda, Michaela 2005, S. 12.

202

Desgleichen werden als Selektionskriterium für die Gruppe der Projekt-

verantwortlichen alle ihre Aussagen zu den Lerngründen789 der Teilnehmenden

und zu deren (Lern-)Erfahrungen ausgewählt. Unter Letzteren summieren sich

die Bemerkungen der Projektverantwortlichen zu zukünftigen Lerninteressen

der Teilnehmenden, dem Sozialgefüge, ihre Erfahrungen, was das Lernen der

Teilnehmenden im Kurs begünstigt, schwierig oder unmöglich macht sowie

was die Erwachsenen gelernt bzw. dazugewonnen haben und was von ihnen

angewendet wird.

Alle Äußerungen der sechs Interviewpartnerinnen und Interviewpartner,

die sich auf persönliche Daten, wie Schul- und Berufswege, Schulerfahrungen

und Familiensituationen beziehen oder die die vielgestaltigen Projekte und

Kurse (z.B. Rahmen- und Arbeitsbedingungen, zukünftige Projekte, usw.)

ausführlich beschreiben, werden demnach nicht aufgenommen. Die Interviews

werden aber zum Nachlesen in voller Länge dem Anhang beigefügt.

Das Abstraktionsniveau der zu entwickelnden Kategorien über Lerngründe

und (Lern-)Erfahrungen der Teilnehmenden legt die Äußerungen beider

Gruppen zwecks besserer Vergleichbarkeit in einer eher allgemein gehaltenen

Form dar, wobei diese allerdings zum Teil mit Beispielen ergänzt wurden.

Bei der Materialdurcharbeitung, dem nächsten Schritt in der induktiven

Kategorienbildung, werden nun die Interviews Zeile für Zeile durchgegangen,

wobei für die Textstellen, die das Selektionskriterium erfüllen, Kategorien

möglichst nahe am Text formuliert werden. Lässt sich jedoch eine Textstelle

nicht unter eine bereits gebildete Kategorie einordnen, ist eine neue Kategorie

zu konstruieren. Wenn kaum mehr neue Kategorien gebildet werden können,

wird überprüft, „(…) ob die Kategorien dem Ziel der Analyse nahe kommen,

ob das Selektionskriterium und das Abstraktionsniveau vernünftig gewählt

worden sind“.790 Gibt es hier eine Veränderung, wird mit der Bearbeitung des

Materials von vorne begonnen. In der Folge entsteht ein Kategoriensystem zu

einem speziellen Thema, dem konkrete Textstellen zugehören.

Der letzte zu vollziehende Schritt in der induktiven Kategorienbildung ist

die Interpretation. Hier sollen nun die subjektiven Sichtweisen der Gespächs-

partnerinnen und Gesprächspartner analysiert werden, mit dem Ziel,

Aussagen über Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Erwachsener im Basis-

bildungskurs treffen zu können.

789 Analog dem Selektionskriterium der Gruppe der Teilnehmenden, S. 201. 790 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 2007, S. 76.

203

9.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden

Bei der Gruppe der Teilnehmenden habe ich sieben zentrale Kategorien

ausgearbeitet und diese nahe an den Antworten der Interviewpartnerin und

der beiden Interviewpartner formuliert. Für die Gruppe der Teilnehmenden

werden die Ergebnisse der so entstandenen Kategoriensysteme im Folgenden

näher ausgeführt791:

Analyse des Interviews mit Herrn M792

Lerngründe:

Schwierigkeiten beim Schreiben und Rechnen

Befragt nach den Gründen für den Beginn des Kurses, betonte Herr M

zunächst seine Fähigkeiten im Lesen, um anschließend auf seine Schwierig-

keiten beim Schreiben und Rechnen zu sprechen zu kommen:

Ja ich habe nicht – ich habe Lesen können. Rechnen habe ich nicht können und Schreiben habe ich auch nicht können. Ich habe nicht so richtig schreiben können. Ich habe lauter Fehler gemacht, beim Schreiben. (Herr M, Zeile 25-27)

Ich habe Lesen können - Lesen habe ich immer können - aber Schreiben hat mir immer Schwierigkeiten gemacht und das Rechnen. (Herr M, Zeile 52-54)

Die Information über den Basisbildungskurs fand er auf einem Zettel,

worauf er sich gleich entschloss dieses Angebot anzunehmen und Kurse im

Schreiben und Rechnen zu belegen:

Jetzt habe ich mir gedacht, ich habe einmal so einen Zettel gefunden wo, P793, da habe ich mir gedacht, da musst jetzt anrufen und dann bin ich hergegangen da und dann habe ich mir noch einen Termin ausgemacht, dann bin ich dahergegangen gleich, in den Kurs da. (Herr M, Zeile 27-31)

Und dann habe ich den zweiten Kurs auch noch, mit Rechnen auch, weil dort hat es mich auch gehabt mit dem Rechnen - sehr - und jetzt mache ich den auch. Jetzt habe ich halt vier Stunden in der Woche. (Herr M, Zeile 31-33)

Den Entschluss, gleich mit beiden Kursen zu beginnen, argumentierte er

im Interview mit den Problemen, die das Schreiben ihm seit der Scheidung

bereitet:

791 Die beiden Interviewleitfäden und die vollständig transkribierten Interviews der Teilnehmenden und Projektverantwortlichen sind im Anhang nachzulesen. 792 Siehe Anhang, Seite 19-22. 793 Verschlüsselter Name des Kurses.

204

Ja das ist für mich – ich habe Erlagscheine nicht ausfüllen können, die Adresse nicht gescheit schreiben können. Meine Frau hat das immer gemacht früher. Ich habe mich scheiden lassen, dann habe ich mir alles selber machen können und das hat mir immer Schwierigkeiten gemacht. Auf das hinaus habe ich mir gedacht, jetzt habe ich das gefunden und jetzt gehe ich daher. (Herr M, Zeile 37-41)

Herr M, der beruflich 25 Jahre lang erfolgreich bei einer Firma in einem

Angestelltenverhältnis tätig war, ohne ausreichend Schreiben und Rechnen zu

können, schilderte im Gespräch sehr genau seine Schwierigkeiten:

Aber früher habe ich was geschrieben, dann habe ich es selber gelesen, dann habe ich es nicht mehr lesen können. Ich habe nicht gewusst was das heißt. Ich habe einfach so dahingezaubert - die Wörter. (Herr M, Zeile 45-48)

Malrechnen habe ich nicht mehr können, weil ich nicht mehr gewusst habe wie das funktioniert. Ich habe gar nicht gewusst wie man das anschreibt, weil mich das nie interessiert hat. Ich habe es auch nie gebraucht. Bei meinem Beruf habe ich das nie gebraucht. Ich habe da ein Formular mitgehabt und da ist das oben gestanden: J794-Verkauf und die habe ich verkauft und bin wieder gefahren. Ich bin in N795 unten gewesen, bei einer Firma, bin da 25 Jahre in einem Angestelltenverhältnis gewesen. (Herr M, Zeile 120-126)

Rechnen und Schreiben für den Alltag, weil man braucht das

Herr M begründete das Lernen im Erwachsenenalter allgemein und für sich

selbst damit, dass die Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen für den

Alltag gut und brauchbar sind:

Na ja, weil das für den Alltag gut ist, weil man braucht das. (Herr M, Zeile 52)

Ich habe auch jeden Tag die Zeitungen gelesen, gelesen, gelesen, gelesen, das habe ich gekonnt, aber das Schreiben und das Rechnen, das hat mich nie so interessiert. Und jetzt brauche ich es halt. (Herr M, Zeile 56-58)

(Lern-)Erfahrungen:

Zukünftiges Lerninteresse - Computer

Herr M arbeitet im Kurs am Computer und das interessiert ihn sehr. Er hat

ein Gerät leihweise vom Haus bekommen. Durch die Beschäftigung mit dem

Computer entstand bei Herrn M das starke Interesse, sich die dafür nötigen

Fähigkeiten in Zukunft anzueignen:

794 Verschlüsselt für den Gerätenamen. 795 Verschlüsselter Name der Stadt.

205

Mache ich auch was ja. Das interessiert mich auch sehr. (Herr M, Zeile 155)

Ja ich habe einen vom Haus gekriegt, leihweise. (Herr M, Zeile 158)

Ich möchte, dass ich mit dem Computer mal richtig arbeiten kann. Das ist das Einzige, was mich auch noch interessiert. (Herr M, Zeile 163-164)

Lernen

Gegenwärtige Schwierigkeiten im Kurs legte Herr M durch die Schilderung

möglicher Fehlerquellen dar, die ihn beim Lernen noch beschäftigen:

Ich mache schon noch Fehler, Riesenfehler, weil das stumme h höre ich hie und da nicht und das lange i nicht und die harten t, na ja die sind nicht so viele. (Herr M, Zeile 43-45)

Na ja schwierig. Die langen i, die was halt bei mir einwenig hängen bleiben. Die langen i weiß ich jetzt, aber das mit harten t und mit weichen d, die haben mich noch und das h, mit stummen h, dass hat mich auch noch immer ein bisserl. (Herr M, Zeile 92-95)

Befragt nach den Bewältigungsstrategien bei Lernschwierigkeiten, betonte

Herr M seine positive Einstellung, wodurch ihm das Lernen immer gelingt:

Das gelingt mir immer. Ich habe eine positive Einstellung. (Herr M, Zeile 99)

Am Wichtigsten im Kurs ist für Herrn M ausdrücklich, dass er was lernt,

dass ihm was hängen bleibt:

Na ja wichtig, dass ich was lerne, dass mir was hängen bleibt drinnen. (Herr M, Zeile 61)

Ja, dass was hängen bleibt da im Hirn drinnen. (Herr M, Zeile 64)

Lehrer/Lehrerin und Gruppe

Für Herrn M ist der Umgang mit dem Lehrer sehr angenehm. Wichtig im

Kurs ist ihm auch, dass ihm die Lehrpersonen immer wohlgesinnt sind:

Ja der Umgang da mit dem Lehrer, das ist sehr angenehm. (Herr M, Zeile 67)

Ja was ist wichtig, dass halt die Lehrpersonen immer klasse sind auf mich, mir immer gut gesinnt sind. (Herr M, Zeile 168-169)

Hilfreich beim Lernen ist für Herrn M die Motivation vom Lehrer und der

Lehrerin, wie die das machen. Das fasziniert ihn, baut ihn auf und gibt ihm ein

gutes Gefühl. Herr M hat anfangs überlegt, wieder mit dem Kurs aufzuhören,

206

weil er sich so „deppert“ vorgekommen ist.796 Dass es ihm nicht zu blöd

wurde lag daran, dass er erkannte, dass die anderen da auch nicht besser

sind, als er selbst:

Gut lernen? Die Motivation vom Lehrer und überhaupt, das fasziniert mich, wie er das macht und die Lehrerin. Die zwei, das baut mich auf. (Herr M, Zeile 79-80)

Ich gehe mit einem guten Gefühl heim und mit einem guten Gefühl hinaus und ich komme auch wieder mit einem guten Gefühl, weil ich mir schon vorher gedacht habe, ich höre wieder auf, mir wird das zu blöd, ich komme mir so deppert vor, aber dann denke ich mir, da sind die anderen auch nicht besser wie ich. (Herr M, Zeile 80-84)

Wie einige, die können die Hausnummer nicht einmal lesen, was das heißt, das habe ich immer gekonnt. (Herr M, Zeile 54-55)

Neben dem Lernen und dem Schreiben ist für Herrn M im Kurs besonders

interessant, dass er da in einer Gruppe ist, in der jede Person das Gleiche hat

und die Fehler der Einzelnen aufgedeckt werden:

Die Gemeinschaft, das Lernen, Schreiben und das. Dass man da eine Gruppe ist und da jeder das Gleiche hat. Von den Fehlern wird dann halt aufgedeckt, wer die Fehler hat da. (Herr M, Zeile 87-89)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird

Nach Einschätzung von Herrn M hat sich beim Lernen einiges verändert,

weil er jetzt seine eigene Schrift wieder lesen, alles selber ausfüllen und Briefe

an seine Exfrau, den Lehrer und die Lehrerin schreiben kann. Er merkt sich

mehr, es bleibt also schon was hängen und die Rechtschreibung passt auch

besser. Herr M kann jetzt eine Rechnung anschreiben, die Mehrwertsteuer

und die Prozente ausrechnen, zusammenzählen, wegzählen und dividieren. Er

kennt nun die Formeln:

Beim Lernen schon, weil jetzt kann ich meine Schrift selber wieder lesen, was ich einmal früher nicht können habe. (Herr M, Zeile 71-72)

Und jetzt bin ich so weit, dass ich mir alles selber ausfüllen kann, die ganzen Formulare. Ich kann auch meiner Exfrau schreiben. (Herr M, Zeile 41-43)

Und schreiben tu ich viel auch daheim. Ich schreibe einfach wieder. An den Lehrer schreibe ich einen Brief. Wenn es mir taugt, schreibe ich nieder was ich mir denke, schreibe ich einfach auf ein DIN A4 Blatt. Und an die Lehrerin auch. Meinen Alltagsbrief kriegen sie halt wieder. (Herr M, Zeile 148-152)

Merken tue ich mir auch mehr. Es bleibt schon was hängen. (Herr M, Zeile 75)

796 vgl. Interview Herr M, Zeilennummer 80-84, S. 20, siehe Anhang.

207

[Rechtschreibung-G.G.] Das passt auch, ja. (Herr M, Zeile 142)

Ja ich kann eine Rechnung schreiben, ich kann die Mehrwertsteuer ausrechnen, ich kann zusammenzählen, ich kann wegzählen, ich kann dividieren und das Ganze alles, das kann ich jetzt einwenig. Also auch noch nicht so sicher, aber ich kann es jetzt. Ich weiß die Formel, wie die geht. Das habe ich nicht mehr gekonnt. Ich habe die Formel nicht mehr gewusst. (Herr M, Zeile 115-119)

Das Rechnen, dass ich weiß wie viel dass die Mehrwertsteuer ausmacht. Das habe ich nicht gewusst. Das kann ich mir ausrechnen. Prozente kann ich mir auch ausrechnen und das Ganze alles. (Herr M, Zeile 146-148)

Früher hat Herr M „solche Haxen hingehauen“ und jetzt hat er eine schöne

Schrift.797 Durch die Änderung seiner Handschrift änderte sich auch seine

Vorstellung über sich selbst. Er entwickelte gewissermaßen ein neues Ich, weil

Herr M sich jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, das er das war, wie er vor

einem Jahr geschrieben hat. Er denkt selbst - wie auch seine Freundin - dass

er das gar nicht war, wenn er an sich zurückdenkt:

Wenn ich meine Schrift jetzt anschaue und was ich vor einem Jahr gemacht habe, das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass ich das bin, wie was ich jetzt für Schrift habe. Dass ich mir selber denke, das bin ich gar nicht, wenn ich an mich zurückdenke. Das kann ich gar nicht sein. Meine Freundin sagt auch: „Das gibt es nicht, das bist gar nicht du“, wie ich früher geschrieben habe. Sonst habe ich solche Haxen hingehauen und jetzt habe ich halt eine schöne Schrift. Für mich halt. (Herr M, Zeile 133-139)

Analyse des Interviews mit Frau F798

Lerngründe:

Fast gar nichts schreiben können

Für Frau F stellte der Kursbesuch weder eine berufliche Notwendigkeit dar,

noch gab es dafür private Beweggründe. Wichtig war ihr das Schreiben lernen

selbst, wobei sie von einer gewissen Ambivalenz sprach, weswegen sich ihr

Kursbeginn lange Zeit hinauszögerte:

Ja sicher, weil ich mit dem Schreiben einfach – ich bin wahnsinnig schwach gewesen. Fast gar nichts habe ich schreiben können, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich habe das jahrelang mit mir so mitgezogen. Irgendwie hätte es mir getaugt und irgendwie doch nicht. (Frau F, Zeile 39-42)

797 vgl. Interview Herr M, Zeilennummer 138-139, S. 21, siehe Anhang. 798 Siehe Anhang, Seite 11-18.

208

Vor dem Kursbeginn hatte Frau F einige Hürden zu überwinden. Die Fahrt

zum Kurs stellte sich als ein massives Problem heraus, weil die Distanz von

ihrem Wohnort zum Kursangebot zu groß war und dieses damit, noch ohne

Führerschein, für sie unereichbar blieb:

Und dann habe ich wahnsinnige Probleme gehabt. Ich bin in R.799 daheim. Wo ist das, der nächste Kurs – entweder in H.800- C.801 habe ich nicht gewusst – H. ist mir zu weit, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich werde mich nicht da - den ganzen Tag – ich kann mir das auch nicht so erlauben. Dann habe ich keinen Führerschein noch gehabt dort und ja, ich habe hundert andere Ausreden gehabt. (Frau F, Zeile 42-47)

Als sie von einem etwas näher gelegenen Kursangebot aus der Zeitung

erfuhr, hatte sie inzwischen - mit 38 Jahren - den Führerschein gemacht. Sie

wartete dennoch ein ganzes Jahr, denn sie hatte, wie sie es ausdrückte,

„wahnsinnige Probleme“ damit und „war zu feig“, um sich anzumelden:802

Und dann habe ich es in der Zeitung gelesen, den D.803 Kurs. Den Zettel habe ich mir einmal herausgerissen und habe den durchstudiert. Lesen kann ich Gott sei Dank. Ich habe den immer wieder gelesen und immer wieder, aber irgendwie habe ich mir gedacht: „C.804, na ja“. (Frau F, Zeile 47-51)

Inzwischen habe ich aber den Führerschein gehabt. Ich habe mit 38 Jahren den Führerschein gemacht (Frau F, Zeile 51-52)

Dann habe ich den Zettel in den Küchenkasten hingeworfen und ich muss sagen, er ist ein ganzes Jahr da drinnen gelegen. Immer wieder habe ich ihn mir irgendwann herausgefangen und eines Tages habe ich mir gedacht: „Na ja, probieren kann ich es ja einmal, anrufen kann ich ja. Die kennen mich ja eigentlich noch nicht“. Ich habe wahnsinnige Probleme gehabt mit dem, muss ich sagen. Und dann habe ich die Nummer gewählt, aber ich habe es einfach nicht hineingedrückt. Ich war zu feig, wie man das so schön sagt. (Frau F, Zeile 52-59)

Sehr wichtig in diesem Entscheidungsfindungsprozess war für Frau F ihr

Mann, dem gegenüber sie sich zuerst mit ihren Problemen „outete“. Durch die

ablehnende Haltung ihres Mannes hatte Frau F damals gedacht, den Kurs

nicht zu besuchen, weil das Kursangebot zu weit entfernt lag und sie dann mit

dem Auto auch in der Stadt fahren müsste:

Dann wieder und dann habe ich das meinem Mann erzählt. Ich meine, der hat das nicht alles – er hat schon gewusst, dass ich sehr schwach bin beim Schreiben, aber dass ich fast nichts kann, das hat er die

799 Verschlüsselter Name des Bundeslandes. 800 Verschlüsselter Name der 1. Stadt. 801 Verschlüsselter Name der 2. Stadt. 802 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 57-59, S. 12, siehe Anhang. 803 Verschlüsselter Name der Kurseinrichtung. 804 Verschlüsselter Name der 2. Stadt.

