beobachten, behandeln, pflegen. - zfp südwürttemberg ... · angeborener oder früh erworbener...
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Beobachten, behandeln, pflegen.
Die neu gegründete Kinderstation Weissenau ab
1950 Klaus Schepker M. A. | 31.5.2017 | Weissenau
Beobachten, behandeln, pflegen. | Weissenau | 31.5.2017 Seite 2
Interessenkonflikte
• 2014-2016 Projektleiter eines von der DGKJP geförderten
Forschungsprojektes zur frühen Geschichte der Fachgesellschaft
• Mitherausgeber eines von der DGKJP finanziell unterstützten
Sammelbandes beim Springer Verlag mit den Ergebnissen des
Forschungsprojektes 2017
• Ehrenmitglied der DGKJP seit 2017
• Verheiratet mit einer Kinder- und Jugendpsychiaterin
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Gliederung
1. Einleitung
2. „Voraussage“ nach Beobachtung
3. Gründung als Beobachtungs-, Pflege und Behandlungsstation
4. Behandeln
5. Persönliche und fachliche Kontinuität
6. Diagnose Psychopath
7. Schlussfolgerungen
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Die Gründung
In der „Staatlichen Heilanstalt Weissenau“ (späteres PLK Weissenau) wurde
• „Im November 1950 […] eine Kinderabteilung eröffnet. (Pflege- und
Beobachtungsabteilung)“ (Ärztlicher Jahresbericht für das Jahr 1950)
• und ab dem 11. Dezember 1950 die ersten Patienten aufgenommen.
.
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Völkischer Beobachter, Wiener Ausgabe, Freitag 6. September 1940
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Völkischer Beobachter, Wiener Ausgabe, Freitag 6. September 1940
Auszüge aus dem VB Artikel ...
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„Voraussage“ nach Beobachtung
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Konzept
Villinger 1920
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Eine jahrzehntelange Forderung der Fachvertreter
• Als die „einzige Möglichkeit […] erscheinen geeignete Beobachtungsabteilungen“ (Schröder&Heinze 1928)
• Eine der Aufgaben des Jugendamtspsychiaters sei die „Leitung einer Beobachtungsstation als eines psychiatrisch-psychologischen Klärbeckens und einer psychiatrisch-neurologischen Krankenstation.“ (Villinger 1929)
• „Vorbau von Beobachtungs- und Sichtungsabteilungen“ (Schröder Rede in
Wien 1940)
• „Beobachtungsstation für Kinder und Jugendliche als eines psychiatrisch-psychologischen Klärbeckens nebst einer besonderen Behandlungsabteilung“ (Villinger 1949)
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Das Konzept der Beobachtungsstation
• „Beobachtungsstation für Kinder und Jugendliche als eines psychiatrisch-psychologischen Klärbeckens“
• „Untersuchung, Beurteilung und gegebenenfalls Behandlung der psychisch auffälligen, schwierigen und abnormen Kinder und jugendlichen.“
• „Aufstellung eines Heilplanes und einer sozialen Prognose für alle Untersuchten“
• „Mitwirkung bei der Auswahl der etwa benötigten Sonderheime, Fürsorgeerziehungsanstalten, Ausbildungsstätten, Pflege-, Dienst- und. Lehrstellen oder sonstiger für die Untersuchten in Betracht kommenden Unterbringungs- und Förderungsmöglichkeiten.“
• „Aussonderung praktisch Unerziehbarer und ihre Unterbringung in Sonderanstalten (Schwachsinnigen-, Heil- und Pflege-, Bewahrungsanstalten).“
Villinger 1949
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Sozialpsychiatrische Aufgaben
… „entstanden nach dem 2. Weltkrieg ähnliche zentrale klinische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit vordergründig sozialpsychiatrischen (diagnostischen und therapeutischen) Aufgaben.“ (Stutte 1966)
