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Die Energiecharta

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Page 1: Briefing European Parliamentary Research Service...doi:10.2861/602696 QA-04-16-521-DE-N Das in englischer Sprache verfasste Originalmanuskript wurde im Juli 2017 fertiggestellt. Übersetzung

Die Energiecharta

Page 2: Briefing European Parliamentary Research Service...doi:10.2861/602696 QA-04-16-521-DE-N Das in englischer Sprache verfasste Originalmanuskript wurde im Juli 2017 fertiggestellt. Übersetzung

In dieser Studie werden die wichtigsten durch den Energiechartaprozess entstandenen Entwicklungen und Gremien sowie der mit dem Energiechartavertrag geschaffene Rechtsrahmen vorgestellt. Der Verlauf verschiedener Investitionsschiedsverfahren gemäß den Bestimmungen des Energiecharta-vertrags wird verglichen, die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland analysiert, die gegen-wärtigen strategischen Zielsetzungen der Energiecharta werden dargestellt und einige der wichtigsten Herausforderungen, denen sich das Sekretariat gegenübersieht, deutlich gemacht. Zudem werden die Beteiligung der Europäischen Union am Energiechartaprozess sowie die einschlägigen Standpunkte des Europäischen Parlaments untersucht.

PE 607.297 ISBN 978-92-823-9481-6 doi:10.2861/602696 QA-04-16-521-DE-N

Das in englischer Sprache verfasste Originalmanuskript wurde im Juli 2017 fertiggestellt. Übersetzung abgeschlossen: August 2017

HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHT

Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt. Nachdruck und Übersetzung zu nicht kommerziellen Zwecken mit Quellenangabe gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

© Europäische Union, 2017

Fotonachweise: © Leonid Eremeychuk/Fotolia

[email protected] http://www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet) http://www.europarl.europa.eu/thinktank (Internet) http://epthinktank.eu (Blog)

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ZUSAMMENFASSUNG

Im Rahmen des Energiechartaprozesses entstanden zwei bedeutende multilaterale politische Erklärungen, die Europäische Energiecharta (1991) und die Internationale Energiecharta (2015), und es wurde mit dem Energiechartavertrag ein verbindlicher rechtlicher Rahmen geschaffen. Dieser Vertrag wurde im Dezember 1994 unterzeichnet und trat im Dezember 1998 in Kraft.

Der Energiechartavertrag hat bedeutende rechtliche und finanzielle Auswirkungen auf die geschäftlichen Beziehungen im Energiebereich zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere in den Bereichen Investitionen, Handel und Durchleitung. Er gilt für alle Formen von Energie und alle Etappen von Erzeugung und Verbrauch. Sein Geltungsbereich erstreckt sich auch auf Themen wie Wirtschaft, Umwelt und Energieeffizienz, doch sind seine Bestimmungen hier weniger verbindlich. Der Energiechartavertrag legt formale Verfahren für Streitbeilegungen auf der Grundlage internationaler Schiedsgerichtsverfahren fest, die im Falle von Streitigkeiten zwischen Staaten und Privatinvestoren häufig genutzt werden, aber bei Streitigkeiten zwischen Staaten kaum Anwendung finden. Mit dem Energiechartavertrag wurden zudem Gremien geschaffen, um den Energiechartaprozess zu befördern, insbesondere das multinationale Sekretariat und das zwischenstaatliche beschlussfassende Gremium (die Energiechartakonferenz).

Der Energiechartaprozess hat unter der Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, einem der wichtigsten Vertragsstaaten, gelitten. Russland gehörte zu jenen Erstunterzeichnerstaaten, die den Energiechartavertrag niemals ratifiziert haben. Das Land trat 2009 aus mehreren Gründen aus dem Vertrag aus, unter anderem weil ehemalige Jukos-Investoren Bestimmungen des Energiechartavertrags heranzogen, um Schadensersatzforderungen aufgrund einer illegalen Enteignung ihres Eigentums durch den russischen Staat zu stellen. Nach dem Austritt Russlands gab man dem Energiechartaprozess eine neue Richtung, sodass er nun eine stärker weltweit ausgerichtete Strategie verfolgt und seine Mitgliederschaft konsolidiert und ausweitet. Das Sekretariat sieht sich aufgrund des Austritts von Russland und des vor Kurzem erfolgten Austritts Italiens aus dem Energiechartavertrag finanziellen Problemen gegenüber, die zu Personalabbau geführt und seinen Handlungsspielraum verringert haben. Trotzdem ist es ihm gelungen, sich in seiner Arbeit stärker global auszurichten.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten beteiligen sich aktiv am Energiechartaprozess. Die Europäische Kommission vertritt die Union auf der Energiechartakonferenz und unterstützt die Arbeit des Sekretariats unter anderem durch finanzielle Beiträge auf Ad-hoc-Basis. Das Europäische Parlament hat die Energiecharta in verschiedenen Entschließungen immer wieder entschieden befürwortet und Russland dazu aufgefordert, den Dialog im Bereich Energie gemäß den Bestimmungen des Energiechartavertrags wieder aufzunehmen.

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INHALT

1. Was ist die Energiecharta? ............................................................................................ 4

1.1. Verfahren und Mitgliedschaft ................................................................................ 4

1.2. Die Gremien der Energiecharta .............................................................................. 5

1.3. Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta ................... 6

2. Investitionsschiedsverfahren nach den Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta ..................................................................................................................... 9

3. Die Beziehungen zu Russland ...................................................................................... 10

4. Auf dem Weg zu einer globalen Strategie für die Energiecharta ................................ 13

4.1. Die CONEXO-Strategie .......................................................................................... 13

4.2. Die Internationale Energiecharta ......................................................................... 14

4.3. Ressourcen und Personal ..................................................................................... 14

5. Die Europäische Union und der Energiechartaprozess ............................................... 15

5.1. Standpunkt des Europäischen Parlaments ........................................................... 16

6. Wichtigste bibliografische Angaben ............................................................................ 17

7. Anhang ......................................................................................................................... 18

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Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen

CONEXO Strategie der Energiecharta seit 2012 (Konsolidierung, Expansion, Ausdehnung)

ECK Energiechartakonferenz

ECOWAS Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten

ECV Vertrag über die Energiecharta

EEC Europäische Energiecharta

G7 Gruppe der 7 (Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten)

G8 Gruppe der 8 (G7 sowie Russland) — zurzeit ausgesetzt

G20 Gruppe der 20 (Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten und Europäische Union)

IEA Internationale Energie-Agentur

IEC Internationale Energiecharta

IRENA Internationale Agentur für erneuerbare Energien

MENA-Region Region Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika

ORWI Organisation der regionalen Wirtschaftsintegration

PEEREA Energiechartaprotokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte

WTO Welthandelsorganisation

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1. Was ist die Energiecharta?

1.1. Verfahren und Mitgliedschaft

Die Ursprünge der Energiecharta lassen sich auf den im Juni 1990 auf der Tagung des Europäischen Rates in Dublin vorgelegten Vorschlag des niederländischen Premierministers Ruud Lubbers, eine europäische Energie-Gemeinschaft zu errichten, zurückführen. Daraufhin kam es im Dezember 1991 zur Unterzeichnung der Europäischen Energiecharta (EEC), einer politischen Erklärung, die den Boden bereitete für den verbindlichen rechtlichen Rahmen des Vertrags über die Energiecharta (ECV) und das ihm beigefügte Energiechartaprotokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte (PEEREA). Der ECV und das Energiechartaprotokoll wurden im Dezember 1994 unterzeichnet und traten im April 1998 in Kraft, nachdem sie von den 40 Erstunterzeichnerstaaten ratifiziert worden waren.1

Die umfassendste Überarbeitung des ECV war die Änderung der Handelsbestimmungen (siehe Abschnitt 1.3: „Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta“). Mit der Unterzeichnung der Internationalen Energiecharta (IEC) im Mai 2015 in Den Haag trat der Energiechartaprozess in eine neue Phase ein. Die Internationale Energiecharta ist eine unverbindliche politische Erklärung, die die ursprünglichen Ziele der Europäischen Energiecharta im Hinblick auf die Veränderungen auf den globalen Energiemärkten aktualisiert und deren Ziel zudem eine im geografischen Sinne breiter gestreute Mitgliederschaft ist, als sie die Europäische Energiecharta und der ECV bisher erreicht haben (siehe Abschnitt 4.2: „Die Internationale Energiecharta“).

