bildung der arbeitsgesellschaft - readingsample

45
Pädagogik Bildung der Arbeitsgesellschaft Intersektionelle Anmerkungen zur Vergesellschaftung durch Bildungsformate Bearbeitet von Anselm Böhmer 1. Auflage 2016. Taschenbuch. 218 S. Paperback ISBN 978 3 8376 3449 5 Format (B x L): 14,8 x 22,5 cm Gewicht: 345 g Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Sozialarbeit schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Upload: others

Post on 18-Nov-2021

2 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

Pädagogik

Bildung der Arbeitsgesellschaft

Intersektionelle Anmerkungen zur Vergesellschaftung durch Bildungsformate

Bearbeitet vonAnselm Böhmer

1. Auflage 2016. Taschenbuch. 218 S. PaperbackISBN 978 3 8376 3449 5

Format (B x L): 14,8 x 22,5 cmGewicht: 345 g

Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Sozialarbeit

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Page 2: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

2016-11-21 12-59-00 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0382446097836288|(S. 1- 2) VOR3449.p 446097836296

Page 3: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

Aus:

Anselm Böhmer

Bildung der ArbeitsgesellschaftIntersektionelle Anmerkungen zur Vergesellschaftungdurch Bildungsformate

Dezember 2016, 218 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3449-5

Die Erwerbsarbeitsgesellschaft bildet ihre Strukturen und Prozesse durch die Subjek-tivierung von Individuen. Formale, non-formale und informelle Modi von Bildung, diewegen neoliberaler Transformationen ihrerseits einem Wandel unterliegen, dienendiesem Zweck. Für einen kritischen Begriff von Bildung sowie für die berufliche Pra-xis (Schule, Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) ergeben sich daraus zahlreicheKonsequenzen.Anselm Böhmer befragt Formate von Bildung auf ihre subjektivierenden Aspekte hinund zieht hierzu Ansätze der Gouvernementalitätsstudien (Foucault, Butler und Zi-zek), der Postcolonial Studies (Said, Spivak) und postmarxistische Entwürfe (Laclau,Mouffe) heran.

Anselm Böhmer (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hoch-schule Ludwigsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Bildung, Armut, Inklu-sion, Subjektivität und sozialer Raum.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3449-5

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

2016-11-21 12-59-01 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0382446097836288|(S. 1- 2) VOR3449.p 446097836296

Page 4: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

Inhalt

Vorwort 7 1. Neoliberalismus als Normativ | 9 1.1 Theoretische Positionen des Neoliberalismus | 9

1.1.1 Kapitalismen | 11 1.1.2 Der ökonomische Neoliberalismus | 18 1.1.3 Gouvernementalität als Interpretationsfolie

des Neoliberalismus | 23 1.1.4 Neoliberale Politiken | 30 1.1.5 »Kompetenzmaschinen« | 39

1.2 Das neoliberale Normativ | 43 1.2.1 Das Heilsversprechen von Position und Kapital | 43 1.2.2 Das Normativ als Machtkonzept | 45

2. Intersektionelle Ordnungen der Arbeit | 49 2.1 Intersektionalität als Analysematrix | 50

2.1.1 Ein Theorieangebot »mittlerer Reichweite« | 53 2.1.2 Sozioökonomie vielfältiger Komplexidentitäten | 54 2.1.3 Entwicklungen von Ungleichheit | 62 2.1.4 Heben und Drehen – die Bergungsarbeit am Strukturmodell

der Intersektionalität | 68 2.2 Die neoliberale Erwerbsarbeitsgesellschaft | 77

2.2.1 Arbeit in der Moderne | 80 2.2.2 Moderne Ungleichheiten | 99 2.2.3 Der Wandel der sozialen Ungleichheit und

des Wohlfahrtsstaats | 111 2.2.4 Perspektiven der Erwerbsarbeit | 121 2.2.5 Neoliberal Arbeiten | 133

2.3 Das Normativ der Erwerbsarbeitsgesellschaft | 137

|

Page 5: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

3. Der Faktor Bildung | 141 3.1. Bildung in der Arbeitsgesellschaft | 142

3.1.1 Die Rolle von Bildung angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse | 142

3.1.2 Ein intersektionell informierter Bildungsbegriff | 147 3.2 Neoliberale Regierung der Bildung | 151 3.3 Praktische Intersektionen der Genese

von Bildungsungleichheit | 157 3.3.1 Bildung und Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern | 160 3.3.2 Bildung und Erwerbstätigkeit von MigrantInnen | 162 3.3.3 Bildung der Schichten | 169

3.4 Intersektionelle Perspektiven zu arbeitsgesellschaftlichen Bildungsformaten | 174 3.4.1 Alltägliche Bildung | 174 3.4.2 Das responsive Subjekt der Bildung | 178 3.4.3 Bildung als Sichtbarwerden | 181

3.5 Transformierte Bildung | 185

Literatur | 189

Page 6: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

1. Neoliberalismus als Normativ

Die theoretische Formation des Neoliberalismus hat strukturbildende Be-deutung für gesellschaftliche Vollzüge – und insofern für Formen von Ver-gesellschaftung und Erwerbsarbeit. Im folgenden Kapitel sollen die grund-legenden sozialwissenschaftlichen Strukturmomente jener Konzeption her-ausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck kommen die einschlägigen Texte von Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant sowie David Harvey zu Wort, um von dort aus in der Folge ein neoliberales Konzept von Erwerbsarbeit sowie ihrer Funktionen für Gesellschaft und Vergesell-schaftung ableiten zu können.

1.1 THEORETISCHE POSITIONEN DES NEOLIBERALISMUS

Es scheint einigermaßen komplex zu sein, das hier zu untersuchende se-mantische Feld zu fassen zu bekommen, denn der Begriff des Neolibera-lismus ist »ein hybrider Terminus, der irgendwo in der Schwebe zwischen dem Laienidiom der politischen Diskussion und der Fachterminologie der Sozialwissenschaften bleibt« (Wacquant 2009: 308). Daher soll im Folgen-den zunächst der Bezug der mit dem vorliegenden Band gebotenen Analyse als derjenige der Erwerbsarbeit und der Reflexionen auf deren Veränderun-gen in »neoliberalen« Gesellschaften, insbesondere der zurückliegenden etwa 35, Jahre skizziert werden. Neoliberalismus ist insofern zunächst der Begriff für eine politische, soziale und ökonomische Konfiguration, die in ökonomischen Kontexten verwurzelt scheint, doch weitaus umfänglichere

Page 7: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

10 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Grundlagen aufweist und zugleich weiterreichende Konsequenzen nach sich zieht.

Gerade im Hinblick auf den Aspekt politischer Inhalte kann Neolibera-lismus verstanden werden als bestimmt durch die Politikkonzepte deregu-lierter Ökonomie, des Zurückdrängens staatlicher Interventionen in der Wirtschaft, einer Austeritätspolitik, die durch Einsparungen öffentlicher Haushalte und der Reduktion staatlicher Unterstützungen bestimmt ist, (vgl. Boas/Gans-Morse 2009: 143; einen alternativen Entwurf legen vor Lemke/Schaal 2014: 10) sowie einem noch näher zu bestimmenden verän-derten Verhältnis zwischen staatlicher Regierung und den Individuen. So-mit ergeben Hinweise darauf, dass mit Neoliberalismus nicht allein eine ökonomische Programmierung als marktorientierte Liberalisierung gemeint sein kann, sondern dass im Zuge von Privatisierung und Kürzung staatli-cher Subventionen Versorgungsstrukturen für die Bevölkerung zur Disposi-tion gestellt werden, die im vorhergehenden keynesianischen Wohlfahrts-staat als Grundlage des sozialen Ausgleichs verstanden wurden (zur histori-schen Einordnung vgl. Dingeldey 2006). Inwieweit sich daraus Konse-quenzen für die sozialen Strukturen von neoliberalen Gesellschaften erge-ben, welche Bedeutung dies für die Konzepte von Erwerbsarbeit hat und inwieweit sich somit eine »Entkollektivierungs- oder Reindividualisie-rungs-Tendenz« (Castel 2011: 18; vgl. Bourdieu 2015: 48f.; skeptisch zu einem allein neoliberalen Ursprung der Individualisierung Hesse 2007: 231) im Hinblick auf die Lebensführung der Einzelnen ausmachen lässt, soll noch eigens dargestellt und für die Frage nach Bildung und Bildungs-politik ausgewertet werden (vgl. Kapitel 2 und 3 dieses Bandes).

Denn der besondere Einfluss, den diese Denkungsart für verschiedene Nationen, aber alsbald auch im globalisierten Zusammenhang erlangte, ist kaum erklärbar, wenn Neoliberalismus lediglich als eine Detailfrage der Wirtschaftspolitik verstanden wird. Vielmehr wird hier davon ausgegangen – und soll in den folgenden Abschnitten herausgearbeitet werden –, dass Neoliberalismus auf dem Weg wirtschaftspolitischer Restrukturierung poli-tische, gesellschaftliche und damit einhergehend individuelle Formen nachhaltig beeinflusst. Dieses Wechselspiel der verschiedenen Politikfelder und gesellschaftlichen Arenen wiederum hat Konsequenzen für die anthro-pologischen sowie bildungsspezifischen Auffassungen und Steuerungsbe-mühungen, die im Folgenden als Politiken eines bestimmten Regierungs-verständnisses mit dem Begriff der Governance beschrieben werden sollen

Page 8: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 11

(vgl. z.B. Benz/Dose 2010; Benz et al. 2008; Davies 2011; Demiro-vić/Walk 2011; Heinelt 2008; Mayntz 2010).

Damit ist zugleich der spezifische Fokus des vorliegenden Bandes um-schrieben: Neoliberalismus wird hier weniger mit politikwissenschaftli-chem Interesse untersucht als vielmehr mit seinen letztlich bildungsprakti-schen Konsequenzen für die Frage nach der Vergesellschaftung von Men-schen, für die allerdings politik-, sozial- und bildungswissenschaftliche Ge-sichtspunkte von Bedeutung sind und insofern in der Analyse des Neolibe-ralismus Berücksichtigung erfahren müssen.1 Daher soll zunächst sein grundlegendes Verständnis herausgearbeitet und anschließend die damit einhergehende Frage nach der veränderten Auffassung von Erwerbsarbeit konfiguriert werden, um von dort her die Rückfrage nach Bildungskonzep-ten stellen zu können, die sich in dieser Grundstruktur als ein Element des Gesamtzusammenhanges neoliberaler Gesellschaften verstehen lässt. Die-sem Zweck dienen auch die nun anschließenden Rekonstruktionen zum Neoliberalismus als politikinduziertem Format von Subjektivierung, Ver-gesellschaftung und Bildung.

1.1.1 Kapitalismen

Der Begriff des Kapitalismus ist nach wie vor nicht leicht zu handhaben, da er als historisch und ideologisch vorbelastet gilt. Zugleich wird er allge-mein als ein kritischer aufgefasst: »Der Begriff entstand aus dem Geist der Kritik und der Perspektive des Vergleichs.« (Kocka 2013: 9) Darüber hin-aus dient der Terminus aber auch der wissenschaftlichen Analyse (vgl. ebd.) – und soll gerade als solcher im Folgenden genutzt werden. Insofern werden als Kapitalismus jene Gesellschaftsordnungen verstanden, die einer spezifischen Orientierung an der Generierung von Mehrwert als dem »Geist des Kapitalismus« verpflichtet sind und dabei zugleich eine als Ethik apostrophierte Einordnung erfahren:

1 Im Folgenden sollen Webers Hinweise zu Interessenausgleich und Interessen-

verbindung aufgegriffen, dann aber jenseits des methodologischen Individua-lismus’ um Aspekte der strukturellen Interessenvormacht und vorrationaler Pro-zesse erweitert werden (vgl. Weber 1980: 21f.; zur diesbezüglichen Weber-Rezeption Adornos vgl. Proißl 2014: 55ff., zur Abgrenzung von Weber und Marx vgl. Weyand 2014: 76).

Page 9: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

12 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

»[...] vor allem ist das ›summum bonum‹ dieser ›Ethik‹, der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint.« (Weber 2016: 42f.; zu Foucaults sowie der Frankfurter Schule Perspektive auf Weber vgl. Kocyba 2014) Deutlich wird bereits in dieser klassischen Position, dass Kapitalismus als die Generierung von Mehrwert einerseits und als Produktion wie Präsenta-tion einer subjektiven Disposition (»Ethik«) fungiert. Darin gilt für die sub-jektiven Dispositionen der Individuen die Herstellung einer mindestens ge-sellschaftlichen Rahmung, so dass der Kapitalismus ›Unternehmer und Ar-beiter erzieht und schafft‹ (vgl. ebd.: 44). Weber führt eine solche gesell-schaftliche wie subjektive Disposition letztlich auf den Rationalismus zu-rück, dessen Vorläufer er u.a. im calvinistischen Protestantismus ausmacht (vgl. ebd.: 19ff. sowie 59ff.). Dabei erkennt Weber den Widerspruch von »Rationalismus« und »irrationalem Element« (ebd.: 58f.). Damit stellt sich die Frage, wie »der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengs-ter Vermeidung alles unbefangenen Genießens [...], so rein als Selbstzweck gedacht« (ebd.: 42) werden könne, wenn doch zunächst ein rationales öko-nomisches Kalkül und kein irrationales Immer-Mehr des Geldes leitend sein sollte. Die so gestellte Frage bringt »das Irrationale dieser Lebensfüh-rung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt, zum Ausdruck.« (Ebd.: 54) Allgemein indes bedarf es nach Max Weber ei-ner gewissen Autonomie der Wirtschaft gegenüber der Politik, um sich im modernen Sinne entfalten zu können (vgl. Kocka 2013: 13).