1. Es gab nur wenig medizinische Behandlungsmöglichkeiten (wie z.B.
die Psychotherapie bei Neurosen) 2. Die Beobachtungstationen waren als ein Bestandteil des Jugend-
und Sozialhilfesystems gedacht 3. Der Kern des Konzepts ist die Hilfestellung der Arztes bei der
Prognose und Wertung der Patienten / Zöglinge für die Jugendhilfe 4. Die Erstellung von Erziehungsplänen, der Feststellung der Grenzen
der Erziehbarkeit 5. Dominanz der Ärzte
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…praktische Charakterkunde
• „die möglichst frühzeitige Stellung einer charakterologisch-pädagogischen Prognose nach Gefährdung oder Gefährlichkeit, nach Anerkennung der Beeinflußbarkeit oder rücksichtslosem Verzicht auf Beeinflussung, schließlich frühzeitige Erkennung der Wertvollen auch bei anscheinender Verwahrlosung, bloßer Spätreife usw.“ (Schröder 1939)
• „Überall wird heute das Verlangen laut nach charakterologisch begründeter pädagogischer Beurteilung, Wertung und Prognosestellung.“ (Schröder Rede Wien 1940)
• „Das Bedürfnis nach charakterkundlicher Beurteilung unserer Jugend […] wächst und wird ständig stärker. […] Wir können uns heute, weniger denn je, allzu viele Fehlbeurteilungen junger Menschen gestatten, wenn wir ihre Einsatzstelle zu bestimmen haben, oder wenn wir darüber entscheidend urteilen müssen, ob sie zu bevorzugtem Aufstieg geeignet sind und Gefördert werden sollen oder nicht.“ (Schröder 1940)
• „Entscheidend für die seelische Beurteilung, die pädagogische Prognose und den Erziehungs- (Unterstützungs-) Plan kann nur die Bewertung des Gesamts auf charakterlichem (und intellektuellem) Gebiet sein.“ (Schröder 1940)
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Das "Minderwertigkeitsdenken" (Holtkamp 2002) als Grundlage
der Beobachtungsstationen
Die Kinder- und Jugendpsychiater Schröder, Villinger, Heinze und Stutte betonten immer wieder: 1. Die Wertigkeit des Menschen, es gäbe „Plus- und Minusvarianten“ 2. Extreme Minusvarianten wären die „praktisch Unerziehbare“
(Villinger, Stutte) oder die „Monstra“ (Schröder, Heinze) 3. Den Erbdeterminismus 4. Anlagebedingtheit sei diagnostizierbar 5. Prognose so früh wie möglich 6. Einsatz therapeutischer Mittel nur nach Prognose 7. dadurch ließen sich Mühen, Enttäuschungen und Aufwand einsparen
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Gründung als Beobachtungs-, Pflege und Behandlungsstation
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Ein gesellschaftlicher Auftrag zur Gründung
„Die Emanzipierung der Kinderpsychiatrie ist entscheidend gefördert worden durch die sozialen bzw. fürsorgerischen Aufgaben, die dem Arzt bei schwachsinnigen und lernbehinderten, bei schwererziehbaren und kriminellen, bei Scheidungs-, Adoptions- und unehelichen Kindern gestellt waren. …waren diese konkreten psychohygienischen Aufgaben z. T. entscheidender Anlaß für die Errichtung der Spezialabteilungen Schon früh aber gingen die Träger der Erziehungsfürsorge jedoch dazu über, eigene, ärztlich geleitete, klinische Zentren und Beobachtungsstationen zu erstellen.“ (Stutte 1966)
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Das geplante Konzept
Prof. Ederle, Ärztlicher Direktor der Heilanstalt Weissenau, unterbreitete dem Innenministerium am 11.10.1949 konkrete „Vorschlage über die Errichtung einer Kinderabteilung“ : • „Sie soll eine Pflegeabteilung mit 40 bis 45 Betten und • eine Beobachtungsabteilung mit 15 bis 20 Betten, • jeweils für Kinder bis zum 14. Lebensjahr, umfassen. Als personelle Ausstattung wird ein Assistenzarzt, eine in Säuglings- und Kinderpflege geprüfte Krankenschwester als Abteilungspflegerin sowie eine Kindergärtnerin mit Heimerfahrung vorgeschlagen.“