209

ganzen Jahre nicht mitgekriegt, weil ich habe – das ist einfach so gewesen. Und dann sage ich zu ihm, dass da ein Kurs wäre. Dann sagt er gleich: „Nein C. so weit und dies und das“. Na ja und dann bin ich irgendwie wieder hinuntergesackt und habe mir gedacht: „Nein das ist zu weit. Ich muss in der Stadt fahren und ich bin ja nur auf dem Land mit dem Auto unterwegs“. Stadt – da habe ich schon wieder alle Zustände gekriegt. (Frau F, Zeile 59-67)

Motiviert, den Kurs doch zu besuchen, wurde Frau F von ihrer jüngsten

Tochter, die als einziges ihrer drei Kinder von ihren Schwierigkeiten wusste.

Ihre Tochter war Frau F auch gegenüber ihrem Mann eine wertvolle Hilfe:

Meine jüngste Tochter, die ist die einzige, die weiß, dass ich wahnsinnige Schwierigkeiten habe. Meinen anderen zwei habe ich das eigentlich gar nie so gesagt. Und sie sagt dann zu mir: „Weißt du was Mama, du machst den Kurs. Das ist ja doch was Tolles, wenn du dich weiterbildest, usw. Ich bin so stolz auf dich und so“. Und da hat es mir wieder einen Dings gegeben. (Frau F, Zeile 68-72)

Und mein Mann hat dann wieder herumgejammert. Und das Dirndl ist ihn richtig angefaucht, muss ich sagen. Sie hat gesagt: „Sei doch froh, dass die Mama sich weiterbilden will. Und das C. ist ja kein aus der Welt. In einer Stunde ist sie auch draußen. Ob sie jetzt so durch die Gegend fährt oder in den Kurs fährt“. (Frau F, Zeile 72-77)

Nach zwei Wochen bekam Frau F die für sie sehr wichtige Zustimmung

ihres Mannes zur Teilnahme am Kurs. Am nächsten Tag rief sie an und ließ

sich vom Kursleiter einen Plan zuschicken. Als dieser nun von drei Jahren

sprach, überlegte Frau F noch einmal und entschied sich dann entgültig dafür,

sich anzumelden. Bei der Fahrt zum Kurs in die Stadt unterstützte und

begleitete Frau F dann zweimal ihre Freundin:

Die nächsten vierzehn Tage war Stille. Nach zwei Wochen sagt mein Mann dann zu mir: „Hast du dich schon angemeldet“? Eigentlich habe ich eine Bestätigung von meinem Mann einfach noch einmal gebraucht. Und der sagt: „Na du bist komisch. Du meldest dich an“, hat er gesagt „das andere werden wir schon irgendwie kriegen“. (Frau F, Zeile 77-81)

So. Am nächsten Tag habe ich wieder die Nummer gewählt, dann ist der T.805 am Telefon gewesen und dem habe ich gesagt, er soll mir einen Plan schicken, weil ich weiß ja überhaupt nicht, wo das ist. Und dann hat er so geredet von 3 Jahren. Da habe ich mir gedacht: „Oh, 3 Jahre“. Da ist mir wieder einmal alles in die Dings gefallen. Aber ich habe mir gedacht: „Ist Wurst, ich schaue mir das einfach an“. (Frau F, Zeile 81-86)

Ich habe einen Termin ausgemacht. Ich habe dann meine Freundin gefragt, die sehr viel in der Stadt fährt, ob sie mit mir einmal her fährt und sie hat das gemacht. Ja, dann war das erste Gespräch da und wir

805 Verschlüsselter Name des Trainers.

210

haben einfach einen Termin ausgemacht. Das war im Februar, da bin ich dann eingestiegen. Und das zweite Mal ist meine Freundin mit mir gefahren. Ich habe gesagt, wenn ich einen Fehler mache, dann soll sie mir das sagen. Aber es ist eigentlich eh alles gut gegangen. (Frau F, Zeile 86-93)

Das Schreiben lernen, weil das im Leben dazugehört und ganz wichtig ist, um ohne zu schwitzen was ausfüllen zu können, sich nicht verstecken zu brauchen oder zum Dichten anfangen zu müssen

Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, so argumentierte Frau F, das

gehöre im Leben einfach dazu und sei ganz wichtig, auch noch mit 45:

Na ja, weil einfach das im Leben dazu gehört. Das ist ganz wichtig. Wenn einer sagt, sagen wir mit 45: „Pah jetzt brauche ich das nicht mehr, weil meine Zeit ist schon ausgelaufen“, das ist ein Blödsinn. Da hat man ja noch - das ist ja die Hälfte erst von deinem Leben. (Frau F, Zeile 146-149)

Lesen und Rechnen bereiteten Frau F weniger Probleme. Sie will Schreiben

lernen, um ohne zu schwitzen was ausfüllen zu können, sich nicht verstecken

zu brauchen oder zum Dichten anfangen zu müssen:

Na ja Rechnen, Lesen – Lesen muss ich auch noch - vielleicht bei schwierigen Sachen - noch lernen, aber da beim Lesen habe ich weniger Probleme. Das Schreiben wünsche ich mir schon sehr, muss ich sagen, dass ich einfach einmal, wie soll ich sagen, dass ich nicht zum Schwitzen anfange, wenn ich irgendwo was ausfüllen muss. Das ist das Erste schon. (Frau F, Zeile 100-104)

Wenn du schreiben kannst, dann brauchst du dich nicht verstecken, kommt mir vor oder dass du anfängst zu dichten, warum dass dir die Hand weh tut, oder warum dass dir jetzt auf einmal schlecht wird, oder irgendwie. (Frau F, Zeile 104-107)

(Lern-)Erfahrungen:

Zukünftige Lerninteressen – Reiki, Karten legen, Abschalten, Hand auflegen, Buch schreiben

Frau F nützt die Chance besser schreiben zu lernen, weil sie jetzt Reiki-

Kurse besucht und sich darin weiter ausbilden lassen möchte. Ihr Interesse an

dieser Ausbildung ist groß, da sie sehr viel Energie hat. Sie hofft, dass ihr

dafür durch den Kurs „im Kopf auch was hängen geblieben sein“806 wird:

Wünsche hätte ich genug, aber es ist halt noch ein Traum. Ich würde gern – wie soll ich sagen. Ich mache jetzt dann Kurse, Reiki Kurse, weil ich sehr viel Energie habe und da möchte ich mich eigentlich weiter ausbilden lassen. Jetzt mache ich einmal die ersten zwei Grade und nächstes Jahr möchte ich dann den dritten machen. Das ist dann

806 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 179-181, S. 14, siehe Anhang.

211

der Schwerste. Das würde mich sehr interessieren, weil, ja ich meine, Energie habe ich sehr viel, das haben sie mir eigentlich auch schon gesagt, dass ich das habe. Das ist da. (Frau F, Zeile 132-138)

Ich meine nur die Kurse, die ich jetzt mache - den mache ich jetzt auch, weil das ist nur alles mit Energie zum Arbeiten und das geht jetzt nebenbei. Und nächstes Jahr möchte ich dann den dritten Grad machen und bis dorthin wird wohl was - im Kopf auch was hängen geblieben sein. (Frau F, Zeile 177-181)

Und dass ich da, wenn ich fertig bin mit meinem ganzen Kurs, dass mir etwas hängen geblieben ist. (Frau F, Zeile 211-213)

Bei all ihren Ausbildungswünschen, wie Reiki, Karten legen, Abschalten

und Hand auflegen, brachte Frau F immer wieder deutlich zum Ausdruck, dass

vorwiegend Interesse, Spaß und die eigenen Fähigkeiten ihre Antriebfedern

sind. Sie hat sehr konkrete Vorstellungen davon, was sie nach den drei Jahren

Kurs machen will, wenn sie das Schreiben besser kann. Sie wünscht sich, dass

sie ihre Träume bis zu ihrem 50. Geburtstag verwirklichen kann:

Ich tu gerne Karten legen beispielsweise. Da würde ich mich mit dem noch weiter befassen. Ich würde auch gern Kurse machen, beispielsweise ja Karten legen, in die Richtung mich weiter ausbilden lassen. Aber zuerst muss ich halt das Schreiben ein bisserl besser können. Das ist mein Traum. (Frau F, Zeile 138-142)

Weil es sind viele, die das nicht können, einfach ausschalten. Und da möchte ich mich einfach weiter mit dem befassen. Befassen tu ich mich eigentlich eh schon seit 2004, aber es ist halt zuerst der Schritt. Wenn ich das einmal nach 3 Jahren, ich meine halbwegs kann, weil das andere musst du dann eh immer selber wieder dazu lernen, dann werde ich mich weiter befassen. (Frau F, Zeile 172-177)

Ich will das jetzt schaffen, das was ich jetzt vor habe, aber bis zu meinem 50er möchte ich das schon schaffen. Das ich dann einfach – dass das was ich gesagt habe, Karten legen und Hand auflegen, dass macht mir wahnsinnig viel Spaß. Ich will das mit Leuten machen, die Probleme haben. Das würde mich total interessieren. Und wenn ich da noch mal in die Schule gehen muss, wäre mir das auch Wurst. Das würde mir total Spaß machen. (Frau F, Zeile 342-348)

Frau F will schreiben können, damit sie sich eines Tages hinsetzen kann,

um eine Geschichte, ihr Erlebnis aufzuschreiben. Sie meint, dass ihr dann so

viel einfallen würde, dass da ein Buch entstehen könnte. Dieses Bedürfnis

wird immer stärker. Könnte sie richtig schreiben, würde sie Bücher schreiben.

Sie hofft, dass es ihr jetzt, in der zweiten Lebenhälfte, besser ergehen möge:

Ich will das einfach, dass ich mich einmal hinsetzen kann und einfach eine Geschichte für mich, mein Erlebnis aufschreiben kann. Das würde ich sagen, weil mir würden so viele Sachen einfallen, dass da ein Buch zusammenkäme, muss ich ehrlich sagen. Das würde mich interessieren. Und früher habe ich das Bedürfnis eigentlich nicht so

212

gehabt, aber jetzt wird es immer mehr und immer mehr. (Frau F, Zeile 107-112)

Und das ist einfach – darum sage ich, wenn ich richtig schreiben könnte, würde ich Bücher schreiben, weil mich das [Engelkarten legen] einfach so interessiert. Und ich denke mir, jetzt ist meine zweite Hälfte da, vielleicht geht es mir jetzt besser. (Frau F, Zeile 365-368)

Schule

Seit 1½ Jahren ist Frau F bereits im Kurs, der ihr großen Spaß bereitet.

Die Zeit vergeht ihr darin, wie sie freudig erzählte, viel zu schnell:

Und das macht mir wahnsinnig viel Spaß jetzt. Wenn ich denke, dass jetzt schon 1½ Jahre vorbei sind. Hoffentlich verlaufen die nächsten 1 ½ nicht so schnell. (Frau F, Zeile 209-211)

Mir macht das – die Schule einfach total Spaß. (Frau F, Zeile 339-340)

Lernen

Das Schreiben lernen spielt eine sehr große Rolle im Leben von Frau F. Sie

hat dazu eine passende Metapher für sich gefunden:

Ich habe jetzt einen Spruch gelesen und das ist echt sehr interessant gewesen, warum ein Kind das erste Mal, wenn es hinfällt wieder aufsteht und wieder geht. Das muss ja das lernen und das ist so ähnlich beim Schreiben ja auch. Wie oft, dass ich auf die Nase gefallen bin und du musst wieder aufstehen und denkst dir: „So und jetzt gehe ich das nächste Mal“. (Frau F, Zeile 149-154)

Neben dem Schreiben - das ihr im Kurs wichtiger ist, als das Erlernen des

Computers - bezeichnete Frau F als besonders interessant, wenn sie wieder

etwas Neues lernt. Gleichzeitig empfindet sie es aber auch als schwierig,

wieder etwas Neues zu lernen, weil sie dann eine Blockade überwinden muss:

Ja. Es [Computer-G.G.] ist nicht das Wichtigste für mich. Es ist da, aber für mich ist einfach das Wichtige das Schreiben und wenn ich das Schreiben kann, dann glaube ich, dass das auch geht. (Frau F, Zeile 218-220)

Interessant, hm? Ja, dass man wieder irgendetwas Neues lernt, das ist immer interessant. (Frau F, Zeile 236-237)

Ja wenn man wieder etwas Neues lernt, dann ist es für mich wieder – ja dann habe ich eine Blockade, wie man das sagt. Aber wenn ich es dann öfter anschaue und so, nachher geht das auch wieder. (Frau F, Zeile 231-233)

Befragt nach den Bewältigungsstrategien bei Lernschwierigkeiten, erzählte

Frau F von ihren Erkenntnissen und Erfahrungen mit dem Lernen zuhause, im

Speziellen mit dem Lernen für Ansagen, wobei sie ihr enormer Ehrgeiz

optimistisch stimmt, sich das für sie schwierige Hören der Buchstaben künftig

213

auch noch besser anzueignen. Frau F hat neben ihrem Ehrgeiz jetzt auch

genug Energie für das Lernen, um die an sie gestellten Aufgaben bewältigen

zu können:

Ich meine sicher, ich höre das noch nicht so richtig, wenn der T. irgendetwas ansagt, den Buchstaben, das fällt mir noch ziemlich schwer, aber ich werde das schätze ich auch noch hinkriegen. Ich habe einen wahnsinnigen Ehrgeiz derzeit. (Frau F, Zeile 116-119)

Weil ich sitze wirklich lange dabei bei Ansagen zum Lernen, dass ich mir oft denke, früher hätte ich die Energie nicht gehabt und jetzt habe ich sie aber. (Frau F, Zeile 154-156)

Frau F schilderte ihre Mühen beim Lernen für die letzte Ansage, wo sie

zunächst einmal alles hinwarf, weil ihr das Lernen nicht gelingen wollte. Sie

setzte sich mit ruhiger Musik in ihren Garten, um total abzuschalten. Nach

dem Abschalten ging es ihr wieder gut und als sie dann das Lernen wieder

aufnahm, war sie darin erfolgreich:

Na ja, ich sage, du bist nicht immer gleich aufgelegt, sagen wir so. Einmal geht es ein bisserl besser, nachher geht es wieder schlechter. Sagen wir, daheim ist es das Gleiche, wenn du beim Lernen bist. Dann fliegen halt wieder mal die Bücher hinüber, ach geh huit807 weg. Aber das ist einfach so und dann fängst du sie halt wieder her. (Frau F, Zeile 243-247)

Letzte Woche habe ich, vorletzte Woche, weil letzte Woche war der T. nicht da, da haben wir eine Ansage zum Lernen gehabt. Ich habe gelernt und gelernt und da habe ich mir gedacht: „Nein, ich kann das nicht. Das ist ein Wahnsinn“. Und dann, muss ich ehrlich sagen, habe ich das alles einmal hingeschmissen. Das ist das Gute, dass ich das kann. (Frau F, Zeile 156-160)

Ich setze mich dann hin, tu den Kopfhörer auf und tu meine ruhige Musik hinein und dann schalte ich total ab. Das kann ich und das ist das Gute, muss ich dazu sagen. Da bin ich eine Stunde in meinem Garten gesessen und dann habe ich total abgeschaltet. Nach der Stunde ist es mir so gut gegangen. Ich habe mir gedacht, so jetzt probiere ich das und dann habe ich das gekonnt. (Frau F, Zeile 160-165)

Lernen ist etwas, was sich nicht erzwingen lässt, meinte Frau F im

Interview. Sie ist deshalb sehr glücklich über ihre Fähigkeit, total abschalten

zu können, weil ihr hinterher das Lernen viel leichter gelingt:

Es ist einfach so. Du willst oft irgendwas erzwingen und das geht aber nicht. Da sitzt du vielleicht noch zwei Stunden dabei und nachher schreibst du vielleicht noch einmal alles falsch. (Frau F, Zeile 165-168)

Weil ich das kann, und das taugt mir einfach so, da kann ich total ausschalten, dann träume ich einfach irgendwo woanders hin und das

807 Fluggeräusch.

214

ist das Gute. Nach dieser Stunde war ich wieder so fit, da war der Kopf leer, dann ist das wieder gegangen und ich habe das zusammengebracht. Und das ist das Schönste. Da bin ich wieder glücklich, dass ich diese Gabe habe. (Frau F, Zeile 168-172)

Weil ich habe heute den ganzen Vormittag – sagen wir den ganzen Vormittag bin ich allein – da bleibt mein Buch einfach auf dem Tisch liegen. Ich stehe wieder auf, gehe Kochen nebenbei, dann setze ich mich wieder hin und probiere es wieder. Oder ich sauge wieder durch die Gegend und wenn das noch nicht gelingt, dann habe ich eh gesagt, setze ich mich einfach hin und gehe ich in die Tiefe, wie man das sagt, schalte ab und dann, nach dem geht es mir eigentlich immer wieder gut. Da kann ich machen was ich will. Wenn ich mich wirklich nicht wohl fühle mit dem Ganzen und das wirklich nicht in den Kopf hineingeht, da bin ich darauf gekommen, das mache ich einfach und danach geht das viel leichter. Darum taugt mir das einfach, dass ich das kann. Da fühle ich mich so richtig wohl. (Frau F, Zeile 247-257)

Ihren Wunsch nach mehr Ansagen begründete Frau F im Gespräch damit,

dass sie dann daheim, neben der Hausarbeit, wirklich acht Stunden am Tag

lernen muss. Sie berichtete von ihrer Lernstrategie, nach der sie bei der

letzten Ansage vorgegangen war:

Ja weil das einfach – du musst daheim lernen, du sitzt wirklich dabei. Es ist ja nicht, dass ich jetzt eine Stunde lerne und dann kann ich das. Ich sitze wirklich lange dabei. Ich meine jetzt haben wir 18 Zeilen gelernt, das sind 100 Wörter und ich muss ehrlich sagen, am Dienstag war ich im Kurs, am Abend habe ich dann die Aufgabe noch schnell gemacht und dann bin ich Mittwoch und Donnerstag fast den ganzen Tag nur dabei gesessen und habe gelernt. (Frau F, Zeile 385-390)

Schon unterbrochen wieder mal, inzwischen muss ich mal Kochen gehen und dann muss ich wieder mal abschalten und so, aber im Laufe des Tages habe ich hundertprozentig meine 8 Stunden gelernt. Ich meine, ich sage dann schon wieder zu mir selber, denke ich mir: „Mein Gott. Jetzt hast du eine Ansage mit 18 Zeilen, 100 Wörter sind das, du muss da so lernen. Der andere schaut es an, ph und der kann es“. (Frau F, Zeile 391-396)

Frau F empfindet es durchaus als eine „schwere Last“, so viel lernen zu

müssen, aber wenn sie es schließlich kann, dann ist sie sehr stolz auf sich,

weil sie sich wieder etwas gemerkt hat.808 Unterstützt wird sie beim Lernen

von ihrer jüngsten Tochter:

Es ist schon eine schwere Last auch so wieder, aber wenn du das nachher kannst, dann bist du stolz. Total. Und dann denke ich mir, so jetzt hast du das wieder, jetzt haben wir wieder was und das wirst du dir merken. (Frau F, Zeile 396-399)

Weil Mittwoch und Donnerstag habe ich gelernt, Freitag – ich habe mir einfach gesagt, bis Samstag muss ich das können, weil am Sonntag

808 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 396-397, S. 18, siehe Anhang.