Schumpeter, als ein weiterer Bezugsautor einer systematischen Klärung des Kapitalismusbegriffs, wiederum legte dar, dass der Kapitalismus auch der Mehrheit der Menschen einen Zuwachs an Wohlstand erbracht habe (vgl. ebd.: 16). Dennoch konstatierte Schumpeter, dass der Kapitalismus an seinen nicht intendierten Folgen scheitern müsse; er ist also in sich zwie-spältig, er produziert und negiert zugleich seine gesellschaftliche Basis: »Kapitalistische Entwicklung ist immer, so die Erkenntnis Joseph A. Schumpeters, eine Abfolge kreativer Zerstörung, sie ist also janusköpfig, für die einen kreativ, für andere destruktiv.« (Altvater 2014: 8)

Page 10: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 13

Bereits mit diesen beiden Schlaglichtern zu klassischen Positionen zum Kapitalismus ergibt sich, dass sein Begriff kein homogenes Ganzes erfasst, sondern vielmehr unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklungs-stränge bündelt, verknüpft, trennt und neu strukturiert, ohne dass – gerade angesichts der irrationalen (Weber) und der destruktiven (Schumpeter) Momente – eine historisch lineare Entwicklung rekonstruiert oder gar ein schlussendliches Zielkonzept vorgelegt werden könnte. Angesichts ver-schiedener weiterer Rekonstruktionen des Kapitalismusbegriffs (Marx, Keynes, Polanyi, Braudel u.a.) kommt Kocka allerdings zumindest zu dem Ergebnis folgender Strukturmomente des Kapitalismus:

1. Kapitalismus individualisiert: »Kapitalismus [beruht] auf individuellen

Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen.« (Kocka 2013: 20) Diese Individualisierung lässt die Einzelnen durchaus unterschiedliche Positionen im Gesamtraum einer Gesellschaft annehmen (vgl. Bourdieu 1997: 160f.) und trägt zugleich dazu bei, dass selbst intersubjektive Nä-he im solcherart beschaffenen Bourdieu’schen »Sozialraum« unter ka-pitalistischer Direktion zunehmend weniger zu überindividuellen Zu-sammenschlüssen führt. Vielmehr werden Individuen als Vereinzelte adressiert und durch Subjektivierung mit einhergehender Responsibili-sierung auf das vermeintlich jeweils nur einzeln Geltende – im Positi-ven wie im Negativen – verwiesen. Strukturelle Voraussetzungen indi-vidueller Lebensführung stehen in der Gefahr, in den Hintergrund zu treten oder völlig ausgeblendet zu werden (vgl. näher Kapitel 1.1.5).

2. Kapitalismus kommodifiziert: »Das ›zur Ware werden‹ [...] von Res-sourcen, Produkten, Funktionen und Chancen ist zentral.« (Kocka 2013: 20) Zugleich fungieren die Mechanismen des Marktes als grund-sätzliche Steuerungsmaßgaben. Unter dieser Hinsicht kommt den unter-schiedlichen Gegenständen und selbst menschlichen Potentialitäten (»Funktionen und Chancen«) der Charakter des ökonomischen Ver-kehrs zu – was Gegenstand gesellschaftlicher Bezüge ist, kann kommo-difiziert, also zur Tauschware werden und bekommt als solche einen Tauschwert zugesprochen. Da sich dieser Tausch- vom Gebrauchswert für die Lebensführung der Individuen deutlich unterscheiden kann, er-langen Gegenstände und menschliche Potentialitäten einen irrationalen Charakter (vgl. Weber 2016), sie werden zum »Warenfetisch« (Marx

Page 11: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

14 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

1968: 85), der somit vordergründig der Produktion von Gütern, intenti-onal indes der Herstellung von Mehrwert verpflichtet wird: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständ-liche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigen-schaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhält-nis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesell-schaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.« (Ebd.: 86)

3. Kapitalismus kapitalisiert – bedingt mithin die Investition von Kapital in der Gegenwart für die Gewinnung von Mehrwert in der Zukunft (vgl. Kocka 2013: 20f.). Teile dieses Arguments klangen bereits zuvor an, wenn die »irrationale« oder »fetischisierte« Weise der Nutzung von Gegenständen und sogar menschlichen Möglichkeiten dargelegt wur-den. Weitere Perspektiven werden nun mit dem Hinweis auf eine zeitli-che Struktur deutlich: Die Gegenwart steht im Dienst der Zukunft. Was heute produziert wird, soll in Zukunft veräußert und »zu Geld gemacht« werden. Insofern wird im Kapitalismus jegliche Gegenwart von der Zu-kunft geprägt, überholt und letztlich (im positiven Fall) rational, öko-nomisch und gesellschaftlich bestätigt.

Aus dieser dreifach gegliederten Grundstruktur kapitalistischer Gesell-schaften ergeben sich für die Individuen, wie bereits oben im Rückgriff auf Max Weber angeführt, Tendenzen hin zu verstärkt irrationalen und unilate-ralen Subjektivierungsformaten. »Der Erwerb von Geld und immer mehr Geld« (Weber 2016: 42) prägt nicht allein eine berufliche Perspektive, son-dern sämtliche weiteren Formen der Selbstverständigung der Menschen. Welche »Ressourcen, Produkte, Funktionen und Chancen« (Kocka 2013: 20) auch immer erstrebt, genutzt oder als der eigenen Verfügungsgewalt unterstellt angesehen werden – ihr Tauschwert bleibt die orientierende Größe, von der her weitere »Güterabwägungen« ihre Maßstäbe entlehnen. Dies gilt zumindest so lange und insofern, als kapitalistische Normen zu-grunde gelegt werden. Dass in spätmodernen Gesellschaften (zu der Gid-dens’schen Dreiphasigkeit der Moderne vgl. Jurczyk 2009: 53f.; zu ihrer

Page 12: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 15

spezifischen Dynamik und subjektivitätsbezogenen Kontingenz vgl. Rosa 2016: 519ff.) weitere Normsysteme und ihre sozialen Positionierungen eine kapitalistische Strukturierung »überlagern« (Bourdieu 1997: 161; dort im Hinblick auf Sozialräume), ist kein Geheimnis. Dennoch bleibt die Schaf-fung von Mehrwert mit den Maßgaben von Individualisierung, Kommodi-fizierung, Kapitalisierung und Subjektivierung zentraler Ankerpunkt der Entwicklungen kapitalistischer Gesellschaftsformen.

Versteht man den Neoliberalismus also als ökonomisch wie sozial fol-genreiche Gemengelage aus ökonomischer Liberalisierung, Zurückdrängen administrativer Präsenz und Kürzung staatlicher Subventionen, so wird deutlich, dass darin ein Grundzug allgemein kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsformate zum Ausdruck kommt. Das neoliberale Regime ist nicht das erste, das unter kapitalistischer Maßgabe eine Verstärkung der Individualisierung – und folglich: eine Rückführung kollektiver Sozialfor-men – anzielt. Auch ist die dem Neoliberalismus zuzuschreibende umfäng-liche Kommodifizierung (vgl. Lessenich 2013: 97ff.) dem Kapitalismus in-härent; es scheinen weit eher die Reichweite, die Zielgruppen und die Ver-fahren der Kommodifizierung zu sein, die sich historisch wandelten.

Ein Blick auf die Entwicklungen der kapitalistischen modi laborandi ab den 1970er Jahren zeigt umfängliche Herausforderungen mitsamt neuer Justierungen der einzelnen kapitalistischen Vergesellschaftungsfelder (vgl. Kocka 2013: 92f.), wobei jeder Entwicklungsschritt seine Bedeutung für die Entwicklung der aktuellen neoliberalen Gestalt des Kapitalismus be-kommt: Schon durch das Ende von Bretton Woods, durch Ölpreissteige-rung, Deregulierung, De-Industriealisierung und die allgemeine Aufwer-tung des Finanzsektors entstand eine »Finanzialisierung« (ebd.: 94) als Ausdruck »neoliberaler« Deregulierung. Dabei ist zudem die Destabilisie-rung des Kapitalismus durch einen »Pumpkapitalismus« (ebd.: 95; Aus-druck von Dahrendorf) zu konstatieren, die der oben erwähnten Zukunfts-perspektive des Kapitalismus weniger eine positive Steigerung des Mehr-werts hinterlegt, als vielmehr einen Schuldendienst implementiert, der auf-grund seiner vertraglichen Bindung freiheitlich verstandene Handlungs-spielräume gewissermaßen »unter der Hand« in Handlungsnotwendigkeiten verkehrt – so dass der Rede von einer »Alternativlosigkeit« zumindest po-sitive Handlungsnotwendigkeiten vorausliegen. Schließlich ist die Weiter-entwicklung des Kapitalismus vom »Manager- zum Finanzmarkt- oder In-

Page 13: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

16 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

vestorenkapitalismus« (ebd.: 96) mit entsprechenden Konsequenzen für die Führung von Unternehmen (shareholder value) zu verzeichnen.

In dieser Form werden zusätzliche »Waren« in Gestalt der Finanzpro-dukte kreiert, so dass weitere ökonomische Handlungsfelder geradezu ex nihilo der Produktivwirtschaft entstehen. Doch auch in dieser Hinsicht werden Freiheitsräume eingeschränkt, insofern weder Unternehmensgrün-derInnen noch die leitenden ManagerInnen tatsächlich Handlungshoheit beanspruchen können. Diese wird vielmehr durch die »AnteilseignerInnen« und ihre jeweiligen Präferenzen formiert. Dass sich hingegen nicht alle shareholder der nachhaltigen Optimierung bestehender Unternehmen ver-pflichtet sehen, ist mittlerweile eine Binsenweisheit, die sog. Hedgefonds u.a. mit ihrem marktradikalen Verwertungsinteresse erkennen lassen.

Deutlich wird, dass sich nicht bloß eine Form des Kapitalismus für mo-derne Gesellschaften beschreiben lässt (und ein globaler Vergleich würde abermals gesteigerte Differenzgrade aufzeigen). Daher soll von verschiede-nen »Kapitalismen« gesprochen werden, die sich je nach historischer Ent-wicklung von Gesellschaften, Organisation der Kapital- und Ertragssteue-rung, der Auffassung von Unternehmens- oder allgemeinen wirtschaftli-chen Zielen u.v.m. unterscheiden. In der hier vorliegenden Schrift sollen jene Aspekte besonders hervorgehoben werden, die sich unter dem Begriff eines »neoliberalen Kapitalismus« versammeln lassen und die zuvor bereits mit einer ersten Arbeitsdefinition vorgestellt wurden. Vor diesem Hinter-grund kann »neoliberale« Politik als jene aufgefasst werden, die durch die bereits skizzierten Strukturmomente »Haupttendenzen der vorangehenden Jahrzehnte umwendete und zugleich eine Gewichtsverschiebung von der organisierten Arbeiterschaft hin zur Kapitalseite einleitete.« (Ebd.: 117)

Auf diese Weise zeigt sich, dass die verschiedenen historischen Gestal-ten des Kapitalismus und seine gegenwärtigen Erscheinungsformen nicht allein auf eine – gar auf ein einziges Ziel hin strebende – Optimierung des gesellschaftlichen Systems der Schaffung von ökonomischem Mehrwert verpflichtet sind, sondern durch sich wandelnde Ausdrucksformen dieses Strebens zum Teil höchst unterschiedliche Folgen für die Vergesellschaf-tung von Menschen in kapitalistischen Staatsgebilden ergeben. Dass aus der zuvor benannten »Gewichtsverschiebung von der organisierten Arbei-terschaft hin zur Kapitalseite« Veränderung in den Teilhabeformen und Ressourcenzugängen folgen, aus denen sich wiederum unterschiedliche Be-reitschaften speisen, sich als Individuum an der Ausgestaltung gesellschaft-

Page 14: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 17

licher Segmente zu beteiligen, liegt auf der Hand. Zudem sei nach Auffas-sung Kockas der gesellschaftliche Konsens für eine koordinierte Kapita-lismusform zusehends erodiert – gerade in jenen Nationen, die dann Vor-reiter für die neoliberale Umsteuerung wurden; dabei zeigte sich auch ein verstärkter Individualismus als Ausdruck des Zeitgeists (vgl. ebd.). Für Kocka bleibt der Staat wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus, denn

1. muss der Staat die Rahmendbedingungen für den Markt absichern, 2. muss der zunehmenden Fragilität kapitalistischer Prozesse durch gesell-

schaftlich neue Einbettungen begegnet werden, 3. wachsen die Kollateralschäden des Kapitalismus zusehends (vgl. ebd.:

121f.). Daher kann eine wie auch immer geartete Ausdrucksgestalt kapitalistischer Vergesellschaftung nicht ohne eine regulative Instanz auskommen, die bis-lang der Staat und seine unterschiedlichen Funktionsformen – ob als diszip-linierende und strafende, ob als soziale Leistungen vergebende, Sicherheit herstellende oder auch durch individuelle Ressourcenmehrung (etwa im öf-fentlichen Bildungssystem) gewährende – erbracht wurden. Inwieweit sich tatsächlich anderen Organisationsmuster im inter- oder transnationalen Zu-sammenhang mit derselben Effizienz etablieren lassen, wird die Zukunft zeigen müssen. Bislang allerdings lassen sich solche wirkmächtigen Akteu-re im Umfeld ökonomischer Strukturen und Prozesse kaum erkennen.

Bei aller Angewiesenheit von kapitalistischen Prozessen und gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen muss man wohl von einer gewissen Un-gleichheit der Lasten ausgehen, als der Kapitalismus jene gesellschaftlich entwickelten und vorgehaltenen Grundlagen nutzt, die er nicht selbst ge-schaffen hat und die er durch die Kollateralschäden seiner Vorgehensweise (Schumpeter) zudem kontinuierlich bedroht. Andererseits werden zumin-dest einige Anteile des erwirtschafteten Mehrwerts auch in gesamtgesell-schaftliche Handlungsfelder (Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und Woh-nen, Sicherheit, Kultur etc.) in Form von Steuern und Abgaben überführt. Es bleibt also abzuwarten, ob und wie es den unterschiedlichen Kapitalis-men jeweils gelingt, sich des Verzehrs der eigenen gesellschaftlichen Grundlage zumindest insofern zu enthalten, als damit nicht längerfristige und somit die Produktionsverhältnisse selbst unterminierende Problemfel-

Page 15: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

18 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

der aufgetan werden. Ein Blick in aktuelle ökologische und soziale Prob-lemzonen der internationalen Mehrwertproduktion lässt Zweifel keimen.

