berlis - 2000 - die historikerin als detektivin

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     Angela Berlis

    Die Historikerin als DetektivinAnsätze und Erträge der historischen Spurensicherung für

    feministische ‘Kirchengeschichten’1

    I entirely agree that a historian ought to be precise in detail;but unless you take all the characters and circumstances

    concerned into account, you are reckoning without the facts.The proportions and relations of things are just as much facts as the things themselves;

    and if you get those wrong, you falsify the picture really seriously.2

    Bekanntlich ernähren sich die Historiker von Leichen.3

    Der Roman Gaudy Night, im Deutschen mit  Aufruhr in Oxford übersetzt, istnicht nur als Kriminalroman höchst interessant, sondern auch im Blick auf dieSituation eines Frauencolleges, das sich in den dreißiger Jahren des 20. Jahr-hunderts in der universitären Männerdomäne Oxford behaupten muß. Mit der oben zitierten Aussage stellt Dorothy Sayers dem Publikum die HistorikerinDe Vine vor, deren Gegenpart im Roman die Kriminalautorin und DetektivinHarriet Vane ist. Es sind nicht nur die ähnlich klingenden Namen H. de Vine

    9

    1 Mit Dank an Charlotte Methuen und Doris Brodbeck für ihre konstruktive Kritik früherer Fas-sungen dieses Artikels. Ich widme diesen Beitrag meiner Mutter Elisabeth Berlis, die mich dieLiebe zu Kriminalromanen gelehrt hat.

    2 Miss de Vine in: Dorothy L. Sayers, Gaudy Night (London: New English Library 1981), 23.Die deutsche Übersetzung von Otto Bayer formuliert nicht in gleicher Weise geschlechtsneu-ral wie das englische Original: “Ich stimme Ihnen völlig zu, daß man es als Historiker mitdem Detail sehr genau nehmen muß; solange man aber nicht alle beteiligten Charaktere undUmstände in Betracht zieht, läßt man Fakten außer acht. Die Proportionen und Beziehungen

    der Dinge zueinander sind ebenso Fakten wie die Dinge selbst; und wenn man die nicht rechtversteht, wird das Gesamtbild arg verfälscht”, Dorothy L. Sayers,  Aufruhr in Oxford (Rein-bek: Rowohlt 1999), 26.

    3 Carlo Ginzburg, Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und sozialesGedächtnis, (München: Deutscher Taschenbuchverlag 1988), 9.

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    und H. D. Vane, durch die Dorothy Sayers zwischen diesen beiden Frauen im

    Roman eine Beziehung herstellt, sondern es ist auch ihre Arbeitsweise: DasWahrnehmen und Deuten kleiner Details verbindet die historische und diedetektivische Arbeit und führt so die Forschenden schließlich zu einer erfolg-reichen Lösung des Rätsels.

    Ähnlich hat vor einigen Jahren der italienische Historiker Carlo Ginzburgin einem Artikel historische Wissenschaft als Indizienwissenschaft vorgestelltund in eine ‘Ahnenreihe’ mit der detektivischen Arbeit eines Sherlock Hol-mes gestellt.4

    Ich möchte in diesem Artikel darstellen, daß auch die Arbeit historisch-theo-logischer Frauenforschung diesem detektivischen Paradigma verpflichtet ist.Sie betreibt mit ihrer Forschung ‘Spurensicherung’ und entziffert und inter-pretiert die historischen Spuren von Frauen, ihr Handeln und ihre Lebens-umstände. Dabei bezieht sie nicht nur Fakten, sondern auch deren Bezie-hungen zueinander, insbesondere die Geschlechterbeziehungen und diegeschlechtsspezifischen Bedingtheiten von Handlungen, in die Interpretationein. Zudem befindet sich die Forscherin in einer ähnlichen Situation wie dieDetektivin: Sie möchte ein Bild rekonstruieren, das am Anfang nur bruch-stückhaft vor ihr liegt. Im Lauf der Untersuchung setzt sie die einzelnenTeile zusammen, so daß sich am Ende eine komplettere Vorstellung vomTathergang machen läßt, in dem die Handlungen, Verstrickungen, Motiveund Beziehungen der Beteiligten sichtbar werden. Bevor dies soweit ist, giltes, den Aussagen und Selbstdarstellungen der Befragten mit Verdacht zubegegnen: Was verschweigen sie, was haben sie zu verbergen, wo weist ihreErzählung im Vergleich zu anderen Darstellungen Unstimmigkeiten auf?Welche Spuren sind bewußt ausgewischt worden, um das Bild zu glätten?Ähnliche Fragen können sich auch historisch arbeitende Frauen bei ihrer Forschung stellen.

    Im Folgenden sollen zunächst einige methodische Probleme der Geschichts-

    schreibung über Frauen dargestellt werden. Dabei werde ich im ersten Teil

    ausführlich auf das Problem der Unsichtbarkeit von Frauen eingehen.

    Danach werden verschiedene Ansätze innerhalb der historischen Frauen-

    und Geschlechterforschung vorgestellt. Auf der so geschaffenen Grundlagewerden sodann im zweiten Teil Hindernisse, Desiderate und Fragestellun-

    ThemaSubject Sujet 

    10

    4 Carlo Ginzburg, Spurensicherungen, 93.

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    gen einer feministisch orientierten Kirchengeschichtsschreibung beschrie-

    ben, sowie die Relevanz einer solchen Historiographie aufgezeigt. Ein wich-tiges Anliegen der feministischen historischen Forschung ist es, neue Quel-

    len zu erschließen und alte unter neuen Fragestellungen erneut zu lesen.

    Deshalb werden im dritten Teil verschiedene Arten von Quellen vorgestellt

    und auf ihre Interpretationsmöglichkeiten und ihren Ertrag hin durchgese-

    hen. Im abschließenden vierten Teil wird gezeigt, daß die Arbeit der Histo-

    rikerin und die der Detektivin eine gemeinsame epistemologische Grund-

    lage haben.

    1. Spurensicherung: Methodische Probleme der Historiographie über

    Frauen

    Eine Detektivin steht am Anfang eines Falles oft vor einem Rätsel. Sie tapptzunächst im Dunkeln. Anhand von Verhören muß sie verschiedene Versionendessen, was geschehen ist, miteinander vergleichen, das Dickicht des Erzähl-ten entwirren und dahinter kommen, welche Spuren verwischt wurden.

    1.1. Unsichtbarkeit Am Anfang der feministisch-theologischen historischen Forschung steht dieErkenntnis, daß Frauen in vorgefundenen Geschichtswerken unsichtbar undihre Spuren verwischt sind. 5

    Was heißt Unsichtbarkeit? Das Wort setzt voraus, daß etwas sichtbar seinkönnte, wenn es offengelegt oder wenn der Blick des/der Betrachtenden sichdarauf richten würde. Das Feststellen von Unsichtbarkeit kann demnach nur geschehen, wenn zuvor die Lücke, die Leerstelle konstatiert worden ist. Wiekönnen wir aber wissen, daß etwas fehlt, wenn wir nicht wissen, wonach wir suchen, da sich das Gesuchte sozusagen hinter einer verborgenen Tür ver-birgt? Der wichtigste Schritt zur historischen Frauenforschung ist deshalb dieBeobachtung, daß zwischen der Präsenz von Frauen in Kirchenräumen undihrer Präsenz in (Kirchen-)Geschichtswerken eine eklatante Diskrepanzbesteht.

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    11

    5 So ist z.B. das erste Themenheft der Zeitschrift Concilium 21 (1985), Nr. 6 zur FeministischenTheologie zu nennen; darin wird das Thema ‘Unsichtbarkeit der Frauen in der Kirche’ behan-delt; vgl. besonders die folgenden Beiträge: Elisabeth Schüssler Fiorenza, “Das Schweigenbrechen – sichtbar werden”, in: ebd., 386-398; Adriana Valerio, “Die Frau in der Geschichteder Kirche”, in: ebd., 428-434.

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    Bevor die genannte Diskrepanz als Problem erkannt werden kann, muß eine

    Bewußtwerdung auf zwei Ebenen geschehen. Erstens geht es darum, sich dieFolgen dessen bewußt zu machen, daß Frauen von Kind an daran gewöhntwerden, sich mit männlichen Hauptfiguren zu identifizieren. Es fällt ihnenmöglicherweise zuerst gar nicht auf, wie wenige Frauen in der Geschichtevorkommen; oder sie finden es zunächst gar nicht ‘so schlimm’, wenn siesich als Frauen durch männliche historische Figuren repräsentiert finden. Erstwenn diese Fremdidentifikation zugunsten einer selbst-bewußten Positionie-rung aufgegeben wird, kann die Lücke in der bisherigen Geschichtsschrei-

    bung überhaupt als offener, jedoch entleerter Raum, den es erneut zu füllengilt, erkannt werden.Zweitens geht es um die Erkenntnis, daß Historiographie immer Konstruk-

    tion ist. Geschichte schreibt sich nicht von selbst, sondern wird von Personenmit bestimmten Voraussetzungen unter bestimmten Perspektiven anhandbestimmter Fragestellungen erzählt, tradiert, geschrieben. Die Person, dieGeschichte schreibt, wählt aus, welche Ereignisse wichtig sind und welchenicht. Die Leser/innen bekommen eine Geschichte nicht unvermittelt aufge-tischt, sondern stehen sozusagen in der verlängerten Perspektive des/der Schreibenden. Sie sehen das, was er/sie preisgibt.6

    Geschichte ist aufgehobene Erinnerung an das, was früher war, gedachtund gelebt wurde. Diese Erinnerung ist jedoch nicht ‘total’, sondern partiku-lar. Erinnerung wird selektiv und disproportional7 bewahrt und selektiv verar-beitet. Das hat zur Folge, daß Erinnerungen ‘wichtiger’ Personen oder Ereig-nisse und selbstbestätigende Erinnerungen grundsätzlich mehr Chancenhaben, überliefert zu werden als ‘unwichtige’ oder identitätsstörende, gegen-läufige Erinnerungen. Im “Wettbewerb der Geschichtsschreibung”8 wird fest-gelegt, welche Erinnerungen zur ‘allgemeinen’ kollektiven Erinnerung gerin-nen und welche nicht.

    ThemaSubject Sujet 

    12

    6 Die Erzähltheorie aus der Literaturwissenschaft ist in dieser Hinsicht hilfreich: vgl. MaaikeMeijer,  In tekst gevat. Inleiding tot een kritiek van representatie (Amsterdam: AmsterdamUniversity Press 1996).

    7 Das heißt, daß bestimmte Arten von Urkunden häufiger als andere bewahrt bleiben. Eschführt das Beispiel eines Klosters an, das Akten gewonnener Prozesse eher aufheben werde als

    solche verlorener Prozesse; vgl. Arnold Esch, “Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers”, in: ders., Zeitalter und Menschenalter: der 

     Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart (München: Beck 1994), 39-69, hier 45.8 Urs Altermatt,  Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der 

    Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert (Zürich: Benziger 1989), 37.