215

will ich meine Ruhe haben. Das war es. Und Mittwoch und Donnerstag habe ich gelernt, Freitag habe ich dann meine jüngste Tochter gefragt, ob sie mir das ansagt. Dann habe ich fünf Fehler gemacht. Ich war stolz mit fünf Fehlern. Ich habe mir gedacht: „Passt“. Und Samstag habe ich dann auch wieder weiter, das, die fünf Fehler, die ich da gemacht habe wieder geübt, dann habe ich sie wieder gefragt, ob sie mir ansagt. Passt, angesagt, ein Fehler. „Passt“, habe ich mir gedacht. Am Sonntag habe ich dann nichts gemacht. (Frau F, Zeile 399-408)

Am Montag habe ich es mir noch einmal angeschaut und am Montag am Abend hat dann der T. angerufen, dass er krank ist. Da habe ich mir gedacht: „Na ja ist eh Wurst. Kann man nichts machen. Jetzt habe ich so gelernt“. Und dann habe ich mir gedacht: „Nein“. Am Dienstag bin ich dann Rad fahren gegangen. Ich habe die ganze Woche nichts mehr gemacht, muss ich auch dazu sagen. Und jetzt am Montag habe ich mir gedacht: „So und jetzt muss ich es mir anschauen, weil ich wäre nur neugierig, was mir eigentlich hängen geblieben ist“. Na ja ich habe schon wieder ein paar Fehler hinein gemacht, aber zum großen Teil habe ich mir das endlich gemerkt. Und ich muss sagen, ich war sehr stolz auf mich selber. (Frau F, Zeile 408-417)

Kursleiter und Kollegen

Hilfreich beim Lernen ist Frau F vor allem Ruhe, frische Luft und Wasser.

Am Kursleiter schätzt sie sehr, dass er Ruhe ausstahlt, genau erklärt und die

Inhalte, die nicht gleich verstanden wurden, noch einmal erklärt. Er geht auch

auf die von der Gruppe geäußerten Bedürfnisse ein:

Die Ruhe, frische Luft und ein Glas Wasser - und einen Kursleiter, der Ruhe ausstrahlt. Das ist er eh, der T., muss ich sagen. Er ist sehr ruhig, er erklärt genau und wenn einer das nicht so schnell begreift, erklärt er es noch einmal. Das ist das Wichtigste. (Frau F, Zeile 224-227)

Ja das sagen wir meistens eh, wenn wir was haben wollen. Zum Beispiel jetzt haben wir gesagt, wir wollen mehr Ansagen haben, aber da waren alle einverstanden draußen, dass wir daheim lernen können und dass er uns dann das ansagt. Das war unser Bedürfnis eigentlich. Er ist auf uns eh eingegangen. Er hat das eh gemacht. (Frau F, Zeile 378-382)

Für Frau F ist das Wichtigste im Kurs, dass ihre Kollegen gleich sind so wie

sie selbst und ebenfalls beim Schreiben noch Fehler machen. Könnten diese

schon super schreiben, würde sie sich hinuntergesetzt und verloren fühlen:

Ja, dass auch meine Kollegen, dass das alles passt, muss ich sagen. Und das Beste ist, dass sie so sind wie ich. Wenn einer vielleicht gescheiter wäre wie ich, dann hätte ich vielleicht eh schon wieder ein großes Problem mit mir. Weil dann hätte ich vielleicht ein bisserl ein Problem mit – dann würde ich mich irgendwie hinuntergesetzt fühlen und zusammen mit denen lernen würde ich vielleicht – nein das passt so, weil jeder so ist wie ich und das passt genau. Ich bin gemein aber - es ist so. (Frau F, Zeile 187-193)

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Das ist das Wichtigste, weil wenn ich jetzt irgendwen kriege, der einfach super schreiben kann schon und alles, dann würde ich mich irgendwie verloren fühlen. Und so macht auch einer – der andere macht drei Fehler, der andere zwei Fehler, der andere hat ein Glück gehabt, der hat einmal keinen Fehler, aber die sind gleich so wie ich und das gefällt mir. (Frau F, Zeile 196-200)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird

Mit der zunächst angstbesetzten Fahrt zum Kurs in die Stadt hat sich der

Lebensraum von Frau F auf angenehme Weise erweitert:

Beim dritten Mal bin ich dann selber hergefahren. Geschwitzt habe ich sehr viel, aber ich bin hergekommen. Und seit dem geht es mir eigentlich recht gut in der Stadt. Ich bin auch so schon durch die Gegend gefahren. Mir taugt es voll, muss ich sagen. (Frau F, Zeile 93-96)

Und dann habe ich das, dass ich da heraus fahren kann. (Frau F, Zeile 339)

Frau F erzählte, dass sie nun schon mehr schreiben kann und es jetzt gar

nicht mehr so schwer findet. Die Zusammenschreibung oder auseinander, die

Bedeutung der Hauptwörter und Tunwörter, das ABC und das Hören der

Buchstaben, das alles hat sie bereits im Kurs gelernt. Insgesamt fühlt sich

Frau F viel wohler. Sie hat, wie sie erwähnte, an Selbstvertrauen gewonnen,

wurde selbständiger und traut sich nun mehr:

Und wenn ich irgendwo hingehe, dann denke ich mir eigentlich ist das gar nicht so schwer, weil zum großen Teil ist das entweder zusammengeschrieben oder auseinander. (Frau F, Zeile 112-115)

Und einfach, dass ich schon ein bisserl was höre, sagen wir, wenn man was sagt. (Frau F, Zeile 208-209)

Das Hauptwort und die Tunwörter, das habe ich alles eigentlich da herinnen gelernt, muss ich sagen, was das bedeutet. (Frau F, Zeile 115-116)

Das ABC habe ich auch nicht können und das kann ich jetzt auch perfekt und gewisse Sachen einfach, was Hauptwörter sind, was Tunwörter sind und so auch einfach. Ja ich fühle mich viel wohler jetzt. (Frau F, Zeile 213-215)

Ja, dass ich mehr Selbstvertrauen habe und dass ich ein bisserl mehr schreiben kann, weil wie ich hergekommen bin, da war das ehrlich gesagt, ja das kannst vergessen, das was ich schreiben habe können. (Frau F, Zeile 206-208)

Ja sicher, weil ich ein bisserl selbständiger geworden bin. Ich traue mir mehr. (Frau F, Zeile 338)

Lesen und Schreiben sind bei Frau F in ihre Interessensgebiete einge-

bunden: den Engelkarten, Briefen und Büchern, z.B. über Krafttiere. Schwere

217

Wörter schlägt Frau F im Wörterbuch nach oder informiert sich bei ihrer

jüngsten Tochter darüber, was diese bedeuten. Früher hätte sie das nicht

gemacht. Jetzt tut sie viel mehr zuhause, hat mehr Ehrgeiz und mehr Pläne:

Im Alltag. Ja lesen tu ich sehr viel von - was ich jetzt gerade lese. Mit Engelkarten, Briefe, da befasse ich mich sehr viel. Mit Karten, da habe ich wahnsinnig viele Bücher daheim, mit Krafttieren. Und da lese ich halt sehr viel. Mich interessiert das sehr. Früher habe ich Romane gelesen, so richtige Schnulzen, dass ich dagesessen bin und geweint habe und jetzt interessieren mich die – ja das interessiert mich einfach so viel. (Frau F, Zeile 352-357)

Schreiben tu ich eigentlich auch viel mit - wenn ich Engelkarten lege beispielsweise und dann schreibe ich das auf was herausgekommen ist und was vorher gewesen ist. (Frau F, Zeile 363-365)

Und die ganz schweren Wörter, die ich nicht weiß was das eigentlich heißen soll, die suche ich mir alle vom Wörterbuch heraus oder lasse sie mir von meiner jüngsten Tochter erklären, was das ist. Und das, ja das taugt mir total muss ich sagen. (Frau F, Zeile 357-360)

Und ich tu daheim viel mehr jetzt. Wenn ich was lese, dann lege ich es weg und will ich nachschauen. Das hätte ich früher nie gemacht. Einfach mehr Ehrgeiz und ich habe einfach mehr Pläne. (Frau F, Zeile 340-342)

Analyse des Interviews mit Herrn E809

Lerngründe:

Handikap Schreiben

Herr E war im vorhergehenden Beruf erfolgreich, da bei seiner Tätigkeit

als Betriebsschlosser sein handwerkliches Geschick und nicht das Schreiben

im Vordergrund stand. Als seine Firma aber geschlossen wurde, machte ihm

die Umschulung in der Stiftung das Handikap mit dem Schreiben bewusst.

Nach einer ergebnislosen Suche - es gab damals noch keine Angebote - wurde

einmal im Fernsehen über das Thema berichtet und Herr E stieg gleich in die

Grundbildung ein:

In meinem vorhergehenden Beruf an sich war es nicht so relevant, also da war eher das Handwerkliche gefragt. Und eben dann, durch die Umschulung in der Stiftung, ist mir das Handikap mit dem Schreiben bewusst geworden. (Herr E, Zeile 51-53)

Da hat es auf einmal eine Stiftung gegeben, die Möglichkeit zur Umschulung. Ich habe mir dann gedacht: „Na ja probierst du es halt, obwohl mit einem Handikap das Ganze sicher nicht einfach sein wird“. (Herr E, Zeile 28-31)

809 Siehe Anhang, Seite 6-10.

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Ich habe dann zu suchen angefangen, habe aber eigentlich nichts gefunden in dem Bereich. Also es ist auch nichts angeboten worden. In einer Fernsehsendung war da einmal ein Thema. Ich habe angerufen, habe mich auch dementsprechend informiert und bin gleich in die Grundbildung eingestiegen. (Herr E, Zeile 54-58)

Aus seinen Antworten lässt sich die existenzielle Bedeutung erahnen, die

das Schreiben für ihn jetzt - im Gegensatz zur Schulzeit - hat:

Und dazumal war es mir auch nicht bewusst, wie wichtig dass das ist. Aber jetzt merke ich das schon, dass das das Um und Auf ist in unserer heutigen Gesellschaft, weil sonst kannst du kaum existieren. Ich meine, existieren schon, aber nicht auf einem gewissen Standard. (Herr E, Zeile 179-182)

Herr E ergänzte, wie die ausschließlich mündliche Kommunikation sich auf

seine Freundschaften und Bekanntschaften ausgewirkt hat, wenn aus der

Ferne Briefe und Karten ankamen „(…) und selber bist du eigentlich nicht der

Mensch, der was schreibt“.810 Er schilderte:

Ich habe das so in den Jahren gemerkt, es lösen sich dann viele Freundschaften und Bekanntschaften, weil man nur mündlich kommuniziert, aber die einen sind dort und die anderen sind dort und dann kommen halt die ersten Briefe oder Karten und selber bist du eigentlich nicht der Mensch, der was schreibt. Es wird halt dann immer weniger und die Kontakte brechen früher oder später ab. Das hat mich auch oft betroffen gemacht, weil das zum Teil sehr intensive Bekanntschaften waren und dann hat sich das auf einmal einfach aufgelöst und natürlich von meiner Seite her war so etwas nicht. (Herr E, Zeile 182-190)

Schreiben für die Arbeit, den beruflichen Aufstieg und die Weiterentwicklung.

Besser Schreiben lernt Herr E spezifisch für seine Arbeit, für seinen

beruflichen Aufstieg und für die Weiterentwicklung, da die Beherrschung einer

„dementsprechende(n) Rechtschreibung“ in seinem Bereich vorausgesetzt

wird.811 In Zukunft wäre für ihn der Aufstieg zum Abteilungsleiter oder

Bereichsleiter möglicherweise noch interessant, obwohl Herr E diese Angebote

bisher - wegen des Handikaps mit dem Schreiben –abgelehnt hat:

Aber der Ausschlag war eher so in dem Bereich wo ich jetzt arbeite, wo es auch eine gewisse Voraussetzung sein sollte oder sein muss, dass man eine dementsprechende Rechtschreibung unter Anführungs-zeichen beherrscht. (Herr E, Zeile 58-61)

Also so spezifisch für meinen Beruf, jetzt auch einfach für die Weiterentwicklung. (Herr E, Zeile 65-66)

810 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 186, S. 9, siehe Anhang. 811 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 58-61, S. 7, siehe Anhang.

219

Und auch so in Zukunft, denke ich, wo halt im Bereich immer die Möglichkeit vom Aufstieg besteht, was nicht mehr unbedingt so relevant ist, aber vielleicht noch interessant wäre, dass du Abteilungsleiter oder Bereichsleiter wirst, zumindest was mir immer wieder angeboten worden ist. Auch jetzt wieder, wo mein Vorgesetzter in Karenz geht und mir nahe gelegt hat, ich soll die Vertretung übernehmen. Und natürlich unter Anführungszeichen mit dem Handikap ist es nicht so einfach, jetzt speziell: Viele Protokolle schreiben, Berichte schreiben und so Sachen, wo ich mir schon noch schwer tue unter Anführungszeichen, das zu formulieren und zu schreiben und auch dann vorzutragen in einem Plenum oder sonst irgendwo einfach zu diskutieren und was vorzubringen. (Herr E, Zeile 71-82)

Herr E nannte im Interview auch wichtige allgemeine Vorteile, die das

Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens mit sich bringt:

Warum? Na ja, weil es an sich ja die Grundvoraussetzung ist, dass man sich in unserer heutigen Gesellschaft weiterentwickeln kann, dass man nicht irgendwie abrutscht in die Armut. Und auch sonst denke ich, ist es ganz wichtig, wenn man eine Familie mit Kindern hat, dass man eben die gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen kann. (Herr E, Zeile 86-90)

(Lern-)Erfahrungen:

Zukünftige Lerninteressen – Verbessern, Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Sicherheit, auch in der Öffentlichkeit

Herr E konnte durch die Unterstützung vom Kurs die Ausbildung zum

Altenfachbetreuer abschließen. Er will nun in Zukunft nicht wieder etwas

Neues lernen, sondern seine Fähigkeiten im Schreiben verbessern und mehr

Selbstsicherheit sowie größeres Selbstbewusstsein erlangen. Im Kurs fällt ihm

das Schreiben leicht, aber unter fremden Menschen oder in der Öffentlichkeit

ist es für ihn, wie wenn dann das Gehirn total abschaltet und ihm das Denken

unmöglich macht. Er will im Kurs mehr Selbstvertrauen und mehr Sicherheit

gewinnen und seine Schwierigkeiten mit dem Schreiben in der Öffentlichkeit

besser in den Griff bekommen:

Na ja als Nächstes - ich meine jetzt rückblickend war eben die AFB einmal ganz wichtig. Jetzt in die Zukunft gesehen, so konkret an sich eigentlich nicht. Einfach nur verbessern, einfach mehr Selbstsicherheit, mehr Selbstbewusstsein, also auch in der Öffentlichkeit. Ich meine, so jetzt im Kurs tue ich mir leicht mit dem Schreiben, aber sobald du unter fremde Menschen bist oder in der Öffentlichkeit bist, dann schleichen sich die alten Fehler immer wieder ein, kommt das alte Muster hervor. (Herr E, Zeile 228-234)

Das ich da mehr Selbstvertrauen auch kriege, mehr Sicherheit einfach. Wenn du wirklich einmal rausgehen musst und da irgendwo auf ein Plakat was schreiben musst, das ist irgendwie, wie wenn das Gehirn

220

total abschaltet, so ist das dann für mich. Da kann ich dann überhaupt nicht denken. Das läuft dann irgendwie so unterbewusst ab, wenn ich das tue. Das muss ich noch besser in Griff kriegen. (Herr E, Zeile 234-239)

Ein zentraler Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit wird in Zukunft die

Dokumentation am Computer sein, weswegen Herr E sich künftig auch damit

mehr beschäftigen muss:

Ja gezwungenermaßen habe ich mich damit auseinander gesetzt, weil beruflich jetzt so der nächste Schritt ist, dass die ganze Dokumentation auf Computer ablaufen wird. Bis jetzt ist es noch nicht so. Wir haben ein Dienstbuch. In Zukunft muss ich mich da mehr engagieren. (Herr E, Zeile 217-220)

Thema Alphabetisierung und Angebote

Befragt, was im Kurs für ihn besonders schwierig sei, kam Herr E auf den

relativen Aufwand zu sprechen, der ihm durch die Fahrten zum Kurs entsteht.

Er kann wegen der weiten Fahrtstrecke und den Turnusdiensten in seinem

Arbeitsbereich den Kurs nicht regelmäßig besuchen:

Schwierig. Wenn ich jetzt Bezug nehme auf das, dass mir das ein relativer Aufwand ist immer daherzukommen, zum Beispiel. (Herr E, Zeile 144-145)

Ich fahre einmal die Woche runter. Und auch nicht immer regelmäßig, weil ich fahre doch - also eine Strecke sind circa 90 km. Es ist auch dienstlich nicht immer einfach, dass ich mir da freihalte, weil wir Turnusdienste haben. Ich versuche es halt, dass ich so oft wie möglich runterkomme. (Herr E, Zeile 44-47)

Sein weiter Anfahrtsweg entsteht wegen dem sehr geringen, nur auf die

Landeshauptstädte konzentrierten, Angebot, welches dadurch, wie Herr E

anmerkt, für viele Menschen ohne Führerschein unerreichbar bleibt:

Das Angebot ist sehr gering, weil es das an sich nur in den Landeshauptstädten gibt und für viele also auch kein Zugang ist, weil ja unter Anführungszeichen auch viele nicht den Führerschein haben, wegen der Rechtschreibschwäche, wo sich viele nicht getraut haben, dass sie den machen. (Herr E, Zeile 145-149)

Herrn E sind zwei Themen wichtig: Das Thema Alphabetisierung sollte,

seiner Meinung nach, mehr öffentlich gemacht werden. Wichtig ist ihm ferner,

dass künftig auch in den Regionen bessere Zukunftsmöglichkeiten vorhanden

sind. Er geht davon aus, dass es bei einer stärkeren Sensibilisierung der

Öffentlichkeit vielen Menschen leichter fallen würde, in der Heimatregion ein

Kursangebot zu besuchen, weil es dann nicht mehr so problematisch wäre,

wenn die eigene Anonymität verloren geht:

221

Ja, das was mir wichtig ist: Ich meine, dass das Thema mehr öffentlich gemacht gehört und dass es auch bessere Zukunftsmöglichkeiten geben sollte, zum Beispiel auch in den Regionen draußen. (Herr E, Zeile 246-248)

Obwohl das immer wieder schwierig ist, weil doch die Anonymität verloren geht, die für die meisten, also zumindest für den Großteil äußerst wichtig ist. Und natürlich in der Heimatregion ist es dann schwierig, wenn da unter Anführungszeichen Alphabetisierung angeboten wird. Da geht man dann wahrscheinlich nicht hin, weil da könnte vielleicht doch der Nachbar oder irgendein Bekannter dabei sitzen und dann - ja. (Herr E, Zeile 248-254)

Wenn die Öffentlichkeit mehr sensibilisiert würde dafür, dann würde das vielleicht ein bisserl anders ausschauen, glaube ich halt. Weil früher bei Themen wie Homosexualität oder Aids oder sonst irgendwas - das ist genauso irgendwie so ein stigmatisiertes Thema, also von daher. (Herr E, Zeile 254-257)

Lernen

Sehr wichtig ist Herrn E, dass er im Kurs die Chance erhält, sich weiterzu-

entwickeln. Ebenfalls sehr wichtig sind ihm die Möglichkeit zur Eigenaktivität,

zur verstärkten Auseinandersetzung mit vorbereiteten Themenbereichen und

zu inhaltlichen Mitgestaltung:

Für mich persönlich einmal, dass ich mich halt einfach weiterentwickeln kann, dass man Themen einbringen kann und dass man sich dann verstärkt damit befasst. Sie bereiten irgendwelche Unterlagen vor und dass man dann in dem Bereich auch etwas macht. (Herr E, Zeile 93-96)