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Selbstdarstellung im AFET Verzeichnis 1954
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Das Konzept Beobachtung
Aus den an das Innenministerium adressierten "Vorschlägen über die Errichtung einer Kinderabteilung" von Prof. Ederle vom 11.10.1949: "Die Beobachtungsabteilung ist gedacht zu klinischen Beobachtungen von Kindern ... , die durch ihr Verhalten auffällig werden. In diesen Fällen ist durch die Beobachtung zu entscheiden, ob und welche organische Veränderungen zugrundeliegen, ob eine psychopathische Anlage oder Milieuschwierigkeiten oder beides ursächlich eine Rolle spielen. Das Beobachtungsergebnis soll als Grundlage für die zu treffenden Maßnahmen dienen (evtl. erforderliche Behandlung, Heim- oder Familienerziehung). "
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Das Konzept Pflege
Aus den an das Innenministerium adressierten "Vorschlägen über die Errichtung einer Kinderabteilung" von Prof. Ederle vom 11.10.1949: "Für die Pflegeabteilung kommen in Betracht Kinder ... infolge angeborener oder früh erworbener Schäden des zentralen Nervensystems in der Familie oder Kinderheim nicht gehalten werden können und nicht bildungsfähig sind im Rahmen einer Hilfsschule. Praktisch kommen der Intelligenz nach also in Frage: schwer Imbezille und Idiotien ... . Therapeutische Gesichtspunkte spielen bei der Art dieses Krankengutes keine nennenswerte Rolle ....“
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Aufenthaltsdauer 1951
Kostenträger N Berechnungstage durchschnittl.
Verweildauer
ab Aufnahme ab Aufnahme
(in Tagen, gerundet)
Anzahl Patienten 1951 73 27.884 382
Sozialamt 26 16.946 652
Jugendamt 10 5.926 593
AOK 10 287 29
Vater 4 1.056 264
Betriebs- und Ersatzkassen 9 309 34
Vorläufige oder wechselnde
Kostenträger 10 2.861 286
Amtsgericht 1 64 64
Gesundheitsamt 1 9 9
Unklar 2 426 213
Zusammengefasst
Ämter/öffentliche Hand 38 22.945,00 604
Krankenkassen / Eltern / usw. 35 4.939,00 141
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Behandeln
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Begrenzte Behandlungsmöglichkeiten
Ärztlicher Jahresbericht 1952
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Medikation eines Patienten
Aufenthalt 327 Tage; Entlassen in Heilanstalt als „gebessert“: • 11/1950) Uni Tübingen -> 3 * 1 Tbl. Comital und bei Anfallsfreiheit
reduzieren • 5/1951) 2 * 0,5 Tbl. Comital • 5/1951) 3 * 0,5, Tbl. Comital • 9/1951) 3*1 Tbl. Comital + 0,05 Luminal morgens und abends ->
„trotz der hohen Medikation [] ist sein unstetes, umtriebiges Verhalten gleich geblieben. Manchmal wirkt er fast abwesend …“
• 12/1951) „Ohne Zweifel hat sich die hohe Comital- und Luminaltherapie ungünstig auf die Wesensänderung ausgewirkt“ deshalb -> Versuchspräparat 282 F + abends Medinal
• 1/1952) 1 Tbl. Zentropil + 1/3 Tabl. Isophen morgens und mittags + abends eine Medinal
• 3/1952) 2 * 1 Tbl. Zentropil + abends 1 Medinal • 5/ 1952) 2 * 1 Tbl. Comital + 1 Tbl. Evipan • 6/1952) 2 * 1 Tbl. Zentropil + abends 1 Tbl. Evipan
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Medikamentenübersicht / Weissenau 1951
Neben Arzneien gegen Infektionskrankheiten wurden Beruhigungsmittel und Antiepileptika verordnet • 8 von 101 Patienten erhielten solche Medikamente • Wie z. B. Luminal, Evipan und Medinal (Beruhigungsmittel)
• … und Comital, Zentropil (Antiepileptika) Es gab noch keine Psychopharmaka! Es wurden auch 2 Massagen verschrieben!