1.1.2 Der ökonomische Neoliberalismus

Im Folgenden sollen insbesondere diejenigen Perspektiven des Neolibera-lismus dargestellt werden, die sich vornehmlich auf die ökonomischen As-pekte eines solchen Politikstils und Gesellschaftsformates beziehen. Zu diesem Zweck werden einleitend einige systematische Hinweise auf das im Folgenden verwendete Verständnis des Neoliberalismus vorgelegt, um so-dann eine historische Rekonstruktion (einiger) Entwicklungsstränge und Seitenarme des Neoliberalismus skizzieren zu können. 1.1.2.1 Die neoliberale Quadriga: Individualisierung, Kommodifizierung, Kapitalisierung und Subjektivierung In seiner Analyse spätmoderner Gesellschaften gelangt Crouch zu der Ein-schätzung, dass die drei Sektoren Staat, Markt und Großunternehmen ein »komfortables Arrangement« (Crouch 2013a: 14) eingingen. Movens einer solchen Entwicklung sei nicht zuletzt die insbesondere durch die Konzerne vertretene und manifestierte Auffassung, »that the social good will be max-imized by maximizing the reach and frequency of market transactions, and it seeks to bring all human action into the domain of the market.« (Harvey 2007: 3) Damit sind, so kann nach der vorherigen Analyse festgestellt wer-den, bereits zwei allgemeine Spezifika aus dem Formenkreis der Kapita-lismen benannt, Kommodifizierung (›bring human action into the market‹) und Kapitalisierung (›maximizing by maximizing the market transac-tions‹). Deutlich wird sodann die Praxis der Individualisierung von Kon-kurrenz, die insbesondere durch die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozia-lem Abstieg angeheizt wird (vgl. Bourdieu 2015: 49). Für die Versorgung mit wohlfahrtsstaatlichen Gütern bedeutet dies: »An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten trat [...] die pa-ternalistische Sorge um seinen Wohlstand, demzufolge er vor allem von sinkenden Preisen profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von kleinen und mittle-ren Unternehmen gewährleistet werden können.« (Crouch 2013a: 39)

Page 16: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 19

Aus der Wahlfreiheit vormaliger Ordnung wird somit die ›Freiheit‹ zur Un-terordnung, die zugleich bestimmten Akteuren des kapitalistischen Re-gimes, den Großkonzernen, mehr Marktmacht und dabei eine gesteigerte Definitionshoheit über die anzubietenden Produkte und Dienstleistungen, letztlich das daraus resultierende gute Leben zuspricht – den Konsum.

Zugleich hat eine solche neoliberale Regierung Konsequenzen für die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen. Wohlfahrtsstaatliche Absicherungen so-zialer Risiken erfahren nun vermehrt Kritik, als sie sich nicht durchgängig Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen und zudem Fähigkeit und Bereit-schaft der Individuen unterminierten, sich den Herausforderungen des Marktes unverstellt zu überantworten (vgl. Hälterlein 2015: 106). Aus der, nach Auffassung Crouchs paternalistischen, Umstrukturierung der Wohl-fahrtsstaaten folgt eine im vorgenannten Sinne legitimierte Aktivierung sowie verstärke Responsibilisierung der NutzerInnen solcher Dienstleis-tungen im Sinne eines regulativen »Förderns und Forderns« wie im deut-schen Sozialgesetzbuch II. Daraus wiederum ergeben sich umfängliche Prozesse der Subjektivierung von Menschen im Sinne eines neuen work-fare-Regimes, das durch eine Reformulierung und umstrukturierte Einbet-tung des Verständnisses von Erwerbsarbeit die Individuen ebenso beein-flusst wie es die Politiken umformt (vgl. z.B. Böhmer 2013a und b; Brütt 2011; Hohmeyer et al. 2012; Olk 2009). »Arbeitsmarktpartizipation ist im Verlauf der jüngeren Sozialstaatsreform zur ten-denziell alternativlosen, einzig anerkannten Form der Lebensführung geworden, in deren Ermöglichung (und im Zweifel Erzwingung) alle sozialpolitischen Anstren-gungen konvergieren.« (Lessenich 2009: 169) Mit der neoliberalen Freiheit zum Wettbewerb wird ein vorhergehend brei-ter gefasstes Verständnis der Freiheit von Zwang, Fremdherrschaft und Unvernunft zu einer Freiheit zur Einordnung in ein neues Wohlfahrts- und Arbeitsverständnis überführt. Dabei ist dieser Art von Freiheit – zumindest vor dem Hintergrund früherer Freiheits- und Bürgerrechte wie etwa wäh-rend der Französischen Revolution, in der Unabhängigkeitserklärung der USA, The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of Ameri-ca, oder, als Stichwortgeber beider in den Auffassungen eines John Locke (vgl. Locke 2006; dazu Niesen 2012) – wohl kaum noch als jene Freiheit zu beschreiben. Sie nimmt vielmehr Formen einer in freiheitlichen Formen

Page 17: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

20 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

erscheinenden Überzeugung durch andere und für Anderes an – so z.B. die erwähnten Formen von Individualismus und »Profitstreben«.

Weiter wird betont, dass der Neoliberalismus den Einfluss der Groß-konzerne massiv gesteigert habe (vgl. Crouch 2013a: 12). Daraus wiede-rum resultiere ein »Dreikampf« aus Staat, Markt und diesen Großunter-nehmen, in den eine vierte, überaus heterogene Kraft eingreifen müsse: die Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 14 sowie 215ff.). Dabei zeige sich, dass der Staat zunehmend den Formaten der Großunternehmen angeglichen werde (vgl. ebd.: 109). In diesem Zusammenhang verweist Crouch auf die eben-falls gegebenen Vorteile des Neoliberalismus (vgl. ebd.: 45f.):

1. Alternative zu staatlicher Bevormundung, 2. Bearbeitung des Problems von Zentralisierung und fehlender »Kunden-

nähe« (ebd.: 45), 3. Flexibilität trotz totalitärer Neigungen. Der Begriff des Neoliberalismus steht vor diesem Hintergrund zunächst für eine Problemanzeige der strukturellen Veränderung und des substanziellen Rückbaus nicht zuletzt im sozialen Sektor spätmoderner Gesellschaften. Zugleich bieten sich z.T. originär historische Positionen des Liberalismus, die folglich aktuell mit unterschiedlichen und teilweise sicher auch weiter-reichenden Gedanken (wie etwa die Vermeidung staatlicher Bevormun-dung) einhergehen, als im öffentlichen Diskurs zumeist festzustellen ist.

Insgesamt wird bei der Lektüre einzelner Publikationen zum Neolibera-lismus, konkret z.B. jener von Bourdieu & Wacquant (2004) oder auch Crouch (2013a; Erstauflage 2011) deutlich, dass diese Texte unverkennbar von den Eindrücken aus der Zeit ihrer Abfassung formuliert sind und inso-fern die Entwicklungen einige Jahre später (verständlicherweise) weder an-tizipieren noch in ihre Reflexionen einarbeiten konnten. Dies gilt etwa jüngst für die Bewegungen der Geflüchteten in Richtung Europa oder auch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Auf diese Weise wird die rasche Weiterentwick-lung des Neoliberalismus – insbesondere seiner in öffentlichen Artikulatio-nen genutzten Argumentationsfiguren – kenntlich und belegt so, dass auch künftig eine ausgeprägte Entwicklungsdynamik des Neoliberalismus und seiner konkreten Formate zu vermuten ist, die sich zunehmend weiter von seinen Quellen entfernen können. Aus diesem Grund sollen dessen Ur-

Page 18: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 21

sprünge nun dargelegt werden, um so die Kontrastierung von Quellen- und aktueller Lage umso markanter bieten zu können.

1.1.2.2 Historische Entwicklungen des ökonomischen Neoliberalismus Zunächst lässt sich für den Begriff des Neoliberalismus feststellen, dass sich zumindest der Ursprung jener Praktiken zeitlich recht exakt datieren lässt, die ihn als politische Agenda definieren: David Harvey terminiert diesen »turning point in the world’s social and economic history« (Harvey 2007: 1) auf die Jahre 1978-1980. In diesem knappen Zeitraum nämlich werden die Umsteuerungen der Wirtschaftspolitik durch Deng Xiaoping in China, Ronald Reagan und Paul Volcker in den USA sowie Margaret That-cher in Großbritannien angesetzt, die – wenn auch in höchst unterschiedli-cher Weise – zumindest teilweise ähnliche Ziele verfolgten: »Deregulierung der Lohnarbeit, Kapitalmobilität, Privatisierung, monetaristische, an Deflation und Finanzautonomie orientierte Zielsetzungen, Liberalisierung des Han-dels, Standortkonkurrenz, Steuersenkungen und reduzierte Staatsausgaben [...].« (Wacquant 2009: 309) Doch findet Harvey erste Ansätze zu einer neoliberalen Ausgestaltung von Politik bereits im Jahr 1973, nachdem das Militär in Chile gegen die Regie-rung Salvador Allendes putschte, Pinochet an die Macht brachte und – mit-samt seinen Schwachstellen – den zuvor erwähnten neoliberalen Umsteue-rungen 1978-1980 als Blaupause diente (vgl. Harvey 2007: 7ff.). Als weite-rer Motivationsschub werden der Ölpreisschock, die Beschränkung staatli-cher Steuerungshoheit angesichts der Globalisierung und die Rolle »von in-ternen Veto-Spielern« wie etwa Gewerkschaften ausgemacht (Dingeldey 2006: 4f.).

En détail rekonstruiert Crouch die Genese des Liberalismus beginnend mit dem 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Crouch 2013a: 21ff.; ähnlich bereits Foucault 2015b und c). In dieser Zeit verortet er auch die Bemühungen um Meinungsfreiheit u.ä.m., macht aber zugleich deutlich, dass das ökono-misch erstarkende Bürgertum aufgrund seiner Wirtschaftskraft den bisheri-gen Autoritäten die Stirn bieten konnte (vgl. Crouch 2013a: 22). Zudem wurde das Leben nach der Auffassung von Crouch in unterschiedliche Le-bensbereiche separiert, mit deren Hilfe ebenfalls der Einfluss der bis dahin

Page 19: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

22 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Mächtigen zurückgedrängt werden konnte (vgl. ebd.). Während Crouch das Aufkommen des Liberalismus als Befreiung von vormaligen Herrschaften beschreibt, versteht Foucault den Liberalismus hingegen als Gouvernemen-talität, als Regierungspraxis mit veränderten Vorzeichen (vgl. Foucault 2015b: 480ff.; vgl. näher Kapitel 1.1.3-1.1.5).

Doch zurück ins 20. Jahrhundert: Aufgrund der rasanten Anstiege der Preise für Rohöl 1973 und 1979 sowie der zunehmenden Skepsis gegen-über dem Keynesianismus (und seiner Gefahr einer Inflationssteigerung; vgl. Crouch 2013a: 34), konzentrierte sich die wirtschaftsbezogene Logik nicht mehr ausschließlich auf staatliche, sondern nunmehr vermehrt auch auf privatwirtschaftliche Modelle. Deshalb etablierte man New Public Ma-nagement als Ansatz kommunalen Managements sowie Public Private Partnership, die Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur durch private Unternehmen (vgl. ebd.: 34ff.). Als dann noch Reagan und Thatcher die Weichen in ihren Ländern entsprechend stellten, waren dem Neoliberalis-mus nach der Lesart der Mont Pèlerin Society2 und der »Chicago Boys« die Türen weit geöffnet (vgl. ebd.: 38 sowie 229). Nicht selten werden im Neo-liberalismus Oligopole ausgemacht, die den betreffenden Großkonzernen entsprechende Marktmacht sichern (vgl. ebd.: 39) und auf diese Weise zu einer Strukturveränderung von Volkswirtschaften beitragen.

Die Entwicklungen hatten nach Lemke/Schaal (2014) unterschiedliche Policy-Ansätze zur Konsequenz: die Umstellung von der vormaligen Nach-frage- nun auf Angebotsorientierung, die Ausweitung der Geldmenge, um die Inflationsrate gering zu halten, keine aktiven Eingriffe in den Markt durch den Staat und Reduzierung der Steuern (vgl. ebd.: 12). »Diese Policy-Empfehlungen mitsamt der ihnen eingeschriebenen, (vermeintlich) intuitiv nachvollziehbaren Erklärungsmodelle (z. B. die ontologische Annahme vo[m] Egoismus von Marktakteuren und die lineare Verknüpfung von Anstrengung und Belohnung), der politisch-strategische Einfluss der Mont Pelerin Society und die Dominanz des Neoliberalismus im fachwissenschaftlichen Diskurs Anfang der 1970er Jahre ebneten dem monetären Neoliberalismus den Weg in die Politik.« (Ebd.)

2 Von Friedrich August von Hayek im Jahr 1947 gegründete Gesellschaft zur Be-

förderung des Neoliberalismus; vgl. allg. Mirowski 2009; Plickert 2008.