Bestehende Probleme mit dem Schreiben brachte Herr E in Zusammen-

hang mit seinem Beruf, der Fahrt zum Kurs und der Arbeit zuhause, die

seinen Ehrgeiz und seine Motivation schmälern, daheim noch was zu tun. Zum

Kurs runterzufahren ist ihm wichtig. Das Lernen dort ist, seiner Erfahrung

nach, aber zu wenig, da erst durch ständiges Wiederholen und Aufarbeiten die

Inhalte einsickern und hängen bleiben, was somit nicht immer der Fall ist:

Dass natürlich schon noch immer gewisse Defizite vorhanden sind, das werde ich nicht abstreiten. Das liegt aber dann zum Teil am Ehrgeiz auch wieder, weil Beruf und zum Kurs runterfahren und auch daheim gibt es Arbeit und so Sachen. Es ist halt dann nicht immer die Motivation da, also daheim, dass man dann noch was tut. (Herr E, Zeile 111-115)

Von daher ist es mir eben wichtig, dass ich runterkomme und dass ich mich dann auch motivieren kann zu den drei Einheiten, die wir hier sind. Aber im Prinzip ist es zu wenig, dass die Sachen einsickern einmal, dass du sicher immer wiederholen sollst, aufarbeiten sollst, dass auch einiges hängen bleibt, was nicht immer der Fall ist. (Herr E, Zeile 115-119)

222

Hilfreich beim Lernen im Kurs ist Herrn E, wenn er versteht, warum ein

Wort so geschrieben wird. Schwieriger als das Verstehen ist für ihn aber das

Behalten. Dafür müssen, seiner Überzeugung nach, spezifische Techniken

entwickelt werden, damit nicht immer nachgesehen werden muss, warum das

Wort so geschrieben wird, sondern dass das automatisch abläuft. Was für

andere selbstverständlich ist, beispielsweise was es für ein Wort ist und wie es

geschrieben wird, muss Herr E beim Schreiben oft überlegen:

Auch das Verständnis dann, dass ich verstehe, warum ist das eigentlich so, warum schreibt man das so. (Herr E, Zeile 127-128)

Beim Lernen. Ja so der Zugang, das Verstehen ist da, aber das Behalten dann im Kopf, das ist immer das Schwierige. Man muss spezifische Techniken entwickeln, dass man das auch dann behält, dass man nicht immer wieder nachschauen muss, warum man das so schreibt, sondern, dass das irgendwie automatisch wäre. (Herr E, Zeile 154-158)

Die Zeitwörter, Hauptwörter, Eigenschaftswörter, wenn du die schreibst und du musst immer überlegen: Ist das ein Zeitwort oder ist das ein Eigenschaftswort oder so? Das was für den anderen selbstverständlich ist, muss ich dann oft überlegen: Was ist es jetzt eigentlich für ein Wort? Schreibe ich es klein oder groß? (Herr E, Zeile 158-162)

Trainer und Gruppe

Hilfreich beim Lernen sind für Herrn E vor allem die Trainer, die Art der

Vermittlung und die Methoden. Wesentlich ist, aus seiner Erfahrung, ebenso

eine funktionierende Gruppe, in der die Teilnehmenden gut zusammenpassen,

ohne dass es Spannungen gibt:

Ja, ich meine die Trainer, das ist das Um und Auf, wie die das vermitteln, wie die das rüberbringen und mit was für Methoden das angegangen wird. (Herr E, Zeile 125-127)

Wichtig ist einmal, dass die Gruppe funktioniert. Es sind unruhige Leute drinnen gewesen, die natürlich das Gefüge eher gestört haben, wo das dann nicht so gut funktioniert hat. (Herr E, Zeile 123-125)

Ja schwierig so vom Kurs her selber? Na eben wie ich schon erwähnt habe, wenn jetzt da Teilnehmer sind, die nicht unbedingt in die Gruppe gut hineinpassen oder dass es Spannungen gibt. (Herr E, Zeile 149-151)

Große Bedeutung hat für Herrn E die Gruppe. Am wichtigsten sind ihm da

die Zusammengehörigkeit der Kursteilnehmenden, „(…) weil wir gleich gesinnt

sind“812 und der gemeinsame Austausch, wie es anderen mit dem Handikap

812 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 96-97, S. 7, siehe Anhang.

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geht. Sich auszutauschen ist nur im Kurs möglich, weil es das Thema in der

allgemeinen Gesellschaft dem Anschein nach nicht gibt. Ganz wichtig ist ihm

außerdem, dass man sich durch die Gruppe nicht alleine gelassen fühlt. Er

erwähnt zusätzlich die verschiedenen Leistungsgruppen für Teilnehmende mit

unterschiedlichen Handikaps im Kursangebot, in welchen, wie er betont, ein

gutes Klima zwischen den Teilnehmern und Trainern besteht:

Einfach auch die Zusammengehörigkeit, weil wir gleich gesinnt sind. Natürlich auch mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, also Handikaps, was gruppenspezifisch gelöst wird, wo es dann verschiedene Gruppen gibt, Leistungsgruppen, wo ein gutes Klima mit den Teilnehmern und den Trainern herrscht. (Herr E, Zeile 96-100)

Der Austausch einfach auch, weil so kann man in der allgemeinen Gesellschaft - hast du eh schon gesagt, dass es eben kein Thema nicht ist, weil es das anscheinend nicht gibt. Und von daher kann man sich da auch gut austauschen, wie es wem anderen geht zum Beispiel, mit dem. (Herr E, Zeile 100-104)

Das ist eigentlich ganz wichtig, dass man sich nicht alleine fühlt, also alleine gelassen. (Herr E, Zeile 104-105)

Interessant sind für Herrn E alle Menschen, die am Kurs teilnehmen. Er

hat viele Leute schon kennen gelernt – vom selbständigen Unternehmer bis

zum Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger - und dabei festgestellt, dass alle

Schichten betroffen sind, nicht nur die sozial Schwachen:

Interessant? Interessant sind alle Menschen, die in den Kurs kommen, aus den verschiedensten Richtungen, was man eigentlich gar nicht glaubt. (Herr E, Zeile 132-133)

Ich meine, ich habe relativ viele Leute schon kennen gelernt, angefangen von Unternehmern, die 20 Leute unter sich haben, die selbständig sind, bis eben zum Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfänger. Die Palette ist riesig. Das ist natürlich schon spannend, in was für Bereiche, dass sich das eigentlich abspielt. (Herr E, Zeile 133-138)

Ich habe mir gedacht, das sind Leute, die eher aus sozial schwachen Familien herauskommen oder die eben nicht die dementsprechende Förderung gehabt haben. Es betrifft eigentlich unter Anführungszeichen alle Schichten, nicht nur die sozial Schwachen. (Herr E, Zeile 138-141)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird

Seit dem Kursbeginn hat Herr E bei sich eine Entwicklung bemerkt. Es

haben sich bestimmte Bereiche verbessert. Er verfügt nun über mehr Selbst-

sicherheit, Selbstvertrauen und Selbstachtung und fühlt sich jetzt auch, durch

die anderen Teilnehmer, nicht mehr alleine gelassen:

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Ich persönlich habe schon gemerkt, dass ich eine gewisse Entwicklung mitgemacht habe, also dass sich gewisse Bereiche einfach verbessert haben. (Herr E, Zeile 109-110)

Also schon etwas. Zumindest eine gewisse Selbstsicherheit entwickelt man schon, ein bisserl mehr Selbstvertrauen auch. Man fühlt sich nicht alleine gelassen, so auf die Art, eben durch die anderen Teilnehmer. Und ja, vielleicht ein bisserl mehr Selbstachtung oder so. (Herr E, Zeile 194-197)

Ganz wichtig war ihm die Aufschulung zum Altenfachbetreuer, die er vor

zwei Jahren absolvierte und bei der ihm der Kurs sehr viel gebracht hat:

Ich habe dann die Aufschulung zum Pflegehelfer gemacht und jetzt, also vor zwei Jahren, durch die Unterstützung da vom Grundkurs, habe ich eben die Aufschulung zum AFB, also zum Altenfachbetreuer, gemacht. (Herr E, Zeile 35-38)

Wie ich die Aufschulung zum AFB gemacht habe, eh durch die Unterstützung da vom Kurs, also jetzt in der Begleitung von der Projektarbeit, die ich machen habe müssen, diese zu überprüfen und um weiterzukommen, korrigieren und so. Wo man auf Sachen dann darauf aufmerksam gemacht wird, was vielleicht ein bisserl besser passt, besser formuliert wäre oder so. Und da hat mir das schon sehr viel gebracht. (Herr E, Zeile 66-71)

Herr E erzählte, dass er vorwiegend in seiner Arbeit schreibt, weil dort

eine Dokumentationspflicht besteht. Beim Protokoll schreiben ist schon noch

eine gewisse Angst vorhanden. Dieser Angst begegnet er, indem er sich dann

Notizen macht, diese zuhause besser ausarbeitet und zur Sicherheit vielleicht

noch kontrollieren läßt. Briefe schreibt er keine, da sein Bekanntenkreis relativ

klein geworden ist. Karten hingegen schon, wobei Herr E versucht, nicht nur

„alles Liebe“ zu schreiben, sondern auch ein paar Sätze zu formulieren:

Ja das ist alles spezifisch bezogen auf meine Arbeit, eben weil dann da eine gewisse Dokumentationspflicht ist, also was so passiert im Laufe des Tages, vom Ablauf her. (Herr E, Zeile 201-203)

Es sind dann immer wieder auch bei Teambesprechungen Protokolle zum Schreiben, was halt so alphabetisch abläuft. Da ist man halt dran und dann muss man das Protokoll schreiben, wo natürlich schon auch noch eine gewisse Angst vorhanden ist. Da macht man sich halt irgendwie so Notizen und arbeitet das daheim nachher ein wenig besser aus und vielleicht lässt man es dann noch kontrollieren, zur Sicherheit. (Herr E, Zeile 203-208)

Ja, aber Briefe schreibe ich in dem Sinne nicht, da der Bekanntenkreis relativ klein geworden ist. Karten schon, so Weihnachtsgrüße, Geburtstagsgrüße und so Sachen. Ich versuche dann schon ein paar Sätze zu formulieren und so, dass nicht nur „alles Liebe“ da steht, sondern auch ein bisserl mehr. (Herr E, Zeile 211-214)

225

Einige Gemeinsamkeiten und Besonderheiten:

Von den beiden Interviewpartnern, Herrn E und Herrn M, wurden bei der

Entscheidung für den Kurs keine anderen Personen einbezogen. Für Frau F

hingegen war die Bestätigung ihres Mannes zu Beginn sehr wichtig, um ihre

Furcht vor der Kursanmeldung zu überwinden. Trotz der Hürden aufgrund der

weiten Fahrtstrecke und des zunächst fehlenden Führerscheins sowie der

anfänglich vorhandenen Bedenken und ablehnenden Haltung ihres Mannes,

überwog bei Frau F die Unterstützung aus dem Familien- und Freundeskreis,

die ihr den Kursbesuch schließlich ermöglichte. Frau F ist die Einzige, die im

Interview erzählte, dass sie von anderen (Mann, jüngste Tochter, Kursleiter,

Freundin) bei der Anmeldung unterstützt wurde und die die Hilfe der Tochter

beim Lernen auch weiterhin nutzt.

Die weite Fahrtstrecke haben im Interview zwei Personen angesprochen,

wobei sie für Herrn E, zusätzlich zu seiner Arbeit zuhause und im Beruf, einen

relativen Aufwand bedeutet. Er fügte hinzu, dass die Angebote sehr gering

und nur in den Landeshauptstädten vorhanden sind, weswegen viele Personen

ohne Führerschein keinen Zugang haben. Für Frau F stellt das Fahren zum

Kurs in die Stadt, nach anfänglicher Besorgnis, dagegen eine willkommene

Erweiterung ihrer Handlungskompetenz und ihres Lebensraumes dar.

Schwierigkeiten mit dem Schreiben erwähnten alle drei Teilnehmenden,

wobei auch das Rechnen einem Interviewpartner große Probleme bereitete,

jedoch konnten alle Befragten vor Beginn des Kurses bereits ausreichend

Lesen.813 Die persönlichen Wünsche und Interessen, die die Teilnehmenden

durch das Auffrischen des Schreibens bzw. Rechnens im eigenen Leben

verwirklichen wollen, sind naturgemäß vielfältig. Die vorwiegend genannten

Motive waren: Die selbständige Bewältigung schriftlicher und rechnerischer

Anforderungen im Alltag, die für Herrn M nach seiner Scheidung notwendig

wurde; für Herrn E ist das Schreiben die Voraussetzung für den Beruf, den

beruflichen Aufstieg und die persönliche Weiterentwicklung sowie die

Bedingung, um auf einem gewissen Standard existieren und persönliche

Kontakte aufrechterhalten zu können; Frau F wünscht sich das Schreiben, um

ohne zu schwitzen etwas ausfüllen zu können, um sich nicht verstecken und

813 Damit bestätigt sich die Beobachtung von Marion Döbert und Peter Hubertus, dass die Zahl der Erwachsenen, die Lesen können, jedoch nicht ausreichend Schreiben, größer sei, als die Zahl der Erwachsenen, die Probleme mit dem Lesen und dem Schreiben haben. Bei aller nötigen Aufmerksamkeit auf die Leseförderung in der Schulbildung, sollte demzufolge die Förderung des Schreibens in Zukunft vorrangig sein.

226

zum Dichten anfangen zu müssen und sich individuelle Lerninteressen und

Wünsche (Reiki, Karten legen, Abschalten, Handauflegen, Bücher schreiben)

erfüllen zu können. Die Teilnehmenden erwarten sich von den Trainerinnen

und Trainern im Kurs, dass sie bei der Erreichung ihrer Wünsche, Interessen

und Bedürfnisse wesentlich unterstützt werden.

Für die befragten Personen ist es von großer Bedeutung, in einer Gruppe

von Gleichen bzw. Gleichgesinnten zu sein. Im Kurs sind die anderen im

Schreiben auch nicht besser und machen ebenso Fehler, meinten dazu Frau F

und Herr M. Man kann sich im Kurs austauschen, was in der allgemeinen

Gesellschaft nicht möglich wäre und man fühlt sich nicht mehr alleine

gelassen, argumentierte Herr E. Für ihn ist die Zusammengehörigkeit in einer

funktionierenden Gruppe wichtig. Obendrein erlebt er es als sehr spannend,

im Kurs neue Leute aus den unterschiedlichsten sozialen Kontexten kennen zu

lernen - wohl auch deshalb, weil, wie er sagte, sein Bekanntenkreis durch das

Handikap relativ klein geworden ist.

Die Trainer und ihre Art der Vermittlung bezeichnete Herr E als das Um

und Auf, um im Kurs gut lernen zu können. Die Lehrpersonen sind für Herrn M

angenehm, faszinierend, aufbauend und vermitteln ihm ein gutes Gefühl im

Kurs. Dass sie ihm wohlgesonnen sind, ist ihm wahrscheinlich auch deswegen

besonders wichtig, weil er bei seinem Lehrer in der Schulzeit das Gegenteil

erlebt hat. Wesentlich bei der Vermittlung durch den Kursleiter ist für Frau F

eine ruhige Atmosphäre, genaue Erklärungen, Wiederholungen und dass auf

die Bedürfnisse der Gruppe (Ansagen) eingegangen wird.

Sehr bedeutsam für alle drei Teilnehmenden ist das Behalten, dass, wie es

mehrmals in ähnlicher Weise formuliert wurde, auch was hängen bleibt. Sie

lernen, je nach verfügbarer Zeit und Energie sowie vorhandenem Ehrgeiz,

deshalb auch zuhause weiter. Frau F erzählte beispielsweise von ihrem

stundenlangen Lernen für die letzte Ansage und ihrem Stolz auf sich selbst,

wenn sie das Gelernte dann kann, weil sie sich wieder etwas gemerkt hat.

Alle drei Personen konnten sich im Kurs weitere Kenntnisse im Schreiben

und Rechnen aneignen und zugleich in ihrem Leben einiges verändern. Herrn

E war es durch die Kurs-Unterstützung möglich, Altenfachbetreuer zu werden.

Er hat jetzt mehr Selbstsicherheit, -vertrauen, -achtung und fühlt sich nicht

mehr alleine gelassen. Frau F konnte neue Perspektiven entwickeln, ist

selbständiger geworden, traut sich mehr und lernt voll Energie, Ehrgeiz und

Freude. Alle schreiben wieder im Alltags- bzw. Berufsleben, wobei Herr M sich,

dank seiner jetzigen Schrift, dabei in einen neuen Menschen verwandelt fühlt.

227

9.2.2 Ergebnisse der Interviews mit den Projektverantwortlichen

Aus den Interviews mit der Gruppe der Projektverantwortlichen habe ich

sechs zentrale Kategorien ausgearbeitet, die nahe an den Antworten der

beiden Gesprächspartnerinnen und des Gesprächspartners formuliert wurden.

Die entstandenen Kategoriensysteme für die Projektverantwortlichen werden

im Folgenden näher dargestellt:

Analyse des Interviews mit Frau Sonja Muckenhuber814

Lerngründe:

Leidensdruck, Ängste, wirtschaftliche Notwendigkeiten und Kinder

Frau Sonja Muckenhuber gibt die Motive und Ziele von Jugendlichen und

Erwachsenen wieder, die Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Demzufolge

kommen diese Menschen weder aus freien Stücken in die Kurse, noch leben

sie unter tollen Lebensbedingungen. Sie glauben zumeist, sich verstecken zu

müssen. Ein immenser Leidensdruck und die Angst, mit den Problemen beim

Lesen, Schreiben und Rechnen entdeckt zu werden, wie auch bestehende

Arbeitslosigkeit oder die Sorge um den Arbeitsplatz, führen zum Kursbesuch:

Motive und Ziele. Immer, es ist immer ein immenser Leidensdruck. So freiwillig und aus einer tollen Lebenssituation ist noch nie jemand gekommen. Es sind meist Ängste, die daraus resultieren, weil sich die Betroffenen verstecken müssen oder glauben sich verstecken zu müssen. Und die Angst ist einfach die Angst, entdeckt zu werden. Manchmal sind es wirtschaftliche Notwendigkeiten, also Arbeitslosigkeit oder die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Sehr oft sind es eben diese Ängste. (Sonja Muckenhuber, Zeile 291-297)

Als Personengruppen, die Ziel der Ängste sind, nannte Sonja Muckenhuber

Partner, Partnerinnen, Arbeitskollegen und vielfach Kinder. Die Erwachsenen

befürchten, sich vor den Kindern zu blamieren und für diese blamabel zu sein:

Es sind Partner, Partnerinnen, es können Arbeitskollegen sein, die Ziel dieser Ängste sind oder ganz ganz häufig Kinder. Kinder, wenn sie geboren werden oder Kinder, wenn sie in die Schule kommen. Einfach die Angst, dass die Kinder entdecken, die Eltern können nicht – oder der Vater oder die Mutter kann nicht Lesen, nicht Schreiben oder nicht Lesen oder nicht Schreiben. Und dann ist es nicht so sehr, dass sich die Erwachsenen – natürlich auch, aber nicht so sehr, dass sie sich fürchten, sich vor ihren Kindern zu blamieren, sondern, dass das für die Kinder eine immense Blamage ist. Die fürchten für die Kinder, dass sie für die Kinder blamabel sind und dass die Kinder durch die Eltern dann wieder eine Blamage durch Kollegen, Schulkollegen, usw. ertragen müssen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 297-307)

814 Siehe Anhang, Seite 24-31.

228

Die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist den Teilnehmenden wegen ihrer

finanziellen Unsicherheiten zu Beginn sehr wichtig, sagte Sonja Muckenhuber.