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    Wenn Frauen sich dieser Problematik bewußt werden, erkennen sie, daß

    Geschichte anders geschrieben werden kann und muß. Sie erkennen, daßFrauen Subjekt der Geschichte sind: “Frauen haben als Subjekte dieGeschichte mitbestimmt und mitgeschrieben.”9 Wenn dies der Fall ist, sostellt sich die Frage, warum sie in Geschichtswerken nicht oder nur am Randevorkommen, umso drängender. Gleichzeitig ist damit eine Kritik der bisheri-gen Geschichtsschreibung verbunden. Das Nachdenken darüber, wie der Pro-zeß der Geschichtsschreibung verläuft, steht am Anfang von Überlegungenfeministisch-theologischer Historikerinnen, wie die folgenden Fragen von

    Ruth Albrecht im 1986 erschienen ‘Handbuch Feministische Theologie’ zei-gen:

    Wer schreibt Kirchengeschichte? Von welchem hermeneutischen Vorverständnisausgehend wird Kirchengeschichte geschrieben? Kommen Frauen als Objekte oder als Subjekte der geschichtlichen Entwicklung vor? An wen richtet sich die Dar-stellung von Geschichte? Welche Ziele sind mit der Aufarbeitung der Vergangen-heit verbunden?10

    Die eingangs konstatierte Unsichtbarkeit von Frauen legt ein vielschichtiges

    Problem offen. Es gibt verschiedene Arten von Unsichtbarkeit:11 Erstens wer-den Frauen durch Verschweigen unsichtbar gemacht. Ihr Teil der Geschichtewird nicht erzählt, etwa weil das, was sie getan haben, nicht für wichtiggehalten wird. Dies hat zur Folge, daß die Quellen darüber nicht überliefertwerden. So hat das Verschweigen zuerst das Unsichtbarmachen der Frauenund schließlich ihr Vergessen in späteren Geschichtswerken zur Folge. Zwei-tens werden Frauen infolge der dominanten androzentrischen Sprache undMethodologie unsichtbar gemacht. Insbesondere durch die gehandhabten

    Selektionskriterien für die Wichtigkeit geschichtlicher Ereignisse werdenbestimmte Fragen von vornherein als nicht oder weniger relevant ausgemu-stert. Drittens erscheinen Frauen oft nur als Negativfolie männlichen Den-kens; wo sie erwähnt werden, werden Frauen in androzentrischer Sprache als

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    13

    9 Hannelore Cyrus,  Historische Akkuratesse und soziologische Phantasie. Eine Methodologie feministischer Forschung (Ulrike Helmer Verlag: Königstein 1997), 131.

    10 Ruth Albrecht, “Wir gedenken der Frauen, der bekannten wie der namenlosen. Feministische

    Kirchengeschichtsschreibung”, in: Christine Schaumberger / Monika Maaßen (Hg.),  Hand-buch feministische Theologie (Münster: Morgana Frauenbuchverlag 21988), 312-322, hier 315.

    11 Vgl. Lieve Troch, Verzet is het geheim van de vreugde: fundamentaaltheologische thema’s ineen feministische discussie (Zoetermeer: Boekencentrum 1996), 57.

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    ‘kannibalisierte Andere’12 beschrieben. Die männliche Erfahrungs- und Deu-

    tungswelt wird dabei zur stillschweigenden Norm, während Frauen entweder zum Sonderfall oder zum Beiwerk werden. Die Darstellung von Frauengeschieht oft über ihre Stereotypisierung. In der christlichen Geschichts-schreibung und Theologie werden Frauen oft nicht als eigenständige Subjektebeschrieben, sie spielen lediglich Nebenrollen, sind Handlangerinnen, oder werden als Mutter, Tochter oder Ehefrau auf andere bezogen. In der Theolo-giegeschichte geht es zudem häufig mehr um das ‘Bild der Frau’ als um realeFrauen und dabei um die Vorstellungen, die Männer sich von Frauen

    machen.13

    Unsichtbarkeit bedeutet, wie die genannten Beispiele zeigen, nicht Abwesen-heit von Frauen, sondern Unsichtbarmachung durch perspektivisches Erzählender Geschichte. Diese Einsicht möchte ich aufgrund der Erzähltheorie erläu-tern, die in der Literaturwissenschaft benutzt wird: Narratologinnen habenfestgestellt, daß Geschichten jahrhundertelang mit einer relativ festen Struktur der Geschlechterrepräsentation erzählt worden sind; Männer spielen in klassi-schen Mythen, mittelalterlichen Epen, neuzeitlichen Romanen und Geschich-ten fast immer die Rolle des handelnden Subjektes, während Frauen in der Rolle der Gegenspielerin oder Helferin sind. Diese Rollenfestlegung hängtnicht unbedingt mit dem wirklichen Geschehen, sondern mit narrativen Kon-ventionen und Denkmustern zusammen. So stellt etwa die Literaturwissen-schaftlerin Maaike Meijer fest, daß im Roman des 19. Jahrhunderts einerwachsenes Frauenleben außerhalb der Ehe nicht erzählbar war.14 DieseSituation spiegelt auch der 1935 erschienene Detektivroman Aufruhr in Oxford von Dorothy Sayers wider. Darin wird das Geschlechterverhältnis thematisiert,und insbesondere die Frage, welche Möglichkeiten intellektuelle Frauen zur Selbstverwirklichung haben: Sollen sie heiraten und ihren Intellekt der eheli-chen Beziehung unterwerfen, oder sollen sie eine wissenschaftliche Karriere

    ThemaSubject Sujet 

    14

    12 Vgl. Meijer,  In tekst gevat , 148f., Anm. 2. Meijer macht auf zwei gegensätzliche Bedeutun-gen des Begriffs ‘der/die Andere’ aufmerksam, einmal im Sinne einer vereinnahmten, ‘kanni-balisierten’ Anderen und einmal als die andere, deren Alterität und Subjekthaftigkeit außer Frage steht.

    13 Rebekka Habermas hat darauf aufmerksam gemacht, daß Abhandlungen zum Thema ‘Frau-enbilder’ nicht zur Frauengeschichte, sondern zur Männergeschichte gehören; vgl. RebekkaHabermas, “Geschlechtergeschichte und ‘anthropology of gender’. Geschichte einer Begeg-nung”, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 485-509, hier 490.

    14 Vgl. Meijer, In tekst gevat , 50-52.

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    einschlagen, was damals in der Regel Ehelosigkeit bedeutete? Eine im Buch

    vertretene Position, mit der die konventionelle Sicht wiedergegeben wird, lau-tet: Eine große Frau steht vor der Wahl, entweder ehelos zu sterben oder einennoch größeren Mann zu heiraten. Vor dieses Dilemma sieht sich auch die Kri-minalautorin Harriet Vane gestellt, die Trost in folgenden Überlegungen sucht:

    Obwohl, hielt Harriet sich vor, eine Frau natürlich auch Größe oder zumindestgroßes Ansehen dadurch erlangen kann, daß sie einfach eine wundervolle Frau undMutter ist, wie Cornelia, die Mutter der Gracchen; wohingegen man die Männer,die sich großen Ruhm als hingebungsvolle Ehemänner und Väter erworben haben,

    an den Fingern einer Hand abzählen kann. Karl I. war ein glückloser König, aber ein wunderbarer Familienvater. Man würde ihn jedoch kaum als einen der großenVäter der Geschichte bezeichnen wollen.15

    Während Harriet Vane sich am Ende des Romans für die Heirat mit einemgroßen Mann entscheiden wird, behält ihr literarisches Gegenüber Miss deVine bewußt den Weg der ehelosen Wissenschaftlerin bei, die ihrem Berufs-ethos in allen Lebenslagen und unter allen Umständen treu bleibt.

    Der Blick in die Narratologie macht deutlich, daß Geschichtsschreibung

    vielfach den Konventionen einer – kulturell gängigen – Erzählstruktur ver-haftet bleibt, die lediglich den Mann als handelndes Subjekt wahrnimmt unddeshalb Frauen zur Unsichtbarkeit verurteilt. Dem gegenüber versucht einefeministische Geschichtswissenschaft, Frauen als Subjekte der Geschichtewahrzunehmen und sie “als Entscheidungsträgerinnen, als Inspiratorinnen für neue Entwicklungen im Christentum”16 sichtbar zu machen.

    Eine Detektivin kann – wie die Historikerin auch – einen Fall nur dann erfolg-

    reich bearbeiten, wenn es ihr gelingt, die Handlungen möglichst aller betei-ligten Personen aufzudecken und damit sichtbar zu machen. Sie interessiertsich deshalb besonders für das Verschwiegene, für die geheimen Türen undfür die entleerten Räume. Erst wo es ihr gelingt, solchen Leerstellen auf dieSpur zu kommen und diese auszufüllen, kann sie der Undurchsichtigkeit Her-rin werden und einen Überblick über das Geschehene erlangen, der der Wirk-lichkeit gerecht wird.

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    15

    15 Sayers, Aufruhr in Oxford , 60; englische Version: Gaudy Night , 53.16 Leonore Siegele-Wenschkewitz, “Forschungsbedarf Feministischer Theologie im Hinblick

    auf Kirchengeschichte / Historische Theologie”, in: Theologische Frauenforschung und  Feministische Theologie, epd-Dokumentation 12/1992 (Frankfurt a.M.: Evangelischer Presse-dienst 1992), 23-25, hier 24f.

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    Um einen Eindruck davon zu vermitteln, was auf dem Gebiet der historischen

    Spurensuche und Spurensicherung bereits geschehen ist, sollen im folgendenverschiedene Ansätze der historischen Frauen- und Geschlechterforschungvorgestellt werden.

    1.2. Ansätze innerhalb der historischen Frauen- und GeschlechterforschungIm allgemeinen werden mehrere Ansätze innerhalb der historischen Frauen-forschung17 unterschieden, und zwar der additiv-kompensatorische Ansatz(die Darstellung sog. ‘großer’ Frauen) und der kontributorische Ansatz (der 

    ‘Beitrag’ von Frauen)18

    , die Opferstudien und die Widerstandsstudien sowiedas Studium der Geschlechterverhältnisse. Es handelt sich dabei sowohl umverschiedene Phasen in der historischen Frauenforschung, als auch um neben-einander bestehende, unterschiedliche Forschungsansätze.19

    Zuerst fingen Frauen an, vergessene Frauengestalten ‘auszugraben’. Soentstanden im 19. Jahrhundert viele Frauenbiographien, in denen vor allemder Lebenslauf der betreffenden bedeutenden Frau behandelt wurde, weniger  jedoch die Besonderheit weiblicher Lebensbedingungen. Dieser Ansatz wirdadditiv-kompensatorisch genannt, weil die Biographien ‘großer’ Frauendenen von ‘großen’ Männern an die Seite gestellt wurden. So wichtig dieseAufarbeitung war, so war recht bald deutlich, daß mit einer solchen Vorge-hensweise zwar bestimmte Frauenleben dem Vergessen entrückt werden,andere Frauen jedoch – die weniger bedeutenden – auch weiterhin unsichtbar 

    ThemaSubject Sujet 

    16

    17 Eine Übersicht über die Entwicklung der historischen Frauenforschung bieten: Karen Offen / Ruth Roach Pierson / Jane Rendall, Writing Women’s History. International Perspectives(London: Houndmills 1991); Ute Frevert, “Bewegung und Disziplin in der Frauengeschichte.

    Ein Forschungsbericht”, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 240-262 (Stand 1986,Deutschland).

    18 Die Unterscheidung zwischen ‘kompensatorisch’ und ‘kontributorisch’ stammt von den Ame-rikanerinnen Mary Jo Buhle, Ann G. Gordon und Nancy Schrom und wurde von Gerda Ler-ner übernommen, vgl. Herta Nagl-Docekal, “Für eine geschlechtergeschichtliche Perspekti-vierung der Historiographiegeschichte”, in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin(Hg.), Geschichtsdiskurs. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte,Geschichtsdiskurs 1 (Frankfurt a.M.: Fischer 1993), 233-256, hier 234.

    19 Vgl. zum folgenden Habermas, Geschlechtergeschichte; Marjet Derks / Annelies van Heijst,“Katholieke vrouwencultuur. Een theoretische terreinverkenning”, in: Marjet Derks / Catha-

    rina Halkes / Annelies van Heijst (Red.), ‘Roomse dochters’. Katholieke vrouwen en hunbeweging (Baarn: Arbor 1992), 325-346; Annelies van Heijst, “Voorbij het scheidende den-ken: het Salomonsoordeel en wijsheidstradities van vrouwen”, in: Collationes 25 (1995), 5-24; Troch, Verzet , 49-95; Nagl-Docekal, “Perspektivierung”; Herta Nagl-Docekal, “Femini-stische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt”, in:  L’Homme 1 (1990), 7-18.