Page 20: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 23

Demgemäß ist anzunehmen, dass sich der politische Erfolg des Neolibera-lismus gerade durch seine Anschlussfähigkeit mit Hilfe der »(vermeintlich) intuitiv nachvollziehbaren Erklärungsmodelle« einstellen konnte. Für den weiteren Verlauf unterscheidet Crouch zwei Stränge der Entwicklung des Liberalismus: den sozialliberalen und den wirtschaftsliberalen (vgl. Crouch 2013a: 23f.). Auch Crouch versteht den Ordoliberalismus als Spielart des Liberalismus, der das Bestreben gehabt habe, ›den Wettbewerb vor sich selbst zu schützen‹ (vgl. ebd.: 26); Crouch steht dabei in der Nähe von Foucaults Position. Letzterer macht deutlich, dass sich zwei verschieden Formen des Neoliberalismus auffinden lassen – der Ordoliberalismus deut-scher Provenienz sowie der von ihm als amerikanischer Neoliberalismus betitelte.3 Letzteren bezeichnet Foucault auch als »Anarcho-Kapitalismus« (Foucault 2015c: 152). Insgesamt lassen sich nach Crouch zahlreiche aktu-elle Formate des Neoliberalismus beschreiben, doch sei allen gemeinsam, dass es darum gehe, »den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lö-sung von Problemen und zur Erreichung zivilisatorischer Ziele vorzuzie-hen.« (Crouch 2013a: 27)

1.1.3 Gouvernementalität als Interpretationsfolie des Neoliberalismus

In seinen am Collège de France gehaltenen Vorlesungen zur Gouvernemen-talität aus den akademischen Jahren 1977/78 und 1978/79 beschreibt Foucault die Genese einer reformulierten Bedeutungszuschreibung des Marktes (vgl. Foucault 2015b und c). Zur Einordnung dieser Vorlesungen in das Œuvre Foucaults ist zunächst festzuhalten: »Foucaults Untersuchungsinteresse galt der analytischen Trias von Wissensformen, Machttechnologien und Selbstformierungsprozessen, deren wechselseitiger Konsti-

3 Vgl. insbesondere die Vorlesungen 4 und 5 des Jahres 1978/1979 in Foucault

2015c: 112ff.; zur analytischen Relevanz von Foucaults Reflexionen zum Or-doliberalismus vgl. Hesse 2007, insbes. ebd.: 230ff.; zur terminologischen Dif-ferenzierung der ökonomischen Schulen bei zugleich »porösen Grenzen« vgl. Young 2013; eine Dreiteilung der neoliberalen Schulen skizzieren Lem-ke/Schaal 2014: 10f.

Page 21: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

24 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

tution und systematischer Kopplung er mit unterschiedlichen Begriffen und ver-schiedener Akzentsetzung nachging.« (Lemke 2016: 481) Wegen dieser Trias und ihrer heuristischen Relevanz für neoliberale Verge-sellschaftungs- und v.a. Erwerbsarbeitszusammenhängen sollen hier und im weiteren Verlauf gerade jene AutorInnen zu Wort kommen, die sich dem Untersuchungsinteresse Foucaults und seinen Befunden verpflichtet sehen. In der damit zur Anwendung gelangenden Systematik wird insbesondere der Machtbegriff Foucaults als theoretische Gelenkstelle zwischen ›Wis-sensformen‹ und ›Formierungen des Selbst‹ verstanden, insofern die These vertreten wird, dass sowohl Wissens- als auch Selbstformen durch macht-volle Interventionen und – wie sich zeigen wird – ebensolche Setzung von geradezu nicht-invasiven und doch hoch funktionalen Rahmenbedingungen eine besondere Geltung zukommt. Macht wird daher in einer ebenso spezi-fischen wie differenzierten Weise von Foucault herkommend konzeptuali-siert (vgl. Lemke 2016: 483ff.):

1. Macht wird relational, nicht essentialistisch aufgefasst: »Die Macht ist

der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (Foucault 1977: 114). In dieser strategisch wirksa-men Situation sind verschiedene Akteure, Sachverhalte und Dinge so-wie normative, materielle und weitere Rahmenbedingungen zu berück-sichtigen, die in ihren Beziehungen zueinander Freiräume zur Produkti-on von neuen Wirklichkeiten ebenso legitimieren, eröffnen und offen-halten wie sie sich wechselseitig aberkennen, einschränken oder auch verschließen können. Unter dieser Hinsicht werden strategische Situati-onen nicht einfachhin vorgefunden, weder naturwüchsig noch durch ei-nen wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden Leviathan oktro-yiert, sondern in den wechselseitigen Bezugnahmen unter Nutzung ver-schiedener Kapitalien (vgl. Bourdieu 1983) konkretisiert und prozessual fortgeführt.

2. In weiterer Anlehnung an Foucault soll Macht auch in der hier vorlie-genden Schrift zunächst mikrophysikalisch, nicht makropolitisch kon-zeptualisiert werden, selbst wenn Foucault mit seiner Frage nach der Gouvernementalität zu klären suchte, »wie sich Machttechniken, Wis-sensformen und Subjektivierungsprozesse gegenseitig konstituieren und unter dem Schirm staatlicher Herrschaft zentralisieren.« (Eser 2005:

Page 22: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 25

157) Unter dieser den Staat und seine Machtausübung analysierende Perspektive bleibt die Frage nach der subjektivierenden – und somit: mikrophysikalischen – Dynamik offenkundig bestehen.

3. Schließlich wird der produktive Charakter von Macht betont, nicht al-lein der ansonsten zunächst angesetzte repressive: »Sie produziert Ge-genstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Er-kenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 1976: 250) Un-ter dieser Hinsicht ergibt sich die Rückfrage nach den Machtverhältnis-sen im Rekurs auf die subjektivierenden Maßgaben der jeweiligen Machtkonstellation, also ihre die Individuen zu spezifischen sozialen und subjektiven Selbstformierungen anhaltenden Impulse. Dabei ist ferner zu gewärtigen, dass solche Impulse nicht unidirektional verlau-fen, dass es also durchaus Freiheitsspielräume gibt, die Individuen dazu nutzen, ihre Reproduktion der machtvoll adressierten Anrufungen zu-gleich zu verschieben oder subversiv zu unterlaufen (vgl. Kapitel 3.5; ferner die Befunde der Feldforschung in Böhmer 2016b, c; Böh-mer/Zehatschek 2015).

Wird daher Macht im Foucault’schen Sinne als relational, mikrophysika-lisch und produktiv verstanden, soll seine Rekonstruktion ihrer Artikulati-onsform in modernen Gesellschaften als analytische Matrix genutzt wer-den, um bestimmte Formen von Regierung, hier in einer weiten Form ver-standen als Summe der »Kräfte und Mechanismen, die auf menschliches Verhalten einwirken« (Saar 2007: 28), in den Blick nehmen zu können. Diesbezüglich ist der Warnung Rechnung zu tragen, dass die Passung von politischer Praxis und Analyseinstrument nicht vorschnell behauptet wer-den darf, sondern eigens zu legitimieren sei (vgl. Sack 2014). Diese Legi-timation soll hier mit einem heuristischen Argument geleistet werden, in-dem das nun heranzuziehende Konzept der Gouvernementalität nach Foucault der Erhellung der Frage dienen soll, inwieweit welche konkreten Formen des Regierens in der (deutschen4) Erwerbsarbeitsgesellschaft aus-

4 Zum »Vorwurf des methodischen Nationalismus« äußert sich Jessop 2009: 143

(zum Begriff der »räumlichen Ökonomien« vgl. ebd.: 173). Die hier vorge-nommene Fokussierung ergibt sich lediglich aus Gründen pragmatischer Selbst-beschränkung; keineswegs soll auf diese Weise ›der Anspruch auf Universalität mit seinen Normalitätsannahmen kolportiert‹ (vgl. Riegel 2016: 79) werden.

Page 23: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

26 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

gemacht, wie sie machttheoretisch aufgefasst und inwieweit sie als einem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis angemessen ausge-wiesen werden können. Insofern kann dem Konzept der Gouvernementali-tät, nicht ihrer historisch-analytischen Verortung im Werk Foucaults (2015b und c), gerade zur Erhellung der Frage von Regierung und der Auswirkung in die alltägliche Lebensführung (vgl. einstweilen Projekt-gruppe Alltägliche Lebensführung 1995; ausführlicher Kapitel 3.4.1) der Regierten weitere Perspektiven erschließende Wirkung zugesprochen wer-den (vgl. Lemke 2016: 486).

Dem Terminus der Gouvernementalität, der »sich vom französischen Adjektiv gouvernemental (‚die Regierung betreffend‘) her[leitet]« (Lemke 2008: 2), kommt für Foucault eine »Scharnierfunktion« (ebd.: 3) zu. Der Begriff wird »zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschafts-zuständen«, zwischen Macht und Subjektivität sowie zwischen Machttech-niken und Wissensformen (Lemke 2001: 108f.) positioniert und verbindet so die unterschiedlichen – und ihrerseits relational konzipierten – Theorie-stränge miteinander.

Foucault erfasst mit dem Konzept der Gouvernementalität gleich drei verschiedene Sachverhalte des Regierens (vgl. Foucault 2015b: 162f.). So bezeichnet der Begriff zunächst die Gesamtheit der Institutionen, Vorgän-ge, Analysen, Berechnungen und Taktiken einer spezifischen Form von Macht. Damit zeigt sich eine weitere Typik für die Analysetechniken Foucaults: Anstelle einzelner Phänomene thematisiert er weit häufiger, nicht zuletzt auch im Hinblick auf sein Verständnis von Dispositiv (vgl. Kapitel 1.2), ein ganzes Bündel unterschiedlicher Sachverhalte, die einem spezifischen Zweck dienen oder politischen Verständnis entsprechen, und kann durch seine Verweise auf relationale Strukturen Bedingungsgefüge und Prozessstrukturen untersuchen, die aufgrund ihrer Verweisungsbezüge zu eigenen Qualitäten finden und folglich für das Verständnis von gesell-schaftlichen Wurzeln des Regierens neue Einblicke eröffnen.

In einem zweiten Ausgriff bestimmt der Begriff der Gouvernementalität den spezifischen Machttypus dieser Form von Regierung, indem er Souve-ränität, Disziplin, Regierungsapparate und Wissensarten als noch näher zu entfaltende, weil spezifische Form der ›Führung der Führungen‹ ebenso wie der ›Lenkung von Seelen‹ erfasst. Demzufolge bezeichnet der Begriff Gouvernementalität die Verbindung von politischer Macht und Lenkung des Einzelnen (vgl. Foucault 2015b: 520f.). Mit Blick auf die ›Lenkung der

Page 24: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 27

Seelen‹ wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie in der Antike lediglich dem Pädagogen, Arzt und Gymnastiklehrer vorbehalten war. Erst durch das Christentum sei die »Pastoralmacht« in den Okzident eingeführt worden.

Schließlich kann der Begriff der Gouvernementalität eine historische Entwicklung abbilden, die sich zumindest für den von Foucault untersuch-ten geographischen Raum Frankreichs seit dem 15. Jahrhundert verstehen lässt als die Entwicklung weg von einem Staat der Gerichtsbarkeit. So er-wuchs im 15./16. Jahrhundert durch den Ausgang aus der bis dahin fungie-renden gesellschaftlichen Ordnung der Feudalmacht eine veränderte Form von Machtausübung: die Staatsraison als rationale Regierungskunst im Staat inklusive der nun säkularisierten Pastoralmacht. Foucault beschreibt verschiedene Formen, indem er für das 17. Jahrhundert eine Gouvernemen-talität der Polizei und für das 18 Jahrhundert eine solche der Ökonomen ausmacht.5

Solche Änderungen der Gouvernementalität führt Foucault allgemein auf Krisen dieser Regierungsform(en) zurück (vgl. Foucault 2015c: 113). Dabei hat er nach eigenem Bekunden insgesamt das Interesse, das »Prob-lem der Staatsbildung« (ebd.: 114) in den Blick zu nehmen. Zu diesem Zweck geht er induktiv vor, da er annimmt, dass der Staat nicht durch ein Wesen bestimmt sei: »der Staat hat keine Innereien« (ebd.: 115). Auch un-ter der Hinsicht auf eine historische Rekonstruktion von Regierungsfüh-rungen bleibt sich der Theoretiker des relational, mikrophysikalisch und produktiv verstandenen Machtkonzepts treu, indem er Staatsbildung in Re-lation zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und Krisen, mit Blick auf die mikrophysikalische Sachlage an verschiedenen Orten sowie durch die Suche nach dem formierenden Verfahren einer Staatsbildung zu rekonstru-ieren sucht.

Dabei betont Foucault zunächst mit Blick auf eine Gouvernementalität der Polizei, dass sie sich »um die Religion und die Sitten« (Foucault 2015b: 480) kümmerte. Der Fokus erstreckte sich über eine Vielzahl unter-schiedlicher Handlungsfelder, u.a. die »Pflege und Disziplin der Armen« (ebd.). Diese staatliche Instanz regulierte damit Probleme der Stadt als »dichtes Zusammenleben« (ebd.: 481) sowie Probleme des Marktes.

5 Vgl. Foucault 2015b: 500; zur fragilen Periodisierung in Foucaults Darstellung

der Gouvernementalität vgl. Saar 2007: 28; zur »guten Policey« im frühneuzeit-lichen Alten Reich ab dem 16. Jahrhundert vgl. Härter 2016.

Page 25: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

28 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Beide Ansatzpunkte artikulieren spezifische Formen städtischer Sozialfor-men, insofern das Zusammenleben allgemein und der Warentausch im Be-sonderen als urbane Praktiken und in urbanen Rahmenbedingungen aufge-fasst werden. Dazu zählen beispielsweise und zumindest zu Teilen die er-wähnte räumliche Enge, zentralisierte und mit einander verflochtene All-tagsvollzüge, sich wandelnde soziale Konstellationen mit entsprechenden Anforderungen an ein flexibles Rollenverständnis, ökonomische Prozesse und Notwendigkeiten einer hoch arbeitsteiligen Stadtgesellschaft, planend-gestalterische Entwicklung von umfänglichen Rahmenbedingungen der Alltagsgestaltung von StädterInnen etc. Indem die Polizei solchen Heraus-forderungen regulierend und reglementierend Abhilfe oder zumindest Lin-derung verschaffte, konnte sie zu einer relevanten AkteurIn in der Ausge-staltung des städtischen Lebens jener Zeit avancieren. Infolgedessen gilt »die Polizei als Existenzbedingung der Urbanität.« (Ebd.: 483) Wird zu-gleich die Einbindung Frankreichs in den Merkantilismus als Form interna-tionaler Politik mit den Mitteln der Ökonomie betrachtet, so ergeben sich gerade auch aus den ökonomisch relevanten Interventionen der Polizei in das – nicht zuletzt ökonomische – Stadtleben Konsequenzen, die weit über die Stadtgrenzen hinausweisen.