Haben sie allerdings durch die Trainerinnen und Trainer im Gespräch den

emanzipatorischen Anspruch, wie Persönlichkeitsentfaltung und Zugang zu

unterschiedlichen persönlichen kulturellen Bereichen erfahren, so ist ihnen das

überaus wertvoll:

Von Seiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ist auch der funktionale Anspruch ein sehr starker, also einfach die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Der emanzipatorische Anspruch ist sicher da, wird aber teilweise erst von den Trainern, Trainerinnen oder in den Gesprächen den Teilnehmern bewusst gemacht. Die sind einfach auf der Bedürfnispyramide relativ weit unten, aufgrund dieser finanziellen Unsicherheiten und haben natürlich den emanzipatorischen Anspruch, ich meine, ja, das sind ja vollwertige Menschen, aber er ist ihnen noch nicht so bewusst. Wenn sie einmal so was wie Persönlichkeits-entfaltung, Zugang zu verschiedenen persönlichen kulturellen Bereichen und so erfahren haben, dann ist ihnen das sehr viel wert, das schon. (Sonja Muckenhuber, Zeile 148-158)

(Lern-)Erfahrungen:

Zukünftige Lerninteressen – Englisch, Fremdsprachen und innerbetriebliche Weiterbildungen

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben (große) Pläne und lernen auch

weiter, berichtete Sonja Muckenhuber. Sehr viele entscheiden sich dabei für

Englisch oder Fremdsprachen. Manche Personen wollen an innerbetrieblichen

Weiterbildungen teilnehmen und besuchen deshalb die Kurse:

Ja, auf jeden Fall. Pläne hat jeder und jede. Es haben alle Pläne, große Pläne und es lernt auch jeder weiter. Ich kann mich jetzt nicht erinnern - ich kann mich natürlich nicht an alle erinnern, die meisten bleiben eh relativ lange bei uns im Kurs und machen dann irgendwas. Sei das jetzt Englisch, Englisch oder Fremdsprachen machen ganz ganz viele. Manche haben sich aber auch dann zu innerbetrieblichen Weiter-bildungen angemeldet. Das war dann auch die Motivation herzukommen: „Ich kann dann an den innerbetrieblichen Weiter-bildungen teilnehmen“. (Sonja Muckenhuber, Zeile 351-358)

Sozialgefüge

Zu Beginn wollen die Teilnehmenden möglichst schnell richtig Lesen und

Schreiben können. Nach einigen Wochen ist ihnen das soziale Gefüge, der

soziale (Schon-)Raum im Kurs mindestens ebenso wichtig, betonte Sonja

Muckenhuber. Auch wenn sie bereits Lesen und Schreiben können, kommen

viele wegen der Freundschaften und dem Austausch wieder in den Kurs:

229

Wenn die TeilnehmerInnen herkommen, dann ist das Allerwichtigste für sie, dass sie Lesen und Schreiben lernen können, perfekt und möglichst schnell. Wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dann länger im Kurs sind – mit länger meine ich schon einige Wochen – dann stelle ich fest, dass das soziale Gefüge, dieser soziale Raum und auch der soziale Schonraum, mindestens genauso wichtig ist für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Das zeigt sich auch daran, dass dann viele ein oder zwei Jahre, nachdem sie schon schreiben und lesen können, zumindest in dem Ausmaß, in dem sie es lernen wollten, trotzdem wieder kommen. Sie kommen trotzdem wieder, weil ihnen einfach die Freundschaften wichtig sind, die sie geschlossen haben. Freundschaften auf Zeit sind es natürlich nur, wobei ihnen der Austausch wichtig ist. Einfach dieses Sozialgefüge, die neue Welt, die sie da auch kennen gelernt haben. (Sonja Muckenhuber, Zeile 189-201)

Positive Lernerfahrungen

Positive Lernerfahrungen entstehen bei den Teilnehmenden, wenn stark

auf ihre vorhandenen Ressourcen aufgebaut wird und sie mit ihrem Wissen

und Können bestärkt werden, hob Sonja Muckenhuber hervor. Wesentlich ist

immer auch Zeit für Entspannung, Spaß und für Beziehungen einzuplanen und

für ein angenehmes Klima zwischen allen Beteiligten zu sorgen:

Herangeführt zur positiven Lernerfahrung werden sie einfach, in dem ganz stark auf die Ressourcen der Teilnehmer aufgebaut wird und alles Positive oder das Wissen, was da ist, ganz bewusst einfach bestärkt wird. Sie werden bestärkt in dem, was sie können. (Sonja Muckenhuber, Zeile 216-219)

Und das Lernen selber oder der Kursablauf selber wird so gestaltet, dass möglichst auch immer Zeit ist für einen Entspannungsfaktor, einen Spaßfaktor, einen Beziehungsfaktor. Das Gruppenklima, das Klima zwischen TrainerInnen und TeilnehmerInnen sollte stimmen, da bemühen wir uns, dass wir daran arbeiten. Zwischen den Teilnehmer-Innen untereinander natürlich auch. (Sonja Muckenhuber, Zeile 224-229)

Nicht lernen, was man sich erhofft hat - Kursabbruch

Lernen einzelne Teilnehmende an manchen Tagen nicht das, was sie sich

erhofften, wird das mit der betreffenden Person reflektiert und besprochen.

Sie werden dadurch, wie Sonja Muckenhuber hinzufügte, im „Versagen“, im

Nichterreichen gesetzter Ziele, aufgefangen:

Es gibt natürlich Kurstage, an denen der Teilnehmer nicht das lernt, was er sich erhofft hat. Er kommt her und glaubt: „Heute komme ich heim und kann die S-Schreibung supertoll“. Die Dinge werden aber gemeinsam mit den Teilnehmern reflektiert und besprochen. Sie werden aufgefangen, im Versagen unter Anführungszeichen jetzt, also im Nichterreichen gesteckter Ziele. (Sonja Muckenhuber, Zeile 219-224)

230

Gelingen die Lernerfolge nicht, kann das auch am Konzept, den Methoden

oder dem Thema liegen, was gemeinsam mit den Teilnehmenden reflektiert

wird. Nach diesem Gespräch wird wieder eine neue Methode, ein neuer Inhalt

ausprobiert. Manchesmal bestehen allerdings auch organische Ursachen:

Es könnte natürlich einmal sein, dass das Konzept nicht passt, das didaktische, methodische Konzept, dass einfach die Schritte zu groß waren, dass man sich geirrt hat. Das muss und wird auch, das passiert auch, wird reflektiert, wird von Trainer, Trainerinnen gemeinsam mit Teilnehmer, Teilnehmerinnen reflektiert und auch von den TrainerInnen untereinander. Dass die Methode nicht gepasst hat, dass das Thema für den Teilnehmenden nicht gepasst hat also, dass es einfach nicht gelungen ist, die Motivation des Teilnehmers zu wecken. In der Regel dann, wenn das Thema zu weit weg war von der Lebensrealität des Teilnehmers. Dann kann es natürlich organische Ursachen geben, also ganz schlecht sehen, ganz schlecht hören. Das wird dann in der Regel abgeklärt. (Sonja Muckenhuber, Zeile 257-267)

Sonja Muckenhuber erwähnte, dass die Trainerinnen und Trainer mit

niemanden im Kurs bisher entgültig gescheitert sind, wobei sie einräumt, dass

das von Seiten der Teilnehmenden anders aussehen mag. Selten kann es

schon vorkommen, dass eine Person den Kurs abbricht:

Langfristig gescheitert – also ich kann mich nicht erinnern, dass wir mit irgendeinem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin entgültig gescheitert wären. Das mag von Seiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen anders aussehen. Es kommt natürlich schon vor, dass ab und zu ein Teilnehmer den Kurs abbricht, aber wirklich selten. Da wird bei uns dann so damit umgegangen, dass man anruft und fragt, warum und was sind die Gründe und gibt es irgendwas von unserer Seite, was nicht gepasst hat oder eben andere. (Sonja Muckenhuber, Zeile 273-279)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird

Durch das Lernen im Kurs kann sich einiges im Leben der Teilnehmenden

verändern, berichtete Sonja Muckenhuber. Persönliche Veränderungen gibt es

auf jeden Fall, denn eine größere Sicherheit und mehr Wirklichkeit, die man

sich zu beschreiten traut, haben in den Kursen bisher alle gewonnen:

Sicherheit gewinnt jeder und ein Stück mehr Wirklichkeit, die man sich zu beschreiten traut, hat bis jetzt auch jeder gewonnen. Im Kleinen oder auch im Großen. Sei es jetzt nur, dass man in Bibliotheken geht oder dass man vor der Auslage einer Buchhandlung stehen bleibt und erkennt, ja ok, das ist das Buch und das könnte man eventuell auch kaufen und vielleicht sogar etwas lesen drinnen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 313-318)

Die Teilnehmenden erlangen eine größere persönliche Unabhängigkeit, da

sie nicht mehr auf andere Personen beim Lesen und Schreiben angewiesen

231

sind. Sie erreichen zudem eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie

höhere berufliche Stabilität und Flexibilität. Durch den Kursbesuch bekommen

sie nicht unbedingt einen anderen Arbeitsplatz, aber sie haben bessere

Chancen, berufliche Ziele zu erreichen, erläuterte Sonja Muckenhuber:

Das andere ist natürlich diese persönliche größere Unabhängigkeit. Man ist nicht mehr auf Freunde, Partner, wie auch immer angewiesen, die einem dann helfen müssen beim Lesen von Formularen oder beim Ausfüllen von Formularen oder was auch immer, Kartenschreiben und natürlich auch eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit, eine höhere berufliche Stabilität und auch Flexibilität. Das muss nicht zwangsläufig damit verbunden sein, also das heißt nicht, dass man durch den Kurs einen anderen Arbeitsplatz kriegt, aber man hat größere Möglichkeiten, ein beruflich gestecktes Ziel zu erreichen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 319-327)

Sonja Muckenhuber erzählte, wie ein Teilnehmer sein Berufsziel erreichte,

indem er seine Berufsausbildung zum Altenfachbetreuer abschließen konnte:

Der befriedigendste Teil war für mich sicherlich der, als ein Teilnehmer geschafft hat seine Berufsausbildung abzuschließen mit einer Hausarbeit, mit einer schriftlichen Hausarbeit über 29 Seiten. Der hat sein Berufziel, seinen Berufswunsch sich erfüllen können. Er ist eben Altenfachbetreuer geworden, hat den Kurs absolviert, hat zum Schluß auch die Arbeit geschrieben und diese Arbeit dann präsentiert in einer Powerpoint und hat das gut geschafft. (Sonja Muckenhuber, Zeile 106-111)

Lesen und Schreiben zu können bzw. den Kurs zu besuchen führt, nach

den Erfahrungen Sonja Muckenhubers, zu einem größeren Selbstwertgefühl

und zur Feststellung von Teilnehmenden, jetzt ein anderer Mensch zu sein

und über größere Freiheit und Selbstsicherheit zu verfügen. Es befördert ihre

wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit, weil Bildung den Erwachsenen

den Zugang zu Freiheit und Selbstbestimmung eröffnet:

Der Grund ist einfach der, natürlich eine Steigerung des Selbst-wertgefühls. Ich habe das ja erlebt. Das ist einfach meine Erfahrung. Und es sind auch Aussagen von Teilnehmer, Teilnehmerinnen, die dann eben sagen: „Seit ich Lesen und Schreiben kann oder seit ich den Kurs besuche bin ich ein anderer Mensch, freier, selbstsicherer“. Genau so sind die Worte der Teilnehmer, Teilnehmerinnen. Und das andere ist die wirtschaftliche und die persönliche Unabhängigkeit. Bildung befreit, ja, es ist einfach so. Bildung ist wirklich ganz ein wichtiger Schlüssel zur Freiheit, zur Selbstbestimmung. (Sonja Muckenhuber, Zeile 178-185)

Den Teilnehmenden ist die Sicherheit, die sie im Kurs erfahren, und auch

die Sicherheit im Verlassen von Sicherheiten, äußerst wichtig. Sie brauchen

232

sie, um wieder Mut oder Kraft für die nächsten Schritte zu finden, teilte Sonja

Muckenhuber mit:

Die Sicherheit, die sie dann da erfahren und diese Sicherheit im Verlassen von Sicherheiten, das ist auch etwas, was sie da erfahren. Das ist ihnen dann ganz, ganz, ganz wichtig. Das brauchen sie einfach, das sagen sie auch. Sie brauchen und erleben das. Das gibt ihnen wieder Mut oder Kraft für die nächsten Schritte, wieder ein Stück Neues zu erfahren. Sie würden es anders - sie sagen zumindest - sie würden es anders nicht schaffen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 203-209)

Die Erwachsenen wenden das Erlernte mit großer Freude an. Voller

Begeisterung wird den Kindern oder Enkelkindern vorgelesen. Es werden

Karten und Berichte geschrieben, Formulare ausgefüllt und alltägliche schrift-

sprachliche Anforderungen mit in den Kurs genommen:

Ja, sie wenden es an. Sie wenden es auf jeden Fall an. Sie wenden es an, indem sie den Kindern oder Enkelkindern Bücher vorlesen, mit ganz großer Begeisterung. Indem sie einfach Karten schreiben, indem sie Formulare ausfüllen, indem sie Berichte schreiben. Sie bringen auch die konkreten alltäglichen Anforderungen mit in den Kurs. Sie bringen z.B. Formulare mit, die ausgefüllt werden müssen oder wie eben Volkszählung war, vor zwei Jahren glaube ich, sind fast alle mit diesen Volkszählungsformularen gekommen, die eh wirklich ganz schön geschmalzen waren. Die waren eh nicht einfach. Und das wird natürlich dann auch, ja selbstverständlich, mit großer Freude angewandt. Das ist ja der springende Punkt, das Erlernte wirklich anwenden zu können. (Sonja Muckenhuber, Zeile 337-347)

Analyse des Interviews mit Herrn Peter Webhofer815

Lerngründe:

Beruflich und selber weiter zu kommen, Kinder und soziale Kontakte

Herrn Peter Webhofers Basisbildungskurse sind im arbeitsmarktpolitischen

Bereich angesiedelt. Ein sehr starkes Motiv für den Kursbesuch ist deshalb das

den Teilnehmenden versprochene Glück, wieder eine Arbeitsstelle zu finden:

Bei uns hängt das sehr stark oft natürlich mit dem versprochenen Glück zusammen, sich wieder irgendwie in einen Arbeitsmarkt zu integrieren, Arbeit zu finden oder eine relativ stabilere Geschichte zu finden. Das ist ein sehr starkes Motiv eigentlich bei Teilnehmern, hängt auch damit zusammen, dass wir natürlich sehr stark in diesem arbeits-marktpolitischen Bereich arbeiten. (Peter Webhofer, Zeile 352-356)

Ihre Kinder in der Volksschule unterstützen zu können, ist für Mütter

immer wieder ein Motiv, in die Kurse zu kommen, berichtete Peter Webhofer.

815 Siehe Anhang, Seite 32-41.

233

Aus seiner Erfahrung sind die Wünsche für sich etwas zu tun, wieder eine

Beschäftigung zu finden und keine Angst mehr beim Ausfüllen haben zu

müssen, weitere, zunehmend häufiger werdende Lerngründe Erwachsener,

wie auch die Beobachtung, dass die Schriftsprachlichkeit zunimmt:

Die Kinderbetreuungsgeschichten sind auch immer wieder sehr wichtig, wo Mütter sagen: „Ich muss jetzt was tun, damit mein Kind, das in die Volksschule kommt, von mir unterstützt werden kann und damit ich dem helfen kann“. In letzter Zeit immer häufiger wird so ein bisserl auch dieses: „Ich muss was für mich tun“. „Es kann so nicht weiter gehen, ich brauche ein bisserl eine Beschäftigung“. „Ich halte diese Angst nicht mehr aus, wenn ich irgendwo etwas ausfüllen muss“. „Ich merke, die Schriftsprachlichkeit wird mehr“. Das Selbst-Empowerment eigentlich fast, diese Selbsttriebfeder als Motiv wird häufiger. (Peter Webhofer, Zeile 357-365)

Lesen und Schreiben besser zu erlernen ist, seinen Ausführungen nach,

ganz selten ein Motiv für den Kursbesuch. Es geht den Teilnehmenden meist

um die berufliche und persönliche Weiterentwicklung und darum, soziale

Kontakte zu schließen. Sie erhoffen sich, im Kurs jemanden kennen zu lernen,

mit dem oder mit der sie sich austauschen können und gegebenenfalls dort

vielleicht sogar eine Partnerin oder einen Partner zu finden:

Lesen und Schreiben als Motiv ist bei den meisten Teilnehmern zu wenig. Das merken wir in der Öffentlichkeitsarbeit. Lesen und Schreiben besser können ist ganz selten ein Motiv. Es geht sehr häufig darum, einfach beruflich weiter zu kommen, selber weiter zu kommen und der Punkt, den ich noch vergessen habe, soziale Kontakte zu finden. Das ist sicher auch ein starkes Motiv von Leuten in den Kurs zu kommen, dass sie sagen: „Möglicherweise lerne ich jemanden kennen, mit dem ich mich dann ein bisserl austauschen kann“, bis hin zu - man müsste das einmal genauer nachvollziehen, aber ich glaube, dass ein großer Teil unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind wirklich in ganz einsamen Verhältnissen, also haben keine Partner und da könnte das auch ein starkes Motiv sein. Das weiß man ja aus den Motiven von der Weiterbildung überhaupt, dass Partnerwahl ein starkes Motiv ist, Weiterbildungen in Anspruch zu nehmen. (Peter Webhofer, Zeile 365-377)

Peter Webhofer erwähnte ferner, dass seine anfängliche Vorstellung, die

Teilnehmenden würden freiwillig in die Kurse kommen und freiwillig lernen,

unzutreffend war:

Das heißt, mein erster Zugang war, das werden wohl Erwachsene sein, die freiwillig kommen und die freiwillig lernen. Das war ein sehr naiver, wie sich dann herausgestellt hat. (Peter Webhofer, Zeile 44-46)

(Lern-)Erfahrungen:

234

Zukünftige Lerninteressen – Interesse an unterschiedlichen Alltagsvorgängen und an Weiterbildungsinhalten steigt

Der Wunsch weiterzulernen, besteht bei den Teilnehmenden durchaus,

aber nicht bei jeder Person.816 In den Kursen wird natürlich versucht, die

Teilnehmenden für Bildung zu begeistern, betonte Peter Webhofer. Er brachte

dazu ein Beispiel von einem Teilnehmenden, der seinen Job kündigte, eine

Ausbildung in der Krankenpflege positiv beendete und neue Interessens-

gebiete entwickeln konnte. Ein wachsendes Interesse an verschiedenen

Alltagsvorgängen und auch an Weiterbildungsinhalten lässt sich, nach seinen

Beobachtungen, bei mehreren Teilnehmenden erkennen:

Wir haben ein paar ganz tolle VorzeigeteilnehmerInnen, die - also ein Fall aus der Obersteiermark, der dann seinen Job gekündigt hat, was eher weniger positiv war, aber was sehr stark sicher mit uns zusammengehängt hat, weil es einfach ein sehr unterdrückender Job war, der jetzt eine Krankenpfleger oder Hilfspflegeausbildung begonnen hat, die dann auch positiv abgeschlossen hat, der sich einfach für neue Sachen zu interessieren begonnen hat. Das ist schon etwas, was wir eigentlich bei mehreren KursteilnehmerInnen beobachten können, dass das Interesse steigt an unterschiedlichen Alltagsvorgängen und auch natürlich an Inhalten von Weiterbildungen. (Peter Webhofer, Zeile 422-431)

Peter Webhofer erwähnte, dass ein den Kursen angefügtes kleines

internes Seminarangebot, bestehend aus politischer Bildung, Projekten und

Diavorträgen, sehr gut angenommen wurde, was möglicherweise wiederum

für das Interesse der Teilnehmenden an Weiterbildung sprechen könnte.