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    bleiben. Der ‘kontributorische Ansatz’ hat das Ziel, den Beitrag der Frauen

    zur Geschichte aufzuzeigen. Sowohl der kompensatorische als auch der kon-tributorische Ansatz haben additiven Charakter. Im ersten Fall stehen denberühmten Männern nun berühmte Frauen zur Seite, im zweiten wird der Bei-trag der Frauen neben den der Männer gestellt. In beiden Fällen werden Kate-gorien, Auswahlkriterien und Relevanzhierarchien der herkömmlichenGeschichtsschreibung nicht infrage gestellt; es geht vielmehr darum, Frauenin die ‘allgemeine’ Geschichte einzufügen.20 Allerdings dürfen die Folgeneiner derartigen Erweiterung der historischen Forschung nicht unterbewertet

    werden, da auch sie “Veränderungen des ‘allgemeinen’ Geschichtsbildesbewirken kann”.21 Im Rückblick erweist sich der additive Zugang sogar alsnotwendiger erster Schritt, um Frauen in die Geschichte einzuschreiben. Diehistorisch noch erkennbaren Frauengestalten sind gleichsam der Ariadnefa-den, mit dessen Hilfe die Forscherin zu den schemenhafteren Gestalten undzu anderen, am Anfang noch im Dunkeln liegenden Fragestellungen geleitetwird.

    Auf die Zeit der begeisterten Suche nach den Frauen in der Geschichte folgteeine Phase der Ernüchterung über ihre Verdrängung und Marginalisierung. ImGefolge von Simone de Beauvoir (1908-1986) wurde historische Frauenfor-schung unter dem Aspekt der Unterdrückungsgeschichte betrieben. Frauenwerden in dieser Sicht vor allem als Opfer männlicher Herrschaft und damitals historische Verliererinnen betrachtet, während Männer als Täter inErscheinung treten.

    Wie die flämische Theologin Lieve Troch in ihrer Dissertation deutlichmacht, hat eine derartige Sicht der Geschichte auch Folgen für die Herausbil-dung von Selbstbild und Identität von Frauen. Als Opfer von Unterdrückungsind Frauen nicht selbständig Handelnde, sondern passiv Ausgelieferte.22

    Dadurch wird gerade ihr produktiver Beitrag zur Entwicklung der Kultur nicht wahrgenommen.23 Eine derartige Opfergeschichtsschreibung läuft

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    17

    20 Zur Kritik der additiven Ansatzes vgl. Habermas, Geschlechtergeschichte, 487-489; Nagl-Docekal, “Perspektivierung”, 235.

    21 Frevert, “Bewegung”, 261.22 Vgl. Troch, Verzet , 117-126.23 Darauf wies bereits Mary Beard hin (vgl. Nagl-Docekal, “Perspektivierung”, 236). Gerda

    Lerner griff diesen Gedanken von ihr auf: “Behandelt man Frauen als Opfer von Unter-drückung, dann paßt man sie im wesentlichen ein weiteres Mal in ein männlich definiertesBezugssystem ein: unterdrückt, zum Opfer gemacht durch Normen und Werte, die Männer 

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    außerdem Gefahr, die Stereotypisierung und Festlegung von Frauen auf ein

    ewig-weibliches – und damit ahistorisches – Rollenmuster eher zu verstärkenals abzubauen.In Reaktion darauf gibt es Untersuchungen nach dem Widerstandspotential

    von Frauen; Frauen werden darin als aktiv Handelnde untersucht. Gemeintsind zum einen Frauen, die an sie gestellte Erwartungen und Normen akzep-tieren, aber weiter entwickeln, zum anderen solche Frauen, die Widerstandgegen die herrschende Ordnung leisten. In beiden Fällen geht es um Frauen,die aufgrund ihres selbständigen Handelns eigene Frauenräume zu schaffen

    vermochten. Damit entzogen sie sich teilweise oder ganz dem Zugriff männ-licher Macht. Als Beispiele dafür nennt Ute Frevert Frauen der bürgerlichenFrauenbewegung im 19. Jahrhundert, die einerseits die bürgerliche Frauen-rolle übernahmen, die ihnen innerhalb des Geschlechterdenkens zugewiesenwurde, andererseits jedoch durch ihre Arbeit anfingen, die Grenzen dieser Rolle zu sprengen. Des weiteren gab es auch Frauen, die sich dem bürgerli-chen Anspruch direkt verweigerten, indem sie in Frauengemeinschaften oder in freien Liebesverhältnissen lebten.24

    Frauen werden in diesem Ansatz als Handlungsträgerinnen betrachtet, dieihre eigene Lebenswelt gestalten und zum Beispiel selbst definieren, was sieunter gerechten Beziehungen verstehen.25 In den letzten Jahren ist eine Wei-terentwicklung dieses Ansatzes zu beobachten; darin liegt der Akzent nichtmehr auf dem Entweder-Oder von Unterdrückung oder Widerstand, Opfer oder Handelnde, Unterwerfung oder Zueignung, sondern auf dem Spannungs-verhältnis zwischen den beiden jeweiligen Polen: Wie gelang es Frauen, sichin die herrschende Kultur einzufügen und diese gleichzeitig zu überschrei-ten?26

    Die Betrachtung der Frauen als Handelnde führte auch dazu, daß in der feministischen Forschung (Macht-)Unterschiede zwischen Frauen themati-siert werden konnten. Der Vergleichspunkt ist hier nicht mehr das Frau-

    ThemaSubject Sujet 

    18

    aufgestellt haben” (Gerda Lerner, “Welchen Platz nehmen Frauen in der Geschichte ein? AlteDefinitionen und neue Aufgaben”, in: Elisabeth List / Herlinde Studer (Hg.),  Denkverhält-nisse. Feminismus und Kritik (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989), 334-352, hier 336).

    24 Vgl. Frevert, “Bewegung”, 258f.25 Vgl. Annelies van Heijst / Marjet Derks, “Godsvrucht en gender: naar een geschiedschrijving

    in meervoud”, in: Marjet Derks / Annelies van Heijst (Red.), Terra Incognita. Historischonderzoek naar katholicisme en vrouwelijkheid (Kampen: Kok 1994), 7-38, hier 12. Die bei-den Autorinnen verwenden den von Nancy Hewitt benutzten Begriff ‘female agency’.

    26 Vgl. ebd., 13.

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    Mann-Verhältnis, sondern das Frau-Frau-Verhältnis, das ein Machtgefälle

    widerspiegelt. Behandelt werden Unterschiede zwischen Frauen, die auf Klasse, Ethnizität, sexueller Ausrichtung und Wirtschaftsverhältnissen beru-hen. So kann zum Beispiel das Verhältnis von Hausfrau und Dienstbotin alsMachtverhältnis in den Blick genommen werden.27

    Seit den siebziger Jahren wurde von nordamerikanischen Historikerinnen‘Geschlecht’ als eigenständige historiographische Kategorie eingeführt.Genus, wie das englische Wort ‘gender’ manchmal ins Deutsche übersetzt

    wird, bezeichnet nicht das biologische, sondern das sozial erzeugteGeschlecht. Wie Joan Kelly-Gadol feststellt, ist “die Beziehung der Geschlechter in die soziale Ordnung eingebettet”.28 Wird das Geschlecht indieser Weise als soziale Kategorie angesehen, so müssen in die Untersuchungder sozialen Ordnung die Geschlechterbeziehungen einbezogen werden. Für die Beschreibung historischer Ereignisse heißt das, daß auch die sozialenBedingungen und kulturellen Bedingtheiten, unter denen Frauen leb(t)en,berücksichtigt werden müssen.

    Die Historikerin Hanna Schissler formuliert die Ziele einer Geschlechter-geschichte wie folgt:

    Geschlechtergeschichte behandelt mithin Konflikt und Kooperation, Hierarchieund Dominanz, Widerstand und Kollusion zwischen Männern und Frauen sowie inden Beziehungen innerhalb der beiden Geschlechtergruppen. Geschlechterge-schichte denkt Männer und Frauen als gleich wichtig und in gleicher Weise an der Geschichte beteiligt.29

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    19

    27 Dies tut etwa Kuppler mit einem Fallbeispiel aus dem Jahr 1893 über Differenzen zwischen

    weißen und schwarzen Frauen in den USA; vgl. Elisabeth Kuppler, “Weiblichkeitsmythenzwischen gender, race und class: True Womanhood im Spiegel der Geschichtsschreibung”,in: Hadumod Bußmann / Renate Hof (Hg.), Genus – zur Geschlechterdifferenz in den Kultur-wissenschaften (Stuttgart: Kröner 1995), 262-291.

    28 Joan Kelly-Gadol, “Soziale Beziehungen der Geschlechter. Methodologische Implikationeneiner feministischen Geschichtsbetrachtung”, in: Barbara Schaeffer-Hegel / Barbara Watson-Franke (Hg.),  Männermythos Wissenschaft: Grundlagentexte zur feministischen Wissen-schaftskritik , Feministische Theorie und Politik, (Pfaffenweiler: Centaurus 1988), 17-32, hier 23. Englisches Original: “The Social Relation of the Sexes: Methodological Implications of Women’s History”, in: Women, History and Theory. The Essays of Joan Kelly, (Chicago – 

    London: University of Chicago Press 1984), 1-18.29 Hanna Schissler, “Einleitung: Soziale Ungleichheit und historisches Wissen. Der Beitrag der 

    Geschlechtergeschichte”, in: dies. (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel,Reihe Geschichte und Geschlechter 3, (Frankfurt a.M. – New York: Campus 1993), 9-36, hier 26.

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    Sehr oft wird Historiographie als Abfolge von Ereignissen verstanden. Des-

    halb bedarf es eines Umdenkprozesses, wenn Geschichte nunmehr als Bezie-hungsgeschichte geschrieben wird, wie es Schissler und andere mit ihr tun.Den Ansatz der Geschlechtergeschichte zu verwenden, bedeutet “Orientie-rung auf Diskurse und symbolische Repräsentationen”, wie Eve Rosenhaftverdeutlicht.30 Die Darstellung will nicht nur Handlungen und Ereignisse,sondern “Kommunikations- und Deutungsprozesse”31 aufdecken. WeiblicheErfahrung wird dadurch aufgewertet. Allerdings – und nach Rosenhaft machtdies die Ambivalenz des ‘Gender’-Ansatzes deutlich – stehen bei diesem

    Ansatz nicht Frauen als selbständige Größen im Blickpunkt, sondern dasweibliche Geschlecht in Beziehung zum männlichen und umgekehrt.Geschichtsträchtig ist die Beziehung. Frauen haben “in der Geschichte öffent-licher Ereignisse” eine “Außenseiterrolle” gespielt:

    Diese Außenseiterrolle aber hört auf, ein strategisches Problem zu sein, wenn manFrauen über den öffentlichen Bereich des Diskurses in die Allgemeinheit ein-schreiben kann.32

    Andererseits geht es – neben der beschriebenen Abstraktion von konkreten

    Einzelnen – auch darum, Geschlecht konkret zu beschreiben, damitMenschen weiblichen Geschlechts und Menschen männlichen Geschlechts mitihren geschlechtstypischen unterschiedlichen sozialen Plazierungen wie mit ihrenHandlungsräumen sichtbar werden.33

    So läßt sich am Ende dieses Abschnittes kurz zusammenfassen, daß sich dieSpurensuche der feministischen Historikerinnen zunächst darauf bezogen hat,Frauen als Subjekte ins Bild zu bringen. Dazu trat die Erkenntnis, daß diese

    Personen auch innerhalb ihres sozialen (gender-) Beziehungsgeflechts wahr-zunehmen und zu beschreiben sind. Denn – wie Miss de Vine es im Romanausdrückt – die “Beziehungen der Dinge zueinander sind ebenso Fakten wie

    ThemaSubject Sujet 

    20

    30 Eve Rosenhaft, “Zwei Geschlechter – eine Geschichte? Frauengeschichte, Männergeschichte,Geschlechtergeschichte und ihre Folgen für unsere Geschichtswahrnehmung”, in: ChristianeEifert u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im histo-rischen Wandel, (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996), 257-272, hier 263. – Ausführlicher dazu:Kuppler, “Weiblichkeitsmythen”.