Realisiert wurden diese Maßnahmen zumeist auf dem Weg polizeilicher Verordnungen. Es ergaben sich allgemeine Disziplinierungsmaßnahmen innerhalb der Gesellschaft, die nach Foucault zu städtischen wie national-staatlichen Entwicklungen ebenso beitrugen wie zu spezifischen Formaten der Subjektivierung qua Disziplin.6

Mit seinem Verweis auf die Phase einer Gouvernementalität der Öko-nomen eröffnet Foucault die Perspektive auf einen weiteren historischen Abschnitt, den er u.a. durch die Einschränkung polizeilicher Zuständigkei-ten in eine veränderte Form von Regierung eintreten sieht. In diesem Kon-text, so die Auffassung Foucaults, sei die These des gerechten Preises im Sinne des Marktgleichgewichts leitend. Er macht in diesem Zusammen-hang darauf aufmerksam, dass die Dinge nicht »flexibel« (Foucault 2015b: 493) seien; Abläufe werden durch Reglementierung eher behindert, da sie angesichts der Statik der Dinge und der – zur Herstellung ökonomischer Ausgeglichenheit unbedingt erforderlichen – gleichzeitigen Dynamik des

6 Vgl. zudem Foucault 1976; Härter 2016: 31f. (bezieht sich im Unterschied zu

Foucault auf das »Heilige Römische Reich deutscher Nation«).

Page 26: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 29

Wechselspiels von Angebot und Nachfrage ansonsten dieses fragile Aus-handlungsgeschehen einschränken, verfälschen und folglich die Möglich-keiten des Marktes beschneiden; so die ökonomische Auffassung zu den Perspektiven einer am Markt zu orientierenden Regierungsform.

Eine weitere Veränderung stellt sich hinsichtlich der Zielvorgaben von Regierung ein. Denn die Ökonomen verfolgen nun nicht mehr die schlichte Suche nach der größten Zahl der Bevölkerung, die als Arbeitskräfte erfor-derlich sind. Vielmehr wird versucht, der optimalen Zahl der Konsumen-tInnen auf die Spur zu kommen. Zugleich lässt diese Version der Gouver-nementalität Abstand nehmen von interventionistischen Regulierungen, die unmittelbar in das Interaktionsgeschehen eingreifen. Vielmehr wird »der Staat als Regler von Interessen« (ebd.: 497) und nicht mehr von Verord-nungen erkennbar. Leitvorstellung ist folglich, die angemessene Form einer nicht direkt intervenierenden Regierung zu finden: »Man wird beeinflus-sen, anreizen, erleichtern, tun lassen müssen: Mit anderen Worten, man wird verwalten, und nicht mehr reglementieren müssen.« (Ebd.: 506)

Wird unter dieser Perspektive von Gouvernementalität Regierung als Fremd- und Selbst-Führung verstanden, so ergibt sich für den Liberalismus die Aufgabe, den gouvernementalen Staat zu formieren: Er organisiert »die Bedingungen, unter denen die Individuen frei sein können, er ›fabriziert‹ oder ›produziert‹ die Freiheit.« (Lemke 2016: 489) Umgekehrt strukturiert der Liberalismus die konkreten Formen von Freiheit, die sich historisch durchaus unterschiedlichen erfassen lassen (vgl. die subjektbezogenen Dar-stellungen in Kapitel 1.1.5, die zugleich auf die strukturellen Vorausset-zungen subjektiver Freiheitspraktiken aufmerksam machen).

So wurde bereits in Foucaults Rekonstruktion der Gouvernementalität deutlich, dass sich für das Frankreich des 18. Jahrhundert bestimmte Maß-gaben der Ökonomie erkennen lassen. Gewendet auf die zuvor geschilder-ten Entwicklungen des Neoliberalismus im globalen Zusammenhang des beginnenden 21. Jahrhundert ergibt sich, dass auch dort Aspekte der Öko-nomisierung zunehmend neuer Felder der Lebensbewältigung zu verzeich-nen sind und dass Subjektivierungsprozesse in Formaten von Fremd- und Selbstführung erfolgen. Sodann wird deutlich, dass zu diesem Zweck ver-schiedene relationale Regierungsinstrumente etabliert und in ihrem Wir-kungszusammenhang ausgeweitet werden. So bekommt beispielsweise die Logik des Wachstums als Artikulation des Strebens nach Mehrwert (vgl. Kapitel 1.1) auch in weiteren Bereichen bis hinein in die alltägliche Le-

Page 27: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

30 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

bensführung der Individuen zunehmende Bedeutung (vgl. z.B. Dörre 2011, 2009a; Dörre/Brinkmann 2005). Unter ökonomischer Hinsicht auf die Ge-sellschaft wird ferner »die neue Umverteilung« (Wehler 2013) kenntlich, die einem Klassenspezifikum des Neoliberalismus zugeschrieben wird (vgl. detailliert Kapitel 1.1.4). Indem der ökonomische Schwerpunkt von der Produktivwirtschaft zusehends zugunsten der Kapitalwirtschaft verlagert wird, ergeben sich weitere Verschiebungen wirtschaftlicher und gesell-schaftlicher Art, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten, aus Löhnen und Ge-hältern oder aus Vermögensanteilen Gewinn erzielen zu können.7 Dass sol-che Regierungsformen nicht allein gesellschaftlich, sondern auch im Hin-blick auf die »Selbst-Führungen« von Bedeutung sind, kommt im An-schluss (vgl. Kapitel 1.1.5) detaillierter zur Darstellung.

1.1.4 Neoliberale Politiken

Kann also der aktuelle Neoliberalismus durch Zuhilfenahme des Konzepts der Gouvernementalität in seinen Formen von und Auswirkungen auf Re-gierung der Individuen wie der Führungen verstanden werden, sollen im Folgenden Aspekte solchen politischen Handelns unter dem Regime des Neoliberalismus ausgelotet werden. Dabei erlangen wohlfahrtsstaatliche Transformationen einige Prominenz, da sie seit geraumer Zeit kenntlich machen, in welchen Bereichen, auf welche Weise und in welchem Ausmaß Umstrukturierungen staatlicher Organisation erfolgen (für einen Überblick vgl. Lessenich 2013). 1.1.4.1 Stärkere Unterschiede Die Eingriffe in den Sozialstaat begründet Crouch mit der Notwendigkeit für die Politik, den Bedenken der Finanzmärkte deutliche Sparmotivation und -ergebnisse präsentieren zu müssen (vgl. Crouch 2013a: 169). Ein wei-teres Problem sei, dass sich Unternehmen vom Markt emanzipiert hätten und nunmehr als politische Akteure aufträten (vgl. ebd.: 179). »[...] auf Geld kommt es derzeit einzig an.« (Ebd.: 231) Durch den Rückbau wohl-

7 Vgl. Windolf 2005; zu den subjektivierenden Konsequenzen der sich um Pas-

sung in die resultierenden gesellschaftlichen Paradigmen bemühenden Individu-en vgl. Hänzi 2015: 227ff. zur Umverteilung der Kapitalerträge vgl. Giesecke et al. 2015.

Page 28: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 31

fahrtsstaatlicher Programme nimmt soziale Ungleichheit zu (vgl. ebd.: 225). Andererseits lassen sich Arbeitsfelder, die grundlegende Lebensbe-reiche wie Gesundheit und Bildung betreffen, nach Einschätzung Crouchs nur schwer umfänglich neoliberalisieren (vgl. ebd.: 43). Dass dies und manches mehr dennoch versucht wird – und ja zu nicht geringen Teilen auch Erfolg hat –, ist wohl kaum zu bestreiten.

Bourdieu & Wacquant sprechen in ihrer Philippika gegen den Neolibe-ralismus von einem Komplex verschiedener Fragen und Begriffe, »die ›Ef-fizienz‹ des (freien) Marktes, die Notwendigkeit der Anerkennung (kultu-reller) ›Identitäten‹ oder die feierliche Bestätigung (individueller) ›Verant-wortung‹« (Bourdieu/Wacquant 2004: 241). Leitbild und »Maß aller Din-ge« sei jene Auffassung »der amerikanischen Gesellschaft der postfordisti-schen und postkeynesianischen Ära« (ebd.). Dafür seien Abbau des Sozial-staats, »Hyperwachstum des strafenden Staates«, der Kampf gegen die Gewerkschaften, shareholder value als alleiniges Unternehmensziel, prekä-re Arbeitsverhältnisse und soziale Unsicherheit leitend (vgl. ebd.: 241f.).

Mit Blick auf soziale, kulturelle und »ethnische« Konflikte wäre die Frage nach »Sinn und Zweck des Neoliberalismus« weit weniger auf eine Liberalisierung oder Ökonomisierung allein hin zu formulieren, sondern zugleich auf eine Form der oben hergeleiteten Gouvernementalität mit dem Ziel der potentiellen Absicherung von Privilegien. Als erster Beleg für die-se Auffassung kann gelten, »dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zugunsten der Kapitaleigner verändert haben« (ebd.: 244). Dahin-ter liegen, so Bourdieu & Wacquant weiter, »Gruppendenken«, Populismus und Moralismus als Pfade zum Transport der begründenden Ideen (vgl. ebd.: 243).

1.1.4.2 Die Neuerfindung der Strafe Wie zuvor entwickelt, hatte Foucault für die Gouvernementalität Änderun-gen staatlicher Interventionen in Ansatz gebracht (vgl. Kapitel 1.1.3). Ziel dieses Vorgehens war es, so seine Auffassung, anstelle der bisherigen dis-ziplinierenden Eingriffe, Verordnungen und Strafen eher ›tun zu lassen‹ als selbst für die BürgerInnen unverstellt einsichtig zu tun. Diese Lesart von Gouvernementalität als neoliberale Regierung durch indirekte und durch Kontextsteuerung wird allerdings durch die Analysen von Bourdieu & Wacquant zumindest teilweise unterlaufen. In einer solchen abweichenden Perspektive nämlich ist ihr Hinweis darauf zu verstehen, dass mit dem

Page 29: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

32 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Rückzug des Staates aus der Wirtschaft nicht dessen gesamte Reduzierung einhergeht, sondern dessen Fokussierung auf »Verstärkung seiner polizeili-chen und strafrechtlichen Komponenten« (Bourdieu/Wacquant 2004: 245). Dass eine solche analytische Verschiebung dennoch nicht das Gesamtver-ständnis von Neoliberalismus als gouvernementale Regulierung unter der Ägide wirtschaftsliberaler Politiken in Zweifel ziehen lässt, werden die Hinweise auf die neoliberal konturierten Formate der »Führungen des Selbst« zeigen (vgl. Kapitel 1.1.5).

Zu weitere Klärung dieses Sachverhalts seien zunächst einige Hinweise auf die sozialpolitischen und strafrechtlichen Aspekte des Neoliberalismus detaillierter herausgestellt. Harvey fasst den Neoliberalismus in einer ersten Annäherung als politische Theorie des Wirtschaftsliberalismus (vgl. Har-vey 2007: 2 sowie 8). Im historischen Rückblick macht Harvey auf die ge-schichtlichen Entwicklungsspielräume des Neoliberalismus aufmerksam. Die keynesianische Politik konnte in der Phase des anhebenden Neolibera-lismus nicht mehr greifen (vgl. ebd.: 12), diese Art von »embedded libera-lism« war demnach schlicht erschöpft. Harvey vertritt die These, dass die höheren Klassen sich einem drohenden Untergang gegenübersahen, dem sie durch die neoliberale Umsteuerung entgegentreten wollten (vgl. ebd.: 15f.).