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Medikamentenübersicht / Weissenau 1960
In der Kinderabteilung der Weissenau wurden 1960 die oben genannten Medikamente verwendet. 81 von 238 Patienten erhielten Medikamente.
Name Firma Markteinf Rezept Häufigkeit
Truxal Tropon 1959 1968 49
Megaphen Bayer 1954 33
Phasein
forte
Boehringer
Mannheim
1957 14
Decentan Merck Dez. 1957 Ab 1960 4
Atosil Bayer 1950 3
Mephenamin Boehringer
Mannheim
? ? 2
Haloperidol Janssen 1959 1968 1
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Vom Insulinschock zur Psychopharmakotherapie
Eine „jugendliche Schizophrenie“ erhielt: • 1951 Insulinschocks
• 1952 Elektroschocks
• 1959 Decentan
• 1963 Dipiperon
• 1964 Melleril
• usw.
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Selbstdarstellung im AFET Verzeichnis 1959
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Persönliche und fachliche Kontinuität
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Personelle Kontinuität 1
Die Gründung der Kinderabteilung erfolgte auf Betreiben von: Wilhelm Ederle (1901-1966)
• Oberarzt in Tübingen unter Hermann Hoffmann (begeisterter NS
Wissenschaftler)
• … und 1945-1947 unter Werner Villinger und Ernst Kretschmer
• NSDAP Mitglied
• Übernimmt am 14. Mai 1947 die Leitung des PLK Weissenau (bis 1966)
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Personelle Kontinuität 2
Der beim Landesjugendamt zuständige ist: Max Eyrich (1897-1962)
• Kinderpsychiatrische Berufserfahrungen in Tübingen und Bonn
• seit 1. April 1933 Landesjugendarzt in Stuttgart
• NSDAP seit 1940
• 1949 Angeklagt wegen der Beteiligung an der Ermordung von 10.654
„Geisteskranken“ und Freigesprochen
• …und nach einer Unterbrechung 1945-1950 weiterhin bis zu seiner Pensionierung Landesjugendarzt in Stuttgart
• War auf der Versammlung zur Wiedergründung der Fachgesellschaft im Oktober 1950 in Marburg anwesend
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Personelle Kontinuität 3
Als Leiter der Kinderabteilung wird eingestellt: Gernot Marcinowski (1919-1966)
• Zuvor als Assistenzarzt in Tübingen
• auf der dortigen Kinderabteilung
• War ebenfalls in der NSDAP
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Diagnose Psychopath
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Kontinuitäten einer „enggefassten“ Diagnose Psychopathie
Die Diagnose „jugendlicher Psychopath“ ist, anders als gelegentlich angenommen, eine eher selten gestellte Diagnose in der Nachkriegszeit. • „Der Psychopathiebegriff hat innerhalb der Psychiatrie einen
Bedeutungswandel erfahren und wird heute im allgemeinen reserviert für die anlagemäßigen (charakterogenen) Abartigkeiten von Temperament, Halt, Wille, Grundstimmung und anderem. Die Kinderpsychiatrie ist mit der Diagnose Psychopathie äußerst zurückhaltend. “ (Stutte 1958)
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… einer eher seltenen Diagnose
• „Von 880 Kindern und Jugendlichen im Alter von 3-18 J. der Marburger kinderpsychiatrischen Abteilung wurden lediglich 20 als Psychopathen rubriziert“. (Stutte 1958)
• In der ersten nach dem Krieg gegründeten Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg waren es also gerade einmal knapp zwei Prozent der Diagnosen.