    31 Rosenhaft, “Zwei Geschlechter”, 263.32 Ebd. – Rosenhaft schreibt über das Verhältnis von Geschlechter- zu Universalgeschichte.33 Karin Hausen / Heide Wunder, “Einleitung”, in: dies. (Hg.),  Frauengeschichte – Geschlech-

    tergeschichte, Reihe Geschichte und Geschlechter 1, (Frankfurt – New York: Campus 1992),9-18, hier 12 (zitiert bei Rosenhaft, “Zwei Geschlechter”, 263).

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    die Dinge selbst; und wenn man die nicht recht versteht, wird das Gesamtbild

    arg verfälscht.”34

    2. Feministische Kirchengeschichtsschreibung

    Die Detektivin weiß, daß auch sie selbst in einer Beziehung zu den Dingensteht. Sie kennt ihre soziale und kulturelle Herkunft und weiß, daß sie nichtohne weiteres um bestimmte Methoden und Herangehensweisen herumkommt, die in ihrer Detektei von ihren Vorgängern praktiziert wurden. Diesbringt spezifische Probleme und Möglichkeiten mit sich.

    Auch die historisch-theologische Frauenforschung steht nicht alleine da, son-dern befindet sich in einem interdisziplinären Zusammenhang. Im innertheo-logischen Bereich knüpft sie bei der historischen Kritik und der hermeneuti-schen Methode an, wie sie etwa von der feministischen Theologin undNeutestamentlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza in ihren Büchern ausgearbei-tet und auf die Rekonstruktion der frühchristlichen Gemeindeverhältnisseangewendet wurden. Daneben greift die historisch-theologische Frauenfor-schung aber auch Impulse aus der Frauenbewegung, aus der (feministischen)Geschichtswissenschaft und aus der Literaturwissenschaft sowie aus denSozialwissenschaften auf. Die beschriebenen Phasen oder Ansätze der femi-nistischen Geschichtsforschung spielen auch im theologisch-historischenDiskurs eine Rolle. Auch der in der feministischen Geschichtswissenschaftentwickelte Begriff ‘Geschlecht’ wird als historisch-soziale Analysekategoriebenutzt.35

     2.1. Bisherige Forschung: Hindernisse und DesiderateEs ist ein wesentliches Anliegen feministischer Forschung, hervorzuheben,daß in der Forschung auch der Standort der/des Untersuchenden eine Rollespielt, und daß dieser Standortgebundenheit methodisch Rechnung zu tragenist. Der folgende Abschnitt dient dem Ziel, einen kurzen Überblick über Ansätze und Ergebnisse bisheriger feministischer Kirchengeschichtsfor-schung zu geben und dabei den Standort der Forschung bzw. der Forscherin-nen im Beziehungsgeflecht zwischen feministischer und herkömmlicher For-

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    21

    34 Sayers, Aufruhr in Oxford , 26; Gaudy Night , 23.35 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, “Die Rezeption und Diskussion der Genus-Kategorie in

    der theologischen Wissenschaft”, in: Hadumod Bußmann / Renate Hof (Hg.), Genus – zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, (Stuttgart: Kröner 1995), 60-112 (mitLiteratursicht).

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    schung näher zu bestimmen. Dadurch werden sowohl die Hindernisse, denen

    feministische Kirchengeschichtsschreibung begegnet, als auch ihre Relevanzim Hinblick auf die herkömmliche Forschung deutlich.

    Die feministische Theologie fing mit der Kritik der androzentrischen Kon-struktion von Wirklichkeit an und machte sich gleichzeitig auf die Suche nachden Spuren von Frauentraditionen in der Geschichte des Christentums.36 Wasdie feministische Kirchengeschichtsschreibung angeht, so gibt es bisher imVergleich zu anderen feministisch-theologischen Forschungsdisziplinen ver-

    hältnismäßig wenig Beiträge. Langsamer als andere feministische Forschungs-felder kommt die feministische Kirchengeschichtsforschung in Gang. Anneliesvan Heijst und Marjet Derks haben 1994 bei der Auswertung kirchenge-schichtlicher und profan-historischer feministischer Arbeiten, die zwischen1983 und 1992 erschienen sind, einen Mangel an Forschungskontinuität fest-gestellt.37 Wo liegen die Hindernisse?

    Es fällt auf, daß die Zahl der feministisch-kirchengeschichtlichen Studienüber neuzeitliche Themen solchen über die Alte Kirche und das Mittelalter hinterherhinkt. Innerhalb der feministischen Theologie richtete sich das Inter-esse zunächst vor allem auf die Geschichte von Frauen im Zeitraum der Bibel(Erstes Testament, Urchristentum, Alte Kirche); daneben entstanden zahlrei-che Untersuchungen über mittelalterliche Mystikerinnen.

    In den letzten Jahren sind zunehmend auch Studien über die Geschichtechristlich gebundener Frauen im 19. und 20. Jahrhundert erschienen. Bis-herige Forschungsarbeiten über diesen Zeitraum in Deutschland behan-deln religiöse Frauenbewegungen (römisch-katholisch, evangelisch, alt-katholisch, jüdisch, deutschkatholisch),38 die Berufsgeschichte von

    ThemaSubject Sujet 

    22

    36 Vgl. Anne-Marie Korte, “Theologische vrouwentradities”, in: Jonneke Bekkenkamp / FredaDröes / Anne-Marie Korte / Marian Papavoine (Red.),  Proeven van Vrouwenstudies Theolo-gie I , IIMO.RP 25, (Leiden – Utrecht: IIMO – IWFT 1989), 13-52; vgl. auch Elisabeth Göss-mann, “Frauentraditionen im Christentum in ihrer Relevanz für heutige Feministische Theo-logie und in ihrer kirchlichen Einschätzung”, in: Elisabeth Hartlieb / Charlotte Methuen(eds.), Sources and Resources of Feminist Theologies, ESWTR Yearbook 5, (Kampen – Mainz: Kok – Grünewald 1997), 72-95.

    37 Vgl. Van Heijst / Derks, “Godsvrucht”, 23-25.38 Vgl. Ursula Baumann,  Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850-1920,

    Reihe Geschichte und Geschlechter 2, (Frankfurt – New York: Campus 1992); dies., “Reli-gion und Emanzipation: Konfessionelle Frauenbewegung in Deutschland 1900-1933”, in: Tel

     Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 21 (1992), 171-206; Doris Kaufmann, Frauen zwi-

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    Frauen39 sowie einzelne Frauengestalten40 und neuerdings auch (jüdische)

    Andachtsliteratur.41

    Außerdem wird die Frage von Mittäterschaft und Wider-stand von Frauen im Nationalsozialismus thematisiert.42 Daneben wurde auch

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    23

    schen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, (München: Pieper 1988) über die evangelische Frauenbewegung. Vgl. für dierömisch-katholische Frauenbewegung: Gisela Breuer, “Zwischen Emanzipation und Anpas-sung: Der Katholische Frauenbund im Kaiserreich”, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchen-geschichte 10 (1991), 111-120; dies.,  Frauenbewegung im Katholizismus. Der Katholische

     Frauenbund 1903-1918, Reihe Geschichte und Geschlechter 22, (Frankfurt – New York:

    Campus 1998). Zu alt-katholischen Frauen vgl. Angela Berlis,  Frauen im Prozeß der  Kirchwerdung. Eine historisch-theologische Studie zur Anfangsphase des deutschen Altkatho-lizismus (1850-1890), Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte 6, (Frankfurt a.M.: P. Lang1998). Zur jüdischen Frauenbewegung vgl. Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegungin Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938, aus dem

     Amerikan. übers. von Hainer Kober (Hamburg: Christians 1981). Zu Frauen im Deutschka-tholizismus vgl. Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 89, (Göt-tingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990); dies., “Frauen und Säkularisierung Mitte des 19.Jahrhunderts. Das Beispiel der religiösen Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus

    und der freien Gemeinden”, in: Wolfgang Schieder (Hg.),  Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert , Industrielle Welt 54 (Stuttgart: Klett-Cotta 1993), 300-317.

    39 Vgl. “Darum wagt es, Schwestern…”. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland , hg. vom Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen(Neukirchen: Neukirchener Verlag 1994); Dagmar Herbrecht, Ilse Härter, Hannelore Erhart(Hg.), Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997); für denBeruf der Diakonisse vgl. Jutta Schmidt,  Beruf: Schwester, Mutterhausdiakonie im 19. Jahr-hundert , Reihe Geschichte und Geschlechter 24 (Frankfurt a.M. – New York: Campus 1998).

    40 Vgl. Dagmar Henze, Zwei Schritte vor und einer zurück. Carola Barth – eine Theologin auf 

    dem Weg zwischen Christentum und Frauenbewegung, (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996); Andrea Bieler,  Konstruktionen des Weiblichen. Die Theologin Anna Paulsenim Spannungsfeld bürgerlicher Frauenbewegungen der Weimarer Republik und nationalso-zialistischer Weiblichkeitsmythen, (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994). Vgl. auch denArtikel von Kerstin Söderblum / Andrea Bieler, “Erinnerungsarbeit und Biographieforschung.Anknüpfungspunkte für die Aufarbeitung der Geschichte protestantischer Theologinnen”, in:Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen Göttingen (Hg.), Querdenken.

     Beiträge zur feministisch-befreiungstheologischen Diskussion, FS für Hannelore Erhart zum65. Geburtstag (Pfaffenweiler: Centaurus 1992), 4-25.

    41 Vgl. Bettina Kratz-Ritter,  Für ‘fromme Zionstöchter’ und ‘gebildete Frauenzimmer’.

     Andachtsliteratur für deutsch-jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert , Haskala 13 (Hil-desheim: Olms 1995).

    42 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte (München: Kaiser 1988);dies. / Gerda Stuchlik (Hg.),  Frauen und Faschismus in Eurpa (Pfaffenweiler: Centaurus

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    die Rolle einzelner Frauen in der Reformation und im Bauernkrieg unter-

    sucht; der 500. Geburtstag Katharina von Boras im Jahr 1999 hat weitere Stu-dien über die Zeit der Reformation und katholischen Reform angeregt.43 Die-ser kurze Überblick, der sich weitgehend auf deutsche Arbeiten beschränkt,möge genügen, um zu zeigen, daß im Bereich der historischen Theologie dasProblembewußtsein vorhanden ist und die verschiedenen Ansätze der ‘profa-nen’ historischen Forschung von Kirchenhistorikerinnen zur Aufarbeitung der religiösen Frauengeschichte genutzt werden. 44

    Es gibt mehrere Gründe dafür, daß die kirchenhistorische Forschung ausfeministischer Perspektive erst ansatzweise in Gang gekommen ist. Dies hatzunächst mit der Fülle des zu bewältigenden Stoffes einer zweitausendjähri-gen Kirchengeschichte zu tun, in den Einzelstudien über die Geschlechterver-hältnisse und Identitätsentwürfe in einzelnen Epochen zunächst wie Tropfenhineinfallen und schnell ‘eintrocknen’. Es ist zweitens ein Hinweis auf dieinterdiszplinäre Verflochtenheit dieses Ansatzes. Feministische Kirchenge-schichtsschreibung entstand nicht im luftleeren Raum, sondern in Auseinan-dersetzung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Das große Interessefür die Zeit der frühen Kirche wurde von der feministisch-exegetischen For-schung und ihrem methodologischen Handwerksapparat, aber auch einer gewissen Übersichtlichkeit im Hinblick auf die Quellenlage mitbestimmt.Auch inhaltliche Gründe können für das Interesse angeführt werden: NeueInterpretationen einer Epoche wie der frühen Kirche, in der Weichen gestelltwurden, beeinflußen auch die Deutung der folgenden Zeiten und Erscheinun-gen. Hinzu kommt die Bedeutung dieses Zeitraums für alle Kirchen, den alleKirchen ja als Zeit des (gemeinsamen) Ursprungs ansehen, an dem sich spätere

    ThemaSubject Sujet 

    24

    1990); Hannelore Erhart / Ilse Meseberg-Haubold / Dietgard Meyer (Hg.),  Katharina Staritz(1903-1953). Von der Gestapo verfolgt, von der Kirchenbehörde fallengelassen. Mit einem

     Exkurs ‘Elisabeth Schmitz’. Dokumentation Band 1: 1903-1942 (Neukirchener Verlag:Neukirchen 1999).