Der Energiechartaprozess umfasst inzwischen eine Reihe von Rechtsdokumenten und politischen Erklärungen (siehe Darstellung des zeitlichen Ablaufs im Anhang). Die Europäische Energiecharta wurde von 66 Staaten weltweit sowie von der EU, Euratom und Palästina unterzeichnet. Die große Mehrheit der Erstunterzeichnerstaaten und der Beitrittsstaaten liegen in Europa und Mittelasien, was auf die Ursprünge der EEC als Bindeglied zwischen den Interessen der Investoren und Konsumenten im Energiebereich in Westeuropa und denen der energieerzeugenden Länder in der ehemaligen UdSSR zurückgeht. Der Prozess stand aber stets auch Ländern aus anderen Regionen offen: Die Türkei, Japan und Australien gehören zu den Erstunterzeichnerstaaten und Niger und der Tschad als jüngste Beitrittsstaaten haben die Charta im Jahr 2015 unterzeichnet. Alle Mitgliedstaaten des ECV haben die EEC unterzeichnet, doch haben nicht alle Unterzeichnerstaaten der Energiecharta auch den ECV unterzeichnet und ratifiziert. Die USA haben die EEC 1991 unterzeichnet, sich aber später aus dem ECV-Prozess zurückgezogen, da US-amerikanische Investitionen ihrer Auffassung nach durch bilaterale Investitionsabkommen besser geschützt werden können. Australien und Norwegen haben den ECV unterzeichnet, ihn jedoch nicht ratifiziert. Belarus und Russland beschlossen, den ECV bis zu seiner Ratifizierung vorläufig anzuwenden, doch trat Russland im Oktober 2009 aus dem Vertrag aus. Alle EU-Mitgliedstaaten haben den

1 Die Staaten, die die beiden Dokumente nicht als Erstunterzeichnerstaaten bereits im Jahr 1994

unterzeichnet hatten, sondern später beitraten, werden als Beitrittsstaaten bezeichnet. Beitrittsstaaten müssen zum Zeitpunkt ihres Beitritts die Bestimmungen des ECV (in seiner jeweils geltenden Fassung) und seines Protokolls in vollem Umfang erfüllen. Sie können den ECV nicht — wie die Erstunterzeichnerstaaten — vorläufig anwenden.

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ECV unterzeichnet und ratifiziert; allerdings trat Italien 2016 aus dem Vertrag aus.2 Die genauen Gründe hierfür sind nicht bekannt.3 Insgesamt 49 Staaten sowie die EU und Euratom wenden die Bestimmungen des ECV zurzeit an und können so als Vertragsparteien des ECV bezeichnet werden (siehe Kasten unten). Mehrere andere Länder verhandeln derzeit über ihren Beitritt zum ECV; die Ratifizierung des Vertrags durch Burundi, Jordanien, Mauretanien, Pakistan und den Jemen steht noch aus.

Vertragsparteien des Vertrags über die Energiecharta (Stand 2017)

Europa: Albanien, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Estland, Europäische Union, Euratom, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Irland, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Montenegro, Niederlande, Norwegen*, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Zypern

Ehem. UdSSR: Armenien, Aserbaidschan, Belarus°, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Republik Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan

Asien: Afghanistan, Japan, Mongolei

andere: Australien*, Türkei

° Haben den ECV nicht ratifiziert, wenden ihn jedoch vorläufig an. * Haben den ECV nicht ratifiziert, beteiligen sich jedoch an der EEC. Kursivschrift = EU-Mitgliedstaat

1.2. Die Gremien der Energiecharta

Ein kleines, multinational besetztes Sekretariat mit Sitz in Brüssel ist für die laufende Arbeit der Energiecharta zuständig (siehe Abschnitt 4.3 „Ressourcen und Personal“). Dem Sekretariat steht ein Generalsekretär vor. Gegenwärtig ist dies Urban Rusnák (Slowakei), der dieses Amt seit Januar 2012 innehat. Beschlussfassendes Gremium ist die Energiechartakonferenz (ECK), in der die Unterzeichnerstaaten des ECV sowie zahlreiche Beobachterstaaten und regionale bzw. internationale Organisationen vertreten sind. Die Energiechartakonferenz tritt einmal jährlich in einem festgelegten Turnus in einem

2 Staaten, die den ECV ratifiziert haben oder ihm beigetreten sind, können ihre Mitgliedschaft mit einer

Mitteilung über einen Austritt aus dem Vertrag beenden. Dieser Austritt tritt 12 Monate nach Einreichen der Mitteilung in Kraft. Italien teilte im Dezember 2014 mit, aus dem Vertrag austreten zu wollen. Diese Entscheidung wurde im Januar 2016 wirksam. Länder, die den ECV unterzeichnet haben und vorläufig anwenden, können innerhalb von nur 60 Tagen von ihrer Mitgliedschaft zurücktreten. Russland hat seine Entscheidung, aus dem ECV austreten zu wollen, im August 2009 erklärt, und sie wurde am 18. Oktober 2009 rechtsgültig.

3 Über die Gründe für Italiens Austritt aus dem ECV wird immer noch spekuliert. Die offizielle Erklärung beruft sich auf Einsparungen im Einklang mit den allgemeinen Kürzungen im Staatshaushalt: Nach dem Austritt aus dem ECV muss sich Italien nicht mehr an der Finanzierung des Haushalts der Energiecharta beteiligen. Zudem hatte sich die italienische Regierung über den jüngsten Anstieg der Anzahl der im Rahmen des ECV gegen Italien angestrengten Streitbeilegungsverfahren besorgt gezeigt. Es ist jedoch unklar, inwieweit sich Italien tatsächlich von seinen mit dem Beitritt zum ECV eingegangenen Verpflichtungen zurückziehen kann, denn es kann bis 2035 weiterhin für Regulierungsmaßnahmen verantwortlich gemacht werden, die es in der Zeit ergriff, als es Vertragspartei des ECV war (d. h. 1998-2015). Da zudem die EU in ihrer Gesamtheit Vertragspartei des ECV ist, könnte die italienische Rechtsetzung in einigen Bereichen auch in Zukunft der rechtlichen Rahmensetzung des ECV unterstehen; insbesondere gilt dies für Rechtsakte, die direkt mit den Zuständigkeiten der EU im Bereich Energie zusammenhängen.

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jeweils anderen Mitgliedstaat zusammen. Die 27. Tagung der Energiechartakonferenz fand am 25./26. November 2016 in Tokio statt. In ihrem Verlauf wurde die Erklärung von Tokio angenommen, die sich für einen Übergang zu sauberer Energiegewinnung ausspricht und die Zielsetzungen des Pariser Klimaschutzabkommens begrüßt.4 Turkmenistan wird 2017 und Rumänien wird 2018 den Vorsitz der kommenden Tagungen der Energiechartakonferenz innehaben.

