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CATHERINE BANNER Die Kinder von Malonia

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Page 1: CATHERINE BANNER Die Kinder von Malonia · Catherine Banner begann bereits im Alter von vierzehn Jahren – nach Schulschluss und während der Ferien –, ihren Debütroman Das Lied

CATHERINE BANNERDie Kinder von Malonia

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Buch

Fünfzehn Jahre nach dem Sturz des Diktators Lucien und der Rückkehr König Ryans lebt Anselm Andros mit seiner Familie in recht beschei-denen Verhältnissen, aber immerhin sorgt der Gebrauchtwarenladen seines Ziehvaters Leo North für ein Einkommen. Bis eines Tages eine militante, antiroyalistische Rebellenarmee namens Neue Imperialord-nung auftaucht, die Jagd auf ehemalige »Kriegsverbrecher« macht, die schuld am Untergang des alten Regimes sein sollen. Bald schon fallen in Kalitzstad die ersten Schüsse, und so mancher verlässt mitsamt sei-ner Habe die Stadt. Auch Anselm Andros muss vor den Rebellen flie-hen, die den rechtmäßigen König Ryan stürzen wollen. Denn sein ge-rade geborener Bruder ist der prophezeite Nachfolger des Herrschers. Um diesen zu schützen, hofft Anselm auf die Hilfe seines Ziehvaters Leo, der auch schon König Ryan dabei unterstützt hat, die Herrschaft anzutreten. Da erfährt Anselm, dass sein leiblicher Vater der erbit-

tertste Gegner von Ryan war – und dass Leo North ihn getötet hat.

Autorin

Catherine Banner begann bereits im Alter von vierzehn Jahren – nach Schulschluss und während der Ferien –, ihren Debütroman Das Lied von Malonia zu schreiben. Eine Aufnahme von der jungen Autorin war bereits in der National Portrait Gallery in London zu sehen – das Thema der Ausstellung: die aufregendsten Nachwuchstalente Großbri-tanniens. Catherine Banner lebt in England und schreibt zurzeit am ab-

schließenden Roman ihrer Malonia-Trilogie.

Außerdem lieferbar

Das Lied von Malonia (37543)

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Catherine Banner

Die Kinder von Malonia

Roman

Deutsch vonPatricia Woitynek

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»The Last Descendants 02. Voices in the Dark« bei Doubleday, Random House Inc, New York.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC®-zertifizierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch

liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Juni 2011

bei Blanvalet, einem Unternehmender Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Catherine BannerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

by Penhaligon Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

© Illustration Isabelle Hirtz/HildenDesign, München, unter Verwendung eines Motivs von DaydreamsGirl / iStockphoto

Redaktion: Waltraud HorbasUH · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, AalenDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-442-37757-2

www.blanvalet.de

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Die verschiedenen Rollen, die der siebzehnjährige Anselm Andros in seiner Familie zu spielen hat, sind klar umris-

sen und werden von ihm sehr ernst genommen. Seiner Mutter Maria, die ihn mit nur fünfzehn Jahren bekam, sodass sie beide in mancherlei Hinsicht praktisch gemeinsam aufwuchsen, ist er Vertrauter und wichtigste Stütze. Auch für die Sorgen seines Stiefvaters Leo – ein Mann, der bis heute von den Geistern sei-ner Vergangenheit heimgesucht wird – hat er stets ein offenes Ohr. Gleichzeitig spielt Anselm die Rolle des fürsorglichen Bru-ders für seine frühreife Schwester Jasmine, deren wachsende magische Kräfte er aufmerksam beobachtet.

Auf den ersten Blick scheint das Leben dieser Gebrauchtwa-renhändler-Familie unauffällig zu sein; doch als die politische Lage in Malonia sich zu verändern beginnt, kommen ihre Ge-heimnisse allmählich ans Licht. Denn die Entscheidungen, die Leo und Maria als Jugendliche trafen, sind nicht ohne Folgen geblieben. Auch wenn ihr Leben in den vergangenen fünfzehn Jahren in ruhigen Bahnen verlief, ist ihr Handeln für immer untrennbar mit der turbulenten Geschichte Malonias und sei-ner Parallelwelt, dem heutigen England, verknüpft. Die Stim-men der Vergangenheit sind noch immer als leises Echo in der Gegenwart zu hören und beeinflussen das Leben ihrer Kin-

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der – vor allem Anselms, der zum Äußersten entschlossen ist, um endlich das Geheimnis seiner Geburt zu lüften. Bei all der Ungewissheit, von der seine Welt und sein Herz durchdrungen ist, wird es für ihn wichtiger denn je, Antworten auf seine Fra-gen zu erhalten. Daher muss er lernen, seiner inneren Stimme zu vertrauen und sich seinen Ängsten und Sehnsüchten zu stel-len – wie hoch der Preis auch sein mag.

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ABENDDÄMMERUNGDer neunundzwanzigste Dezember

I ch wünsche mir mehr als alles andere auf der Welt, euch die Wahrheit über mein Leben zu erzählen. Es stimmt, ich bin

ein Verbrecher und ein Lügner. Dennoch, ich schwöre, dass meine Geschichte ausschließlich auf Tatsachen beruht.