Die (Marx’sche) These vom Klassenkampf nutzt Harvey ver-schiedentlich (vgl. ebd.: 19, 31, 35), um den Neoliberalismus zu erklären. Dabei vertritt er die Auffassung, dass sich die Kampflinie zwischen oberen und mittleren Klassen hindurch zog, nicht nach unten gegen die unteren Klassen (vgl. ebd.: 25f.); die zunehmende soziale Ungleichheit habe auf diese Weise obere und mittlere Klassen weiter getrennt und die Restaurati-on ökonomischer Macht der oberen betrieben (vgl. ebd.: 26). Dabei jedoch seien nicht jeweils dieselben Personengruppen in den Genuss der daraus ableitbaren Vorteile gekommen (vgl. ebd.: 31). Die neu Bevorteilten seien beispielsweise die Vorstände großer Unternehmen sowie neue Branchen wie IT und Biotechnologie (vgl. ebd.: 33f.). Dagegen vorzugehen und die Spirale der Entwicklung zum Zweck der Verbesserung der Lebensverhält-nisse für viele Menschen wieder zurückzudrehen, hält Harvey zwar für notwendig, kann eine solche Entwicklung aber dezidiert nicht erkennen (vgl. ebd.: 187). Stattdessen spricht er von der »maintainance, reconstituti-on, and restoration of elite class power.« (Ebd.: 188; vgl. auch 201)

Page 30: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 33

Somit ergibt sich eine politisch induzierte Umstrukturierung der Gesell-schaft, mit Crouchs Parabelbild (vgl. 2013b: 11) gesprochen: gar eine Rückwärtsentwicklung, die nach Harveys Auffassung im Bemühen nach dem 2. Weltkrieg, innenpolitischen Ausgleich und Stabilität zu erzielen, ei-ne stabile Lage der Kompromisse zwischen den Klassen ermöglicht hatte (vgl. Harvey 2007: 10). Diesem Ausgleich sollte auch die Akzeptanz dafür verpflichtet sein, dass der Staat Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt der BürgerInnen betreibe – nicht zuletzt, indem sich die Staatsmacht den Marktprozessen zuwendete und ggf. dort gar intervenierte (vgl. ebd.). Auf diese Weise konnte auch Einfluss in das Bildungssystem geltend gemacht werden, so dass daraus letztlich jener »embedded libera-lism« (ebd.: 11) entsprang.8

Harvey fasst den Neoliberalismus folglich als theoretisches und politi-sches Konzept zugleich auf (vgl. ebd.: 19ff.) – theoretisch, weil es theoreti-sche Gehalte nutze, um die letztlich utopische Auffassung einer Restruktu-rierung gesellschaftlicher Verhältnisse v.a. durch die Wirtschaft zu realisie-ren; politisch, um die Macht der ökonomischen Elite abzusichern. Diesen Prozess, rekonstruiert als Rückschritt aus einer verbreiteten Solidarität wie-der hin zu individuellen und familialen Konzepten, macht Harvey an der Position Margret Thatchers fest, deren subjektivierend verstehbaren Hin-weis geradezu gouvernementale Ausgriffe verheißt:

»What’s irritated me about the whole direction of politics in the last 30 years is that it’s always been towards the collectivist society. People have forgotten about the personal society. And they say: do I count, do I matter? To which the short answer is, yes. And therefore, it isn’t that I set out on economic policies; it’s that I set out really to change the approach, and changing the economics is the means of changing that approach. If you change the approach you really are after the heart and soul of the nation. Economics are the method; the object is to change the heart and soul.« (Thatcher 1981)

8 Kritisiert wird, dass der Terminus Neoliberalismus in den Sozialwissenschaften

ubiquitär geworden sei und zu allerlei Attribuierungen ohne Rekurs auf die Chi-cago School geführt habe (vgl. Lemke/Schaal 2014: 16). Dem ist entgegen zu halten, dass die von Foucault u.a. vorgelegten Analysen die Genealogie eines neoliberalen Gesamtkomplexes zu rekonstruieren gestatten, um daran die histo-rischen Ziel- und Strategiekonzepte jener Schule verstehen zu lernen.

Page 31: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

34 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Harvey unterscheidet zwischen guten und schlechten Formen von Freiheit und attestiert dem Neoliberalismus angesichts des Zuwachses an Autorität, Macht und anti-demokratischer Haltung eine schlechte Form (vgl. Harvey 2007: 37f.). Dies äußert sich schlussendlich auch in den Folgen für Margi-nalisierte, die nach Harvey im Neoliberalismus nichts anders zu erwarten hätten als »poverty, hunger, disease, and dispair.« (Ebd.: 185)

Wacquant (2009) wiederum legt recht überzeugend dar, dass Neolibera-lismus keineswegs auf Wirtschaft oder Wirtschaftspolitik allein beschränkt bleibt. Nach seiner Auffassung – und damit schließt er tatsächlich an das an, was Harvey zuvor als neoliberalen Klassenkampf, inszeniert durch die Eliten, beschrieben hatte – gibt es geradezu zwei unterschiedliche Gesichter des Neoliberalismus: in den oberen Klassen der Gesellschaft liberal, in den unteren streng strafend (vgl. ebd.: 306ff.). Konkret macht er sodann – in kritischer Absetzung von Foucault, Harvey und insbesondere von Giddens – deutlich, dass Neoliberalismus tatsächlich als Politik zu lesen ist, die ei-nen Unterschied in der Behandlung der Klassen macht und insofern erneut eine Stratifizierung in die gesellschaftlichen Strukturen einarbeitet. Damit gibt er eine gesamtgesellschaftlich belastbare Analyse der Phänomene des Neoliberalismus: »den nicht vorhersehbaren Zeitpunkt, die sozioethnische Selektivität und die ganz speziellen organisatorischen Bahnen der plötzli-chen Kehrtwende in den Strafverfolgungstrends der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts« (ebd.: 306), insbesondere in den USA, mit etwas anderen Vorzeichen allerdings auch in Europa und andernorts. Insofern ist nach sei-ner Auffassung auch das »Gefängnis-Sozialhilfe-Raster« letztlich nichts Anderes als »eine Übung in Staatskunst« (ebd.: 307) und somit als Aus-druck von Gouvernementalität zu sehen. Wacquant versteht seine Publika-tion als »Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation des Feldes der Macht« (ebd.). In diesem Zusammenhang formuliert er zwei Thesen:

Seine erste These stellt dar, »dass der Strafverfolgungsapparat ein zent-rales Organ des Staates ist« (ebd.). Für ihn gilt, dass Polizei, Gericht und Gefängnis »Vehikel zur politischen Produktion von Realität und zur Über-wachung der deprivierten und diffamierten sozialen Gruppen und der ihnen zugewiesenen Territorien« (ebd.: 307) seien. Auf diese Weise kann er die zuvor bereits erwähnte Verschiebung in der Auffassung von einer nach-polizeilichen Gouvernementalität ebenso feststellen wie soziologisch sys-tematisieren. Das konzeptuelle Bemühen, mit Hilfe des Gouvernementali-tätsverständnisses eine Regierungsweise beschreiben zu können, die eher

Page 32: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 35

insinuiert als interveniert (Foucault), bricht sich an den Befunden, die Wacquant für ausgesuchte Nationen (vornehmlich USA und Frankreich, teilweise auch Brasilien) vorlegt.

Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen macht es deutlich, dass das Konzept der Gouvernementalität tatsächlich eines ist, das als Artikulation einer ›relationalen, mikrophysikalischen und produktiven Macht‹ stets in Abhängigkeit von den lokalen Wahrheiten der zugrundeliegenden Analy-sen geprägt ist. Soll besagen, dass die für ein Frankreich des 18. Jahrhun-derts vorgelegten Erträge nicht zwingend auf das 21. Jahrhundert appliziert werden können. Vielmehr müssen sie, wie Wacquant es tatsächlich reali-sierte, empirisch auf ihr fundamentum in re überprüft und je nach Ergebnis systematisch angepasst werden. Im Zuge dessen ist der von Wacquant ab-weichend zum bisherigen Konzept der Gouvernementalität vorgelegte Be-fund für deren Verständnis hilfreich, da er solche politischen und gesell-schaftlichen Wechsel markiert.

Zum anderen ist mit dieser Befundlage davon auszugehen, dass neoli-berale Regierungsformen eine Spaltung zwischen gesellschaftlichen Klas-sen mit dem Zweck der Absicherung des Ressourcenzugangs für die oberen anstreben und dazu ein Strafregime von klassenorientierter Inhaftierung vorsehen können (vgl. Wacquant 2000). Damit ist die Foucault’sche These von der subtiler werdenden Regierungstechnologie partiell so wie erwähnt in Frage zu stellen. Gleichwohl soll dem dort ebenfalls angeklungenen Konzept lokaler Wahrheiten folgend darauf aufmerksam gemacht werden, dass andernorts auch eine weit exklusivere Regierungsweise der Subtilität vorgefunden werden könnte. Insofern ist für die von Wacquant untersuch-ten Zusammenhänge zu attestieren, dass er plausible Belege für eine nicht nur ›Machen veranlassende‹, sondern eben zugleich deutlich intervenieren-de, punitive und marginalisierende Form von Regierung beibringt (vgl. ein-leitend zu diesem Themenfeld Dollinger 2011; Dollinger/Schmidt-Semisch 2016; Hess 2015; Kessl 2011; Schlepper 2014; Wacquant 2011). Doch Wacquant geht mit seinen Thesen noch weiter: »Die zweite These ist, dass die derzeitige kapitalistische ›Revolution von oben‹, gewöhnlich Neoliberalismus genannt, mit der Ausweitung und Verherrlichung des Strafverfolgungssektors des bürokratischen Feldes einhergeht, so dass der Staat die sozialen Erschütterungen, die eine Folge der Ausbreitung der sozialen Unsicherheit in den unteren Rängen der Klassen- und Ethnohierarchie sind, in Schach halten und

Page 33: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

36 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

zugleich die über die Vernachlässigung seiner traditionellen ökonomischen und so-zialen Pflichten unzufriedene Bevölkerung beschwichtigen kann.« (Wacquant 2009: 307) Folglich gilt ökonomische Freiheit am oberen und repressive workfare am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie (vgl. ebd.: 307f.). Deutlich macht Wacquant seine Einschätzung, dass eine ökonomistische Definition des Konzepts Neoliberalismus nicht weit genug reicht, um »die institutio-nelle Maschinerie und die symbolischen Schablonen« (ebd.: 309) hinrei-chend erfassen, analytisch erarbeiten und letztlich für politische Positionie-rungen nutzen zu können. Ähnlich macht Eser darauf aufmerksam, dass mit dem Neoliberalismus kein Rückzug des Staates zugunsten der Ökonomie zu verzeichnen sei, sondern vielmehr »die Ökonomisierung der Politik selbst ein politisches Programm ist, das nicht das Ende sondern vielmehr eine Transformation des Politischen bedeutet.« (Eser 2005: 161) Demge-mäß soll Wacquants, wenn auch umfangreichere, Arbeitsdefinition hier ausgewiesen werden, um diese über-ökonomische Klärung der als neolibe-ral apostrophierten Phänomene auch für die hier vorliegende Schrift in ei-ner weiterreichenden Konzeption verdichten zu können: »Neoliberalismus ist ein transnationales politisches Projekt, dessen Ziele eine von oben betriebene Generalüberholung der Verknüpfung von Markt, Staat und Staats-bürgerschaft ist. Träger dieses Projekts ist eine neue global herrschende Klasse, die noch im Entstehen begriffen ist, und sich aus den Chefs und obersten Managern der transnationalen Firmen, aus hochrangigen Politikern, Staatsmanagern und Spitzen-beamten der multinationalen Organisationen (OECD, Welthandelsorganisation, Weltwährungsfonds, Weltbank und Europäische Union) sowie aus den in ihren Diensten stehenden Experten für kulturelle Sachverhalte (darunter vor allem Öko-nomen, Juristen und Kommunikationsexperten mit vergleichbarer Ausbildung und entsprechenden mentalen Kategorien aus den verschiedenen Ländern) zusammen-setzt.« (Wacquant 2009: 309) Mit dieser Definition eröffnet Wacquant die Möglichkeit, einerseits die bis-lang vorgelegten Auffassung zu Neoliberalismus (wirtschaftsliberales Poli-tikkonzept mit Privatisierungen, freien Märkten und Freihandel etc.) und Gouvernementalität (Betonung von Selbst-Führung, unternehmerischer Bewirtschaftung der eigenen, (arbeits-)marktfähigen Person, indirekte und

Page 34: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 37

subtile Kontextsteuerung anstelle von individuell zugesicherten Freiheits-räumen etc.) weiterführen und sie andererseits an seine und weitere For-schungsbefunde zu einer verstärkten Orientierung an Punitivität und Straf-verfolgung anschließen zu können, ohne ihre kritische Stoßrichtung gegen die aktiv herbeigeführte Zunahme sozialer Ungleichheit aufgeben zu müs-sen. Dass dabei eine gesellschaftliche Hierarchie wieder aufgegriffen wird, die Foucault mit seinen Arbeiten gerade der 1970er Jahre »zerstört« (Saar 2007: 31) habe, muss dabei zugestanden werden. Gleichwohl: Die empiri-schen Befunde Wacquants lassen einen anderen Schluss kaum plausibel er-scheinen. Insofern soll tatsächlich eine solche Verschiebung des Foucault’schen Denkens – weniger bei Wacquant, der ihn nicht umfänglich für die theoretische Rahmung seiner Forschungen rezipiert, als vielmehr für den vorliegenden Band – gerade aus analytischen wie empirischen Gründen vorgenommen werden.

Zugleich wird mit dieser Rekonstruktion der Wandlungsfähigkeit des Neoliberalismus deutlich, dass er nicht einfachhin »kaputt« (Mason 216: 27ff.) sein muss, wenn er seinen alten Formen oder aber deren Verspre-chungen auf ökonomische Freiheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Generierung von Mehrwert nicht mehr entsprechen kann. Vielmehr waren solche Herausforderungen historisch offenkundig schon des Öfteren Anlass zum Formwandel des Kapitalismus allgemein und des Neolibera-lismus im Besonderen – und nichts spricht dafür, dass es sich aktuell anders verhielte. 1.1.4.3 Der »janusköpfige Leviathan« Mit Blick auf »die Law-and-Order-Mythologie von den ›Broken Windows‹« (Wacquant 2009: 311) erkennt Wacquant »das neue Regieren mit der sozialen Unsicherheit« (ebd.). Konsequenz eines solcherart ›akti-vierenden Staates‹ ist nach Wacquant »ein deaktivierender Staat, da er sich ihnen [da unten; A.B.] gegenüber auf eine Art und Weise verhält, die sys-tematisch ihre sozialen Chancen beschneidet und ihre sozialen Ligaturen kappt« (ebd.: 314; verweist auf Dahrendorf). Einerseits sind solche Pro-gramme in der Lage, »in Umbruchzeiten die Grenzen der Zugehörigkeit zu verdeutlichen und zu befestigen« (ebd.), andererseits muss einem solchen Staat attestiert werden, dass er »oben liberal und unten paternalistisch« und insofern der »janusköpfige Leviathan« sei (ebd.). Die Entwicklung hin zu einem solchen Staat folge keineswegs einem Masterplan, sondern werde in

Page 35: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

38 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

inkrementalen Prozessen zusammengestückt, weise zahlreiche Lücken so-wie Widersprüche auf und richte sich »auf den Arbeitsmarkt für gering Qualifizierte, die Sozialhilfe und das Strafrecht« (ebd.: 315) zugleich. Letztlich sei der Neoliberalismus damit »demokratiezersetzend« (ebd.: 316).