Beschlüsse werden einvernehmlich gefasst und auf der Website der Energiecharta veröffentlicht. Die Energiechartakonferenz legt die strategische Ausrichtung des Energiechartaprozesses fest, wacht über die Tätigkeit des Sekretariats, genehmigt den Jahreshaushalt und den Arbeitsplan, entscheidet über die Aufnahme weiterer Länder, genehmigt Änderungen der ECV-Rahmenbestimmungen, entscheidet in bestimmten Handelsstreitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten (siehe Abschnitt 1.3 „Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta“) und ernennt den Generalsekretär für eine — verlängerbare — Amtszeit von fünf Jahren. Die Energiechartakonferenz kann nachgeordnete Gremien einrichten, die für Beratung in strategischen Fragen des Energiechartaprozesses sowie für seine Beziehungen zu den Interessenträgern zuständig sind. In den nachgeordneten Gremien sind vor allem die Mitgliedstaaten vertreten, doch können zu ihnen auch Vertreter internationaler Organisationen oder des Privatsektors gehören. Zurzeit verfügt die Energiecharta über eine Strategiegruppe (unter dem Vorsitz von Elżbieta Piskorz aus Polen) und eine für die Umsetzung zuständige Gruppe (unter dem Vorsitz von Sergej Katischew aus Kasachstan) sowie über zwei Ausschüsse, die für Haushalt und rechtliche Beratung zuständig sind. Der 2004 eingerichtete Branchenbeirat sorgt für einen strukturierten Dialog mit den wichtigsten Unternehmen der Energiebranche und fungiert als beratendes Gremium der Energiechartakonferenz und ihrer nachgeordneten Gremien. Im Bereich Energie erfahrene Rechtsanwälte beraten den Energiechartaprozess im Rahmen der Arbeitsgruppe Rechtsberatung, die entscheidend an der Entwicklung von Mustervereinbarungen für grenzüberschreitende Öl- und Gaspipelines mitgewirkt hat. Seit Kurzem ist die Arbeitsgruppe zudem auch bei Investitionsvereinbarungen im Bereich Energie und in Bezug auf Verbesserungen der Streitbeilegungsverfahren des ECV beratend tätig.

1.3. Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta

Der ECV bietet einen multilateralen rechtlichen Rahmen für geschäftliche Beziehungen im Bereich Energie zwischen seinen Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit und einer gerechten Behandlung sowohl der Investoren als auch der Staaten. Er sieht zu diesem Zweck mehrere Verfahren für eine verbindliche Streitbeilegung vor. Er ist das erste und einzige verbindliche zwischenstaatliche Abkommen, das für alle Formen der Energie — fossile Energieträger, Kernenergie, erneuerbare Energiequellen usw. — und alle Etappen der Lieferkette (Gewinnung, Erzeugung, Durchleitung und Verbrauch) gilt. Der Geltungsbereich des ECV ist jedoch eindeutig begrenzt: Er gilt nicht für die Planungsphase von Projekten im Bereich der Energieerzeugung, da es den Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen über einen zusätzlichen Vertrag über die Planungsphase in den 1990er-Jahren nicht gelang, eine Einigung zu erzielen.

Der ECV erkennt das Recht der Mitgliedstaaten, über den Umgang mit ihren natürlichen Ressourcen selbst zu entscheiden, explizit an und sieht einen Zugang Dritter nicht vor (im

4 27. Tagung der Energiechartakonferenz, Tokio, 25./26. November 2016.

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Gegensatz zu den Vorschriften der EU für ihren Energiebinnenmarkt). Vor allem verlangt der ECV von seinen Mitgliedstaaten nicht, ihre Energiebranchen gegenüber ausländi-schen Investitionen zu öffnen, und sieht sogar das Recht auf Enteignung vor, sofern diese legal und mit einer angemessenen Kompensationszahlung geschieht, die dem tatsäch-lichen Marktwert entspricht. Wenn aber ein Mitgliedstaat ausländische Investitionen in seiner Energiebranche zulässt, haben die ausländischen Investoren ein Anrecht auf eine gerechte Behandlung gemäß den Bestimmungen des ECV und können im Rahmen internationaler Schiedsgerichtsverfahren Rechtsmittel einlegen.5 Investoren können ihre Streitfälle mit Staaten im Rahmen einer der drei anerkannten Streitbeilegungsverfahren verhandeln lassen. Bei jedem von ihnen wird ein Ad-hoc-Gerichtshof eingerichtet, der einen verbindlichen Schiedsspruch fällt.6 Der ECV enthält zudem Bestimmungen für die Streitbeilegung zwischen Staaten in verschiedenen Bereichen, doch wurde das vorge-sehene Verfahren in der Praxis niemals zu einem Abschluss geführt, da derartige Streitfälle letztendlich immer auf diplomatischem Wege beigelegt wurden. Streitfälle zwischen Investoren und Staaten machen fast alle Fälle der Investitionsschiedsverfahren im Rahmen des ECV aus (siehe Abschnitt 2 „Investitionsschiedsverfahren nach den Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta“).

Die ECV-Bestimmungen über den Handel stehen im Einklang mit dem WTO-Überein-kommen und wenden die wichtigen WTO-Konzepte der „Meistbegünstigung“ (gleiche Behandlung aller Einfuhren aus Vertragsstaaten des ECV) und der „Inländerbehandlung“ (ausländische Investoren oder Erzeugnisse werden nicht schlechter als inländische Investoren oder Erzeugnisse behandelt) an. Diese sind Teil des übergeordneten Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im internationalen Handel. 1998 wurde eine Änderung der auf den Handel bezogenen Bestimmungen des ECV von den Mitglied-staaten angenommen und trat im Januar 2010 nach ihrer Ratifizierung durch die ersten 30 Unterzeichnerstaaten in Kraft.

In der handelsbezogenen Änderung wird die Anwendung des WTO-Übereinkommens auf den ECV anerkannt; die Änderung erweitert den Geltungsbereich des ECV auf den Handel mit Ausrüstungen im Energiebereich (d. h. nicht nur mit Energieträgern und Energieerzeugnissen) und schafft für Staaten, die nicht der WTO angehören, ein Verfahren für die Beilegung von Handelsstreitigkeiten. Staaten, die den ECV anwenden, müssen zudem mengenmäßige Einschränkungen von Einfuhr oder Ausfuhr von Energieträgern und diesbezüglicher Ausrüstung abschaffen. Bisher enthält der ECV keine verbindlichen Bestimmungen zur Höhe der von den Vertragsparteien angewendeten Zollsätze, auch wenn dieses Ziel angestrebt wird.7

Streitigkeiten im Bereich Energiehandel zwischen Staaten, die sowohl Mitglied der WTO als auch Vertragsstaaten des ECV sind, müssen nach den für internationale Schiedsgerichtsverfahren geltenden Bestimmungen der WTO beigelegt werden. Nur wenn einer oder mehrere der beteiligten Staaten nicht der WTO angehören, wird gemäß

5 Um ein Streitbeilegungsverfahren in Gang zu setzen, muss der Investor darlegen, dass er seinen Sitz in

einem der Vertragsstaaten des ECV hat. 6 Die drei anerkannten Streitbeilegungsverfahren sind das Internationale Zentrum zur Beilegung von

Investitionsstreitigkeiten (ICSID) in Washington DC oder ein Einzelrichter bzw. ein Ad-hoc-Schiedsgericht im Rahmen der Schiedsgerichtsordnung der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) oder schließlich das Institut für Schiedsgerichtsbarkeit der Handelskammer Stockholm.

7 Steivan Defilla, Energy Trade under the ECT and Accession to the WTO, Journal of Energy and Natural Resources Law, 21(4), 2003, S. 428-446.

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den Bestimmungen des ECV ein Ad-hoc-Gerichtshof eingerichtet, der die WTO-Grund-sätze anwendet, um den Streitfall beizulegen.8 Die Entscheidung des Gerichtshofs wird der Energiechartakonferenz vorgelegt, die sie mit einer Mehrheit von drei Vierteln ihrer Mitglieder annehmen muss, damit die Entscheidung rechtsverbindlich wird. Dieses Verfahren unterscheidet sich dadurch von dem Verfahren der WTO, dass es ein Element der politischen Bewertung einführt und Anreize bietet, Handelsstreitigkeiten zwischen ECV-Mitgliedstaaten entweder außergerichtlich oder auf diplomatischem Wege beizulegen.9 Die meisten Mitgliedstaaten des ECV sind inzwischen der WTO beigetreten, sodass das ECV-Verfahren für die Beilegung von Streitigkeiten nur selten genutzt wird.10 Dennoch ist das grundlegende „Prinzip der Nichtdiskriminierung“ weiterhin nicht nur für den Handel mit Energie bedeutsam, sondern auch für umfassender gelagerte Investitionsschiedsverfahren im Rahmen des ECV, wie etwa die Prüfung, ob ausländische Investoren gerecht behandelt werden.