Das waren die ersten Zeilen, die ich schrieb, als die Kutsche sich in südwestlicher Richtung von der Stadt entfernte und in die dunkle Moorlandschaft eintauchte. Die Frau, die mir gegenüber-saß, hatte einen Arm um die Schultern ihres kleinen Sohnes gelegt und tat so, als ob sie schliefe. Der alte Mann neben mir seufzte unentwegt und schüttelte dabei den Kopf. Er betete den Rosen-kranz; das leise Klicken der Perlen war das einzige weitere Ge-räusch in der Kutsche. Jeder von uns mied den Blick des anderen. Der Schnee und das Feuer hinter uns zeichneten wilde Muster auf die Scheiben. Der alte Mann sah sich alle paar Sekunden nach hinten um und seufzte dabei so tief, als trauerte er schon jetzt einem besseren Leben nach. Helles Feuer loderte an den Burg-mauern empor und warf einen Mantel aus schwarzem Rauch über die Sterne. Vielleicht hatte der Mann bisher eine geregelte Existenz in der Stadt geführt, und dieses Ritual des Rosenkranz-betens war das Einzige, was er in seine ungewisse Zukunft mit-nehmen konnte.

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Ich selbst besaß nichts, bis auf die Kleidungsstücke, die ich am Leib trug, und dem Inhalt von deren Taschen. Ich kontrollierte sie immer wieder, um mich zu vergewissern, dass noch alles da war. Dem Kutscher hatte ich als Bezahlung fünfzig Kronen und mein Taufarmband gegeben; als wir dann endlich losfuhren, ging es schon auf Mitternacht zu, und die Warteschlangen am Hafen reichten einen Kilometer weit. Trotzdem hatte ich noch immer einen Bleistift, einen Stapel Papier, eine Zündholzschachtel, eine Kerze und das Medaillon, das Aldebaran mir hinterlassen hatte.

Wir sprachen nicht miteinander. Es würde eine lange und kalte Reise werden, aber noch waren wir Fremde und hatten uns nichts zu sagen. Der alte Mann neben mir fand Trost in seiner stillen Andacht, doch mir selbst war es schon als kleiner Junge leichter gefallen, an Geschichten zu glauben als an Gebete. Als ich zu die-ser Reise aufgebrochen war, hatte ich mir überlegt, dass ich viel-leicht alles aufschreiben und erklären könnte. Nur dass mir die Worte dieses Mal nicht einfach so einfallen wollten. Das Schau-keln der Kutsche machte es beinahe unmöglich zu schreiben, und mein Herz war schwer. Ich steckte das Papier zurück in meine Tasche und versuchte zu schlafen.

»Aussteigen!«, rief jemand, kaum dass wir die ersten Kilome-ter zurückgelegt hatten. Es war jedoch nur der Kutscher, der flu-chend ein gebrochenes Rad überprüfte, ehe er sich mit angeleg-tem Gewehr in alle Richtungen umschaute. Ein Stück entfernt funkelten die Lichter irgendeines Dorfes. Wir würden die Nacht hier verbringen müssen, ließ uns der Kutscher wissen. Wenn er das Rad jetzt reparierte, würde es den Pferden zu kalt werden, um hinterher weiterzulaufen, außerdem war dies eine gefähr-liche Straße. Wir würden die nächste Herberge aufsuchen und dort übernachten. Niemand außer der Frau erhob Einwände. Ein kalter Wind fegte über den Schnee und peitschte ihn in Böen gegen die Kutschenfenster. Bibbernd stiegen wir aus. Der kleine Junge klammerte sich am Mantel seiner Mutter fest. Ich bot ihr an, einen ihrer Koffer zu tragen, aber sie lehnte kopfschüttelnd

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ab. Der Kutscher spannte die Pferde aus und führte sie neben sich her, während wir schweigend auf die Lichter zugingen.

Keiner von uns hatte Geld für ein Bett, deshalb verbrachten wir alle die Nacht im Schankraum des Wirtshauses, das in ei-nem windschiefen Dorf mitten im Niemandsland lag. Der kleine Junge und seine Mutter schliefen, die Köpfe auf den Tisch gelegt, in einer Ecke. Der alte Mann holte von neuem seinen Rosenkranz heraus, dann steckte er ihn wieder weg und bestellte eine Flasche Branntwein; er saß da, nippte an seinem Glas und sah zu, wie der Schnee vom Himmel fiel. Ich lauschte dem Heulen des Windes und zermarterte mir das Hirn, was ich schreiben sollte. Irgend-wann holte ich Papier und Bleistift heraus und unternahm einen neuen Versuch. Aber es hatte keinen Zweck. Seufzend strich ich durch, was ich begonnen hatte.