Häufig machen die Erwachsenen weiterführende Kurse oder Ausbildungen

nicht freiwillig. Dennoch ist Peter Webhofer der Überzeugung, dass die Kurs-

teilnehmenden eher bereit sind, sich auf Weiterbildungen einzulassen, da sie

Lernen - vielleicht das erste Mal in ihrem Leben - als etwas Positives erfahren

haben, das ihnen was bringt, das ihr Weltbild verändert und ihnen Horizonte

eröffnet817:

Grundsätzlich glaube ich schon, dass die Personen, die jetzt bei uns so diese Grundkenntnisse auffrischen, eher bereit sind, sich in Weiterbildungen, auf neue Weiterbildungsgeschichten einzulassen. Sehr oft sind halt diese Weiterbildungen irgendwie für diese Zielgruppe auch funktional sehr stark dominiert. Das heißt, das ist ein AMS-Kurs,

816 Peter Webhofer gibt dabei zu bedenken, dass der Anspruch, dass jeder Mensch weiterlernen und mit dem lebenslangen Lernen beginnen muss, dieser Personengruppe eher schadet als nützt, weil sie häufig damit überfordert sind. 817 Peter Webhofer wies darauf hin, dass die Teilnahme am Weiterbildungsangebot anderer Bildungsanbieter wegen der entstehenden Kosten und der neuerlich zu überwindenden Hemmschwelle für die Teilnehmenden vermutlich noch schwierig ist.

235

wo sie halt dann irgendwie reingeschickt werden oder das ist sonst irgendeine Ausbildung, die sie machen müssen, die sie oft nicht freiwillig machen. Aber ich glaube, wir tragen schon stark dazu bei, dass einfach Lernen das erste Mal im Leben vielleicht als etwas Positives gesehen werden kann, das was bringt, das das Weltbild verändert, das Horizonte aufmacht.(Peter Webhofer, Zeile 444-453)

Sozialgefüge

Eine sehr motivierende Erfahrung für die Kursteilnehmenden ist das

soziale Erlebnis, weil sie hier Personen treffen, die ein gleiches Schicksal teilen

und mit denen sie sich austauschen können. Diesen Aspekt des Sozialen

bezeichnete Peter Webhofer als ihr mögliches Gegenprogramm, das die

Teilnehmenden zum Kursbesuch motivieren kann, wenn auch der Lernerfolg

sehr niedrig ist oder ausbleibt:

Was häufig auch als Lernerfahrung passiert oder als Motivation für den Kurs passiert ist, wenn die Lernerfahrung ausbleibt, dann trotz allem das soziale Erlebnis. Das merken wir sehr stark bei Teilnehmern, die kommen jetzt weniger deshalb, dass sie vier S-Schreibungsregeln oder vier S-Fehler nicht mehr machen, sondern die kommen sehr häufig deshalb, weil sie da Personen getroffen haben in den Kursen, die ein gleiches Schicksal teilen, die sich auch austauschen wollen und so weiter und so fort. Also dieser Aspekt des Sozialen ist eine ganz starke Triebfeder dann auch, wenn auch der Lernerfolg einmal ausbleibt. Und das ist so vielleicht unser Gegenprogramm dazu, dass wir versuchen, wenn der Lernerfolg sehr niedrig ist, wenn er ausbleibt, wenn es so Durstphasen gibt, dass wir dann aufgrund dieses Sozialgefüges dann trotz allem die Leute motivieren können, weiterhin zu kommen. (Peter Webhofer, Zeile 308-320)

Positive Lernerfahrungen

Ganz wesentlich für die Teilnehmenden ist es, geliebt - was vielleicht

einwenig zu hoch gegriffen sein mag - aber angenommen und akzeptiert zu

werden, formulierte Peter Webhofer. Seiner Erfahrung nach ist das für relativ

viele Teilnehmende ein vollkommen neues Erlebnis, erstmals nicht nur als

Außenseiter betrachtet zu werden:

Aus meiner Erfahrung ist es ganz stark das, der Punkt geliebt, angenommen, akzeptiert zu werden. Geliebt ist vielleicht ein bisserl zu hoch gegriffen, aber so das angenommen und akzeptiert zu werden. Wir haben relativ, also aus meiner Erfahrung relativ viele TeilnehmerInnen immer wieder gehabt, die das in ihrem ganzen Leben überhaupt noch nie erlebt haben, wie das ist, wenn sie nicht nur als Außenseiter angesehen worden sind. (Peter Webhofer, Zeile 211-216)

Die Teilnehmenden wollen in erster Linie als Menschen wahrgenommen

und in sehr langsamer und persönlicher Art und Weise wieder mit dem Lesen

236

und Schreiben konfrontiert werden, äußerte Peter Webhofer. Ihre Angst zu

Beginn ist groß, dass es so wie in der Schule mit Tests weitergeht. Eine erste

wichtige Erfahrung ist oft die, wo sie merken, dass der Kurs vielleicht

einwenig etwas anderes ist, ihre negativen Schulerfahrungen sich nicht, wie

befürchtet, fortsetzen und vor allem auch, dass die Leute sie hier mögen:

Ich glaube, dass das ein ganz ein zentraler Punkt ist, zu sagen, die Teilnehmer erwarten sich schon, dass sie Lesen und Schreiben lernen, natürlich, aber die Teilnehmer mögen in erster Linie einfach als Menschen dort wahrgenommen werden und in einer sehr langsamen Art und Weise und sehr persönlichen Art und Weise mit dem Lesen und Schreiben wieder konfrontiert werden. Also das ist oft so eine große Angst, wenn Leute zu uns kommen, dass die glauben: „Da geht die Geschichte jetzt so weiter, wie es in der Schule angefangen hat und ich muss da einen Test schreiben und um Gottes willen was passiert, wenn ich da einen Fehler mache“. Und das ist dann oft so der erste große wichtige Punkt, wo sie merken: Na ja, es ist möglicherweise ein bisserl etwas anderes und die Leute mögen mich“. Das ist auch ein wichtiger, ganz wichtiger Punkt. (Peter Webhofer, Zeile 216-227)

Oft haben die Teilnehmenden noch nie positive Lernerfahrungen mit dem

Lesen, Schreiben und Rechnen gemacht. Um ihre negativen Lernerfahrungen

und Ängste zum Großteil auszugleichen, besteht, nach der Überzeugung von

Peter Webhofer, die zentralste Herausforderung darin, ihre negative Selbst-

einschätzung ins Wanken zu bringen. Dies geschieht meist, wenn er ihnen auf

einen ersten Text eine postive und ermutigende Rückmeldung gibt, dass das

Geschriebene gar nicht so schlecht wäre. Die Teilnehmenden überlegen sich

dann möglicherweise, dass sie doch nicht so schlecht sind, wie sie immer

angenommen hatten:

Also diese negativen Lernerfahrungen, die kann ich nur sehr sehr stark unterstreichen. Die Personen kommen oft zu uns und haben noch überhaupt nie erlebt, wie es ist, etwas zu können also im schriftsprachlichen Bereich oder im Bereich des Lesens oder auch der Mathematik. Die haben noch nie positive Lernerfahrungen gemacht und das ist so eigentlich die zentralste Herausforderung überhaupt einmal auch den Leuten einmal zu sagen: „Na ja, so schlimm ist es nicht“. Ich habe das immer so gehalten, wenn ich so einen ersten Text in der Hand gehabt habe von Leuten, der halt so ein bisserl von Rechtschreibfehlern und sonstigen grammatikalischen Geschichten gestrotzt hat und man hat die Rückmeldung gegeben: „Du so schlecht ist es ja gar nicht, wie du das glaubst“, dass diese Selbsteinschätzung ein bisserl mal über den Haufen geworfen wurde und dann hat man meistens eine Kettenreaktion ausgelöst. Das war ganz lustig zu beobachten, wo man dann gesehen hat, aha möglicherweise überlegen sich die Leute jetzt: „Na ja, bin ich doch nicht so schlecht, wie ich mir das immer gedacht habe? Das sagt mir jetzt ein Lehrer oder ein Trainer, dass das eigentlich gar nicht so schlecht ist“. Und dadurch hat

237

man einmal einen Großteil dieser Ängste und negativen Erfahrungen dann wieder wettgemacht. (Peter Webhofer, Zeile 233-250)

Ein wesentlicher Punkt für die Motivation der Teilnehmenden ist, ihnen im

Kurs möglichst viele sehr niederschwellige, kleine positive Lernerfahrungen zu

vermitteln. Peter Webhofer fiel auf, dass es nötig ist, ihnen ihre Fortschritte

aufzuzeigen, da sie sie häufig selbst nicht sehen können, weil ihr Blick ein

sehr negativ gerichteter ist. Durch zwei von ihnen zu verschiedenen Zeiten

geschrieben Texten, sollen die Teilnehmenden in den Reflexionsgesprächen

erkennen, was sie dazugelernt haben und dass sie was dazugelernt haben:

Und ich glaube, der Punkt ist dann der, im Laufe des Unterrichts oder des Kurses einfach möglichst viele sehr niederschwellige, kleine positive Lernerfahrungen zu vermitteln. Das ist so ein zentraler Aufgabenbereich des Alphabetisierungstrainers, der Trainerin, dass sie immer wieder kleine Lernerfahrungen, wie klein die auch immer sind, erstens den Teilnehmern vermittelt und zweitens die TeilnehmerInnen auch so weit bringt, diese Lernerfolge, diese kleinen Geschichten zu sehen. Das ist oft ein Punkt, der mir sehr stark aufgefallen ist. Wenn man so nach einem Jahr oder einem halben Jahr mit Teilnehmern Reflexionsrunden eingezogen hat, haben die gesagt: „Na ja, so viel gelernt habe ich nicht“. Und wenn ich dann zwei Texte gehabt habe, den einen vom Jänner und den anderen vom Juli, haben sie dann gesehen: „Nein um Gottes willen, das hätte ich damals nie und nimmer so schreiben können“. Das heißt, es geht auch ein Stück weit darum einfach den Leuten zu zeigen, was sie dazugelernt haben und dass sie was dazugelernt haben. Da ist oft der Blick nicht da, weil er ein sehr negativ gerichteter ist, halt weil ihnen das noch nie jemand auch vermitteln hat können oder weil sie das auch nie sehen haben dürfen, dass sie gewisse Fortschritte machen. Und das ist so das, was Alphabetisierung eigentlich ausmacht, diese kleinen Fortschritte einfach sichtbar zu machen und daraus Motivation für die Teilnehmer oder daraus Motivationsanlässe eigentlich für die Teilnehmer ableiten zu können. (Peter Webhofer, Zeile 250-270)

Positive Lernerfahrungen der Teilnehmenden sind auf unterschiedlichsten

Wegen möglich. Sehr erfolgreich war der Versuch, gemeinsam mit einigen

Lernenden eine Literaturzeitschrift als Projekt zu entwickeln, erzählte Peter

Webhofer. Eigene Texte für die Zeitschrift zu schreiben, sie zu gestalten und

herauszugeben, ist für diese Gruppe nach wie vor sehr motivierend:

Der interessanteste Teil war eigentlich ein lustiger Versuch, nämlich ich habe probiert mit den Teilnehmern eine Zeitung als Projekt zu gestalten und durchzuführen. Also wo ich immer davon ausgegangen bin, dass es möglich sein könnte Personen, die jetzt nicht gut lesen und schreiben können, zum Lesen und Schreiben zu motivieren, indem sie eigene Texte schreiben. Und ich habe dann eine Literaturzeitschrift - das ist jetzt ein bisserl hochgestochen - einfach gegründet mit ihnen, habe das als Projekt gemeinsam entwickelt und die ist mittlerweile österreichweit downloadbar. Wir basteln gerade an der 7. Auflage. Und

238

das ist eine irrsinnig starke Motivationsgeschichte immer noch für diese Gruppe, die das entwickelt hat. (Peter Webhofer, Zeile 88-97)

Die Teilnehmenden haben unterschiedliche Lern- und Lehrbedürfnisse,

daher muss sehr individuell erforscht werden, was die jeweiligen Personen

motiviert, was sie brauchen, wo ihre persönlichen Schwächen sind und auch

ihre Stärken, auf die sehr schnell aufgebaut werden kann. Eine individuelle,

persönliche Betreuung ist der Schlüssel zu erfolgreichen Lernerfahrungen, hob

Peter Webhofer hervor, wie auch ein möglichst selbsttätiger, realitätsnaher,

inhaltlich am persönlichen Leben der Teilnehmenden orientierter Unterricht:

Es gibt TeilnehmerInnen bei uns, die brauchen eine sehr starke LehrerInnenpersönlichkeit, die dann denen zumindest zeitweise sagt, wie was und wann passieren muss. Es gibt auch Leute bei uns, die sehr frei arbeiten können und ihre Lernerfahrungen am besten dann machen, wenn sie selber sehen, was sie geleistet haben. Der Punkt ist der, dass wahrscheinlich diese Frage nicht eindeutig mit einer Methode beantwortet werden kann, sondern mit einer Einstellung eigentlich nämlich, dass man sehr individuell schauen muss und forschen muss fast, was motiviert die Personen, was brauchen die Personen, wo sind ihre persönlichen Schwächen und wo sind auch die Stärken, auf die man sehr schnell aufbauen kann. Also so ganz eine starke Individualisierung, eine ganz eine starke auch möglicherweise persönliche Betreuung ist sozusagen der Schlüssel zum Erfolg, würde ich jetzt sagen. Und je selbsttätiger natürlich und je realitätsnaher der Unterricht abläuft, desto besser ist es. Also je praxisnaher und je am richtigen persönlichen Leben orientiert die Inhalte sind, desto erfolgreicher wird wahrscheinlich Basisbildungsunterricht werden. (Peter Webhofer, Zeile 275-290)

Lesen und Schreiben zu lernen gelingt nicht - Kursbeendigung

Wenn Lernen nicht gelingt, wird es für die Trainerinnen und Trainer und

die Beteiligten meist relativ schwierig, erklärte Peter Webhofer. Realistisch

betrachtet wird es immer Teilnehmende geben, die Lesen und Schreiben, aus

welchen Gründen auch immer, selbst im Kurs nicht lernen können. Mit kleinen

Motivationsschritten wird versucht, die Teilnehmenden zu motivieren. Wenn

jedoch das Lernen nicht geht, weil z.B. irgendwelche komplexen Problemlagen

vorhanden sind, die derzeit nicht bearbeitbar sind oder wofür vielleicht die

Trainerinnen oder Trainer die falschen Ansprechspartner sind, bieten sie den

Erwachsenen auch an, den Kurs zu beenden. Manche beenden den Kurs auch

selber, wenn sie nach einem halben Jahr keinen Lernerfolg bemerken:

Ja, was passiert, wenn es nicht gelingt? Dann wird es meistens relativ schwierig, also für den Trainer und für die Beteiligten. Grundsätzlich muss man schon auch dazu sagen, dass es nicht gelingt, jedem Lesen und Schreiben beizubringen. Das wär ein sehr hohes Ziel, das schaffen

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wir nicht. Also da muss man auch irgendwie realistisch bleiben. Es wird immer Personen geben, die es halt aus welchen Gründen auch immer auch bei uns nicht erlernen können. (Peter Webhofer, Zeile 294-300)

Und wir versuchen so gut als möglich eben mit diesen kleinen Motivationsschritten die Leute zu motivieren, müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, wenn jemand sagt: „Das geht nicht“. Oder wenn wir merken, das geht nicht, dass wir möglicherweise die falschen Ansprechpartner sind, dass es da irgendwelche komplexen Problem-lagen gibt, die für uns derzeit nicht bearbeitbar sind und bieten den Leuten dann auch an einmal, das auch zu beenden. Manche beenden es auch selber, wenn sie merken: „Da komme ich jetzt ein halbes Jahr und da wird gar nichts“, dann beenden sie das selber. (Peter Webhofer, Zeile 300-308)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird

Der Kursbesuch kann persönliche Veränderungen bei den Teilnehmenden

bewirken.818 Peter Webhofer brachte dazu ein Beispiel:

Und das kann dann durchaus sein, dass - wir die Rückmeldung gekriegt haben einmal in der Obersteiermark von einer AMS-Beraterin: „Wir haben nicht mehr gewusst, was wir mit dieser Dame machen sollen und seitdem sie bei euch ist, ist sie zumindest so aufgeblüht, dass sie grüßt, dass sie relativ pünktlich kommt“ und so weiter und so fort. Das sind alles so kleine Randerfolge, die jetzt auf dem ersten Blick mit dem Lesen und Schreiben einmal nichts zu tun haben, die aber in den Kursen bei uns passieren. (Peter Webhofer, Zeile 342-349)

Sie haben mehr Sicherheit und weniger Angst, teilte Peter Webhofer mit.

Die Teilnehmenden sind sich sicherer, z.B. am AMS oder wenn sie etwas

ausfüllen müssen. Sie trauen sich mehr, trauen sich irgendwo anzurufen,

können Informationen nachschauen und tun sich oft im Alltag leichter. Ein

sehr wichtiger Punkt ist auch, dass ihre Selbstsicherheit kommt, dass sich

etwas zutrauen, eventuell einen neuen Beruf oder eine neue Perspektive. Sie

trauen sich zu, dass sie selber etwas bewegen können:

Ich denke mir, bei uns geht es sehr häufig um die Reduzierung von Angst. Das ist etwas, was die TeilnehmerInnen wahrscheinlich sehr schnell spüren und was wir auch zurückgemeldet kriegen: „Ich bin einfach sicherer, wenn ich zum AMS gehe“. „Ich bin sicherer, wenn ich irgendwo was ausfüllen muss“. „Ich traue mich jetzt irgendwo anrufen und kriege eine Information und weiß, wo ich ungefähr nachschauen kann“. Das heißt, diese Sicherheit und diese Angst, die sie dann nicht mehr haben, ist wahrscheinlich eine sehr starke Geschichte. Sie tun sich auch im Regelfall im Alltag einfach leichter. (Peter Webhofer, Zeile 385-393)

818 Peter Webhober regte an, den Fokus in der Alphabetisierung und Basisbildung, statt rein auf inhaltliche Dinge, die das Lesen und Schreiben betreffen, sehr stark auf die Veränderungen zu richten, die sich in einer Person ereignen.