Im ECV sind Leitgrundsätze zur Regulierung der Durchleitung von Energie zwischen Staaten vorgesehen, wobei Streitigkeiten entweder im Wege diplomatischer Verhand-lungen oder durch ein im ECV vorgesehenes formales Verfahren (das bisher noch nicht zur Anwendung kam) beigelegt werden sollen. Die Vertragsstaaten des ECV waren über den Entwurf einer Vereinbarung über ein ausführlicheres Durchleitungsprotokoll übereingekommen, wie es vor allem von Russland während seiner Verhandlungen über eine Ratifizierung des ECV angestrebt wurde (siehe Abschnitt 3 „Die Beziehungen zu Russland“). Mit dem Austritt Russlands aus dem ECV im Jahr 2009 verloren die Vorschriften des ECV über die Durchleitung stark an Relevanz. Russland ist der größte Energieerzeuger Europas und Asiens, es verfügt über einen großen Teil der Infrastruktur für die Durchleitung von Öl und Gas und es ist das führende Exportland für Gas, Öl und Kohle nach Europa.

Die Bestimmungen des ECV im Bereich Energieeffizienz sind im Energiechartaprotokoll (PEEREA) enthalten, sie sind jedoch insgesamt für die Mitgliedstaaten kaum verbindlich. Nach Auffassung von Yulia Selianova werden die Mitgliedstaaten durch das Energie-chartaprotokoll dazu verpflichtet, Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Verringerung der durch die Energieerzeugung entstehenden Umweltschäden zu formulieren. Der Schwerpunkt liege hier nicht auf rechtlicher Verbindlichkeit, sondern auf der Umsetzung eines politischen Bekenntnisses zur Verbesserung der Energieeffizienz in der Praxis.

Die im ECV formulierten Zielsetzungen im Bereich der Energieeffizienz sollen eher mithilfe von gegenseitigen Begutachtungen und vergleichenden Leistungsbewertungen, die bewährte Verfahren fördern, erreicht werden, etwa durch die Veröffentlichung von Länderberichten und thematischen Berichten. Der ECV befasst sich ebenfalls mit Fragen des Wettbewerbs auf den Energiemärkten und den Auswirkungen des Energiever-brauchs auf die Umwelt. Doch spielt der ECV in diesen Bereichen eine verhältnismäßig

8 Zu den Aufgaben des Sekretariats der Energiecharta gehört es, Fachleute als Mitglieder der

Schiedsgerichte vorzuschlagen; ansonsten ist es nicht an den Entscheidungen über Handelsstreitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten beteiligt.

9 Die Feststellungen der WTO-Schiedsgerichte dagegen gelten automatisch als angenommen, es sei denn, sie werden einvernehmlich abgelehnt, und es besteht — anders als im Rahmen des ECV-Verfahrens — die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen.

10 Lediglich sieben Vertragsstaaten des ECV sind nicht Mitglied der WTO: Afghanistan, Aserbaidschan, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan. Zwar trat Russland 2009 aus dem ECV aus, doch wurde es 2012 Mitglied der WTO, sodass Investoren grundsätzlich Forderungen im Bereich Energiehandel nach den Bestimmungen der WTO verfolgen können.

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geringe Rolle, da sie nicht Gegenstand von Investitionsschiedsverfahren sein können und zwischenstaatliche Streitigkeiten auf diplomatischem Weg oder durch die vom Sekretariat ausgearbeiteten nicht bindenden Konsultationsverfahren beigelegt werden müssen, wobei das endgültige Urteil über Streitfälle im Bereich Wettbewerb von der jeweils zuständigen einzelstaatlichen Stelle gesprochen werden muss.

2. Investitionsschiedsverfahren nach den Bestimmungen des Vertrags über die Energiecharta

Die Bestimmungen über Investitionsschiedsverfahren sind entscheidender Bestandteil der Energiecharta. Der ECV sieht für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten die Einrichtung von Ad-hoc-Gerichtshöfen vor, die die einschlägigen Rechtsvorschriften anwenden. Weder das Sekretariat noch die Energiechartakonferenz spielen bei Investitionsschiedsverfahren formal eine Rolle. Dennoch bietet das Sekretariat den Beteiligten gute Dienste an, um sie bei der informellen Beilegung ihres Streitfalls zu unterstützen. Zu diesem Zweck hat es ein Zentrum für Konfliktlösung eingerichtet. Inzwischen konnten bereits einige diplomatische Probleme mithilfe der Bestimmungen zur Entscheidungsfindung der Energiechartakonferenz gelöst werden.

Das Sekretariat führt Buch über 101 bekannte Streitbeilegungsverfahren mit Bezug zum ECV, wobei es sich stets um Streitfälle zwischen Investoren und Staaten handelt. Gemäß dem Jahresbericht 2016 der Energiecharta sind 60 dieser Fälle noch nicht endgültig abgeschlossen. In 35 Fällen ergingen abschließende Schiedssprüche, von denen etwa die Hälfte zugunsten des Investors und die andere Hälfte zugunsten des Staates lauteten.11 Mehrere Rechtswissenschaftler haben den Ausgang der nach Bestimmungen des ECV geführten Investitionsschiedsverfahren und die Entwicklung der Rechtsprechung im Laufe der Zeit untersucht. Nach ihren Erkenntnissen wurde in Fällen von diskrimi-nierenden Verhaltensweisen, wie etwa bei der Enteignung der Jukos-Investoren durch den russischen Staat, häufiger zugunsten des Investors entschieden. In Bezug auf mehrere Fälle, in denen es um ungünstige Regulierungsmaßnahmen ging, stellten die Wissenschaftler jedoch fest, dass

die Schiedsgerichtshöfe nur selten bereit waren, die Vertragsstaaten dazu zu verpflichten, bei ihren Regulierungsmaßnahmen akzeptable Mindeststandards einzuhalten oder sie gegenüber ausländischen Investoren für Mängel der staatlichen Rechtsetzung finanziell haftbar zu machen.

In Bezug auf die meisten anderen Klagegründe, wie etwa direkte Enteignung, Verstoß gegen vertragliche Verpflichtungen oder Rechtsverweigerung ergibt sich ein eher gemischtes Bild: Einige der ECV-Schiedsgerichte entschieden zugunsten der Investoren, andere zugunsten der Staaten, je nach den Besonderheiten des jeweiligen Falles.12

Viele der jüngst vor die ECV-Schiedsgerichte gebrachten Streitfälle befassen sich mit der Rücknahme staatlicher Förderungen für erneuerbare Energien, insbesondere in der EU.

11 In elf der 35 Fälle wurde auf einen Verstoß gegen den ECV und auf Schadensersatz erkannt; in zwei

Fällen wurde auf einen Verstoß gegen den ECV, jedoch nicht auf Schadensersatz erkannt; in vier Fällen kam es zu einer einvernehmlichen Vereinbarung über eine Streitschlichtung, die einen Schadensersatz vorsah; in neun Fällen wurde keine Nichteinhaltung des ECV festgestellt; in acht Fällen wurde festgestellt, dass es keine Grundlage für eine Streitbeilegung nach den Bestimmungen des ECV gab.

12 Stephen Jagusch, Anthony Sinclair, Philip Devenish, The Energy Charter Treaty: The Range of Disputes and Decisions, in: D. Bishop, G. Kaiser (Hg.), The Guide to Energy Arbitrations, London, Law Business Research, 2015.