Draußen ächzte und klapperte das Schild des Wirtshauses im Sturm. Ich konnte nicht schreiben; jedes Mal, wenn ich es ver-suchte, stimmte etwas nicht. Nachdem das eine ganze Weile so gegangen war, stand der alte Mann auf und kam an meinen Tisch. »Hier«, sagte er und hielt mir die Branntweinflasche ent-gegen. »Vielleicht hilft dir das dabei, deine Schreibblockade zu überwinden.«

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«Nachdem er mir ein Glas eingeschenkt hatte, blieb er stehen,

um zu sehen, ob ich ihn bitten würde, sich zu mir zu setzen. Ich zog ihm einen Stuhl heran. Er ließ sich gemächlich darauf nieder, dann bog er seine Finger durch, bis die Knöchel knackten. Seinem Gesicht war noch immer anzusehen, dass er früher einmal attrak-tiv gewesen war, und seine Augen blickten lebendig und gütig. Ich trank einen Schluck von dem Branntwein und wartete, was er als Nächstes sagen würde.

»Wohin bist du unterwegs?«, fragte er schließlich.Ich zuckte mit den Achseln. »So genau weiß ich das nicht.«»Dann geht es dir wie mir. Ich versuche meine Familie zu

finden. Möglicherweise ist sie auf die Heilige Insel gezogen; das

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glaube ich zumindest. Genauso gut könnte sie aber auch irgendwo anders sein.«

»Ich soll auch zur Heiligen Insel fahren«, murmelte ich. »Aber …«

»Aber du denkst nicht, dass du das jetzt noch tun wirst«, voll-endete er meinen Satz. »Jetzt, nachdem du tatsächlich aufgebro-chen bist, meine ich.«

»Woher wissen Sie das?«»Tja, vermutlich durch mein lebenslanges Studium der

menschlichen Natur. Aber nun verrate mir, was du da zu schrei-ben versuchst.«

Ich ließ mir seine Frage lange durch den Kopf gehen. »Einen Brief an meinen Bruder«, erwiderte ich. »Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Ich weiß nicht, ob er mir vergeben wird, trotzdem möchte ich es ihm erklären. Außerdem will ich …« Ich zögerte.

»Sprich nur weiter«, forderte der alte Mann mich freundlich auf.

»Ich will ihm die Wahrheit sagen. Er ist zwar noch ein Baby, aber ich will die Geschichte für ihn festhalten, damit er sie lesen kann, wenn er größer ist. Mir hat man die Wahrheit nie gesagt, wissen Sie? Aber wenn er sie kennt, dann hat er vielleicht eine Chance.«

Er nickte, um mich zum Weitersprechen zu ermuntern.»Außerdem will ich ihm unser Leben in der Stadt schildern.

Weil das alles jetzt der Vergangenheit angehört. Er wird sonst nie erfahren, wie es war.«

»Bewundernswert«, stellte er fest.»Nein«, widersprach ich. »Das würden Sie nicht sagen, wenn

Sie die Geschichte kennen würden.«»Dann erzähl sie mir. Vielleicht fällt es dir leichter sie aufzu-

schreiben, wenn du sie mir zuvor erzählst.«»Meinen Sie wirklich?«Er schüttelte den Kopf. »Genau weiß ich es nicht. Es kommt

ganz darauf an.«

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»Aber es ist eine lange Geschichte«, warnte ich ihn. »Es wird eine ganze Weile dauern, sie zu erzählen.«

»Genau wie diese Reise«, entgegnete der alte Mann.Ich faltete das Blatt Papier zusammen und trank den letzten

Rest meines Drinks. Er brannte wie Feuer in meiner Kehle und machte mich mutig und melancholisch zugleich. Mein neuer Be-kannter stellte sich mir als Mr. Hardy vor. Ich sagte ihm, dass mein Name Anselm sei. Lange Zeit saßen wir da und unterhiel-ten uns über nichts Konkretes, während draußen der Wind toste. Die Nacht schleppte sich dahin, also begann ich irgendwann, ihm die Geschichte zu erzählen. Es gab in diesen trostlosen Stunden nichts Besseres zu tun. Ich berichtete ihm von unserem Laden, dem Friedhof und von unseren frühen Jahren in der Zitadell-straße, bevor ich mich schließlich verzettelte und eine Pause ein-legen musste, um erst einmal darüber nachzudenken, wo alles begonnen hatte. »Bei Aldebarans Beerdigung«, fiel es mir plötz-lich wieder ein.

»Aldebaran ist tot?« Mr. Hardy starrte mich wie vom Donner gerührt an.

»Ja. Er ist letzten Juli gestorben. Wussten Sie das nicht?«Er schüttelte den Kopf. Jeder im Land wusste davon, nur an

diesem Mann war das Ganze irgendwie vorbeigegangen. Noch immer kopfschüttelnd wiederholte er: »Aldebaran ist tot« – nur, dass es dieses Mal keine Frage war. »Erzähl mir die Geschichte«, bat er mich schließlich. »Ich möchte sie wirklich gern hören.«

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JULI

Die Menschen strömten aus einem Umkreis von hundert Kilometern zu Aldebarans Begräbnis. Bereits vor Tages-

anbruch drängten sie sich entlang der Absperrungen, warfen Blumen und sangen patriotische Lieder. Doch als schließlich der Sarg aus der Kathedrale gebracht wurde, umgab ihn eine seltsame Stille. Wir folgten ihm schweigend. Mit zu kurz ge-schnittenen Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel trot-tete Leo uns voraus. Meine Mutter und Jasmine gingen Seite an Seite hinter ihm, wobei Mutter immer wieder die Hand meiner Schwester loslassen musste, um sich die Tränen aus den Au-gen zu wischen. Mein Nacken brannte unter den Blicken der Menge.