240

Das ist, denke ich mir, ein sehr wichtiger Punkt, wo man einfach merkt, diese Selbstsicherheit kommt, das sich etwas zutrauen, möglicherweise sich einen neuen Beruf, eine neue Perspektive zutrauen, dass man selber etwas bewegen kann. Das ist eine starke Nutzengeschichte. (Peter Webhofer, Zeile 396-399)

Auf die Frage, ob die Teilnehmenden das Erlernte im Alltag anwenden,

beschrieb Peter Webhofer unterschiedliche Phänomene. Er berichtete von der

Wende mancher Teilnehmenden, die sich fast zu Nachwuchsschriftstellerinnen

oder Nachwuchsschriftstellern entwickeln. Viele versuchen selbstbewusster

oder das erste Mal private Angelegenheiten mit Schriftsprache zu erledigen,

die beispielsweise Erlagscheine ausfüllen oder eine Zeitung lesen. Sie tun im

Alltag mehr im schriftsprachlichen Bereich und beschäftigen sich mehr damit:

Wir haben da unterschiedliche Phänomene. Wir haben TeilnehmerInnen, die fast so zu NachwuchsschriftstellerInnen mutieren, sage ich jetzt einmal, die sehr viel schreiben, auch im privaten Bereich, auch um des Schreibens willen Texte schreiben. Wir haben viele Teilnehmer, die dann selbstbewusster oder das erste Mal so in ihrem Leben auch private Geschichten versuchen mit Schriftsprachlichkeit zu erledigen. Ob das jetzt das Ausfüllen von einem Erlagschein ist, ob das jetzt das Lesen von einer Zeitung ist. Das heißt, es hat meistens Auswirkungen so im ganz normalen Alltagsleben, wo man wirklich merkt, die Teilnehmer tun mehr schriftsprachlich. Sie tun sich mehr mit Schriftsprachlichkeit beschäftigen. (Peter Webhofer, Zeile 403-412)

Analyse des Interviews mit Frau Brigitte Bauer819

Lerngründe:

Selbständig Leben, mehr Selbstwert, einen besseren Arbeitsplatz und Kinder

Aus den vielen verschiedenen Motiven lässt sich, den Ausführungen von

Frau Brigitte Bauer entsprechend, ein Grundmotiv erkennen, der Wunsch nach

einem selbständigen Leben, nach mehr Selbstwert und einem bestärkten

Selbstwertgefühl. Statt sich zu verstecken und immer jemanden fragen zu

müssen, wollen die Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben führen können:

Da gibt es ganz viele verschiedene Motive, also Wünsche, Bedürfnisse alles ganz verschieden. Es gibt natürlich ein Hauptziel oder ein Grundmotiv, das immer wieder auftaucht, das ist dieses selbstständige Leben, auch dieser Wunsch nach mehr Selbstwert, nach einem bestärkten Selbstwertgefühl, das wird von ganz vielen wirklich dezidiert formuliert: „Ich fühle mich so klein. Ich möchte selbstbestimmt mein Leben führen. Ich habe genug davon, dass ich

819 Siehe Anhang, Seite 24-31.

241

jemanden immer fragen muss. Ich habe genug von dem Verstecken“. (Brigitte Bauer, Zeile 382-388)

Der zweitmeistgenannte Lerngrund ist der Wunsch nach einem besseren

Arbeitsplatz. Vor allem Frauen, betonte Brigitte Bauer, wollen ihre Kinder in

der Schule unterstützen können, um ihnen dasselbe Schicksal zu ersparen:

Auch der Wunsch nach einem besseren Arbeitsplatz, das ist wirklich immer auch so gleich der zweitmeistgenannte Punkt. Sie wollen ihren Kindern dasselbe Schicksal ersparen, das kommt sehr oft vor, vor allem von Frauen, die ihre Kinder in der Schulzeit unterstützen wollen. Das sind so die Hauptmotive, ja. (Brigitte Bauer, Zeile 388-392)

(Lern-)Erfahrungen:

Zukünftige Lerninteressen – Übergangsmodul Schreiben, Lesen auffrischen und sich selbst entdecken, Englisch- oder Gitarrekurs

Viele, wenn auch nicht alle, absolvieren weitere Kurse, wobei Brigitte

Bauer ein gemeinsames Übergangsmodul mit der Volkshochschule in Salzburg

erwähnte, dass den Teilnehmenden ermöglicht, in einem öffentlichen Rahmen

Schreiben und Lesen aufzufrischen und sich selbst zu entdecken. Die Leiterin

dieses Übergangsmoduls ist zugleich auch für den externen Hauptschul-

abschluss zuständig. Sie bietet den Teilnehmenden des Übergangmoduls an,

weiterführende Ausbildungen zu besuchen. Manche nehmen dann an einem

Englisch- oder Gitarrekurs teil, gab Brigitte Bauer an, aber sie gehen wieder in

die Öffentlichkeit und sind nicht mehr so isoliert:

Das heißt, sie bietet dann auch den Leuten, die diesen Kurs besuchen an, einmal zu schnuppern und zu schauen, ob nicht eine weiter-führende Ausbildung für sie interessant wäre, bzw. manche machen dann einen Englischkurs, es gibt andere, die machen einen Gitarrekurs, aber sie gehen wieder in die Öffentlichkeit, sie besuchen öffentliche Räume, sie sind nicht mehr so isoliert. (Brigitte Bauer, Zeile 449-454)

Positive Lernerfahrungen

Nach den Worten von Brigitte Bauer ist es für die Teilnehmerinnen und

Teilnehmer sehr wichtig, dass sie mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst

genommen werden und auch Rücksicht auf ihre Möglichkeiten genommen

wird. An erster Stelle steht daher die Zusammenarbeit der Trainerinnen und

Trainer mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ein partnerschaftlicher

Umgang und die individuelle Betreuung:

Das Wichtigste ist, dass sie ernst genommen werden, dass sie individuell betreut werden, dass es einen partnerschaftlichen Umgang gibt, dass es ein Zusammenarbeiten gibt, ein Ernstnehmen ihrer Wünsche, ihrer Bedürfnisse, ein Rücksichtnehmen auf ihre Möglich-

242

keiten, sonst ist Lernen gar nicht möglich. (Brigitte Bauer, Zeile 279-283)

Die Erwachsenen müssen in der ersten Lerneinheit schon gemerkt haben,

dass sie lernen können und sie müssen sich irgendetwas mitnehmen können,

hob Brigitte Bauer hervor, etwas, was sie zuvor nicht gewusst haben und was

sie nun mit Sicherheit wissen:

Einer von unseren Eckpfeilern im „abc“ ist wirklich das, dass die Erwachsenen, die da sozusagen zur ersten Lerneinheit herkommen, also die Erstgespräche sind da schon vorbei, dass sie wirklich so hinausgehen müssen, dass sie schon gemerkt haben, dass sie lernen können. Sie müssen sich irgendetwas mitnehmen können, wo sie sagen können: „Das habe ich gelernt. Ich habe mir das gemerkt. Das ist etwas, was ich vorher nicht gewusst habe und das weiß ich jetzt und das weiß ich mit Sicherheit und da gibt es keine Unsicherheiten“. (Brigitte Bauer, Zeile 289-296)

Im Erstgespräch gilt es zu erfahren, wo die Bedürfnisse und Kenntnisse

der Kursinteressenten grob liegen, bemerkte Brigitte Bauer. In der ersten

Einheit ist es wesentlich, einen Punkt zu finden, an den man andocken kann,

damit ihnen neue, positive Lernerfahrungen möglich werden. Das bedeutet,

möglichst natlos an ihrem vorhandenen Wissensstand und ihren Kenntnissen

anzuknüpfen:

Das ist möglich und das ist dann möglich, wenn in den Erstgesprächen aufmerksam zugehört worden ist. Wenn man im Erstgespräch eine Atmosphäre schafft, dass man erfahrt möglichst, wo die Bedürfnisse liegen und wo die Kenntnisse auch so grob liegen. Sie können sich ja gut beschreiben in ihrem Alltagsleben. Und dann muss man natürlich in der ersten Einheit einen Punkt finden, wo man genau andocken kann, also einen Punkt finden, zu dem man Brücken schlagen kann, dass eine neue Lernerfahrung oder eine erste positive Lernerfahrung möglich ist. Das heißt, den Unterricht so machen, dass man nahtlos an das vorhandene Wissen und den Kenntnisstand anknüpfen kann und wenn es nur in einem ganz kleinen Teilbereich ist, aber das soll wirklich halten, das soll nahtlos anschließen. (Brigitte Bauer, Zeile 296-306)

Brigitte Bauer setzt dabei zu Beginn auf Einzelunterricht und erst später

auf die Gruppenarbeit, um die individuelle Betreuung zu gewährleisten:

Jeder und jede braucht, sucht was anderes, hat andere Lernerfahrungen, hat einen anderen Erfahrungshintergrund, hat einen anderen Kenntnisstand, Wissensstand. Ideal ist der Einzelunterricht. Da widme ich mich einer Person, da kann ich zurückfragen als Trainer, als Trainerin und wenn ich aus einer Methodenvielfalt schöpfen kann, dann werde ich auch das Passende finden, das wirklich das Lernen vorantreibt, beflügelt und auch Spaß macht, dass gemeinsam gelernt wird. (Brigitte Bauer, Zeile 309-315)

243

Positive Lernerfahrungen sind schwierig oder gar nicht möglich - mit dem Kurs aufhören

Es kann daran liegen, dass der Punkt nicht gefunden wurde, wo an das

vorhandene Wissen und Können angeschlossen werden kann. Das lässt sich,

so erläuterte Brigitte Bauer, dann sehr schnell wieder aufheben:

Kaum passiert es - also ich sage jetzt einmal, am schnellsten findet man halt dann wirklich den Punkt, wenn es daran liegt, dass ich vielleicht irgendwo falsch angeschlossen habe. Erstens merke ich es gut und gern, bzw. man hat ja dann auch so ein Vertrauensverhältnis, dass die Kursteilnehmer dann sagen: „Nein, also das ist mir jetzt wirklich zu schwierig. Da weiß ich jetzt nicht, was du meinst“ oder so. Also das lässt sich dann auch am schnellsten eigentlich wieder aufheben, wenn es uns zwei betrifft, weil es ja auch dieses Vertrauensverhältnis gibt und auch meine Bitte immer wieder, mir sofort zurückzumelden, wenn irgendwas nicht passt. (Brigitte Bauer, Zeile 351-360)

Von Seiten der Teilnehmenden kann Lernen nicht möglich sein, wenn sie

voller Sorgen oder halb krank sind beispielsweise und wenn großer Druck in

ihrer Arbeit oder zuhause auf ihnen lastet:

Es gibt ganz viele verschiedene Möglichkeiten. Es kann auch einfach daran liegen, dass – es gibt Tage, da kann man sich nicht so konzentrieren, da ist Lernen nicht wirklich so möglich, auch im Kurs hier, weil man voller Sorgen ist oder weil man halb krank ist. (Brigitte Bauer, Zeile 327-330)

Schon psychische Belastung, das ist oft auch so, wenn daheim wirklich - wenn sie unter einem großen Druck stehen, weil die Arbeitssituation so schwierig ist oder weil es daheim gerade so schwierig ist, da ist Lernen wirklich auch schwierig. (Brigitte Bauer, Zeile 348-351)

Manchmal können auch äußere Faktoren die Ursache für einen Lernstill-

stand sein, erwähnte Brigitte Bauer in einem Beispiel:

Ich habe auch einen Kursteilnehmer schon einmal gehabt, der ist wirklich, also der hat das selber auch festgestellt, da ist es wirklich zu einem Lernstillstand gekommen. Das waren Faktoren, die einfach, sage ich jetzt einmal, von außen beeinflusst waren. Er hätte quasi bei uns so viel lernen sollen, dass er an einem Lehrgang teilnehmen kann oder an einem Kurs, einen weiterführenden, den er eigentlich nicht machen wollte, aber der Arbeitgeber wollte, dass er ihn macht. Das heißt, wenn er bei uns noch mehr Lernfortschritte gemacht hätte, hätte er den wirklich besuchen müssen. Und das ist halt dann ideal, wenn man psychologische Beratung hat – also wir haben kursbegleitende psychologische Beratung durch eine Therapeutin. Diese Beratungs-stunden hat er in Anspruch genommen. Das ist so ein typisches Beispiel von – er ist dann draufgekommen, er will den Kurs eigentlich gar nicht machen und es ist genug, was er gelernt hat und er hat einfach sehr sehr viel gelernt. Der Kurs war nicht mehr nötig und es war einfach ein Gespräch mit dem Arbeitgeber nötig oder mit der

244

Arbeitgeberin. Das ist auch eine Möglichkeit, wie es dann zu Lernstillstand kommen kann. (Brigitte Bauer, Zeile 330-346)

Brigitte Bauer unterstreicht, dass bisher durch die individuelle Betreuung

nie jemand aufgehört hat, weil ihr oder sein Lernversuch gescheitert wäre:

Durch diese individuelle Betreuung, da ist – da gibt es - es hat auch bei uns nie wer aufgehört, weil er gesagt hätte, da wäre was – also dieser Lernversuch ist gescheitert. Also ich sage, ich kenne das auch nicht wirklich. Ich kenne es wirklich nicht. (Brigitte Bauer, Zeile 371-375)

Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird

Brigitte Bauer erzählte von Teilnehmenden, die voller Freude jetzt ihrem

Enkelkind in der Schule helfen und auch eine Gutenachtgeschichte ohne Angst

vorlesen können. Auch wenn sie keine weiterführenden Kurse besuchen,

haben wirklich alle Freude am Lernen gefunden:

Andere wiederum beschränken sich darauf, dass sie sich freuen, dass sie ihrem Enkelkind jetzt wirklich in der Schule helfen können und auch einmal die Gutenachtgeschichte immer vorlesen können, ohne dass sie Angst haben, sich zu verlesen. Die besuchen keine weiterführenden Kurse. Aber was wir auch in unseren Evaluationen immer abfragen, das ist, ob sie Freude am Lernen gefunden haben und das wird wirklich durchgängig mit ja beantwortet. (Brigitte Bauer, Zeile 454-460)

Es kann sich durch den Kursbesuch sehr viel im Leben der Teilnehmenden

verändern und es verändert sich auch sehr viel, hob Brigitte Bauer hervor.

Veränderungen, die über das Erlernen der Schriftsprache hinausgehen, die

den Teilnehmenden ermöglichen, geeignete Strategien zu entwickeln, um im

Leben besser durchzukommen. Sie erfahren sich im Kurs selbst als Lernende

und erkennen, dass sie nicht, wie geglaubt, zu dumm dazu sind. Das eröffnet

ihnen Schritt für Schritt den Zugang zu einem selbstbestimmten Leben:

Es geht um Strategien im Leben, um: „Wie komme ich besser durch?“, aber schon auch was allein dieses Erlebnis ausmacht: „Ja, ich bin eine Lernende“ und „Nein, ich bin nicht, wie gemeint, eine und womöglich die Einzige, die es nicht geschafft hat, weil ich immer geglaubt habe, ich bin zu dumm zum Lernen“. Also allein dieses, was es ausmacht, zu merken: „Ich bin eine Lernende. Ich bin nicht zu dumm. Ich muss es nur einmal gescheit erklärt kriegen und ich kann mir ganz viel selbstständig erarbeiten“. Das öffnet Türen in jeglichem Bereich. Also, heißen tut das einfach wirklich Schritt für Schritt den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu gehen. (Brigitte Bauer, Zeile 400-409)

Es kann für die Teilnehmenden eine Trennung bedeuten, ein Lösen aus

einer Abhängigkeitsbeziehung, da sich ihnen erst jetzt die Chance bietet, es

alleine zu schaffen:

245

Es ist wirklich so und das kann alles Mögliche auslösen. Das kann auslösen Trennungen von Beziehungen, die keine Liebesbeziehungen waren, sondern nur mehr Abhängigkeitsbeziehungen und die halt irgendwie aufrecht erhalten worden sind und jetzt sieht man die Chance, dass man sich allein durchs Leben werkt und das wirklich allein schafft, erstmalig die Möglichkeit. (Brigitte Bauer, Zeile 409-414)

Verändern kann sich auch, dass die Teilnehmenden eine Arbeit oder einen

besseren Arbeitsplatz finden. Sie können jetzt vor anderen Personen Einträge

machen, ohne sich zu genieren. Bei allen Teilnehmenden lässt sich feststellen,

dass das Lernen im Kurs den auf ihnen lastenden Druck verringert und es sie,

wie Brigitte Bauer formulierte, beflügelt:

Und es kann auch heißen, wirklich einen besseren Arbeitsplatz oder einen Arbeitsplatz überhaupt zu finden. Es kann auch nur heißen, endlich einmal in Ruhe mit meinen FreundInnen auf den Berg gehen und wissen, ich kann jetzt in das Hüttenbuch neben meinen FreundInnen einen Eintrag machen, ohne dass ich mich genieren muss. Es wird ganz viel Druck genommen und es beflügelt, also das kann man durchgängig bei allen Kursteilnehmerinnen und Kursteil-nehmern feststellen. (Brigitte Bauer, Zeile 414-420)

Basisbildung lässt die Chancen steigen, einen Arbeitsplatz zu finden und

eigenes Geld zu verdienen, aber es führt nicht zwingend zu einer Arbeitsstelle.

Brigitte Bauer erzählte, dass im letzten Projekt vier von achtzehn Frauen

einen Arbeitsplatz gefunden haben. Andere wieder schaffen es endlich, sich

vor den eigenen Freunden zu outen und sind nun diesen Druck los:

Es gibt in Österreich noch kein Grundgehalt und Basiseinkommen und so lange das so ist – ich kann schon sagen, dass Basisbildung führt nicht zwingend zu einem Arbeitsplatz, das ist nicht so, also da würden wir unseren KursteilnehmerInnen was vorlügen, aber die Chancen steigen, dass ich einen Arbeitsplatz finde. Das ist wirklich so und das haben wir auch in den Projekten, also im letzten gerade gesehen. Da haben vier Frauen von achtzehn einen Arbeitsplatz gefunden, was wirklich ein sehr gutes Ergebnis ist, was ja eher schon ein Traumergebnis ist, aber was eben auch möglich ist. Und das ist jetzt nicht so, das sage ich jetzt einmal, das freut mich mindestens so, wenn ich weiß, das ist eigentlich der sehnlichste Wunsch, dass ich einmal endlich mein Geld verdiene, als wenn eine andere Frau sagt, sie hat sich jetzt endlich geoutet ihren Freundinnen gegenüber und ist diesen Druck los. Also, das sind alles Feste, die zu feiern sind. (Brigitte Bauer, Zeile 252-264)

Wichtig ist, dass die Teilnehmenden sich außerhalb des Kurses trauen, ihre

Schriftsprachkenntnisse anzuwenden und sich möglichst viele Gelegenheiten

suchen, um in Gegenwart anderer zu schreiben. Brigitte Bauer erwähnte hier,

dass sie beginnen, für andere Notizen zu schreiben und Erlagscheine im

246

öffentlichen Raum auszufüllen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten

viele Arbeitsaufgaben für zuhause, die sie ebenfalls dabei unterstützen:

Eben ganz bewusst Notizen schreiben für andere, ganz bewusst – es gibt Kursteilnehmer, die gehen auf die Post und füllen dort Erlagscheine im öffentlichen Raum aus, weil sie wissen, sie wollen das jetzt üben - nebenbei gehen Leute vorbei - und sie wollen einmal endlich von diesem Stress wegkommen. Zusätzlich, dass sie halt auch wirklich viel Arbeitsaufgaben mit nach Hause bekommen, die selbstständige Kontrolle erlauben, das heißt: Auslagern aus dem Kursraum ist einer von unseren Eckpfeilern, weil es nichts nutzt, wenn im Kursschonraum alphabetisiert wird oder jemand Basisbildung sich erarbeitet und draußen dann, sich nicht traut anwenden. (Brigitte Bauer, Zeile 427-436)

Einige Gemeinsamkeiten und Besonderheiten:

Die Motive, um im Erwachsenenalter mit einem Basisbildungskurs zu

beginnen, sind, nach den Erfahrungen von Sonja Muckenhuber, hauptsächlich

ein immenser Leidensdruck, Ängste - vor allem die Angst entdeckt zu werden,

Kinder und wirtschaftliche Notwendigkeiten, wie z.B. Arbeitslosigkeit oder die

Angst um den Arbeitsplatz. Die Erwachsenen verstecken sich und fürchten,

von ihren Partnerinnen und Partnern, Arbeitskollegen oder Kindern entdeckt

zu werden. Sie fürchten, sich vor ihren Kindern zu blamieren, aber noch viel

mehr fürchten sie, für ihre Kinder blamabel zu sein.