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Mit 32 Fällen ist Spanien das Land mit der größten Anzahl an Streitbeilegungsverfahren, die fast alle Vorschriften und Förderregelungen für erneuerbare Energien betreffen. Alle sieben gegen Italien vorgebrachten Fälle wurden von Investoren im Bereich erneuerbare Energien angestrengt. Die meisten Fälle, die erneuerbare Energien betreffen, sind noch nicht abgeschlossen und es wurden erst wenige endgültige Entscheidungen getroffen, sodass bisher noch kaum gesagt werden kann, ob die Schiedssprüche in diesen Bereichen tendenziell eher zugunsten der Investoren oder zugunsten der Staaten ausfallen. Auf der Grundlage von ähnlich gelagerten Fällen äußern einige Wissenschaftler Zweifel daran, dass die ECV-Schiedsgerichte die Rücknahme von Anreizen für Investitionen in erneuerbare Energien als Maßnahmen betrachten werden, die einer indirekten Enteig-nung gemäß dem ECV gleichwertig sind.13

Die Heranziehung des ECV zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten weist darauf hin, wie wertvoll der durch ihn geschaffene verbindliche multilaterale Rechtsrahmen ist. Zudem weist die Tatsache, dass die Schiedssprüche zum Teil zugunsten der Staaten und zum Teil zugunsten der Investoren ausgesprochen wurden, darauf hin, dass der Vertrag ausgewogen gestaltet ist. Dennoch könnte die in den vergangenen Jahren zu beobach-tende Zunahme der Zahl der Fälle sowie ihre Konzentration auf bestimmte Länder die politische Unterstützung für den ECV bei einigen der Vertragsstaaten erodieren lassen. Auch nach dem Austritt eines Staates aus dem ECV können Investoren noch weitere 20 Jahre lang Fälle vorbringen, sofern diese Vorgänge betreffen, die sich während der Vollmitgliedschaft des Staates ereigneten. Der Austritt aus dem ECV schützt ein Land zwar vor möglichen Streitfällen über zukünftige regulatorische Maßnahmen oder Investitionsentscheidungen, es beraubt die Unternehmen dieses Staates jedoch auch des Schutzes durch den ECV vor zukünftigen gegen sie gerichteten Maßnahmen anderer ECV-Mitgliedstaaten. Auf alle Fälle ist die Beilegung von Streitfällen weiterhin auf der Grundlage des nationalen Rechts, des EU-Rechts, des Völkerrechts oder eventueller bilateraler Investitionsabkommen zwischen den betroffenen Ländern möglich, sodass ein Austritt aus dem ECV die rechtliche Anfechtung von Entscheidungen nicht unmöglich macht.

3. Die Beziehungen zu Russland

Ziel des Energiechartaprozesses war zunächst die Vertiefung der eurasischen Zusammen-arbeit im Bereich der Investitionen, des Handels und der Durchleitung im Energiebereich. Unter den Erstunterzeichnerstaaten des ECV befanden sich auch Staaten der ehemaligen Sowjetunion, darunter Russland und die wichtigen Durchleitungsstaaten Ukraine und Belarus, da der Prozess westliche Investitionen in ihre großen, jedoch unterfinanzierten Energiebranchen fördern sollte. Zwar hat Russland den ECV zunächst nicht ratifiziert, doch nahm es umfassend an den Arbeiten der Energiechartakonferenz und ihren nachgeordneten Gruppen teil und leistete jährliche Beitragszahlungen zur Finanzierung der Arbeit des Sekretariats. Russland beschloss zudem, vor dem vollständigen Abschluss des Ratifizierungsvorgangs den ECV vorläufig anzuwenden, obwohl dies in keiner Weise verbindlich war und einige Fachleute die Auffassung vertraten, dass sich Russland damit

13 Charles Patrizia, Joseph Profaizer, Samuel Cooper, Igor Timofeyev, Investment disputes involving the

renewable energy industry under the Energy Charter Treaty, in: D. Bishop, G. Kaiser (Hg.), The Guide to Energy Arbitrations, London, Law Business Research, 2015.

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an die im ECV festgeschriebenen Verpflichtungen binden würde, ohne sich gleichzeitig den umfassenden Investorenschutz zu sichern, den eine Ratifizierung nach sich zöge.14

Die Beziehungen zwischen der Energiecharta und Russland verschlechterten sich in den 2000er-Jahren, als sich das Regime Putins festigte. Dennoch wurden die Verhandlungen mit den russischen Ministerien und dem Parlament — der Staatsduma — über die Ratifiz-ierung des ECV fortgesetzt, wobei Russland nun bestrebt war, dies mit den Verhandlun-gen über ein Transitprotokoll zu verknüpfen, das einige der Nachteile ausgleichen sollte, die der ECV aus seiner Sicht aufwies. Nach der zweiten Gaskrise zwischen Russland und der Ukraine 2009 trat Russland mit Wirkung zum 18. Oktober 2009 vollständig aus dem ECV aus. Seit Ende 2009 leistete Russland keine finanziellen Beiträge zur Energiecharta mehr, doch erst 2015 zog es seine Fachleute aus den nachgeordneten Gruppen ab.

Wissenschaftler haben zahlreiche Gründe angeführt, die der Abwendung Russlands vom Energiechartaprozess geführt haben könnten.15 Einige führen sie auf ein allgemeines Misstrauen des Putin-Regimes gegenüber westlichen Initiativen sowie die unabhängige-re und aggressivere Haltung, die das Land inzwischen auf der internationalen Bühne ein-nimmt, zurück. Kleinteiligere und eher technische Probleme wurden zudem bei den Verhandlungen über das Transitprotokoll erkennbar. Tatiana Romanova vertritt hierzu folgende Auffassung:

Moskau befürchtete, dass es durch den ECV gezwungen werden könnte, seine Leitungen für die Durchleitung von Erdgas aus Mittelasien zu öffnen, oder dass es den Bau neuer

Leitungen durch sein Hoheitsgebiet würde gestatten müssen.16

Die Europäische Kommission vertritt ihrerseits die Haltung, dass die Bestimmungen des ECV für Durchleitungen nur außerhalb der EU gelten sollten, und bestand darauf, dass eine Klausel zu einer Regionalen Wirtschaftsunion (REIO) in das Transitprotokoll aufge-nommen wird, in der festgeschrieben werden sollte, dass es innerhalb des EU-Binnen-markts keine Durchleitung (sondern nur eine Übertragung) von Energie gibt. Russland befürchtete, dass eine derartige REIO-Klausel die Bedeutung der von ihm mit einzelnen EU-Staaten abgeschlossenen zwischenstaatlichen Abkommen über Durchleitung und andere Themen verringern würde, da die Kommission stets darum bemüht war, ihre Überwachungs- und Prüfungsbefugnisse in diesem Bereich zu erweitern.17 Mehrere 14 Mit dem Austritt Russlands 2009 ist Belarus gegenwärtig der einzige Staat, der den ECV weiterhin

vorläufig anwendet. Die anderen Unterzeichnerstaaten, die den ECV nicht anschließend ratifizierten (Australien, Island, Norwegen) entschieden sich gegen eine vorläufige Anwendung des ECV, mit Ausnahme seines Abschnitts VII, der die Teilnahme an der Konferenz und die regelmäßige jährliche Finanzierung des Sekretariats und dessen Arbeit betrifft. Island ratifizierte den ECV schließlich 2015.

15 Die vorliegende Studie stützt sich auf mehrere wissenschaftliche Darstellungen der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der Energiecharta, in denen die Gründe für das Vorgehen aller Beteiligten analysiert werden. Katja Yafimava hebt in ihrer Monografie „The Transit Dimension of EU Energy Security“ (Oxford, Oxford University Press, 2011) die Bedeutung der Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine über die Durchleitung von Erdgas und das Bestehen der Kommission auf einer REIO-Klausel hervor. Andrei Belyi vertritt in seinem Artikel „International Energy Governance: Weaknesses of Multilateralism“ (International Studies Perspectives (2014) 15, S. 313-328) eine ähnliche Auffassung. Er hebt jedoch die weitergehenden Veränderungen von Russlands geopolitischer Haltung aufgrund der seit 2000 vom Putin-Regime vertretenen hauptsächlich auf Sicherheit bedachten Haltung stärker hervor als Yafimava. Viele dieser Fragen werden zudem in den Artikeln von Yulia Selianova und Tatiana Romanova (siehe „Wichtigste bibliografische Angaben“) angesprochen.