Irgendwann riss Jasmine sich von ihr los, um näher an den Sarg zu gelangen, doch die Wachen hielten sie zurück. Der König war direkt vor uns. Er hatte darauf bestanden, seinem obersten Ratgeber persönlich das letzte Geleit zu geben. Alle hatten Einwände dagegen erhoben. Die Regierung glaubte nämlich, dass ein solches Attentat stets ein böses Vorzeichen war. Aber der König ignorierte sie und begleitete den Sarg, eine Hand seitlich an das Holz gelegt, die ganze Hauptstraße hi- nunter.

Unser kleines Gebinde schmückte ihn, doch abgesehen da-

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von wies nichts darauf hin, dass Aldebaran in ihm lag. Von Flaggen verhüllt, thronte er auf einer Lafette, die beidseitig von Soldaten mit Bajonetten flankiert wurde. Alle paar Meter wur-den aus der Menge Blumen über die Absperrung geworfen. Sie trafen mit einem dumpfen Klatschen auf das Holz des Sargs, bevor die Stiefel der Wachen sie in den Straßenstaub traten.

Jasmine weinte; sie war erst sechs, und nun wurde sie schließ-lich doch vom Tumult und dem feierlichen Ernst des Anlasses überwältigt.

»Komm her, Kleine«, murmelte Leo und wollte sie hoch-heben, doch sie schüttelte den Kopf und zog die Achseln hoch, bis nur noch ihre Augen aus dem Mantelkragen hervorlugten. Hilflos streckte Leo den Arm nach ihr aus, dann fand seine Hand stattdessen meine Schulter. Irgendwo spielte eine Kapelle, und immer wieder erschütterten Salutsalven aus den König-lichen Gärten die Stadt. Stare stiegen in Scharen aus den Rui-nen der Rüstungsfabrik auf. Unermüdlich kreisten sie über uns und sprenkelten die Wolken mit bizarren Mustern.

Kurz darauf setzte ein feiner Nieselregen ein. »Oh, habt doch Erbarmen!«, rief meine Mutter aus, während sie gleichzeitig mit ihrem neuen, schwarzen Regenschirm kämpfte und sich die Tränen vom Gesicht wischte. Es kam mir unsinnig vor, so et-was zu sagen – als ob die Wolken sie hören und den Regen zu-rückhalten würden. Andererseits kam mir an diesem Morgen so ziemlich alles unsinnig vor. Der Fluss brauste und toste, und die Tropfen trommelten auf das Holz des Sargs, als der Regen immer heftiger fiel. Wir standen um das offene Grab herum, als der Geistliche – ein Bischof aus dem Süden, den keiner von uns kannte – herantrat und sein Gebetbuch aufschlug. »Jesus sprach: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.‹«

Ich wusste nicht, ob Aldebaran an Gott geglaubt hatte. Er hatte nie ein Wort darüber verloren. Die Stimme des Bischofs

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war dünn und brüchig, und der Regen machte sie noch kraft-loser. Er hatte es aufgegeben, die Tropfen, die wie Pfeile vom Himmel kamen, von seiner Brille zu wischen. Die Regiments-uniformen der ausländischen Staatsoberhäupter waren bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt. Jasmine riss sich los und kniete sich an den Rand der Grube. Sie sah zu, wie der Sarg hinabgesenkt wurde, ohne sich darum zu kümmern, dass die feuchte Erde ihre Sonntagskleidung besudelte.

»Jasmine, komm her«, bat Mutter sie leise.»Nein, lass sie«, meinte Leo. »Es ist schon in Ordnung.«»Wir haben nichts in diese Welt gebracht, und wir werden

nichts mit uns nehmen, wenn wir gehen«, deklamierte der Bi-schof. »Der Herr gibt, und der Herr nimmt. Gepriesen sei der Name des Herrn.«

Als der Sarg hinuntergelassen wurde, verstummten die Trommeln und die Kanonen. Jeder von uns warf eine Handvoll nasser Erde in das Grab, anschließend traten die ausländischen Würdenträger und die Minister vor und taten dasselbe, ohne darauf zu achten, dass sie dabei die Ärmel ihrer Uniformen be-schmutzten. Der König stand so nahe auf der anderen Seite der Grube, dass ich die Tränen in seinen Augen schimmern sehen konnte. Er begrüßte Leo mit einem flüchtigen Nicken – sie wa-ren sich vor vielen Jahren schon einmal begegnet. Dann drehte er sich auch schon um, und die Wachen eskortierten ihn zu den Friedhofstoren. Die Kapelle stimmte von neuem ihr Klage-lied an.