Wacquant räumt auf mit dem »ideologischen Glaubenssatz« vom schwachen Staat dieser Epoche, da der neoliberale Staat oben tatsächlich laissez-faire walten lässt, unten jedoch diszipliniert, zugleich in nicht ge-ringem Umfang (gerade auch mit dem Ausweis der Bildung) »in Human-kapital ›investiert‹« (ebd.: 310), letztlich gar spekuliert, um eine möglichst hohe Rendite aus den Investitionen in das jeweilige »Humankapital« gene-rieren zu können (vgl. Böhmer 2013a und b). Auch erhält »die Disziplin der prekären Lohnarbeit« (Wacquant 2009: 310) in hohem Maße Bedeu-tung für das Regieren des »neuen Leviathan«, den Wacquant als »stramm interventionistisch, herrisch und teuer« (ebd.) bezeichnet. Auf diese Weise kommt es »zur Erschaffung der historisch ersten Gesellschaft der modernen Unsicherheit« (ebd.).

In diesem Zusammenhang setzt Wacquant »vier institutionelle Logi-ken« an, die er bezeichnet als »ökonomische Deregulierung«, »Delegation, Abbau und Neugestaltung von Wohlfahrtsleistungen«, »der kulturelle Tropus der Eigenverantwortung« als unternehmerisches Selbst sowie »ein expansiver, intrusiver und proaktiver Strafverfolgungsapparat« (ebd.: 309f.). Der doppelgesichtige Machtapparat bekommt für Wacquant konkre-tere Konturen – die Physiognomie der Macht wird im Neoliberalismus als doppeldeutige sichtbar und erkannt. Denn einerseits verfolgt sie mit Dere-gulierung ein erklärtes Ziel liberaler Politik, andererseits aber sind die Be-schneidung und Transformation sozialer Transferleistungen, die Reduktion von Optimierungsansätzen einzig auf das Individuum und dessen Bereit-schaft wie Fähigkeit zur Anpassung sowie eine strukturelle Punitivität alles andere als dem liberalen Credo von der menschlichen Freiheit entspre-chend. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den Wacquant noch nicht näher in den Blick nimmt, nämlich Bildung als Feld der Subjektivierung, diffe-renziert nach Sphären der Gesellschaft.

Soll nun der politischen Weichenstellung der zurückliegenden Jahre in-nerhalb der deutschen Gesellschaft Rechnung getragen werden, so wären kursorisch hier zu nennen die Umschreibungen des Sozialrechts unter der Ägide der »Agenda 2010« (namentlich SGB II und XII), die Transformati-

Page 36: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 39

onen wohlfahrtsstaatlicher Grundlagen (Privatisierung der Altersvorsorge, die Prekarisierung von Erwerbsarbeit, die Markt-orientierte Integrationspo-litik hinsichtlich migrierter Menschen) oder auch die veränderte (Selbst-)Definition der Rolle des Staates für die Daseinsvorsorge hin »zur sozialpo-litischen Konstruktion eigenverantwortlicher Subjekte« (Lessenich 2003: 81; vgl. in knapper Form Dingeldey 2006; ausführlicher Lessenich 2013). Konsequenz einer solchen neoliberalen Neujustierung gesellschafts-politischer Prozesse und gesellschaftlicher Strukturen ist zum einen die verstärkte Ökonomisierung weiterer Funktionszusammenhänge von Gesell-schaft und der jeweiligen Logiken, Akteure und Instrumente (bis hinein in die rationalisierte Arbeit der alltägliche Lebensführung), die Veränderung von Erbringungsformaten der Daseinsvorsorge (von »öffentlich« vermehrt zu »privat«; vgl. Blank 2016; Hälterlein 2015: 115ff.) sowie der Entzug von Ressourcen aus den staatlichen Sozialsicherungssystemen (etwa durch die »versicherungsfremden Leistungen« der Rentenversicherung; vgl. Meinhardt/Zwiener 2005) mit den dann nicht mehr verwunderlichen Kon-sequenzen z.B. für eine alsbald drohende Altersarmut (vgl. Brettschnei-der/Klammer 2016). Insofern sind diese Phänomene als Ergebnisse eines tiefer liegenden Politikverständnisses aufzufassen – eben des Neoliberalis-mus als gesellschaftspolitisch folgenreichem Paradigma überökonomischerPraxis.

1.1.5 »Kompetenzmaschinen« Wie gezeigt, ist der Staat für Foucaults Konzept der Gouvernementalität das komplexe Geflecht von Machttechniken politischer und »pastoraler« Herkunft (vgl. Lemke 2001: 110), aus der eine »Regierung der Seelen« im Sinne der Subjektivierung erwuchs (vgl. Kapitel 1.1.3). Im Hinblick auf die Gouvernementalität des Neoliberalismus – gerade amerikanischer Prägung – und das Verhältnis dieses Staates zu den Einzelnen wird dessen Auffas-sung deutlich, dass »man die staatlichen Interventionen auf allgemeine Weise begrenzen sollte.« (Foucault 2015c: 119, 303) Stattdessen wird eine »Theorie des Humankapitals« (ebd.: 305) vorgelegt, die der Bildung, wohlgemerkt in einer spezifischen Fassung, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Darin kommt das neoliberale Interesse an Arbeit insgesamt zur Sprache, die als subjektivierte nicht allein das – ansonsten übliche – Den-ken von Kraft und Zeit im Hinblick auf Erwerbsarbeit reflektiert, sondern

Page 37: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

40 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

mehr noch deren »Produktionsaktivität« (ebd.: 315) analog derjenigen von Unternehmen auffasst (vgl. ebd.: 308, 313).

Auf diese Weise wird die Kompetenz der ArbeiterIn zu deren »Maschi-ne« (ebd.: 312), wie sich Foucault in verdinglichender Weise über diese Sicht auf die menschliche Arbeitskraft äußert. »Tatsächlich hat diese Ma-schine ihre eigene Lebensdauer, ihre Verwendbarkeitsdauer, ihr Überholt-sein, ihr Altern.« (Ebd.: 313) Die ArbeiterIn wird somit einerseits mit dem »Produktlebenszyklus« maschineller Anlagen konfrontiert, muss sich also ihrer eigenen Einrichtung, ihrer zeitlich begrenzten Verwendbarkeit als Verkörperung im Sinne der neoliberalen Produktionsmaschine und schließ-lich auch ihres ›Überholtseins, Alterns und schließlich Ausrangiert-Werdens‹ bewusst sein. Wenn hier eine solche kaum anders als zynisch zu bezeichnende Auffassung ins Wort gebracht wird, so einzig mit der Ab-sicht, diese Form einer neoliberalen Reifikation des arbeitenden Individu-ums herauszustellen. Ein dergestalt in die neoliberale Produktionslogik in-kludierter Mensch wird folglich »Unternehmer seiner selbst« (ebd.: 314), so dass die Konzeption des »Arbeitskraftunternehmers« (Pongratz/Voß 2001) bereits in der neoliberalen Grundlagenliteratur zum Humankapital angelegt ist.

Ein solches Bilden der Kompetenzmaschine kann sich nach Auffassung der Neoliberalen nicht allein auf die Schule beschränken (vgl. ebd.: 319). Somit dringt die neoliberale Theorie des Humankapitals allmählich auch vor in nicht-ökonomisch grundierte Diskursfelder, nicht zuletzt hin zu den »soziale[n] Phänomene[n]« (ebd.: 331). Insofern verwundert auch Foucaults Auffassung keineswegs: »Im amerikanischen Neoliberalismus geht es in der Tat immer darum, die ökonomische Form des Marktes zu verallgemeinern.« (Foucault 2015c: 336) Dies gelte etwa für das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern (vgl. ebd.: 337) oder jenes innerhalb des Ehe-vertrages (vgl. ebd.: 338ff.). Stets sei das »Nützlichkeitskalkül« (ebd.: 343f.) gefragt.

Der Neoliberalismus geht nach dieser Lesart davon aus, dass sich eine »egoistische Mechanik« (ebd.: 378) ohne irgendeine Form von Transzen-denz schlicht in einem dem Markt analogen Geschehen mit den anderen – nicht minder egoistischen MechanikerInnen – abstimme. »Der Markt und der Vertrag [als Gesellschaftsvertrag; A.B.] funktionieren auf genau entge-gengesetzte Weise, und es handelt sich tatsächlich um zwei heterogene Strukturen.« (Ebd.: 379) Somit fungiert der Markt als Areal der nicht abge-

Page 38: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 41

stimmten, einzig dem Eigennutz verpflichteten Handlungen der einzelnen Akteure. Vergegenwärtigt man sich die polizeiliche Kontrolle des Marktes im 17. Jahrhundert (vgl. Kapitel 1.1.3), so wird die Umkehrung dieser Poli-tik und damit zugleich der Wissensform des dazu erforderlichen Subjekt-formates offenkundig.

Als neues Bezugsfeld für eine solche neoliberale Regierungstechnik macht Foucault die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem homo oeconomicus aus (vgl. Foucault 2015c: 405f.). Beide stellen gewissermaßen die äußeren Enden der Achse gouvernementalen Regierens dar – das Individuum als neoliberales Subjekt im unternehmerischen Austausch mit seinesgleichen und die bürgerliche Gesellschaft als neoliberales Machtgefüge jener Markt-akteure, wobei Foucault darauf aufmerksam macht, dass sich in einer bür-gerlichen Gesellschaft die »Mechanik der Interessen« (ebd.: 412) nicht al-lein auf ökonomische beschränke. Insofern bedroht der Kapitalismus als Fokussierung exklusiv auf eine »egoistische Mechanik« die bürgerliche Gesellschaft und deren Grundlagen (vgl. ebd.: 415f.) und steht somit in der Gefahr, sich seiner eigenen Grundlage ebenso wie die der Marktakteure langfristig zu berauben (vgl. in allgemeinerer Form Kapitel 1.1.1).

Folglich sind die spezifischen Formierungen neoliberaler Subjektivie-rung als Träger gouvernementaler Regierung ebenso wie als deren Effekte zu verstehen. Gerade auf den »pastoralen Subjektivierungsformen« konnten nach Foucault der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft auf-bauen (vgl. ebd.). Zielt nämlich der Neoliberalismus, wie soeben gezeigt, auf eine »künstlich arrangierte Freiheit: [das] unternehmerische Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen« (Lemke 2001: 115), so wird nun deutlich, dass sich dieses Arrangement nur bei gleichzeitiger ökonomischer Umformung auch des Sozialen aufrechterhalten lässt. Gerade die Fähigkeit zu Disziplin und Selbstbeherrschung als Führung des Selbst und der ande-ren wird nötig, um die konsequente Marktorientierung tatsächlich realisie-ren zu können (vgl. ebd.: 118). Dass dazu sehr spezifische Formate der Subjektivität bis hinein in »die protestantische Ethik und den ›Geist‹ des Kapitalismus« (Weber 2016) zu verzeichnen sind, zeigt einerseits die enge Verbindung von Neoliberalismus und ethischen Subjektivierungsmomen-ten, andererseits werden auf diese Weise gerade die den Neoliberalismus etablierenden Effekte der subjektiven Praxis des homo oeconomicus kennt-lich.

Page 39: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

42 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Doch hat die neoliberale Individualisierung eine Privatisierung auch der sozialen Risiken zur Folge. Denn werden den Individuen Freiheitsrechte – im gewährenden wie im postulierenden Sinne – zugesprochen, so bleiben diese individualistischen Zugänge zur Welt und ihrer Gestaltung auch dann bestehen, wenn die Bearbeitung sozialer Risiken erforderlich ist. Das Indi-viduum wird im Neoliberalismus der unternehmerischen Freiheit ausgesetzt – und erlebt sich folglich auch dann ausgesetzt, wenn es der Solidarität be-dürftig wäre. Unsicherheit ist damit die Kehrseite der neoliberalen Freiheit. Bereits in dieser mikrostrukturellen Analyse wird die von Wacquant kriti-sierte Herstellung sozialer Unsicherheit (vgl. Wacquant 2011, 2009) für die Individuen sichtbar und setzt sich fort auf makrostruktureller Ebene im Hinblick auf den Rück- und Umbau des Wohlfahrtsstaates.

In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung der in ökonomischen wie allgemeinen gesellschaftlichen Debatten häufig beschworenen »Werte« verwiesen. Solche Werte nämlich können sich zunächst weder juristisch konzeptualisieren lassen noch werden sie ausschließlich ökonomisch ge-nutzt, wie ein Blick auf unterschiedliche jüngere Debatten, namentlich sol-che der nationalen Abgrenzungen deutlich macht. Wenn seinerzeit das »Statement of Aims« der Mont Pèlerin Society betonte: »The central values of civilization are in danger.« (MPS 1947), so wurde mit dieser Aussage ein zivilisatorischer Kontext etabliert, in dem sich die als bedroht einge-schätzten Werte verorten lassen sollten. Insbesondere wurde dort identifi-ziert »that most precious possession of Western Man, freedom of thought and expression« (ebd.). Obgleich dort ökonomische, regierungsspezifische und juristische Argumente prominent vorgetragen und gelistet werden, ist es kam nachvollziehbar, sich lediglich auf nutzenbezogene Quantifizierun-gen zu fokussieren, wenn diese »Gründungsurkunde des Neoliberalismus« mit ihren weit ausgreifenden Verweisen auf Sinnkonzepte reflektiert und in ein neoliberales Arbeitsverständnis eingeordnet werden soll, das Ökonomie als Verhaltenswissenschaft proklamiert (vgl. Foucault 2015c: 310ff.; ver-weist u.a. auf Robbins und Schultz). Daraus wiederum resultiert eine Ver-schiebung im Verständnis des homo oeconomicus als »Unternehmer seiner selbst« (ebd.: 314), der z.B. im Konsum »seine eigene Befriedigung produ-ziert« und solcherart durch seine »Produktionsaktivität« gekennzeichnet ist (ebd.: 315). Auf diese Weise verbindet Foucault, was Weber noch getrennt hatte: Produktion und Konsum (vgl. Weber 2016: 42; zur arbeitsgesell-schaftlichen Einordnung vgl. Spittler 2016: 7).