16 Tatiana Romanova, Russian Energy in the EU market: Bolstered institutions and their effects, Energy policy 74 (2014), S. 44-53.

17 Im Mai 2017 trat ein neuer EU-Beschluss in Kraft, mit dem zwischenstaatliche Abkommen einer umfassenderen Kontrolle durch die Europäische Kommission unterworfen werden. Diese soll nun die Entwürfe von Abkommen erhalten und überprüfen, ob sie mit EU-Recht übereinstimmen. Einzelheiten

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Verfasser sind der Auffassung, dass das Bestehen der Kommission auf eine REIO-Klausel im Transitprotokoll zu dem allgemeinen Misserfolg dieser multilateralen Verhandlungen beigetragen hat, die im November 2011 offiziell ausgesetzt wurden.

Aus der Sicht Russlands war die Tatsache, dass der ECV nicht dazu beitrug, die heftigen Streitigkeiten mit der Ukraine über die Durchleitung von Erdgas 2006 und 2009 zu lösen, ein weiterer Mangel des Vertrags. Russland hat die Vorschriften des ECV über Durchlei-tungen nicht gegen die Ukraine ins Feld geführt, höchstwahrscheinlich, da es befürchte-te, damit die Ansprüche ehemaliger Jukos-Investoren an den russischen Staat zu befeu-ern: Diese vertreten die Auffassung, dass der russische Staat gemäß den ECV-Bestim-mungen zu Investitionsschiedsverfahren haftbar sei (siehe Kasten). Obwohl die EU-Staaten aufgrund der unterbrochenen Gaslieferungen unmittelbar unter den Streitigkei-ten zu leiden hatten, wendeten gleichzeitig auch weder die EU noch einer ihrer Mitglied-staaten Bestimmungen des ECV gegen die Ukraine an, da es ihrem Verständnis nach in dieser Auseinandersetzung mehr um die geopolitischen Ziele Russlands ging als lediglich um die Durchleitung von Gas durch die Ukraine. Die Jukos-Affäre stellt jedoch das vielleicht größte Hindernis für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen dem ECV und Russland dar und hat möglicherweise hauptsächlich zu der Entscheidung Russlands beigetragen, 2009 aus dem ECV auszutreten.

Der Jukos-Skandal und der ECV

Ehemalige private Investoren des russischen Energieunternehmens Jukos haben vor verschiedenen internationalen und nationalen Gerichtshöfen Verfahren gegen den russischen Staat aufgrund illegaler Enteignung angestrengt. 2005 begann ein ECV-Schiedsgericht, das im Rahmen des Ständigen Schiedshofs in Den Haag eingerichtet wurde, mit der Anhörung in drei Fällen, die unter der Prämisse vorgebracht worden waren, dass Russland in der Zeit, als die Vorfälle stattfanden (2003-2007), die Bestimmungen des ECV vorläufig anwendete. Nach langen und komplexen Auseinandersetzungen erging im November 2009 (ein Monat nach dem Austritt Russlands aus dem ECV) ein vorläufiger Schiedsspruch, der im Juli 2014 von einem endgültigen Schiedsspruch gefolgt wurde und mit dem eine Entschädigungszahlung in Höhe von 50 Mrd. US-Dollar durch den russischen Staat festgelegt wurde.18 Russland legte jedoch beim Bezirksgericht von Den Haag Berufung ein und dieses urteilte im April 2016, dass die Bestimmungen des ECV nicht für Russland gelten, da es den Vertrag nicht ratifiziert habe (das Bezirksgericht hatte sich nicht mit der inhaltlichen Frage einer eventuellen rechtswidrigen Enteignung befasst). Mit diesem Urteil wurde jede Durchsetzung von Geldbußen aufgrund des Jukos-Skandals bis zum Urteil in dem durch die Investoren angestrengten endgültigen Berufungsverfahren vor dem Obersten Gericht der Niederlande aufgeschoben.19

siehe: Gregor Erbach, Intergovernmental agreements in the field of energy, Briefing, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Europäisches Parlament, Mai 2017.

18 Eine Zusammenfassung der ECV-Schiedsverfahren mit Beteiligung ehemaliger Jukos-Investoren unter juristischem Gesichtspunkten ist zu finden in Chiara Giorgettis Artikel im „American Journal of International Law“, Bd. 109 (2), S. 387-393.

19 Die Auffassung, dass der ECV nicht auf Russland anzuwenden sei, ist umstritten. Nach Auffassung einiger der in dieser Studien herangezogenen Verfasser könnte Russland bei Schiedsverfahren bis Oktober 2029 weiterhin haftbar gemacht werden, sofern diese sich auf Maßnahmen des russischen Staates während der Zeit seiner vorläufigen Anwendung des ECV (d. h. zwischen Dezember 1998 und Oktober 2009) beziehen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Auffassung, dass die Vorschriften des ECV nicht auf Russland anzuwenden seien, im Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof der Niederlande aufrechterhalten wird.

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4. Auf dem Weg zu einer globalen Strategie für die Energiecharta

4.1. Die CONEXO-Strategie

Der Ausstieg Russlands aus dem ECV zog tiefgreifende Überlegungen über die Zukunft des Energiechartaprozesses nach sich. Dies führte bei mehreren Energiecharta-konferenzen und Sitzungen der nachgeordneten Gruppen zu ausführlichen Diskussionen, aus denen Ideen für einen Wandel der Strategie hervorgingen. Im Rahmen des Warschauer Mandats wurde 2012 die CONEXO-Strategie (Konsolidierung, Expansion, Ausdehnung) formuliert. Diese sieht vor, dass sich die Energiecharta intensiver an der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Energiebereich beteiligt: auf globaler Ebene (z. B. G7/G8, G20), auf regionaler Eben (z. B. der Dialog mit dem ECOWAS in Afrika, der Liga der Arabischen Staaten oder der Union für den Mittelmeerraum) und mit anderen internationalen Organisationen im Energiebereich (z. B. IEA, IRENA). Das Sekretariat soll gemeinsame globale Ziele für den Energiechartaprozess ausarbeiten und Staaten in allen Regionen der Welt sollen aufgefordert werden, die Energiecharta zu unterzeichnen und später dann dem ECV beizutreten. Nach der CONEXO-Strategie ist es jedoch ebenfalls möglich, dass einige Länder am Energiechartaprozess beteiligt sein, ohne sofort dem ECV beizutreten, d. h. auch die Möglichkeit einer eher schrittweisen und flexiblen Integration ist vorgesehen. Die Organisation soll sich auf Kapazitätsaufbau und Wissensaustausch mithilfe von Entsendungen von Mitarbeitern an das Sekretariat sowie einer aktiven Beteiligung an internationalen Veranstaltungen konzentrieren, etwa durch eine intensive Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Gremien im Bereich Ener-gie. Schließlich sollen Anstrengungen unternommen werden, den ECV zu „konsoli-dieren“, indem seine Ratifizierung durch jene Unterzeichnerstaaten, die dies noch nicht vorgenommen haben (Australien, Belarus, Island, Norwegen) vorangetrieben wird.