Wir blieben stehen und hörten zu, wie die Trauerprozession den Rückweg antrat. Schließlich waren nur noch die Schläge der Trommeln zu hören, dann verstummten auch sie. Regen-tropfen fielen von den Speichen des Schirms meiner Mutter und wirbelten über den Friedhof. Krähen glitten durch die Luft und ließen sich von dem heulenden Wind, der zwischen die toten Äste der Bäume fuhr, mal in die eine, mal in die an-dere Richtung treiben. Jemand hatte das Gras um Aldebarans

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Grab geschnitten, aber abgesehen davon war auf dem Fried-hof schon Jahre zuvor jedes Zeichen von Gepflegtheit ver-schwunden.

»Kommt jetzt«, meinte Mutter. »Lasst uns gehen. Es hat kei-nen Sinn, noch länger hierzubleiben.«

Leo schüttelte den Kopf. Im Regen tauchten gerade zwei Gestalten auf: meine Großmutter – in ihrer ordentlichen Trauer-kleidung und mit einem schwarzen Kopftuch –, die wegen des Wetters eine finstere Miene zog, und Pater Dunstan, unser Priester.

»Würden Sie noch ein Gebet sprechen, Pater?«, bat Jasmine ihn schniefend, kaum dass er bei uns war. »Onkel kannte die-sen alten Mann nicht.«

Pater Dunstan stand am Fuß des neuen Grabs und machte das Zeichen des Kreuzes. Sein Gebetbuch war durchweicht; die Seiten wellten sich unter dem heftigen Ansturm des Wolken-bruchs. »Die unerschütterliche Liebe des Herrn ist unendlich, sein Erbarmen ist unendlich«, las Pater Dunstan. »Sie sind da, jeden Morgen von neuem.«

»Amen«, flüsterte Jasmine. »Bitte, sagen Sie noch eins.«Pater Dunstan rezitierte weiter. Er las alle Trauergebete aus

seinem Buch vor. Dann wurde es still auf dem Friedhof, der Regen ließ nach, und für uns blieb nichts weiter zu tun als heimzugehen.

An einigen Häusern hingen noch immer malonische Flaggen aus den Fenstern oder hafteten feucht an Wäscheleinen. Bett-ler bewegten sich mit ausgestreckten Armen durch die teil-nahmslose Menge. Zwei Kriegsveteranen riefen uns im Vor-beigehen von der Straßenecke aus zu: »Schenken Sie mir doch eine Münze, Sir! In Gottes Namen, haben Sie Mitleid mit einem armen Mann!« Leo drückte jedem von ihnen einen Shilling in die Hand. In unserer eigenen Straße, der Händlergasse, gab es ein ganzes Meer von Flaggen; orangerot leuchteten sie vor je-

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dem Fenster. »Seht doch!«, rief Jasmine durch ihren Tränen-schleier überrascht aus.

»Alle haben Onkel gemocht«, erklärte ich. »Siehst du? Die ganze Stadt ist gekommen, um ihm Respekt zu erweisen.«

»Warum haben sie dann den bösen Mann noch nicht gefasst, der ihn erschossen hat?«

»Ich weiß es nicht.«»Aber ich verstehe nicht …«»Schscht.« Mutter legte ihre Hand auf Jasmines Schulter, um

sie zu beruhigen.Leo hatte von all dem nichts mitbekommen, da er, die Hände

in den Manteltaschen vergraben, ein Stück voraus lief.Unsere nächsten Nachbarn standen draußen auf den Ein-

gangsstufen ihrer Häuser: die Apothekerin und ihre beiden Söhne, Mr. Pascal, der Gebrauchtkleiderhändler, außerdem die Barones von nebenan. Michael fing meinen Blick auf, als wir vorbeikamen. Er war mein ältester Freund, und ihn hier zu sehen, tröstete mich ein wenig. Wir gingen hinein, meine Mut-ter schloss die Tür, und die Geräusche der überfüllten Stadt ver-stummten. Leo setzte sich an den Tisch im Hinterzimmer. Mut-ter stellte den Kessel auf den Herd, dann standen wir alle herum und wussten nicht so recht, was wir sagen sollten.

»Es ist so ungerecht«, fuhr sie schließlich auf. »Ich weiß«, erwiderte Leo.»Er hätte niemals auf diese Weise sterben wollen.«»Ich weiß.«Wieder trat Schweigen ein. Ein paar vereinzelte Regentrop-

fen klatschten gegen das Fenster. Ich legte ein paar Kohlen nach und versuchte, sie zu wenden, ohne dabei die Stille zu unter-brechen, die sich über uns gesenkt hatte.

»Allerdings muss ich zugeben«, meinte Großmutter irgend-wann, »dass mir die Zeremonie wirklich gefallen hat. Und er war alt, Maria. Schon sechsundachtzig. Ich wäre gewiss froh, in einem solch gesegneten Alter sterben zu dürfen.«

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»Er wurde erschossen«, widersprach Leo. »Niemand wäre froh …«

»Warum haben sie den Mann nicht geschnappt?«, wieder-holte Jasmine.

»Pscht«, machte meine Mutter. »Ich weiß es nicht. Aber sie werden es noch.«

Sie trat zum Herd, nahm den Kessel herunter und stellte ihn wieder zurück. Das Wasser kochte noch immer nicht.