    43 Für einen Literaturüberblick vgl. Anne Conrad, Geschlechtergeschichte der Reformation undkatholischen Reform, in: dies. (Hg.), “In Christo ist weder man noch weyb.” Frauen in der 

     Zeit der Reformation und der katholischen Reform (Münster: Aschendorff Verlag 1999), 7-22. Zu K. von Bora:  Mönchshure und Morgenstern: “Katharina von Bora, die Lutherin” –

    im Urteil der Zeit, als Nonne, eine Frau von Adel, als Ehefrau und Mutter, eine Wirtschafte-rin und Saumärkterin, als Witwe, hg. vom Evangelischen Predigerseminar, Peter Freybe (Wit-tenberg: Drei-Kastanien-Verlag 1999).

    44 Für eine Übersicht über mögliche und bereits behandelte Forschungsgebiete vgl. Siegele-Wenschkewitz, “Rezeption”, 101f.

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    kirchliche Reformen und Reformbewegungen zu messen haben. Forscherin-

    nen, die diesen Zeitraum behandeln, können sich des Bezugs zu ihrem eige-nen kirchlichen Diskurs sicher sein und diesen gleichzeitig durch feministi-sche Fragestellungen kritisch befragen und ergänzen.

    Ähnliches gilt auch für das Thema der mittelalterlichen Mystikerinnen, die ja wie die Zeit der frühen Kirche zum allgemeinen kirchlichen Erbe zugehören scheinen. Ich schreibe “scheinen”, da hier – ähnlich wie für die alteKirche – implizit eine Einheit des Christentums vorausgesetzt wird, die eher dem Ideal als der Wirklichkeit entspricht, und die zudem nur die abendländi-

    sche Christenheit vor Augen hat, während sie die morgenländische Christen-tumsgeschichte außer acht läßt. Feministische Kirchenhistorikerinnen über-nehmen hier ‘Altlasten’ der herkömmlichen, noch immer stark konfessionellausgerichteteten Kirchengeschichtsschreibung. Die konfessionelle Verengungdes Blickwinkels, die – wie bereits Fairy von Lilienfeld festgestellt hat – einHandicap für die ökumenische Kirchengeschichtsschreibung ist,45 zeitigt auchauf dem Gebiet der feministischen Forschung ihre Auswirkungen. Kritischmuß sich die feministische Kirchengeschichtsschreibung befragen lassen,inwieweit es ihr – analog zu anderen feministisch-theologischen Disziplinen,wie etwa in der Exegese – gelingt und inwieweit sie bewußt daran arbeitet,bestehende Konfessionsschranken zu überschreiten.46 Es kann nicht darumgehen, nunmehr – etwa im deutschen Kontext – eine “Kirchengeschichte bei-der Konfessionen”47 unter feministischer Perspektive zu schreiben, sondern

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    25

    45 Vgl. Fairy von Lilienfeld, “Über einige Probleme der Lehre von ‘Kirchengeschichte’ im ‘öku-menischen’ Zeitalter: Kirchengeschichtsschreibung und das Gedächtnis der Kirche”, in:Wolf-Dieter Hauschild u.a. (Hg.),  Kirchengemeinschaft – Anspruch und Wirklichkeit, FS für 

    Georg Kretschmar zum 60. Geburtstag (Stuttgart: Calwer Verlag 1986), 249-265.46 So sind z.B. grundlegende Artikel wie der von Ute Gause sowie der von Annelies van Heijst

    und Marjet Derks fast ausschließlich auf den evangelischen bzw. den römisch-katholischenKontext orientiert, vgl. Van Heijst / Derks, “Godsvrucht” und Ute Gause, “Geschlecht alshistorische Kategorie. Was leistet eine feministische Perspektive für die Kirchengeschichte?Ein Diskussionsbeitrag”, in: Anselm Doering-Manteuffel / Karl Nowak (Hg.),  Kirchliche

     Zeitgeschichte: Urteilsbildung und Methoden, Konfession und Gesellschaft 8 (Stuttgart – Berlin – Köln: Kohlhammer 1996), 164-179. Vgl. hingegen Leonore Siegele-Wenschkewitz / Gury Schneider-Ludorff / Beate Hämel / Barbara Schoppenreich (Hg.), Frauen GestaltenGeschichte: im Spannungsfeld von Religion und Geschlecht (Hannover: Lutherisches Ver-

    lagshaus 1998).47 Werner K. Blessing, “Kirchengeschichte in historischer Sicht. Bemerkungen zu einem Feld

    zwischen den Disziplinen”, in: Anselm Doering-Manteuffel / Karl Nowak (Hg.),  Kirchliche Zeitgeschichte: Urteilsbildung und Methoden, Konfession und Gesellschaft 8 (Stuttgart – Berlin – Köln: Kohlhammer 1996), 14-59, hier 14.

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    es ist notwendig, in einem weiteren Sinne konfessionsionsübergreifend zu

    denken und zu arbeiten. So hat Anne Conrad kürzlich vorgeschlagen, zumeinen “Analogien und Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte präziser zu deuten” und zum anderen“Bewegungen und Mentalitäten jenseits des jeweiligen konfessionellenMainstreams” stärker in die Betrachtungen einzubeziehen.48 Insbesondere für Zeiten von Kirchentrennung und Konflikt gilt es, herkömmliche Deutungs-muster von Schisma und Schuld, von Orthodoxie und Häresie kritisch zubefragen.49 Die Hinwendung zu den Marginalisierten ist ein Anliegen der 

    feministischen Theologie, das auch in der historischen Forschung nicht nur auf die Frauen und die Geschlechterbeziehungen und -identitäten innerhalbder mainstream-Kirchen bezogen werden. Vielmehr muß sie sich dessenbewußt sein, daß Frauen in Randgruppen – als Mitglieder dieser Randgrup-pen und als Frauen – in der bisherigen Historiographie zu den doppelt Mar-ginalisierten gehören.50

    Zu einer ökumenischen feministischen Kirchengeschichtsschreibunggehört auch die Erweiterung des Blickes über den nationalen Tellerrand; auf diese Weise können kirchliche und konfessionelle Traditionen, die in einemanderen Land beheimatet sind, ebenso in die Forschung einbezogen werden,51

    wie Fragestellungen und Erkenntnisse aus anderen Ländern für das eigene

    ThemaSubject Sujet 

    26

    48 Conrad, Reformation, 22.49 Vgl. dazu meine Dissertation, in der ich ebenfalls für eine ökumenische Perspektivierung der 

    Kirchengeschichtsschreibung plädiert habe: Berlis, Frauen.50 Außenseiter sind auch in der neueren Sozialgeschichte inzwischen “zu einer ernstzunehmen-

    den Sozialkategorie” geworden, vgl. Bob Scribner, “Wie wird man Außenseiter? Ein- undAusgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland”, in: Norbert Fischer / Marion Kobelt-Groch(Hg.),  Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit, FS für Hans-Jürgen Goertz zum 60.Geburtstag (Leiden: Brill 1997), 21-46, hier 21. Die ‘gender’-Kategorie berücksichtigt Scrib-ner in seinem Übersichtsartikel nicht.

    51 So werden in einem kürzlich erschienenen Sammelband zwar protestantische Dissidenten-bewegungen (Spiritualisten, Täufer) und katholisches Semireligiosentum behandelt, aber keine Beziehung zur Reformation in anderen Ländern hergestellt (vgl. Conrad,  Reformation).Vgl. zur Reformation in England z.B. Mary J. Van Dyck, “Memorial. Genealogies. TheConsequences of the Anglican Break with Rome for Religious English Women”, in: Andrea

    Günter / Ulrike Wagener (eds.), What does it mean today to be a feminist theologian?,ESWTR Yearbook 4 (Kampen – Mainz: Kok – Grünewald 1996), 155-163. Vgl. auch RobertN. Swanson (ed.), Gender and Christian religion. Papers read at the 1996 summer meetingand the 1997 winter meeting of the Ecclesiastical History Society, Studies in Church History34 (Woodbridge: Boydell & Brewer 1998).

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    inhaltliche und methodologische Weiterkommen fruchtbar gemacht werden

    können.52

    Die interdisziplinäre Verflochtenheit läßt sich auch im Hinblick auf die femi-nistische Geschichtswissenschaft aufzeigen. Hier liegt m. E. ein weiterer Grund dafür, warum die historiographische Aufarbeitung für die Neuzeit unddie Zeitgeschichte so lange auf sich warten ließ. Denn gilt die Zeit bis zumMittelalter unwidersprochen als ‘christlich geprägter’ Zeitraum, so war diesfür die Neuzeit lange nicht so eindeutig. In der feministischen Geschichts-

    wissenschaft wurde die Geschichte kirchlich engagierter Frauen lange Zeitlediglich ex negativo, als Beispiel für Konservatismus und Antiliberalismusherangezogen.53 In den letzten Jahren nimmt die feministische Geschichtsfor-schung die Bedeutung der Religion für die Konstruktion der Geschlechterbe-ziehung zunehmend ernst.54 Im spannenden interdisziplinären Austauschwerden hier Themen wie die Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert,Frömmigkeitsgeschichte, die Geschichte von Frauenkongregationen etc. auf-gearbeitet.

    Die Frage nach den Hindernissen für die heutige feministische Kirchenge-schichtsforschung könnte nach diesem kurzen Rundblick mit einer Thesebeantwortet werden: Kirchengeschichtlich arbeitende Frauen verhalten sichoft in erster Linie zu ihrem eigenen kirchlichen Kontext, den sie unter frauen-oder geschlechtergeschichtlicher Perspektive aufarbeiten, kritisch durchleuch-

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    27

    52 Vgl. z.B. in diesem Jahrbuch den Beitrag von Adriana Valerio über die historisch-religiöse

    Frauenforschung der letzten zwanzig Jahre in Italien (S. 111-121).53 Vgl. Henze, Schritte, 18f.54 Ute Frevert schrieb in einem Forschungsüberblick (Stand 1986), daß Religion noch zu den

    “fast gänzlich unbearbeitet gebliebenen” Forschungsgebieten der Frauengeschichtsforschunggehöre (Frevert, “Bewegung”, 262). Vgl. inzwischen u.a. Irmtraud Götz von Olenhusen(Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahr-hundert (Paderborn: Schöningh 1995); dies. u.a., Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen.

     Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert , Konfession und Gesellschaft7 (Stuttgart – Berlin – Köln: Kohlhammer 1995). Ein ähnlich großes Interesse ist auch in denNiederlanden festzustellen, wie die Arbeiten der folgenden Autorinnen zeigen: José Eijt,  Reli-

    gieuze vrouwen: bruid, moeder, zuster. Geschiedenis van twee Nederlandse zustercongrega-ties, 1820-1940 (Nijmegen – Hilversum: Verloren 1995); Marjet Derks / Annelies van Heijst(Hg.), Terra Incognita. Historisch onderzoek naar katholicisme en vrouwelijkheid (Kampen:Kok 1994); Marit Monteiro, Geestelijke maagden. Leven tussen klooster en wereld in Noord-

     Nederland gedurende de zeventiende eeuw (Hilversum: Verloren 1996).