Die CONEXO-Strategie ist ein fortlaufender Prozess und für eine Bewertung seiner Ergebnisse ist es noch zu früh. Die Organisation hat inzwischen im Bereich der globalen und regionalen Energiezusammenarbeit an Bekanntheit gewonnen und ist stärker in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten engagiert. Ernesto Bonafé und Florian Encke heben hervor, dass die Energiecharta in der MENA-Region (Mittlerer Osten und Nord-afrika) von großen Wert sein könnte, da viele Staaten in dieser Region liegen, die Energie nach Europa liefern und großen Nutzen aus den Bestimmungen des ECV ziehen könnten.20 Noriko Yodogawa und Alexander Peterson heben hervor, welch hohen Wert ein möglicher Beitritt Chinas zum ECV haben könnte, da dieses Land in ganz Asien und Afrika Investitionen im Energiebereich tätigt und der rechtliche Schutz durch den ECV hier einigen Zugewinn an Sicherheit bedeuten könnte.21 Das Sekretariat arbeitet intensiv daran, die Vorzüge der Energiecharta den afrikanischen Staaten vor Augen zu führen, und wendet sich dabei vor allem an jene Staaten, die ihre natürlichen Ressourcen mithilfe ausländischer Investitionen zu entwickeln wünschen. Der Prozess der Konsolidierung hat in der Zwischenzeit mit der Ratifizierung des ECV durch Irland im Jahr 2015 einen bescheidenen Erfolg verzeichnen können, andererseits aber mit dem Austritt Italiens aus dem ECV 2016 einen bedeutenden Verlust erlitten. Auch der Prozess der

20 Ernesto Bonafé, Florian Encke, Energy Community Treaty and Energy Charter Treaty: Working towards

Efficient International Energy Markets, in: D. Buschle, K. Talus (Hg.), The Energy Community, Cambridge, Intersentia, 2015.

21 Noriko Yodogawa, Alexander M. Peterson, An opportunity for progress: China, Central Asia, and the Energy Charter Treaty, Texas Journal of Oil, Gas and Energy Law, Nr. 8, S. 111-142, 2012.

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Ausdehnung hat gewisse Erfolge zu verzeichnen, da einige Staaten der Energiecharta beitraten, insbesondere Afghanistan (2013) und Montenegro (2015). Zahlreiche Staaten beteiligen sich zum ersten Mal am Energiechartaprozess. Mit verschiedenen Staaten der MENA-Region (Jemen, Jordanien, Marokko, Mauretanien, Pakistan), Afrikas südlich der Sahara (Burundi, Niger, Nigeria, Swasiland, Tansania, Tschad), Asiens (Bangladesch, Kambodscha) und Südosteuropas (Serbien) werden Verhandlungen über den Beitritt zum ECV geführt, die sich jeweils in unterschiedlichen Stadien befinden.

4.2. Die Internationale Energiecharta

Die wichtigste Errungenschaft der CONEXO-Strategie ist bisher die 2015 geschaffene Internationale Energiecharta. Sie wurde von 80 Staaten und sechs regionalen Wirt-schaftsorganisationen (darunter die EU und Euratom) angenommen, von denen etliche niemals die Europäische Energiecharta oder den ECV unterzeichnet haben. Die Unter-zeichnerstaaten der Internationalen Energiecharta befinden sich in allen Regionen der Welt. Zu ihnen gehören die USA und Kanada, mehrere große Staaten in Asien (Bangla-desch, China, Kambodscha, Pakistan, Südkorea) und Lateinamerika (Chile, Kolumbien) sowie Staaten in Afrika und der MENA-Region (darunter Erzeugerländer wie Irak und Iran). Alle Erstunterzeichnerstaaten des ECV mit Ausnahme Russlands haben die IEC unterzeichnet.

Mit der IEC gewann die Energiecharta eine große Bedeutung bei der weltweiten Zusammenarbeit im Energiebereich und konnte neue Länder in ihre Prozesse einbeziehen. Neue Unterzeichnerstaaten werden Beobachter der Energiecharta-konferenz und werden aufgefordert, langfristig auch dem ECV beizutreten. Allerdings ist die IEC ist weiterhin eine unverbindliche politische Erklärung. Es ist nicht klar, wie viele der Länder, die die IEC unterzeichnet haben — insbesondere jene Länder, die von strategischer Bedeutung im Energiebereich sind —, später bereit sein werden, sich an die rechtlichen Verpflichtungen einer ECV-Mitgliedschaft zu binden. Diese bieten Schutz für Auslandsinvestitionen im Energiebereich, doch gleichzeitig unterwerfen sie die staatliche Energiepolitik unabhängigen Schiedsverfahren, die von manchen Staaten möglicherweise als zu riskant oder als eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität angesehen werden. Zwar hat die IEC zweifelsohne die geografische Reichweite der Energiecharta ausgedehnt, doch hat sie die schwierige finanzielle Lage des Sekretariats nicht unmittelbar verbessert, das weiterhin von den Jahresbeiträgen einer Handvoll großer Industrieländer abhängt (siehe Abschnitt 4.3: Ressourcen und Personal).

4.3. Ressourcen und Personal

Trotz der ehrgeizigen globalen Zielen der Energiecharta arbeitet das Sekretariat mit eingeschränkten Ressourcen, die seine Aktivitäten in gewissem Maße einschränken. Das Sekretariat wird durch Jahresbeiträge der Erstunterzeichnerstaaten und der Beitritts-staaten finanziert, die nach einem von den Vereinten Nationen verwendeten Schlüssel errechnet werden. Die Länder, die den ECV unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert haben (Australien, Belarus, Norwegen), zahlen ebenfalls jährliche Beiträge und sind vollumfänglich an der Arbeit der Energiechartakonferenz beteiligt. Japan ist mit 22 % der nationalen Jahresbeiträge das größte Zahlerland. Die anderen großen Zahlerländer sind mit 15 % Deutschland, mit 12 % Frankreich, mit 11 % das Vereinigte Königreich, mit 6 % Spanien und mit 4,5 % Australien. Die sechs Mitgliedstaaten mit den größten Volkswirtschaften decken derzeit mehr als 70 % des Jahreshaushalts ab. Der Austritt Italiens aus dem ECV zog einen Verlust von etwa 300 000 EUR an jährlichen Beiträgen (ab dem Haushaltsjahr 2016) nach sich. Der Austritt Russlands aus dem ECV zog dagegen

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einen Verlust von etwa 200 000 EUR an jährlichen Beiträgen (ab dem Haushaltsjahr 2010) nach sich. Dies sind bedeutende Verluste, da die Beiträge der Staaten 2016 insgesamt nur weniger als 4 Mio. EUR betrugen. Die Energiecharta erhält immer wieder freiwillige Ad-hoc-Beiträge von verschiedenen Organisationen, darunter von der Europäischen Kommission, was zu einem Ausgleich dieser ungeplanten Ausfälle im Jahresbudget beitrug. Dennoch ist der Umfang des Haushalts der Energiecharta nominell 2016 gegenüber 2015 um mehr als 10 % zurückgegangen, was zu einem voraussichtlichen Gesamtrückgang von mehr als 17 % für den Haushalt von 2017 führt. Dies macht eine umfassende Restrukturierung der Verwaltung erforderlich.

Durch die finanziellen Einschränkungen wurde ein Personalabbau erforderlich und ist es für das Sekretariat wesentlich schwieriger geworden, das Potenzial des Energiecharta-prozesses optimal zu nutzen. Der Personalabbau wurde durch die natürliche Fluktuation erleichtert, da das Personal der Energiecharta auf der Grundlage von Zeitverträgen von höchstens sechs Jahren Dauer beschäftigt ist. Einige Verwaltungsfunktionen wurden zusammengelegt oder werden zusammengelegt werden, während die Anzahl der Rechtsetzungssachverständige und des Verwaltungspersonals verringert wurde. Nur 15 der 25 im geltenden Personalplan vorgesehenen Planstellen wurden 2016, als mehrere Planstellen abgeschafft und einige neue geschaffen wurden, besetzt. Der Personalplan wurde für die Zeit ab 2017 auf 18 Planstellen verringert. Diese werden von Mitarbeitern ergänzt, die im Rahmen zeitlich befristeter Projekte beschäftigt sind. Zu diesen gehört das EU4Energy-Programm,22 das auf die Länder Osteuropas und Mittelasiens ausgerichtet ist und von der EU finanziert wird. Das Sekretariat der Energiecharta ist — zusammen mit der Energieunion und der Internationalen Energie-Agentur — einer der drei Partner bei seiner Umsetzung.