Page 40: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 43

1.2 DAS NEOLIBERALE NORMATIV

Es hat sich gezeigt, dass bei den verschiedenen herangezogenen AutorIn-nen das Konzept des Neoliberalismus unterschiedlich konzeptualisiert wird und fungiert. Doch kommen die diskutierten Ansätze cum grano salis darin überein, Formen der Subjektivierung zu beschreiben, die etwa im 17. und 18. Jahrhundert auf der Grundlage von und zugleich in Abgrenzung gegen frühere Formate der Regierung eingeführt wurden und sich im 20. sowie 21. Jahrhundert in teilweise neuen Formen und mit neuen Strategien weiter entwickeln. Diese Entwicklungen tragen zu unterschiedlichen Formaten von Vergesellschaftung bei und können zu einer vertikalen Segmentierung in von der ökonomischen Deregulierung profitierende obere und von der sozialen Disziplinierung eingeengte untere Klassen führen.

Abschließend ist zu fragen, ob Neoliberalismus einzig als herrschaftli-che Absicherung ungezügelter wirtschaftlicher Individualbestrebungen (z.B. Crouch) sowie als Einzug ökonomischer Leitlogiken in subjektive, gesellschaftliche und politische Konzepte (Bourdieu) zu verstehen ist. In – kritischer – Anlehnung an Foucault (vgl. 2015c: 239ff.) sollen nun zwei weitere Aspekte zum Verständnis des Neoliberalismus angeboten werden.

1.2.1 Das Heilsversprechen von Position und Kapital

Hier ist zunächst zu nennen die Rückfrage nach der Art ökonomischen Denkens im Neoliberalismus, die dem Verständnis von »Verdienst« eine prominente Rolle im Verständnis der »pastoralen Macht« zuschreibt und damit zugleich die Foucault’sche Forschungstrias von Wissen – Macht – Subjektivität in einer sehr spezifischen Weise orientiert (vgl. Foucault 2015b: 266). Auf diese Weise zieht Foucault die der pastoralen Macht in-härenten Wissens-, Macht- und Subjektivierungsformate heran, um durch sie das Dispositiv der Ökonomie, also der Ökonomie entsprechende »Stra-tegien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von die-sen gestützt werden« (Foucault 1978: 123), als der ursprünglichen Auffas-sung von Verdienst im religiös-soteriologischen Sinne entwachsen zu kon-zeptualisieren. Diese Ordnung einer »Ökonomie der Verdienste und Ver-fehlungen« (ebd.: 267) wird im Weltverständnis des Neoliberalismus ab dem 16. Jahrhundert immanent, da sie einer allgemein verbindlichen religi-ös-transzendenten Ordnung verlustig geht. Sie wird als »Ökonomie des

Page 41: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

44 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Verdienstes« gewissermaßen das historisch als Immanenz des Verdienstes reformulierte Heilsversprechen des Kapitalismus.

Zur Erläuterung dieser Verschiebung historischer Verdienstordnungen sei zunächst hervorgehoben, dass zwar ein Heilsversprechen des Kapita-lismus gegeben wurde, auch wenn ›das christliche Pastorat grundlegend und im Wesentlichen nicht durch die Beziehung zum Heil charakterisiert‹, sondern als Machtform einer Ökonomie der (noch: auf Transzendenz hin orientierten) Verdienste verstanden wird. Mit einer solchen Änderung der Blickrichtung ist das Heilsversprechen ja nicht grundsätzlich überholt, zu-mal sich hinreichende Belege für ein solches Versprechen bis in die Ge-genwart hinein nachvollziehen ließen. Vielmehr ist die Frage nach der Ziel-setzung der pastoralen Machtform von Bedeutung. Dabei kann die pastora-le Ökonomie als Technologie zur Herrschaft und Bewirtschaftung der See-len aufgefasst und im Sinne einer früheren Form von Subjektivierung ver-standen werden. Dass dies mit einem Heilsversprechen einhergeht und die-ses somit eine eigene Bedeutung zugeschrieben bekommt, scheint unter machttheoretischer Hinsicht eher als kollateraler Effekt denn als Ziel sui generis verstanden werden zu können.

Ein Weiteres fällt bei dieser Konstruktion einer pastoralen Ökonomie auf: Ließ sich die Transzendenz-bezogene Form noch als »Ökonomie der Verdienste und Verfehlungen« (ebd.: 267; Hervorh. A.B.) verstehen, so sind in einer immanenten Form jene »Verfehlungen« lediglich dahingehend festzustellen, dass sie als Rudimente praktisch werden, die z.B. als eine »protestantische Ethik« auf den »›Geist‹ des Kapitalismus« Einfluss neh-men (vgl. Weber 2016), nicht jedoch als außerhalb dieser ethischen Ord-nung Bedeutung entfalten. Vielmehr scheinen sie in einem kapitalistischen Leben eine Lücke zu hinterlassen, die allerdings kaum als solche aufge-fasst, erst recht nicht problematisiert und bestenfalls mit Ausflüchten ge-füllt wird; Weber bewertet dies als »das Irrationale dieser Lebensführung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt« (ebd.: 54). Auf diese Weise wird einer ethisch-moralischen Verpflichtung nicht nur nicht hinterher getrauert, sondern sie liegt nach Weber schon als Frage offenkundig außerhalb der allgemein gegebenen Vorstellungskraft, die sich ansonsten jenseits der reinen Kapitalakkumulation befinden würde. Damit also wird dem Verdienst weiterhin hohe Bedeutung beigemessen – jetzt immanent und zumeist monetär zu verstehen –, den »Verfehlungen« hinge-gen kommt kein eigener Raum mehr zu. Eher ist davon auszugehen, dass

Page 42: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 45

sie durch »Verluste« – wiederum immanent und zumeist monetär zu ver-stehen – ersetzt werden.

Erst durch eine Weitung der Kapitalkonzeption hinein z.B. in soziale und kulturelle Bezüge lassen sich soziale Positionierungen und mit ihnen einhergehende »Verfehlungen« beispielsweise gegen Milieu-spezifische Distinktionserwartungen ansetzen (vgl. Bourdieu 1997, 1987, 1983). Doch auch solche lassen sich nicht in einer religiös-transzendenten Weise verste-hen, sondern viel mehr in einer immanenten, die als »Zirkulations-, Trans-fer-, Inversionsökonomie und -technik« nunmehr der sozialen Positionie-rung verstanden werden. Damit verbunden ist das wiederum immanente Heilsversprechen auf Positionierung und Besitz. Der Kapitalist sucht sein Heil in Status und Kapital.

1.2.2 Das Normativ als Machtkonzept

Die vorherigen Hinweise Foucaults und Webers auf die »Ökonomie des Verdienstes« und ihre Konsequenzen für Heilsversprechen sowie das – im ökonomischen Feld ausfallende – Problem subjektiver Verfehlungen ver-weisen ihrerseits auf eine normative Fragestellung, die zum einen nicht al-lein auf subjektivierende Konzeptionen ausgerichtet sind, wie es insbeson-dere das (Spät-)Werk Foucaults darlegte (vgl. die Textsammlung in Foucault 2015a). Zum anderen sind diese normativen Positionen den stra-tegischen, die Foucault mit dem Begriff des Dispositivs umschrieb, logisch vorgelagert.

Insofern soll nun in Anlehnung an das Dispositiv eine Auffassung ver-treten werden, die als Normativ bezeichnet wird und damit dem Machtkon-zept normativer Präskripte Ausdruck verleihen soll. Um diesen Begriff nä-her zu erläutern, sei zunächst dessen strategisches Pendant dargelegt, da sich auch das Normativ an dessen struktureller Konstitution orientiert, um seinerseits theoriesystematisch anschlussfähig zu sein.

Foucault fasste seinen Begriff des Dispositivs auf höchst unterschied-lich Weise, daher wird die im Folgenden dargestellte Argumentation auf seine kompakten Äußerungen gegenüber Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes, vermutlich aus dem Jahr 1976, zurückgreifen:

Page 43: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

46 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

»Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden hete-rogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, regle-mentierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftli-che Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault 1978: 119f.) Mit diesem Begriff lässt sich mithin eine Ordnung bestimmen, die »Gesag-tes ebensowohl wie Ungesagtes« beinhaltet und insofern zwar einem be-stimmten Zweck verpflichtet ist, diesen jedoch in unterschiedlichsten ›sozi-alen Aggregatzuständen‹ transportieren kann. »Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu mas-kieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität ver-schaffen. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln mit Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiede-rum sehr unterschiedlich sein können.« (Ebd.: 120) Aus dieser weiteren Klärung ergibt sich ein dynamisches und polyvalentes Verständnis des Dispositivs – es ist nicht im buchstäblichen Wortsinne zu ›de-finieren‹, also einzugrenzen. Vielmehr fungiert es gewissermaßen no-madisch, nämlich beweglich zwischen verschiedenen Artikulationsformen. Foucault nennt Programme, Markierung oder Interpretation einer Praktik. Das Dispositiv kann in verschiedenen Formen, Positionen und Funktionen sichtbar werden und ist dabei selbst wandelbar. »Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« (Ebd.)

Page 44: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

DAS NEOLIBERALE NORMATIV | 47

Nunmehr zeigt Foucault die Ausrichtung des Dispositivs auf: Die Behe-bung eines als »Notstand« aufgefassten Sachverhaltes, der praktisch zu bewältigen ist. Das Dispositiv vermittelt Norm und Praxis als Gewebe stra-tegisch eingesetzter Elemente.

Führt man diese drei Hinweise auf die ›sozialen Aggregatzustände‹ nomadischer Bewegungen zwischen verschiedenen Formen, Positionen und Funktionen aus strategischen Gründen zusammen, so zeigt sich ein Kon-glomerat unterschiedlichster sozialer Praktiken und kultureller Formate mit einem je spezifischen praktischen Zweck. Den Dispositiven in diesem Sin-ne vorgeordnet sind normative Positionen, die sich ihrerseits nicht in einem abstrakten Diskursraum abspielen, sondern ebenso in verschiedenen Ag-gregatzuständen mit sich wandelnden Formen, Positionen und Funktionen erscheinen können. Im Unterschied jedoch zum Dispositiv sollen mit dem Begriff solche Konglomerate bezeichnet werden, deren Ziel in einer Arti-kulation von Normen und deren interner Strukturen besteht, nicht jedoch in der strategischen Vermittlung solcher Normen in die soziale Praxis. Auch Normativen eignet die mäandernde Prozessstruktur, da sie ebenfalls formal (etwa als Debattenbeitrag in den Medien, als praktische Performanz im ge-lebten Alltag o.a.), positionell (als Akteur, der sich als gesellschaftlich zentral positioniert gebärdet, als sozial randständige Person, als unterge-ordnet, dominierend o.a.) und funktional (als Benutzerordnung, als Erwar-tungshaltung, als Sitzordnung, als Abweichung o.a.) changieren kann. Je nach konkreter Ausgestaltung des Normativs kommen ihm allerdings un-terschiedliche Chancen auf Durchsetzungsmacht und infolgedessen Aus-prägung eines Dispositivs zu.9

Gerade solche normativen Maßgaben sind für das Verständnis des Neo-liberalismus als neue Form des Regierens essentiell (vgl. Wacquant 2009: 312), werden dort sogar in »den autoritären Moralismus als integralen Be-standteil des neoliberalen Staates« (ebd.: 313) gekleidet. Mit Blick auf die Dispositive kann insofern davon ausgegangen werden, dass jene die strate-gische – und Normative die normorientierte Ebene der Regierungskunst und Subjektivierungsrealitäten in einer Gesellschaft beschreiben (vgl. Foucault 2015c: 406f.).

9 Als Heuristik vgl. die Darstellung eines Konfliktes um den öffentlichen Raum

und die Artikulation eines lokalen Normativs in Böhmer/Zehatschek 2015.

Page 45: Bildung der Arbeitsgesellschaft - ReadingSample

48 | BILDUNG DER ARBEITSGESELLSCHAFT

In diesem Zusammenhang macht Wacquant auf »die normative Funkti-on und die ausufernden materiellen Effekte des Rechts und seiner Durch-setzung« (Wacquant 2009: 312) aufmerksam, wobei er auf die Struk-turmomente kontrollierender Bilder, öffentlicher Kategorien, kollektiver Emotionen, der Verdeutlichung sozialer Grenzen sowie der Nutzung staat-licher Bürokratien hinweist. Gerade diese Momente lassen sich als potenti-elle »Trägersubstanzen« bzw. eher: Signifikationssysteme verstehen, mit deren Hilfe Normative ihre Ausdrucksgestalt erlangen können.

Wird insofern nach der »Ordnung der Dinge« regiert (vgl. Foucault 2015c: 427), so bedeutet dies für den Neoliberalismus, dass dessen »Ord-nung der Dinge« in der Regierung als Subjektivierung und deren »Weise des Tuns« (ebd.: 436) nicht allein die von Wacquant dargestellte vertikale Zweiteilung der Gesellschaft ergibt (vgl. Kapitel 1.1.4), sondern zudem Normative zum Einsatz kommen, die diese Zweiteilung legitimatorisch un-terlegen, die Einrichtung dispositiver Strukturen und Prozesse anbahnen sowie eine neoliberale Ordnung herstellen, die dem Menschen eine jeweils historisch kontingente Form zumessen – aktuell jenen ›free Western Man‹ (vgl. MPS 1947) mit seiner »egoistischen Mechanik« (Foucault 2015c: 378). Insofern wirkt das Normativ, indem es den »Anderen« entgegenhält, nicht den Normen zu entsprechen – mitunter ohne sich einer positiven De-finition solcher Normalität zu befleißigen (vgl. Böhmer/Zehatschek 2015: 320). Auf diese Weise werden strategische Maßnahmen zur Ausgrenzung der »Anderen« vorbereitet. Das Normativ eröffnet dem Dispositiv den Weg – und wird somit seinerseits strategisch wirksam.