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    ten und ergänzen. Um die Relevanz der feministischen Perspektive für ‘die’

    Kirchengeschichte zu verdeutlichen, setzen sie sich dabei mit Definitionenvon Kirchengeschichte auseinander, die in ihrer eigenen kirchlichen Traditiongängig sind. Dies machen etwa die Beiträge von Barbara Henze und UteGause deutlich, die als legitime Versuche gelten können, die Erkenntnisse ausder feministischen Geschichtswissenschaft für die kirchengeschichtliche For-schung fruchtbar zu machen.55 In ihren Begründungen sind sie konfessionellgeprägt. Dies hat zur Folge, daß die Verbündung feministisch arbeitender Historikerinnen relativ schwierig ist, da sie zwei Bezugspunkte verlangt,

    nämlich den eigenen kirchlichen und den feministischen.Der britische Historiker John Tosh stellt fest:

    For socially deprived groups (…) effective political mobilization depends on aconsciousness of common experience in the past.56

    Tosh zählt zu diesen Gruppen auch ‘die Frauen’. Die Zeit der begeistertenVerschwesterung ist vorbei. In den letzten Jahren ist zunehmend die Erkennt-nis gereift, daß es nicht reicht, die Erfahrung von Unterdrückung pauschal alsgemeinsame Erfahrung zu bezeichnen. Die Aufarbeitung der allen gemeinsa-men Ursprungsgeschichte im frühen Christentum hat zwar eine wichtige ver-bindende und identitätsbestärkende Funktion – in ihr finden Frauen dasBewußtsein einer gemeinsamen Erfahrung –, aber sie kann der komplexenRealität späterer Zeiten nicht einfach übergestülpt werden. Worin bestehtdann aber die ‘gemeinsame Erfahrung in der Vergangenheit’, von der JohnTosh spricht? Eine die ganze Zeit des Christentums (und analog: des Juden-tums, des Islams usw.) und alle Orte umfassende Geschichte von Frauen,

    ihren religiösen Identitäten und Handlungen muß noch geschrieben werden;bisher liegen lediglich punktuelle Forschungen vor. Nach welchen Kriterien,mit welchen Epocheneinteilungen und mit welchen Akzenten aber müßte siegeschrieben werden, damit sie nicht lediglich eine additive Funktion erfüllt?Vielleicht liegt das Problem vieler bisheriger feministischer kirchengeschicht-licher Untersuchungen darin, daß bislang noch kein ökumenisch oder überkon-

    ThemaSubject Sujet 

    28

    55 Vgl. Gause, “Geschlecht”; Barbara Henze, “Menschwerdung im Verstehen der Vergangen-

    heit: Eine kirchengeschichtliche Perspektive, erläutert am Fall der Beginen”, in: dies. (Hg.),Studium der Katholischen Theologie. Eine themenorientierte Einführung (Paderborn: Schö-ningh 1995), 101-130.

    56 John Tosh, The Pursuit of History: Aims, Methods and New Directions in the Study of  Modern History (Edinburgh: Longman 21991), 8.

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    fessionell definierter Begriff von ‘Kirchengeschichte’ gefunden ist, der auch

    die Fragen der Frauen- und Geschlechterforschung einbezieht.

    Ein weiteres Problem liegt in der Namengebung: Wie nennen feministischeKirchenhistorikerinnen das, was sie tun – ‘historische Theologie unter femi-nistischer Perspektive’ oder ‘feministische Kirchengeschichte’? Der Begriff ‘feministisch’ ist im Zusammenhang dieses Artikels verstanden worden alsProblematisierung und Politisierung der festgestellten weiblichen Unsichtbar-keit als strukturell bedingte und strategisch bewirkte Unsichtbarmachung.57

    Die Begriffe ‘historische Theologie’ und ‘Kirchengeschichte’ bringen spezifi-sche Vor- und Nachteile mit sich, die teilweise mit ihrer Herkunft zu tunhaben. So hat der Begriff ‘historische Theologie’ den Vorteil, daß er zunächstneutral klingt und nicht unbedingt nur auf die christliche Geschichtsschrei-bung verweist, sondern auch die historische Wirklichkeit jüdischer oder isla-mischer Frauen einschließen kann. Andererseits ist er aus apologetischenGründen geschaffen worden, um die vermeintliche Drohung einer Profanisie-rung der Kirchengeschichte durch eine Re-theologisierung abzuwenden.58

    Kann diese geschichtliche Färbung des Begriffs abgelegt werden? Falls ja, sostellt sich sogleich als nächste Frage, was das Theologische an der ‘histori-schen Theologie’ ausmacht. Es ist nicht mehr davon auszugehen, “daß einetheologische Dimension dem Gegenstand an sich inhäriert”.59 Die theologi-sche Dimension liegt in der Fragestellung und ist damit mit der Kreativität der Kirchenhistorikerin verknüpft.60

    Auch der Begriff ‘Kirchengeschichte’ ist nicht unproblematisch. Verweister nicht zu sehr auf die Geschichte der Institution und ihrer geistlichenFührungselite? Oder kann die Bezeichnung ‘Kirchengeschichte’, insofern sieauf einer Auffassung von Kirche basiert, die wirklich alle Gläubigen meint,auch mit feministischem Vorzeichen beibehalten werden?61 Darf sich aber 

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    29

    57 Vgl. Morgan, “Redressing the Balance, Transforming the Art. New Theoretical Approachesin Religion and Gender History”, in: Deborah F. Sawyer / Diane M. Collier (eds.),  Is Therea Future for Feminist Theology? (Sheffield: Sheffield Academic Press 1999), 84-98, hier 92f.

    58 Vgl. Eckehart Stöve, Art. “Kirchengeschichtsschreibung”, in: Theologische Realenzyklopä-die, Bd. 18 (Berlin u.a.: Walter de Gruyter 1989), 535-560, hier 554.

    59 Ebd., 557.60 Vgl. ebd.61 Vgl. dazu die Überlegungen von Natalie Watson in diesem Jahrbuch (S. 79-99). In meiner 

    Dissertation, in der ich die Kirchwerdung der alt-katholischen Reformbewegung beschriebenhabe, habe ich ebenfalls ‘Kirchengeschichte’ in diesem spezifischen Sinne zu schreiben ver-sucht (vgl. Berlis, Frauen).

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    heutige Forschung mit einem Begriff im Kollektivsingular überhaupt noch

    begnügen? Kann sie ihn angesichts der Pluralität der Ansätze und Perspekti-ven verantworten? Sollten wir deshalb nicht eher von historisch-theologi-schen feministischen Forschungen oder von feministischen Kirchengeschich-ten im Plural sprechen? Eine solche Begrifflichkeit würde nicht nur deneingangs gemachten narratologischen Gesichtspunkten Rechnung tragen(Geschichtsschreibung ist immer erzählte Geschichte), sondern sie würde auchden point de vue der Historikerin methodisch berücksichtigen.62

     2.2. Die Relevanz der feministischen PerspektiveWorin liegt die Relevanz der feministischen Perspektive? Feministische (Kir-chen-)Geschichtsschreibung steht am Schnittpunkt verschiedener Debattenund Ansätze. Nicht nur Interdisziplinarität, sondern auch Interkonfessionalitätist eine unabdingbare Voraussetzung. Was die Interkonfessionalität angeht,so ist hier eine weitere Zusammenarbeit historisch arbeitender feministischer Theologinnen wünschenswert, in der nicht nur gemeinsam an Themen gear-beitet wird, sondern bei der auch der eigene kirchliche Kontext methodischberücksichtigt und immer wieder grenzgängerisch überschritten wird. In die-sem Zusammenhang bietet eine Gesellschaft wie die ESWTR viele Möglich-keiten zur internationalen, interreligiösen und -konfessionellen sowie interdis-ziplinären Zusammenarbeit63.

    In einem grundlegenden Beitrag über historische Frauenforschung schreibtGisela Bock:

    Die Originalität der historischen Frauen- und Geschlechterforschung liegt nicht in

    ihren Methoden, sondern in ihren Fragestellungen und Perspektiven. Im übrigengeht es um das Auffinden neuer Quellen und die Neuinterpretation bekannter Quellen.64

    ThemaSubject Sujet 

    30

    62 Auch apriorische, heilsgeschichtliche Bestimmungen der Kirchengeschichte, wie sie etwa vonGerhard Ebeling auf evangelischer und Hubert Jedin auf römisch-katholischer Seite vertretenworden sind, würden damit eindeutig in den Bereich der systematischen Theologie verwiesen;vgl. Gause, “Geschlecht”, 164-166 (zu Ebeling); Stöve, “Kirchengeschichtsschreibung”,553.

    63 Seit einiger Zeit ist die Gründung einer den deutschen Sprachraum umfassenden, internatio-

    nalen historisch-theologischen Fachgruppe geplant. Außerdem ist die auf Interdisziplinaritätund Interkonfessionalität angelegte, 1998 gegründete AG Zeitgeschichte des KatholischenDeutschen Frauenbundes (KDFB) zu nennen.

    64 Gisela Bock, “Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte”, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 364-391, hier 386f.

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    Diese Feststellung trifft auch für die historische Arbeit von Theologinnen

    zu. Feministische Kirchengeschichtsschreibung orientiert sich an denMethoden der herkömmlichen Kirchengeschichtsschreibung, kritisiert diese jedoch, indem sie bisherige Selektionskriterien für die Wichtigkeit histori-scher Geschehnisse, die Frauen außer acht lassen, infrage stellt. Dadurchwird die von der männlichen Norm her gestaltete und ausgewählte Kirchen-geschichte unkritisch zur ‘allgemeinen’ Kirchengeschichte erhoben. Demge-genüber ist es das Ziel einer feministischen Perspektive, “Kirchengeschichteals Geschichte von  Frauen und Männern neu zu verstehen und neu zu ent-

    werfen”.65

    Es geht demnach der feministischen historisch-theologischenForschung ähnlich wie der feministischen Theologie insgesamt um einen“zweifachen Blick”,66 der Kritik und Neuentwurf anvisiert. Einerseits giltes, die herkömmliche Historiographie in Augenschein zu nehmen und kri-tisch auf ihre androzentrische Einseitigkeit hin zu durchleuchten. Hierzugehört das Stellen ideologiekritischer Fragen, z.B. “mit welchen Mitteln esverhindert wurde, daß Frauen in männerspezifische Bereiche vordrangen”,67

    das heißt, wie Diskriminierung und Marginalisierung von Frauen in der Kir-che begründet und bewerkstelligt wurde. Das Ziel dieser Kritik ist nichtsweniger als eine “Dekonstruktion der bisherigen Kirchengeschichtsschrei-bung” und damit einhergehend die “Veränderung von Forschungsparadig-men”.68

    Andererseits geht es darum, unter Benutzung neuer Fragestellungen undPerspektiven zu Entwürfen von Geschichte(n) zu kommen, in denen Frauensichtbar und ihre Erfahrungen ernst genommen werden. Beim Entwurf sol-cher Kirchengeschichte/n erweisen sich die Einsichten der feministischenGeschichtswissenschaft als hilfreich, da hier bereits historische Methoden zur Erarbeitung von Frauen- und Geschlechtergeschichte erprobt sind, währenddies auf dem Gebiet der Kirchengeschichtsschreibung noch relativ weniggeschehen ist. Außerdem helfen die Erkenntnisse der feministischen

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

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    65 Ruth Albrecht, “Kleider machen Leute. Entdeckungen feministischer Kirchengeschichtsfor-schung am Beispiel der Katharina von Siena (1347-1380) und der Euphrosyne (5.Jh.n.Chr.)”,in: Marie-Theres Wacker (Hg.), Theologie feministisch. Disziplinen – Schwerpunkte – Rich-tungen, (Düsseldorf: Patmos 1988), 80-114, hier 81.

    66 Vgl. Hedwig Meyer-Wilmes,  Zwischen lila und lavendel. Schritte feministischer Theologie,(Regensburg: F. Pustet 1996), 10-13, hier 11. Meyer-Wilmes beruft sich dabei auf die Histo-rikerin Joan Kelly-Gadol.