In dem Bericht des Generalsekretärs der Energiecharta für das Jahr 2015 wird auf tief-greifende Einschränkungen der Haushaltsmittel hingewiesen, die durch einen Verlust an Vertrauen innerhalb der Organisation entstanden seien. Der Personalabbau habe das Sekretariat dazu gezwungen, sich auf die Ziele im Rahmen der CONEXO-Strategie zu konzentrieren, die am einfachsten zu erreichen seien, aber dennoch habe es seine globale Reichweite ausdehnen und in vielen Bereichen Fortschritte anstreben können. Der Jahresbericht der Energiecharta für 2016 zeichnet ein optimistischeres Bild, in dem die eingeschränkten Haushaltsmittel nur wenig Erwähnung finden. Statt dessen wird betont, dass Veränderungen des Haushaltsverfahrens wie etwa die sich über jeweils zwei Jahre erstreckende Planung des Haushalts und des Arbeitsprogramms es dem Sekretariat nun ermöglichen, langfristiger zu planen und seine Aktivitäten entsprechend zu auszuarbeiten.

5. Die Europäische Union und der Energiechartaprozess

Die EU ist weiterhin intensiv am Energiechartaprozess beteiligt. 27 Mitgliedstaaten sowie die EU und Euratom sind derzeit Vertragsparteien des ECV. Sie machen die Mehrheit der Mitglieder aus und sorgen für beinahe zwei Drittel der jährlichen Finanzbeiträge. Die wichtigsten politischen Erklärungen des Energiechartaprozesses — die Europäische Energiecharta von 1991 und die Internationale Energiecharta von 2015 — wurden von allen Mitgliedstaaten der EU, der EU selbst und Euratom unterzeichnet.

22 EU4Energy Programme

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Die EU wird bei den jährlichen Energiechartakonferenzen durch die Europäische Kom-mission und bei den laufenden Arbeiten durch das Energiechartasekretariat vertreten. Die Energiecharta ist Bestandteil eines breiter angelegten Prozesses der internationalen Zusammenarbeit im Energiebereich, an der auch der Europäische Auswärtige Dienst beteiligt ist. Die Schlussfolgerungen des Rates zur Energiediplomatie von Juli 2015 nennen die Modernisierung und Einbindung der Energiecharta als wichtigste Prioritäten der EU.23 Die Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission hat 2016 freiwillige Ad-hoc-Beiträge in Höhe von 200 000 EUR an den Haushalt der Energiecharta gezahlt. Damit wurde der Rückgang der Haushaltsmittel, der durch den Austritt Italiens (und zuvor Russlands) aus der Finanzierung des Sekretariats der Energiecharta entstanden war, bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen.

5.1. Standpunkt des Europäischen Parlaments

Das Europäische Parlament hat sich in mehreren Dokumenten zur Energiecharta geäußert, die die beständige Beteiligung der EU an diesem multilateralen Rahmen widerspiegeln und gleichzeitig umfassende Veränderungen in den Beziehungen der EU und des ECV zu Russland erkennbar machen.

In seiner Entschließung vom 26. September 2007 „Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Energieaußenpolitik“ erklärt das Parlament, dass „der Vertrag über die Energiecharta den Eckstein der gemeinsamen europäischen Energieaußenpolitik bilden sollte, da er das wichtigste Instrument der internationalen Gemeinschaft zur Förderung der Zusammenarbeit im Energiesektor darstellt, die Grundlage für eine faire und gerech-te Behandlung schafft, die Sicherheit der Investitionen gewährleistet und das Recht auf Entschädigung im Falle einer Enteignung und/oder Verstaatlichung garantiert“.24

Im Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und Russland werden in den Entschließungen des Europäischen Parlaments immer wieder die Anwendung des ECV und die Notwendigkeit seiner Ratifizierung durch Russland erwähnt. Sogar nach dem Austritt Russlands aus dem ECV 2009 forderte die Entschließung des Parlaments vom 25. November 2010 „Weg zu einer neuen Energiestrategie für Europa 2011-2020“ ein weiteres russisches Engagement und „begrüßt es, dass Russland an den Tagungen der Energiechartakonferenz teilnimmt; fordert die Kommission auf, sich dafür einzusetzen, dass dem Vertrag über die Energiecharta mehr Länder beitreten, und im Rahmen der Energiechartakonferenz auf eine Verhandlungslösung hinzuarbeiten, damit Russland die Grundsätze der Energiecharta und ihrer Protokolle uneingeschränkt billigt“.25

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Februar 2014 zum Gipfeltreffen EU-Russland wird diese Auffassung bekräftigt, indem gefordert wird, dass die Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland im Bereich Energie auf dem Vertrag über die Energiecharta (ECV) basieren sollte und indem das Parlament „seiner Überzeugung Ausdruck [verleiht], dass sich die vollständige Übernahme der Grundsätze des ECV durch Russland für beide Seiten positiv auf die bilateralen Beziehungen im Bereich Energie auswirken würde“.26

23 Schlussfolgerungen des Rates zur Energiediplomatie, 20. Juli 2015. 24 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. September 2007 zum Thema „Auf dem Weg zu

einer gemeinsamen europäischen Energieaußenpolitik“ 25 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. November 2010 zu dem Thema „Weg zu einer

neuen Energiestrategie für Europa 2011-2020“ 26 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Februar 2014 zum Gipfeltreffen EU-Russland

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Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2011 zu einer EU-Strategie für den Schwarzmeerraum hebt hervor, dass die WTO und der Vertrag über die Energiecharta die wichtigsten rechtlichen Grundlagen für die multilaterale Energie-kooperation im Schwarzmeerraum darstellen.27

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. Juni 2012 zu der Entwicklung einer energiepolitischen Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der EU wird mehrfach erwähnt, wie wichtig der ECV sei, und gefordert, „dass der Vertrag über die Energie-charta auf weitere Länder ausgedehnt wird und dass im Rahmen der Energiecharta-Konferenz eine Vereinbarung verhandelt wird, die zur vollständigen Annahme der Grundsätze der Energiecharta und ihrer Protokolle seitens Russland führt“.28 In dieser Entschließung wird die Kommission zudem aufgefordert, „die Bedeutung und Notwendigkeit der Konferenz der Energiecharta hervorzuheben, um das Potenzial der Energiecharta besser zu nutzen, vor allen in Kernbereichen wie Handel, Transit, Investitionen und Schlichtung von Streitigkeiten“.

6. Wichtigste bibliografische Angaben

A. Belyi, International Energy Governance: Weaknesses of Multilateralism, International Studies Perspectives (2014) 15, S. 313-328, 2014.

Sekretariat der Energiecharta, Energy Charter 2015 Annual Report, Februar 2016.

Sekretariat der Energiecharta, International Energy Charter 2016 Annual Report, Mai 2017.

Der Energiechartavertrag und diesbezügliche Dokumente (z. B. Europäische Energiecharta) (in englischer Sprache)

Internationale Energiecharta

Stephen Jagusch, Anthony Sinclair, Philip Devenish, The Energy Charter Treaty: The Range of Disputes and Decisions, in: D. Bishop, G. Kaiser (Hg.), The Guide to Energy Arbitrations, London, Law Business Research, 2015.

Tatiana Romanova, Russian Energy in the EU market: Bolstered institutions and their effects, Energy policy 74 (2014), S. 44-53.

Yulia Selianova, The Energy Charter and the International Energy Governance, in: C. Herrmann, J. P. Terhechte (Hg.), European Yearbook of International Economic Law, Bd. 3 (2012), S. 307- 342.

27 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2011 zu einer EU-Strategie für den

Schwarzmeerraum 28 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. Juni 2012 zu der Entwicklung einer

energiepolitischen Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der EU: ein strategischer Ansatz für eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung

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7. Anhang

Zeitleiste der wichtigsten Ereignisse im Energiechartaprozess

Quelle: Website der Energiecharta.

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