Diese Erwachsenen kommen nicht freiwillig in die Kurse, äußerten Sonja

Muckenhuber wie auch Peter Webhofer. Seine Kurse finden im arbeitsmarkt-

politischen Bereich statt, weswegen der Wunsch, wieder eine Arbeit zu finden

und beruflich weiter zu kommen, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern

vorrangig anzutreffen ist. Ihre Kinder in der Schule unterstützen zu können,

stellt meist für Mütter einen wichtigen Lerngrund da, teilte Peter Webhofer

mit. Etwas häufiger wird in seinen Kursen nun das Motiv genannt, was für sich

tun zu wollen, um selber weiter zu kommen. Die Erwachsenen wollen auch

keine Angst mehr beim Ausfüllen von Formularen haben, da sie merken, dass

die Schriftsprachlichkeit zunimmt. Ein starkes Motiv für den Kursbesuch ist

ferner der Wunsch, soziale Kontakte zu finden, sich auszutauschen vermutlich

bis hin zur Partnerwahl. Lesen und Schreiben besser zu können ist hingegen

ganz selten ein Motiv, hob Peter Webhofer hervor.

Brigitte Bauer gab ein Hauptziel an, dass in ihren Kursen immer wieder

genannt wird, den Wunsch der Teilnehmenden nach einem selbstständigen

Leben, nach mehr Selbstwert und einem bestärkten Selbstwertgefühl. Sie

wollen ihr Leben selbst bestimmen können, nicht mehr ständig andere fragen

247

müssen und es nicht mehr nötig haben, sich zu verstecken. Der zweitmeist-

genannte Wunsch ist der nach einem besseren Arbeitsplatz. Ferner erwähnte

Brigitte Bauer, wie zuvor auch Peter Webhofer, dass vor allem Frauen ihren

Kindern in der Schule helfen wollen, um ihnen dasselbe Schicksal zu ersparen.

Zwei Personen sprachen die Gruppe an. Eine sehr wesentliche Erfahrung

für die Teilnehmenden ist das Sozialgefüge, erklärte Sonja Muckenhuber.

Kommen die Erwachsenen in die Kurse, wollen sie möglichst schnell und

perfekt Lesen und Schreiben lernen, doch schon nach einigen Wochen, sind

ihnen der soziale (Schon-)Raum, die entstandenen Freundschaften und der

Austausch gleichermaßen wichtig. Peter Webhofer erwähnte ebenfalls das

Sozialgefüge, das auf die Lernenden motivierend wirkt, wenn auch ihr

Lernerfolg einmal gering ist oder ausbleibt. Die Teilnehmenden kommen sehr

häufig in die Kurse, weil sie dort Personen mit gleichem Schicksal getroffen

haben, die sich auch austauschen wollen.

Seiner Ansicht nach ist für die Erwachsenen das Wichtigste im Kurs geliebt

– was vielleicht einwenig zu hoch gegriffen sein mag – aber angenommen und

akzeptiert zu werden, da viele das in ihrem ganzen Leben noch nie erlebt

haben, weil sie immer nur als Außenseiter angesehen worden sind. Sie

möchten im Kurs vor allem als Menschen wahrgenommen und in langsamer

und persönlicher Art und Weise wieder mit dem Lesen und Schreiben

konfrontiert werden. Ein erstes bedeutsames, angstreduzierendes Moment ist

ihre Erleichterung angesichts dessen, dass der Kurs anderes ist als sie, in

Erinnerung an ihre Schulzeit, zuvor befürchteten. Sehr wichtig ist auch ihre

Erfahrung, dass sie von den Leuten dort gemocht werden, betonte Peter

Webhofer. Für Brigitte Bauer ist das Wichtigste, dass die Erwachsenen mit

ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst genommen und individuell betreut

werden und dass ein partnerschaftlicher Umgang gepflegt wird, in welchem

zusammengearbeitet und Rücksicht auf ihre Möglichkeiten genommen wird.

Um (erste) positive Lernerfahrungen der Erwachsenen zu begünstigen, ist

es nach der Überzeugung aller drei befragten Personen wesentlich, auf deren

vorhandenen individuellen Wissens- und Kenntnisstand aufzubauen. Brigitte

Bauer hält es ihrerseits für zentral, dass die Erwachsenen bereits in der ersten

Lerneinheit merken müssen, dass sie lernen können. Sie müssen sich etwas

gemerkt haben, was sie zuvor nicht wussten und was sie jetzt mit Sicherheit

wissen. Das gelingt, wenn im Erstgespräch die Bedürfnisse und Kenntnisse

der Erwachsenen aufmerksam erhoben werden und natlos an ihr vorhandenes

Wissen und Können angeknüpft wird. Sie setzt dabei auf Einzelunterricht zu

248

Beginn, Methodenvielfalt und bestens geschulte Trainerinnen und Trainer.

Unerlässlich für positive Lernerfahrungen ist, nach Sonja Muckenhuber, auf

den Ressourcen der Teilnehmenden aufzubauen, sie in ihrem Wissen und

Können zu bestärken und im „Versagen“, im Nichtereichen gesetzter Ziele,

aufzufangen. Sie fügte hinzu, dass im Kursablauf auch Zeit für Entspannung,

Spaß und Beziehungen eingeplant wird und zusätzlich das Klima zwischen den

Beteiligten stimmen sollte. Neben dem Vermeiden jedes schulischen Settings

betont sie ausdrücklich die Notwendigkeit geschulter Trainerinnen und Trainer

mit persönlichen Fähigkeiten, wie Empathie, die die Gradwanderung zwischen

Lernautonomie und dem Bedürfnis der Teilnehmenden nach Orientierung

beherrschen.

Peter Webhofer beabsichtigt zunächst die negative Selbsteinschätzung der

Erwachsenen durch eine positive Rückmeldung auf ihren ersten Text ins

Wanken zu bringen. Während des Kurses sollen ihnen möglichst viele kleine

positive Lernerfolge vermittelt werden, die ihnen aufzeigen, dass sie

Fortschritte machen und so zu Motivationsanlässen werden. Sie sollen

erkennen können, was sie gelernt haben und dass sie was gelernt haben. Er

berichtete außerdem von seinem erfolgreichen Projekt, wo er eine Literatur-

zeitschrift gemeinsam mit einer Gruppe Teilnehmender gegründet hat. Diese

Zeitschrift zu gestalten und herauszugeben sowie eigene Texte dafür zu

schreiben, ist für diese Gruppe nach wie vor sehr motivierend. Wesentlich für

den Lernerfolg ist es, individuell zu forschen, was die Erwachsenen motiviert,

was sie brauchen, wo ihre Schwächen liegen und auch ihre Stärken, auf die

rasch aufgebaut werden kann. Den Schlüssel zum Erfolg sieht Peter Webhofer

in einer ganz starken individuellen und persönlichen Betreuung und in einem

sehr selbsttätigen, realitätsnahen und inhaltlich praxisnah, am persönlichen

Leben orientierten Unterricht.

Unterschiedlich waren die Antworten der beiden Interviewpartnerinnen

und des Interviewpartners zu ihren Erfahrungen mit sich sehr lange nicht

einstellenden oder ausbleibenden Lernerfolgen bei den Teilnehmenden. Sonja

Muckenhuber nannte als mögliche Gründe dafür, dass es sein könnte, dass

das Konzept, die Methode oder das Thema für diese Person nicht gepasst hat

sowie vorhandene organische Ursachen. Brigitte Bauer erwähnte, dass sie

dann möglicherweise den Punkt zum Ansetzen nicht gefunden hat oder dass

äußere Faktoren, wie Krankheit, Sorgen, belastende Situationen in der Arbeit

oder zuhause den Teilnehmenden das Lernen erschweren. Beide sprachen von

kurzfristigen Missverständnissen bzw. kleineren, interimistischen Misserfolgen,

249

die vorkommen können und verwehrten sich gegen das in der Fragestellung

vorkommende Wort Scheitern, welches für Sonja Muckenhuber langfristig und

entgültig bedeutet.820 Sie hob hervor, sich nicht erinnern zu können, je mit

einem Teilnehmenden entgültig gescheitert zu sein, wobei sie jedoch

einräumt, dass das für die Teilnehmenden anders aussehen mag. Sie

bemerkte, es komme natürlich schon vor, dass ab und zu eine Person den

Kurs abbricht, allerdings ganz selten. In den Kursen von Brigitte Bauer hat

durch die individuelle Betreuung nie jemand aufgehört, weil der Lernerfolg

gescheitert wäre. Sie betonte, dass sie das nicht kenne und dass es da um ein

Scheitern am Lernen eigentlich nie gegangen ist.

Peter Webhofers Erfahrung ist, dass es meistens relativ schwierig für die

Trainerinnen und Trainer und für die Beteiligten wird, wenn das Lernen nicht

gelingt. Jeder Person Lesen und Schreiben beizubringen, bezeichnete er als

ein sehr hohes Ziel, das sie im Kurs nicht schaffen. Er erwähnte, dass es

immer Personen geben wird, die es, aus den verschiedensten Gründen, auch

bei ihnen nicht erlernen können. Die Teilnehmenden werden im Kurs mit

kleinen Motivationsschritten so gut als möglich motiviert. Wenn das nicht

geht, weil z.B. komplexe Problemlagen bestehen, die im Kurs zur Zeit nicht

bearbeitbar sind oder die Trainerinnen und Trainer möglicherweise die

verkehrten Ansprechspartner sind, so bieten sie diesen Personen auch an, den

Kurs zu beenden. Manche Teilnehmende beenden den Kurs auch selbst, wenn

ihr Lernerfolg über einen längeren Zeitraum ausbleibt. Scheitern gehört, nach

seinem Dafürhalten, zum Alltag der Trainerinnen und Trainer und zu ihrem

professionellen Zugang, auch wenn es nicht immer ganz leicht ist.821 Es ist ein

Teil des Lernens, ergänzte Peter Webhofer, denn: „Wenn man nicht scheitert,

wird man wahrscheinlich nicht sehr viel lernen können“.822 Er ist der

Überzeugung, dass es fast nicht möglich ist, dass eine Person gar nichts lernt,

dass das Gelernte aber nicht immer den Erwartungen der Trainerinnen und

Trainer entsprechen muss. Beispielsweise können auch Veränderungen in der

Person kleine Randerfolge im Kurs sein, nicht nur ihre Lernerfolge mit dem

Lesen und Schreiben.

Die Veränderungen, die sich durch das Erlernen des Lesens, Schreibens

820 Die Autorin war bei der Erstellung der Frage nicht davon ausgegangen. 821 Die Gegensätzlichkeit zwischen den Interviewantworten ist sehr interessant. Ob das an den unterschiedlichen Personengruppen liegt, an der freiwilligen oder unfreiwilligen Teilnahme oder an ganz anderen Dingen, müsste erst noch untersucht werden. 822 Interview Herr Peter Webhofer, Zeilennummer 326-327, S. 38, siehe Anhang.

250

und Rechnens im Leben der Teilnehmenden ereignen können, sind nach den

Worten Brigitte Bauers folgende: Die Erwachsenen können voller Freude ihren

Enkelkindern in der Schule helfen und ihnen ohne Angst etwas vorlesen. Sie

haben Freude am Lernen gefunden und Strategien entwickelt, besser durchs

Leben zu kommen. Es ist ihnen schrittweise möglich, ein selbstbestimmtes

Leben zu führen, weil sie sich im Kurs selbst als Lernende erfahren haben und

feststellen konnten, dass sie lernen können und nicht zu dumm dazu sind. Sie

sind jetzt imstande ihre Abhängigkeitsbeziehungen aufzugeben, da sie sich

zutrauen, es auch alleine zu schaffen. Sie können nun im öffentlichen Raum

neben anderen schreiben, ohne sich genieren zu müssen. Der Kursbesuch

erhöht ihre Chancen, wieder eine Arbeit zu finden und eigenes Geld zu

verdienen oder einen besseren Arbeitsplatz zu erlangen. Manche schaffen es,

sich den Freunden gegenüber zu outen, aber bei allen sinkt eindeutig der

Druck, der auf ihnen lastet, und sie werden beflügelt. Viele, wenn auch nicht

alle, beginnen mit weiterführenden Kursen, doch auf alle Fälle gehen sie

wieder in die Öffentlichkeit und sind nicht mehr so isoliert.

Nach Peter Webhofer zeigen sich die Veränderungen insbesondere in der

reduzierten Angst der Teilnehmenden und der größeren Sicherheit, wenn sie

z.B. zum AMS gehen oder irgendwo etwas ausfüllen müssen. Infolge ihrer

größeren Selbstsicherheit, beginnen sie, sich etwas zuzutrauen, beispielsweise

einen neuen Beruf, eine neue Perspektive und dass sie selbst etwas bewegen

können. Sie wenden die Schriftsprache selbstbewusster oder das erste Mal in

ihrem Leben an und tun sich damit im Alltag leichter. Einzelne werden fast zu

Nachwuchsschriftstellerinnen oder Nachwuchsschriftstellern, jedenfalls tun alle

nun mehr schriftsprachlich im Alltag und beschäftigen sich mehr damit. Nicht

jede und jeder lernt weiter, aber der Wunsch dazu existiert durchaus, weil

Lernen nun als positiv betrachtet wird und das Interesse an unterschiedlichen

Alltagsvorgängen und Weiterbildungsinhalten bei allen deutlich wächst.

Sonja Muckenhuber berichtete ebenso von der gewonnenen Sicherheit der

Erwachsenen und der größeren Wirklichkeit, die sie sich nun zu beschreiten

trauen. Sie erlangen mehr persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein

höheres Selbstwertgefühl und größere Selbstsicherheit. Manche fühlen sich

auch wie ein anderer Mensch. Sie haben bessere Möglichkeiten, berufliche

Ziele zu erreichen und verfügen über eine größere berufliche Stabilität und

Flexibilität. Die Teilnehmenden wenden die im Kurs erlernten Fertigkeiten mit

großer Freude an. Alle haben Pläne und lernen weiter oder sie machen inner-

betriebliche Weiterbildungen.

251

SCHLUSSWORT

In dieser Arbeit habe ich mich ausführlich mit Alphabetisierung und Basis-

bildung befasst und beabsichtigt, geographische, historische, bildungs-

politische und gesellschaftliche Bezüge darzustellen sowie die persönlichen

Sichtweisen Erwachsener, die Lesen, Schreiben und Rechnen wieder erlernen,

einzubringen. Drei Fragen waren während der Bearbeitung tonangebend: Was

soll, wie gelingt und was bringt Alphabetisierung und Basisbildung? Eingangs

wurde durch unterschiedliche Definitionsansätze verdeutlicht, dass diese

kontext- und zeitabhängige Konstrukte sind, die willkürlich aus einer

bestimmten Perspektive und zumeist mit konkreten Absichten formuliert

werden. Illustriert wurde dies durch Geschichten, Gedichte und Berichte aus

einigen Ländern, die von Kollonialmächten besetzt wurden und durch die

internationalen Alphabetisierungsbestrebungen seit 1945.

Diese Arbeit stützt sich auf die Theorie Paulo Freires, der daran erinnerte,

dass Bildung niemals neutral ist. Das bedeutet: Bildung kann befreien, aber

auch unterdrücken und verlangt daher nach einer klaren Entscheidung, die in

der Einstellung und Haltung im Umgang mit den Lernenden deutlich wird.

Gegenüber den Traditionen in anderen Ländern steckt Alphabetisierung

und Basisbildung in Österreich noch in den Kinderschuhen. Zur Basisbildung

gehören hierzulande, nach einer Definition des Netzwerks „Basisbildung und

Alphabetisierung“, die Bereiche „Lesen, Schreiben, Rechnen und Umgang mit

dem PC“ sowie die „Fähigkeit des autonomen Lernens“.823 Die Vertreterinnen

und Vertreter des Netzwerks verstehen unter einer ausreichenden

Basisbildung das Niveau, „das einem guten Pflichtschulabschluss entspricht“,

ergänzt mit der „Kompetenz, sich selbstständig Wissen zu erarbeiten“.824

Untersuchungen der OECD und Schätzungen des Europäischen Parlaments

zufolge wird von 10-20% Erwachsenen ausgegangen, deren Lese- und

Schreibkenntnisse nicht für das Alltags- und Berufsleben ausreichen. Konkret

wären das „675.000 bis 1,4 Millionen“ Menschen im erwerbfähigen Alter in

Österreich, informiert das Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“.825

823 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Definition_von_Basisbildung.pdf (29.06.2008). 824 vgl. ebd. 825 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Zahlen_und_Fakten.pdf (29.06.2008).

252

Daneben werden bei bis zu 50% der erwachsenen Bevölkerung zu geringe

Kenntnisse im Rechnen angenommen. In diese Richtung weisen auch die

Resultate der PISA-Studie (2003), die offenbaren, dass 20% der getesteten

Jugendlichen (15-16 Jahre) gar nicht oder nicht sinnentnehmend lesen

können. Auch die PISA-Studie (2006) erbrachte, dass jede bzw. jeder fünfte

Jugendliche dieser Altersgruppe so geringe Kenntnisse im Lesen aufweist,

„,dass dadurch das private und gesellschaftliche Leben beeinträchtigt werden

kann‘“.826 Die genannten Zahlen unterstreichen, wie dringend notwendig

ausreichend Basisbildungsangebote in Österreich sind, die der betreffenden

Person, ihren Kindern (aufgrund der sozialen Vererbung) aber auch volkswirt-

schaftlich von enormen Nutzen sind.827

Meine Arbeit erforschte die Lerngründe und die (Lern-)Erfahrungen

Teilnehmender in Basisbildungsangeboten. Kenntnisse im Lesen, Schreiben

und Rechnen sind von großer Bedeutung in unserem gesellschaftlichen Leben.

Diese Fertigkeiten nicht ausreichend zu vermögen hat zur Folge, dass sehr

viele Erwachsene ein zurückgezogenes Leben in ständiger Furcht und unter

permanenten Druck führen. Das Lernen in den Kursen reduziert diese Ängste,

es ermöglicht den Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben zu leben, mehr

persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen, es erhöht ihre

Chancen einen Arbeitsplatz zu finden, ihn zu halten oder zu verbessern, es

ermöglicht ihnen, ihren Kindern in der Schule zu helfen, an der Gesellschaft

teilzunehmen, ins lebenslange Lernen einzusteigen, Freundschaften zu

pflegen, ihren Interessen nachzugehen und vieles andere mehr. Das gelingt,

wenn genügend Basisbildungsangebote auch in den Regionen zur Verfügung

stehen und wenn das Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen nicht länger

nur auf die Kindheit beschränkt bleibt sondern das Recht auf (Basis-)Bildung

im Erwachsenenalter gesellschaftlich anerkannt wird. Dann erst wird diesen

Erwachsenen ein Leben ohne Angst und inmitten unserer Gesellschaft

möglich.

826 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Zahlen_und_Fakten.pdf (29.06.2008). 827 Zum volkswirtschaftlichen Nutzen siehe z.B.: BASS: Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz. (Homepage) URL: www.lesen-schreiben-schweiz.ch/UserFiles/File/Zusammenfassung%20%20BASS%20April07_dt.pdf.

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