In einer Schachtel auf dem Tisch befand sich alles, was Alde-baran uns vererbt hatte. Behutsam nahm ich die Sachen heraus und breitete sie ein weiteres Mal vor mir aus; es vertrieb mir zumindest die Zeit. Viel hatte er nicht hinterlassen. Die obers-ten Ratgeber legten bei ihrer Vereidigung ein Armutsgelübde ab, und nach ihrem Tod verbrannte man all ihre Papiere. Es gab eine Holzschatulle für Jasmine, sein Taufmedaillon für mich und einen Ring für meine Mutter. Für Leo war da ein papier-umwickeltes Buch, das er noch immer nicht ausgepackt hatte. Außerdem fand sich in der Kiste noch ein Päckchen, auf das mit roter Tinte Für das Baby geschrieben stand. Zwar würde das Baby meiner Mutter erst in einigen Monaten geboren werden, aber offenbar hatte Aldebaran an alles gedacht.

Jasmine legte sich unter den Tisch und begann bitterlich zu weinen. Aldebaran war ihr Lehrer gewesen, und durch seinen Tod war sie nun die Letzte in der Familie, die über magische Kräfte verfügte. Und auch wenn sie während ihrer Unterrichts-stunden oft heftig diskutiert hatten, war trotzdem sie es gewe-sen, die er am meisten liebte.

»Ist ja gut«, versuchte meine Mutter sie zu trösten. Sie kniete sich neben den Tisch und streichelte Jasmine über das Haar. »Jetzt komm, mein Mädchen. Er würde nicht wollen, dass du so traurig bist. Außerdem ist es nicht für immer. Das weißt du.«

»Der Tod ist wohl für immer«, schluchzte Jasmine. »Tot ist tot, und man kann nie wieder nicht tot sein.«

»Er wird weiter über dich wachen.«

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»Wird er nicht.«Es klopfte an der Tür. Unsere Nachbarn hatten sich draußen

auf der Straße versammelt, um uns ihr Beileid zu bekunden. »Bitte sie herein, Anselm«, sagte Mutter.

Das Geplauder der Nachbarn vertrieb die niedergeschlagene Atmosphäre aus unserem Haus, und als sie sich schließlich ver-abschiedeten, wurde es schon dunkel. Die Barones blieben ein wenig länger als die anderen. Großmutter war ebenfalls noch da, genau wie Mr. Pascal, der sich wie immer nur ungern dazu bewegen ließ, eine Trauerfeier zu verlassen. Wir standen um den Tisch im Hinterzimmer herum und lauschten den Kano-nen, die aus den Königlichen Gärten einen weiteren Salut ab-feuerten. Leo und Mr. Pascal zündeten sich Zigaretten an; der Rauch stieg nach oben und formte seltsame Muster unter der Decke.

»Sagen Sie«, ergriff Mr. Pascal das Wort, nachdem sich das Schweigen mehrere Minuten hingezogen hatte, »wer wird wohl Aldebarans Nachfolge als oberster Ratgeber antreten?«

»Ich denke, es wird Joseph Marcus Sawyer sein«, spekulierte Großmutter.

»Was denn, ausgerechnet Sawyer?« Mr. Pascal klang ungläu-big.

Mr. Barone schüttelte den Kopf und strich sich mit der Hand über sein schütter werdendes Haar, so als wollte er es an Ort und Stelle fixieren. »Ich begreife nicht, weshalb der König einen solchen Mann auswählen sollte.«

»Ach, so schlimm ist er gar nicht«, widersprach Mr. Pascal. »Unter den derzeitigen Umständen ist er vielleicht sogar das Beste, worauf wir hoffen dürfen. Zumindest heißt es von ihm, dass er die Kunst der Magie beherrscht, und es muss jemand sein, der dazu fähig ist. Es grenzt an ein Wunder, dass sie dieser Tage überhaupt jemanden gefunden haben.«

»Soweit ich weiß, hat er diese Gabe schon als Kind verloren«,

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gab Mr. Barone zu bedenken. »Außerdem ist weithin bekannt, dass er ein Kollaborateur ist.«

»Es gibt Schlimmeres.«»Tatsächlich?«, fragte Mr. Barone. In seiner Stimme lag eine

Schärfe, wie ich sie nie zuvor bei ihm vernommen hatte. »Gibt es das wirklich?«

Er ließ den Atem langsam aus seinen aufgeblasenen Backen entweichen. Mr. Barone war ein hünenhafter Mann, und so er-schien sein Gesicht nun rund und konturlos wie das eines Babys.

»Was ist ein Kollaborateur?«, wollte Jasmine wissen.»Komm, Jas«, sagte Michael und zauste ihr Haar. »Ich bring

dir ein neues Kartenspiel bei.«Nach einem kurzen Blickwechsel folgte ich ihm aus dem

Zimmer, und Jasmine kam uns hinterher. Nachdem wir es uns im Laden zwischen dem Tresen und einem Stapel alter Klei-dung auf dem Dielenboden bequem gemacht hatten, teilte Mi-chael seine fleckigen Spielkarten aus und hielt Jasmine mit einer Reihe von Regeln bei der Stange. Sie war zwar noch immer den Tränen nahe, trotzdem erfüllte die Ablenkung ihren Zweck. Im Hinterzimmer entbrannte unterdessen zwischen Mr. Pascal und Mr. Barone eine hitzige Diskussion. Ich versuchte zuzuhö-ren, doch der Regen dämpfte ihre Stimmen. Es goss wieder in Strömen. Abgesehen von den alten Zeitungen, die der auffri-schende Wind durch die Luft wirbelte, war die Händlergasse wie ausgestorben.

»Du bist dran, Anselm«, erinnerte Michael mich, und ich zuckte zusammen. Ich war mit den Gedanken woanders ge-wesen. Er reichte mir zwei zerknitterte Karten, und ich spielte aus, ohne auch nur zu wissen, welchen Wert ich hinlegte. Der Sturm rüttelte an den Fensterläden und jagte heulend durch den Kamin. Er zerrte an der Hoftür, bis sie mit einem lauten Rums gegen die Mauer krachte.

»Ich sollte lieber rausgehen und sie zumachen«, überlegte ich laut.

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Ich stand auf und ging hinaus. Auf dem Hof blies der Wind orkanartig. Unter großer Anstrengung drückte ich die Tür wie-der ins Schloss. Gerade als ich mich umdrehen wollte, um sie zu verriegeln, bemerkte ich in den Schatten auf der anderen Straßenseite eine huschende Bewegung. Jemand stand zwi-schen den beiden Gaslaternen und beobachtete mich.

Die Silhouette des Mannes war ungewöhnlich; etwas Un-irdisches haftete ihr an. Ich starrte ihn an, und er starrte zu-rück. Dann drehte er sich um und schlenderte davon. Ein Windstoß ließ die Laternen flackern, und ich konnte in ih-rem unsteten Licht sein Gesicht nicht erkennen. Aber als er verschwand, entdeckte ich, was seinen Umriss so merkwürdig machte: Quer über seinen Rücken hing ein Gewehr. Es blitzte kurz auf, bevor ihn die Dunkelheit verschluckte. Immer här-ter strömte der Regen nun vom mattgrauen Himmel herab. Fröstelnd schob ich den Riegel vor das Gatter und ging wieder hinein.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, den anderen von dem Mann zu erzählen. Aber Großmutter, die Barones und Mr. Pascal machten sich gerade zum Gehen bereit, und nachdem sie fort waren, senkte sich eine derart frostige Stille über das Haus, dass ich nicht den Mut fand, das Thema anzuschneiden. Leo setzte sich an den Tisch und vergrub den Kopf in den Armen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mutter ihn.»Morgen geht es mir bestimmt besser.« Sie legte ihre Hand

auf seine Schulter. »Zumindest ist er jetzt beerdigt«, fuhr er fort. »Die Ungewissheit war das Schlimmste. Diese Zeremonien er-leichtern die Dinge. Warum, verstehe ich selbst nicht, aber es ist so.«

Keiner von uns sagte etwas darauf. Er sprach aus Erfahrung. Seine Eltern – die Berühmtheiten Harold und Amelie North – wurden seit mehr als zwanzig Jahren vermisst. Ich wusste, dass er nachts noch immer oft wach lag und darüber nachgrübelte, was wohl aus ihnen geworden war. Wie es schien, war Leos

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Familie dazu verdammt, bei jedem Aufstieg und Fall unseres Landes neuen Kummer zu erleiden.

»Kommt jetzt«, sagte meine Mutter und nahm die Schachtel mit Aldebarans Besitztümern vom Tisch. »Lasst uns zu Bett ge-hen. Dies wird kein guter Abend mehr.«

Wir folgten ihr nach oben ins Wohnzimmer, wo Jasmine und ich zusahen, wie sie die Lampen anzündete, während Leo das Feuer schürte.

Mutter stellte die Schachtel auf dem Kaminsims ab und streifte sich den Ring über. Ich nahm das Taufmedaillon und Jasmine die Schatulle. »Willst du das Buch noch nicht mal aus-packen, Leo?«

Er schüttelte den Kopf. »Wozu?«»Wozu? Onkel muss sich doch irgendwas dabei gedacht ha-

ben. Interessiert es dich denn gar nicht, was es für eines ist?« Leo schüttelte wieder den Kopf und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu. Meine Mutter ließ das Buch auf dem Kaminsims liegen. Als wir die Lampen löschten, lag es immer noch dort.

Es war schon halb zwölf, aber an dem rechteckigen Licht-schein, der aus dem Fenster neben meinem fiel, erkannte ich, dass Michael in der Nachbarwohnung noch wach war. Wann immer wir abends beide nicht einschlafen konnten, öffneten wir unsere Fenster, lehnten uns nach draußen und unterhiel-ten uns. Wir hatten das schon gemacht, als ich noch ein klei-ner Junge war und meine Familie gerade erst den Laden in der Händlergasse übernommen hatte. »Michael?«, rief ich leise und schob mein Fenster nach oben. Nach ein paar Sekunden hörte ich, wie er seines öffnete.

»Bist du okay?«, erkundigte er sich. »Das muss ein schlim-mer Tag gewesen sein.«

»Ja.«»Hier. Nimm das.«Sein knochiger Arm tauchte auf, mit einer Schnapsflasche in

der Hand. Ich griff danach und trank ein wenig, jedoch mehr

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aus Höflichkeit als aus sonst einem Grund. Eine steife Brise wehte durch mein Zimmer, brachte die Seiten der Bücher auf dem Tisch in Aufruhr und versetzte das verblichene Bild an der Wand in wilde Schwingungen. »Wie war die Trauerfeier?«, fragte Michael.

»Eindrucksvoll. So, wie man es erwarten würde. Aber da waren nur wir, diese ausländischen Staatsoberhäupter und ein paar berühmte Leute. Es hätte mehr Familie dabei sein müssen. Ich habe gemerkt, wie traurig Leo deswegen war.«

»Und ich verrate dir jemanden, der auch nicht dort war: der alcyrische Präsident.«

»Echt?«Michael lehnte sich gefährlich weit aus dem Fenster und

streckte mir eine Zeitung entgegen. Es war die Ausgabe von morgen; sein Vater ging jeden Tag zum Ende der Straße, um sie gleich um zehn von der Druckerei zu holen. Die ersten sieben Seiten widmeten sich ausschließlich Aldebarans Beerdigung. Michael hatte einen einzelnen Absatz unterstrichen: »Der selbst ernannte Befehlshaber Alcyrias, General Marlan von der Neuen Imperialordnung, glänzte durch Abwesenheit. Viele deuten dies als ein Zeichen der wachsenden Feindseligkeit der neuen alcy-rischen Regierung gegenüber ihren Nachbarn.«

»General Marlan?«, echote ich. »Aldebaran hat ihn gehasst; er hätte ihn nicht dabeihaben wollen.«

»Trotzdem hätte er dort sein müssen. Immerhin sind alle an-deren gekommen. Sogar ein paar Präsidenten aus dem Westen und der Kronprinz von Marcovy.«

»Ich weiß.«»Und jetzt, wo Aldebaran tot ist, was soll Marlan da noch

daran hindern, in jedes x-beliebige Land auf dem Kontinent einzumarschieren? Das würde ich wirklich gern wissen.«

»Das wird nicht passieren«, beschwichtigte ich ihn mit denselben Worten, die Aldebaran stets gebraucht hatte. Aller-dings war die Zeitung da anderer Meinung. Auf mehreren Sei-

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ten wurde die Frage diskutiert, wie hoch die Chancen für eine Kriegserklärung Alcyrias standen und ob die Neue Imperial-ordnung in Malonia Unruhen auslösen könnte. In jedem Land auf dem Kontinent hatten sie Anhängergruppen, die in Fan-tasieuniformen herummarschierten, Kundgebungen abhielten und ihre Partei bei jeder Wahl mit dem Spruchbanner »Freiheit und Gerechtigkeit« unterstützten.

»Ich glaube, dass sie es waren«, murmelte ich. »Ich glaube, dass die Imperialordnung dahintersteckt.«

»Darum ist mein Vater auch so wütend geworden«, erklärte Michael. »Zumindest war es mit ein Grund. Übrigens bringt man Joseph Marcus Sawyer mit General Marlan in Verbindung. Es ist allgemein bekannt, dass Sawyer zu Luciens Regierung ge-hörte. Er ist also keine gute Wahl als oberster Ratgeber. Was sich der König dabei bloß gedacht hat?«

»Ich habe deinen Vater noch nie so aufgebracht gesehen.«»Nein, ich auch nicht. Er hat heute Abend davon gesprochen,

das Land zu verlassen.«»Meint er das ernst?«»Ich weiß es nicht. Aber er will nicht noch einen Krieg mit-

erleben.« »Was ist mit dir? Was hältst du davon?«»Vielleicht ist es gar nicht so verrückt, wenn man darüber

nachdenkt wegzugehen – jetzt, wo Aldebaran nicht mehr lebt. Mein Vater war im Widerstand, das weiß jeder. Und auch aus Alcyria flüchten Menschen.«

»Ja, ich weiß.« Wir hatten ein paar von ihnen gesehen, als sie gerade in der Malonia-Stadt angekommen waren – ihre Hab-seligkeiten auf Karren geladen und mit einem Ausdruck der Benommenheit in den Augen, als würden sie darauf hoffen, endlich aus einem schlimmen Traum zu erwachen. »Ich weiß«, bestätigte ich wieder. »Aber wohin würdet ihr denn ziehen? Ist das wirklich dein Ernst, Michael?«

Anstatt zu antworten, seufzte er nur und wechselte das

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Catherine Banner

Die Kinder von MaloniaRoman

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 480 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-37757-2

Blanvalet

Erscheinungstermin: Mai 2011

Anselm Andros befindet sich auf der Flucht vor Rebellen, die den rechtmäßigen König Ryanstürzen wollen. Denn sein gerade geborener Bruder ist der prophezeite Nachfolger desHerrschers. Um diesen zu schützen, hofft Anselm auf die Hilfe seines Ziehvaters Leo North, derauch schon König Ryan dabei unterstützt hat, die Herrschaft anzutreten. Da erfährt Anselm,dass sein leiblicher Vater der verbissendste Gegner von Ryan war – und dass Leo North ihngetötet hat.