    67 Gause, “Geschlecht”, 176.68 Ebd., 168.

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    Geschichtsschreibung der feministischen historisch-theologischen Forschung

    dabei, Frauen nicht nur in den theologiegeschichtlichen Kontext zu stellen,sondern sie “mit dem gesellschaflichen Ganzen in Beziehung”69 zu setzen.Das Konzept ‘Geschlecht’ ist dabei hilfreich, weil es nicht nur Frauen undMänner als Subjekt der Geschichte wahrnimmt, sondern Geschlechtsiden-titäten von Frauen und Männern als soziale Konstruktionen in den Blicknimmt. Im Zusammenhang einer feministischen Kirchengeschichtswissen-schaft wird es auch um die Frage gehen müssen, wie dieses soziale Kon-strukt ‘Geschlecht’ innerhalb des kirchlich-religiösen Kontextes funktio-

    nierte und wie es religiös ‘eingekleidet’ wurde. Die Analyse religiöser Sinn-und Leitbilder und deren Verknüpfung mit – zum Beispiel bürgerlichen – Weiblichkeitsbildern, wie sie in theologischen und religiösen Texten zutagetreten, und die Art und Weise, wie die Geschlechtsidentität im Bereich vonKirche und Religion definiert und Frauen und Männern ‘auf den Leibgeschrieben’ wurde, kann Aufschluß geben über die Handlungsmöglichkei-ten, die Frauen und Männer in kirchlichen Räumen besaßen. Während alsodie feministische Geschichtswissenschaft Religiosität als einen von vielenFaktoren betrachtet, der zur Konstruktion von ‘Geschlecht’ beiträgt, unter-sucht feministische Kirchengeschichtswissenschaft die soziale Konstruktionvon Geschlechtsidentität in erster Linie im Kontext von Theologie-, Reli-gions- und Kirchengeschichte und unter dem Aspekt von Religion und Reli-giosität.

    So kann eine derart verstandene feministische Forschung eine Grundlage bie-ten, Kirchengeschichte nicht mehr als konfessionelle Eigengeschichte zuschreiben, sondern als Geschichte/n gläubiger Christinnen und Christen.Dadurch kann es ihr gelingen, die Mehrdeutigkeit der Geschichte/n zu erken-nen und anzuerkennen. Es gibt nicht nur eine Erzählung, sondern diverseHistorien.

    Eine solche Art der Geschichtsschreibung verliert obendrein marginali-sierte Gruppen und Bewegungen nicht aus den Augen, sondern versucht,eine ‘Universal’geschichte im Sinne einer alle einschließenden Geschichtezu schreiben. ‘Erinnerung’ und ‘Geschichte’ sind von der politischen Theo-logie, der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie als wesent-

    liche theologische Kategorien erkannt worden. Es geht darum, Unterbre-chungen und Brüche, Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung aufzudecken,

    ThemaSubject Sujet 

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    69 Schissler, “Einleitung”, 27.

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    um die Stimmen der bisher Marginalisierten hören und rekonstruieren zu

    können.70

    Die Blickrichtung der Detektivin hängt immer auch ab von ihrem eigenengesamtgesellschaftlichen Hintergrund. Ihre Genialität besteht darin, daß sie indiesem Hintergrund nicht steckenbleibt, sondern sich bei ihrer Arbeit und inihrer Analyse dieser ihrer Verortung bewußt ist und sie so übersteigt.

    Die Detektivin hat ein Auge auf alle. Sie macht bei ihrer Untersuchung kei-nen Unterschied zwischen sozialem Stand, dem gesellschaftlichen Ansehen,

    der Hautfarbe oder der Position einer Person als Außenseiterin oder ‘Insider’.Für sie ist es das Wichtigste, dem Handeln und den Aktionsmöglichkeiten der beteiligten Personen auf den Grund zu gehen.

    Der Detektivroman  Aufruhr in Oxford spielt mit gesellschaftlichen Vorur-teilen und bleibt ihnen gleichzeitig verhaftet. Dies zeigen die geäußerten Ver-mutungen über die Täterin71 – die einerseits nicht den eigenen gesellschaftli-chen Kreisen entstammen solle, andererseits jedoch mit Wissen arbeitet, daseine humanistische Bildung voraussetzt. So entlarvt die Autorin am Ende diegesellschaftlichen Vorurteile der Handelnden und konfrontiert das Lesepubli-kum mit einer komplexeren Wirklichkeit.

    3. Zur Erschließung und zum Ertrag verschiedener Arten von Quellen

    Die Detektivin verwertet Zeugenaussagen, schriftliche Quellen und analysiertforensisches Material. Sie zieht ihre Schlüsse aus Quellen, die sie durchbestimmte Fragestellungen zum Sprechen bringt.

    Eine der wichtigen Aufgaben, die sich die feministische historische For-schung stellt, ist das Erschließen und das Neulesen von Quellen. Denn verän-derte Fragestellungen machen es erforderlich, Texte neu zu erschließen.Zunächst geht es darum, solche – meist gedruckt vorliegende – Texte, diebereits öfters zum Schreiben der Geschichte benutzt worden sind, erneut zusichten und zu lesen (relecture). Derartige Texte können sich unter einer neuen Fragestellung als sehr ergiebig erweisen. Zweitens bedeutet Neuer-

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

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    70 Vgl. dazu Lieve Troch, Verzet , 49-95; sie gibt eine kurze Übersicht über die politische und

    die Befreiungstheologie und untersucht die Ansätze verschiedener feministischer Theologin-nen.

    71 Daß es sich nicht um einen Täter, sondern um eine Täterin handeln muß, die innerhalb der Collegemauern lebt, wird im Roman bereits recht früh deutlich (vgl. Sayers,  Aufruhr inOxford , 108; Gaudy Night , 99).

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    schließung von Quellen, neue Quellengattungen auszuwerten. Es geht dabei

    um Quellen, die bisher nicht der Mühe wert schienen, erforscht zu werden,weil sie scheinbar keine Ergänzung zur ‘großen Geschichte’ bieten konnten;für den weiblichen Lebenszusammenhang können jedoch gerade sie sich alssehr erhellend erweisen. So können etwa Protokollbücher von Zusammen-künften des Frauenvereins und von Kirchenvorstandssitzungen, persönlicheBriefe, Memoiren und Tagebücher, Hymnen und devotionale Werke, Predig-ten, Traktate, aber auch Haushaltsbücher oder Geldsammellisten wichtigeInformationen bieten, die in bisherigen Darstellungen fehlen.

    In der Regel wird zwischen Primärquellen und Sekundärquellen unterschie-den. Während eine Primärquelle aus dem zu untersuchenden Zeitraumstammt, sind Sekundärquellen Texte aus späterer Zeit, die bereits eine Inter-pretation des ‘Rohmaterials’ vorgenommen haben.72

    Viele historische Untersuchungen über Frauen und Geschlechterbeziehun-gen können nur in einem sehr geringen Maß auf sekundäre Quellen zurück-greifen. Durch die Benutzung von möglichst früh datierten Quellen kann esgelingen, Frauen ‘auszugraben’, die im Laufe der Geschichtsschreibung ausder Erinnerung verschwunden sind. Männer haben oft aufgrund ihrer institu-tionell verankerten Rolle als Amtsträger oder Dienstnehmer mehr Beachtungin der Geschichtsschreibung gefunden. Der Erinnerung an männliche Akteureist im allgemeinen eine größere ‘Überlieferungs-Chance’ (Esch) beschieden.Diese Erkenntnis liefert ein weiteres Argument für die Benutzung zeitgenös-sischen Materials; es sind nämlich gerade die Namen und Aktivitäten vonFrauen, die in der Geschichtsschreibung zunächst unsichtbar gemacht werdenund in der Folge der Vergessenheit anheim fallen.

    Zur Bewertung und Einordnung von Primärquellen ist die Unterscheidungvon June Purvis hilfreich. Sie unterteilt drei Arten von Primärquellen undweist darauf hin, daß jede eigentümliche Vor- und Nachteile hat. OffizielleTexte – wie zum Beispiel Gesetzestexte, offizielle Berichte und Briefe,Memoranda – werden meist gut aufbewahrt und bieten deshalb eine guteGrundlage für die historische Arbeit. Kritisch muß angemerkt werden, daß siedie ‘offizielle’ Sicht und Seite der Geschichte wiedergeben und reflektieren,

    ThemaSubject Sujet 

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    72 Diese Unterscheidung macht June Purvis, “Using Primary Sources When ResearchingWomen’s History from a Feminist Perspective”, in: Women’s History Review 1 (1992), 273-306, hier 300, Anm.11.

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    während Abweichungen von der Norm unterbelichtet bleiben. Auch die Spra-

    che dieser Texte gibt zwar vor, geschlechtsneutral zu sein, geht aber in der Praxis oft vom (weißen, bürgerlichen) Mann als Norm aus. Hier gilt es, das‘Schweigen’ des Textes kritisch wahrzunehmen; oft bieten gerade die – unbe-absichtigten, zufälligen – Unterbrechungen des Schweigens Ansatzpunkte für eine Rekonstruktion von Frauenleben.73

    Zweitens nennt Purvis ‘veröffentlichte Kommentare und Berichte’; dazugehören zum Beispiel Anzeigen, Zeitungen, Journale, aber auch die Schriftenvon politischen, sozialen, literarischen – und religiös-kirchlichen – Schlüssel-

    figuren. Zeitungen verschaffen nicht nur Informationen, sondern sind auchein Spiegel klassenspezifischer Haltungen und Verhaltensmuster,74 die außer-dem aufschlußreiche Information über Unterschiede und Ähnlichkeiten in vonMännern oder/und Frauen geäußerten Sichtweisen oder Standpunkten vermit-teln75. Diese Quellengattung ist von der Selektion des Verfassers bzw. der Verfasserin bestimmt; die dargebotene Information ist aufgrund bestimmter Kriterien und Präferenzen – wie etwa Wichtigkeit, Aktualität, Leserkreis(Klasse) – gefiltert.

    Die dritte Kategorie der Primärquellen, die ‘persönlichen Texte’, die zumBeispiel Briefe, Tagebücher und Autobiographien umfaßt, ist in der Erfor-schung der Frauengeschichte besonders beliebt, da diese Texte die eigenenErfahrungen und Gedanken von Frauen wiedergeben und ihren Lebenszusam-menhang gut dokumentieren. Aber auch sie enthalten eine unvermeidlicheSchieflage hinsichtlich der Auswahl der Geschehnisse und der Darstellungder eigenen Person.76

    Zur Analyse von Texten ist es nach Purvis notwendig festzustellen,

    wie benutzte Texte produziert wurden, wer sie warum geschaffen hat und welcheArt von Information gegeben werden sollte.77

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    35

    73 Ein Beispiel, das Purvis nennt: Im Handelsrecht des 17. und 18. Jahrhunderts in England wirdvon ‘journeymen’ gesprochen; eine Forscherin entdeckte anhand von Gerichtsprotokollen,daß es auch ‘journey women’ gab (vgl. Purvis, “Sources”, 279).

    74 Purvis spricht von ‘social attitudes’ (vgl. ebd., 287).75 Vgl. ebd., 287. Nach Purvis gehören auch Romane, Filme und Photographien zur Kategorie

    der ‘veröffentlichten Kommentare’.76 Vgl. ebd., 291.77 The researcher needs to find out as much as possible about “how the sources being used were

    produced; who created them and why; and what kinds of information were drawn upon”(ebd., 297).

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    June Purvis unterscheidet zwei Arten von Information in Texten, die ‘des-

    kriptiv’ oder ‘perspektivisch’ analysiert werden können. Jede Art bietet spezi-fische Möglichkeiten zur Analyse. Einerseits informieren Texte über Men-schen, Ereignisse und Orte; Texte sind in diesem Fall ‘Zeugen’. Einedeskriptive Analyse zielt darauf, Fakten aus Textzeugen zu eruieren. Ande-rerseits können Texte auch im Hinblick darauf analysiert werden, welchenAufschluß sie über den/die Autor/in geben. Die Person, die den Text verfaßthat, wird dann als repräsentativ für eine bestimmte soziale Gruppe (bzw.Gruppeneigenschaft) aufgefaßt. Dazu dient die ‘perspektivische’ Analyse.

    Insbesondere die dritte Art der Primärquellen eignet sich für eine perspektivi-sche Analyse. In der Praxis sind beide Analysearten eng miteinander ver-flochten.

    Die Unterscheidung von Purvis macht deutlich, daß die Wahl der Quellen diemöglichen Antworten bereits mitbestimmt. Offizielle Texte und veröffent-lichte Kommentare, also Primärquellen der ersten und zweiten Art, bieten ofthinsichtlich der Frauen weniger Anhaltspunkte als Primärquellen der drittenArt. Infolge des Gebrauchs persönlicher Texte und Zeugnisse ist es oft leich-ter möglich, die Stimmen von Frauen zu hören und ihre Eigenständigkeit inDenken und Handeln herauszuarbeiten.

    Was die Frage der Eigenständigkeit angeht, so tritt in weiblichen Selbstaussa-gen oft ein Problem zutage, dem bei der Interpretation Rechnung getragenwerden muß. Es geht um die weibliche Selbstbescheidung. Diese “Beschei-denheitstopik”, die Elisabeth Gössmann und andere mit ihr für das Schrifttummittelalterlicher Frauen konstatiert haben,78 tritt auch in Texten des 19. Jahr-hunderts auf, wo sie durch die Zuschreibung der Geschlechterrollenidentitätauf spezifische Weise bestätigt und verstärkt wird. So beschreiben Frauensich im 19. Jahrhundert selbst des öfteren als ‘still’ oder ‘passiv’ oder als‘anlehnungsbedürftig’ oder ‘abhängig’, während andererseits ihr Handeln,Tun und Denken alles andere als ‘passiv’, ‘still’ oder ‘abhängig’ ist. Aber esgehörte zum Geschlechtercode,79 in dieser Weise über sich selbst zu schreiben

    ThemaSubject Sujet 

    36

    78 Vgl. Elisabeth Gössmann, “Das Gottes- und Menschenbild in der Frauentradition als Korrek-

    tiv und Replik zur männlichen Schultheologie”, in:  Jahrbuch für Volkskunde NF 14 (1991),127-142, hier 134.

    79 Die Lautstärke des Sprechens war ein Hinweis auf den sozialen Stand, dem jemand angehörte.Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde gedämpftes Auftreten zudem immer enger an das weib-liche Geschlechtsstereotyp gebunden: “In Anstandsbüchern des ausgehenden 19. Jahrhun-

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    oder zu sprechen. Deshalb muß beim Lesen von Briefen aus dieser Zeit auf 

    zwei Stimmen gleichzeitig80

    gehört werden: Was sagen Frauen über sichselbst und ihr Tun und in welche Umschreibungen hüllen sie es ein?

    Die Detektivin wertet die Aussagen von (lebendigen, schriftlichen, bildlichenusw.) Zeugen kritisch aus. Dabei weitet sich ihre Fragestellung auf der Grundlage der Zeugenaussagen vom einfachen ‘Wer hat es getan?’ zum kom-plizierteren ‘Wer hat was wann wie und warum, aufgrund welcher Beziehun-gen, mit Hilfe welcher Faktoren getan?’ aus.

    4. Abschließende Bemerkungen: Plädoyer für eine wahr-sagende

    Geschichtschreibung

    Warum habe ich die Historikerin mit einer Detektivin verglichen? Nebenmeiner Vorliebe für Kriminalromane scheint mir die Detektivin in mehrfacher Hinsicht eine passende Metapher zu sein für die historische Arbeit, die zu lei-sten ist. Die Spurensuche und Spurensicherung der Geschichte von Frauenund ihrer religiösen und geschlechtlichen Identitäten ist eine aufreibende,detektivisch zu nennende Arbeit, die eine gute Spürnase und viel Kreativitäterfordert. Die Historikerin fängt bei der konkreten historischen Wirklichkeitan, wie sie sich ihr darbietet. Dabei hat sie ähnlich wie die Detektivin denVerdacht, daß die Wirklichkeit, wie sie ihr von Zeugen und Zeugnissen prä-sentiert wird, nicht vollständig ist, daß Wahrheiten lediglich Teilwahrheitensind und daß es geheime Türen und Räume gibt. Durch ihre Beharrlichkeit

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

    37

    derts wird lautes Verhalten von Frauen nicht mehr nur als Bedrohung für deren sozialen Sta-tus, sondern auch für die Geschlechterrolle selbst dargestellt. Leises Auftreten signalisiert also

    nicht mehr nur den Stand, sondern steht auch ganz direkt im Dienst der Inszenierung vonWeiblichkeit” (Angelika Linke, Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des19. Jahrhunderts, (Stuttgart – Weimar: J.B. Metzler 1996), 161-163, hier 162).

    80 Die Rede von einem “doppel-stimmigen Diskurs” (‘double-voiced-discourse’) stammt vonElaine Showalter; mit der einen Stimme wird der Diskurs der dominanten Gruppe aufgegrif-fen, mit der anderen Stimme in Frage gestellt (Elaine Showalter, “Feministische Literaturkri-tik in der Wildernis”, in: Karen Nölle-Fischer (Hg.),  Mit verschärftem Blick. Feministische

     Literaturkritik (München: Frauenoffensive 1987), 49-88, hier 81 (die englische Originalaus-gabe erschien unter dem Titel “Feminist Criticism in the Wilderness”, in: Critical Inquiry(Winter 1981), 179-206); vgl. Gössmann, “Frauentradition”, 133). Auch in den Niederlanden

    wird dieses Konzept aus der Literaturtheorie auf die historisch-theologische Geschlechterfor-schung angewendet (vgl. Van Heijst / Derks, “Godsvrucht”, 28-32); nach van Heijst undDerks bietet das Konzept der Doppelstimmigkeit die Möglichkeit, zwei Paradoxe in der Historiographie über Frauen zu verstehen, und zwar ihre “massenhafte Marginalität” undihren “einschließenden Ausschluß” (ebd., 31f.).

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    und ihre Neugier gelingt es der Historikerin, Fakten, Zusammenhänge und

    Beziehungsgeflechte aufzudecken, die Ereignisse in ein anderes Licht rückenund neue Interpretationen ermöglichen. Die Detektivin ist parteilich; sie will,daß die Wahrheit auf den Tisch kommt und siegt.81 Ähnlich denkt die Histo-rikerin; auch sie ergreift Partei, indem sie die Unsichtbarkeit der Geschichtevon Frauen nicht für bare Münze nimmt, sondern als narrative Konventionbisheriger Historiographie entlarvt und problematisiert.

    Dorothy Sayers setzt in ihrem Roman eine Diskussion des Lehrkörpers in

    Szene, bei der auch Lord Peter Wimsey anwesend ist. Die Dozentinnen dis-kutieren über Geschichtsfälschungen. Dabei wird der folgende, dem RomanThe Search von Charles Percy Snow82 entnommene Fall erzählt: Ein Histori-ker hat historisches Material unterschlagen, das er kurz vor Abschluß einer wissenschaftlichen Arbeit gefunden hat. Das neue Material würde seine Theseauf den Kopf stellen. Ist es erlaubt, ihm diese Geschichtsfälschung durchge-hen zu lassen, weil der “Mann sehr arm ist und Frau und Kinder zu ernährenhat”?83 Miss de Vine und die anderen Dozentinnen sind sich darin einig, daßdie Wahrheit siegen muß, wenn sie sich auch bewußt sind, daß sie sich damitin eine Zwickmühle begeben, die die Dekanin, Letitia Martin, dem einzigenanwesenden Mann gegenüber folgendermaßen beschreibt:

    Wenn wir uns jetzt für die Frauen und Kinder verwenden, können Sie [Peter Wim-sey] sagen, daß unsere Weiblichkeit uns für die Wissenschaft untauglich macht;tun wir das nicht, können Sie sagen, unsere Bildung mache uns unweiblich.84

    Die so skizzierte Zwickmühle greift ein Grundthema des Romans auf; es gehtdarum, einen Einklang zwischen Berufsleben und Privatleben, zwischen den

    emotionalen und den intellektuellen Interessen zu finden.85 Für Frauen stellt

    ThemaSubject Sujet 

    38

    81 Janet Hitchman, die Biographin Dorothy Sayers’, faßt den Inhalt von  Aufruhr in Oxford wiefolgt zusammen: “The book is mostly a series of conversations; discussions on the nature of truth” (Janet Hitchman, Such a Strange Lady: A Biography of Dorothy L. Sayers [London:New English Library 1975], 112).

    82 Charles Percy Snow, The Search (Victor Gollancz: London 1934). Der Roman von BaronSnow, der ein Jahr vor ihrem eigenen erschienen war, lieferte Dorothy Sayers die grundle-gende ethische Fragestellung für ihren eigenen Roman (vgl. Hitchman, Such a Strange Lady,

    112).83 Sayers, Aufruhr in Oxford , 351; Gaudy Night , 327.84 Sayers, Aufruhr in Oxford , 351; Gaudy Night , 328.85 Diese Grundthematik ist prägnant zusammengefaßt in einem Gespräch zwischen Harriet Vane

    und Miss de Vine, vgl. Sayers, Aufruhr in Oxford , 182-185; Gaudy Night , 169-172.

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    sich dies zur Zeit der Abfassung des Romans als schwieriges Unterfangen

    dar, das sogar Stoff für einen Kriminalroman bietet. Würde Dorothy Sayersihren Roman heute schreiben, würde sie die oben zitierte Passage sicher anders akzentuieren, nicht zuletzt deshalb, weil eine heutige feministischeSicht Weiblichkeit und Wissen in ein fruchtbares Verhältnis zueinander stellt.86

    Die Geschichtswissenschaft und die detektivische Arbeit sind einembestimmten epistemologischen Modell verbunden, das Carlo Ginzburg als

    ‘Wahrsage-Paradigma’ bezeichnet hat.87

    Die Titanin Metis ist für Ginzburgdas Vorbild dieses Paradigmas. In der griechischen Mythologie personifiziertMetis das vermutende Wissen und die Wahrsagung; bei den Griechen wirk-ten viele Gruppen im Bereich dieser Wissensart, darunter Historiker/innen,Politiker/innen und Frauen.88 Die epistemologische Methode einer so verstan-denen ‘metischen’ Geschichtswissenschaft ist konjektural, das heißt, es gehtum ein ‘vermutendes Wissen’, bei dem auf der Grundlage vorgefundener Indizien Rückschlüsse auf eine historisch undurchsichtige und niemals voll-ständig rekonstruierbare Realität getroffen werden. Ähnlich wie Metis, dieschwanger von ihrem Gatten Zeus verschluckt wurde, wurde auch dieses epi-stemologische Paradigma “vom Prestige des von Platon entwickelten undsozial höherstehenden Erkentnismodells” erdrückt.89 Mit der Hilfe der Titaninder Weisheit macht sich die Historikerin an die titanische Arbeit der histori-schen Wahr-Sagung im Hinblick auf die (religiösen) Geschichte/n und Erfah-rungen von Frauen.

    Beginning from Dorothy Sayers’ detective novel, Gaudy Night  the author com-pares the work of the historian to the work of a detective and shows that their waysof working share an epistemological basis. She describes the problems, desiderataand questions which face a feminist-oriented Church History and shows the rele-

     Angela Berlis Die Historikerin als Detektivin

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    86 Dies tut übrigens auch Dorothy Sayers, z.B. wenn sie Harriet Vane von der Notwendigkeiteines “stereoskopische[n] Sehen[s]” sprechen läßt, bei dem “Herz und Hirn” vereint sind(Sayers,  Aufruhr in Oxford , 82; Gaudy Night , 75). Das Problem liegt folglich nicht bei ihr,

    sondern beim heutigen Lesepublikum, das die Problematik nicht mehr ohne weiteres in der von der Autorin beabsichtigten Richtung e