• Die Psychopathie war auch in der Weissenau eine eher seltene Diagnose in der Kinderabteilung. 1951 waren es fünf Patienten von 73, also 6,8, Prozent (Irrenstatistik)
• Viele Jahre später waren es 1965 acht Patienten von 164, mit 4,9 Prozent also noch leicht gefallen (Irrenstatistik)
Beobachten, behandeln, pflegen. | Weissenau | 31.5.2017 Seite 36
…die notwendige Siebung
• „Jugendpsychiaters, der hier, unterstützt durch besonders vorgebildete und befähigte Hilfskräfte, die diagnostische Klärung und die nötige Siebung durchführt“ (Villinger 1925)
• „Die Verantwortung, die der begutachtende Psychiater dabei trägt, ist nicht gering, denn es handelt sich um nicht weniger als eine Entscheidung fürs Leben - wenn man einen solchen Jugendlichen Psychopathen - der Führsorgeerziehung bedürftig erklärt, oder in einen bestimmten Beruf hineinweist.“ (Villinger 1925)
• Ein für das Konzept einer Beobachtungsstation typischer Patient wies 29 Tage Aufenthaltsdauer auf. Er wurde als „Psychopathisches Kind oder Jugendlicher“ diagnostiziert. (Patientenakten)
• Der behandelnde Kinder- und Jugendpsychiater erstellte nach vier Wochen stationärer Beobachtung und der Entlassung nach Hause ein Gutachten. (Patientenakten)
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Patient mit der Diagnose „jugendlicher Psychopath“
„Seine psychischen Auffälligkeiten sind nach dem Ergebnis unserer Beobachtung im wesentlichen als anlagebedingt anzusehen. Nach dem Stand seiner körperlichen und geistigen Ausreifung ist unter Berücksichtigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Wesensart von einem weiteren Schulbesuch … u. E. keine wesentliche Förderung mehr zu erwarten. Wir würden daher seine Schulentlassung … unter der Voraussetzung befürworten, dass der Junge unter fester und ständiger Aufsicht und Anleitung ganztägig arbeitsmäßig beschäftigt und zu einer einfachen Berufsausbildung herangezogen wird, um weitere Entgleisungen zu vermeiden“ (Patientenakten).
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Wohin mit den Psychopathen?
• Eine andere Aufgabe sei die „Aussonderung praktisch Unerziehbarer und ihre Überleitung in Sonderanstalten ([…] Schwachsinnigen-, Irren-, Bewahranstalten)“ (Villinger 1929)
• 1940 in Wien forderte Villinger: „Ein Bewahrungsgesetz, das es gestatten würde, praktisch Unerziehbare … in besonderen, entsprechend eingerichteten Arbeitskolonien unterzubringen“ (Vortrag
Villinger 1940 in Wien)
• 1942 „Sie sind viel besser in besonderen, disziplinell straff organisierten, aber auf jeden Fall jugendpsychiatrisch laufend beaufsichtigten Jugendschutzlagern untergebracht, in denen viel strengere Hassnahmen angewendet werden können, als es die Heil- und Pflegeanstalten oder die Erziehungsanstalten zulassen.“ (Konzept
der DGKH)
• 1949: „Aussonderung praktisch Unerziehbarer und ihre Unterbringung in Sonderanstalten (Schwachsinnigen-, Heil- und Pflege-, Bewahranstalten)“ (Villinger 1949)
Beobachten, behandeln, pflegen. | Weissenau | 31.5.2017 Seite 39
Schlussfolgerungen
• Das Stationskonzept des gleichzeitigen Beobachtens, Behandelns und Pflegens mit wenig und schlecht ausgebildetem Personal musste zwangsläufig zu einer unzureichenden Versorgung führen
• Zu einer ersten Eskalation kam es deswegen 1965 (durch Pflegefälle „blockierte Betten“) und zur zweiten 1968 („Personalmangel“)
• Es gab lang wirkende persönliche und fachliche Kontinuitäten: sowohl Wilhelm Ederle als auch Gernot Marcinowski waren bis 1966 tätig
• Fachliche Vorstellungen wie z. B. die anlagebedingte Diagnose „jugendlicher Psychopath“ haben sich so 2 Jahrzehnte halten können
• Der sogenannte Würzburger Schlüssel, ein 1933 eingeführtes Klassifikationssystem für psychiatrische Diagnosen, wurde passend dazu ebenfalls bis 1965 zur Berichterstattung an die vorgesetzte Dienststelle genutzt (obwohl es ICD schon lange gab)
Klaus Schepker M. A. | 31.5.2017 | Weissenau
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit