chlorgas-vergiftungen, berufliche

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Vergiftungsfitlle. -- 145 -- A 349 Chlorgas-Vergiftungen, berufliche. Bericht yon W. David, St~dtisches Krankenhaus, Tilsit. Das meistens auf elektrolytischem Wege gewonnene Chlorgas wird zu chemisch-technischen Zwecken vielfach gebraucht, nachdem es bis zur Verfliissigung verdichtet, in Kesselwagen gefiillt ist und so auf der Bahn zur Weiterverarbeitung in die Fabriken versandt Wird. In der Zellstoff- und Papierindustrie wird Chlor zum Bleichen der Zellulose gebraucht. In einer solchen Zellstoffabrik (in T.) erfolgte am 19. XI. 1932 auf dem AnschluBgeleis durch die Besch~digung des Ventils eines mit fliissigem Chlor gefiillten Kesselwagens ein Ausstr~men yon Chlorgas, durch das sich 18 WerksangehSrige der Fabrik sowie 9 Personen v0n Schiffsbesatzungen Gasvergiftungen zuzogen und in das St~dtische Kmnkenhaus eingeliefert werden muBten. Der Unfall hatte sich dadurch ereignet, dab der betreffende mit Chlor gefiillte Kesselwagen nicht mit der Lokomotive gekuppelt zur Fabrik iiberfiihrt worden war, sondern auf einem abschiissigen AnschluB- geleise abgestoBen wurde, so dab schon am Eingang zur Fabrik der allein laufende Wagen eine erhebliche Geschwindigkeit erreicht hatte. Der auf dem Wagen befindliche Bremser vermochte den Wagen nicht mehr recht- zeitig abzubremsen, so dab er auf einen fahrbaren schr~ stehenden Kran auflief. Durch den Anprall brach ein Ventil des Kesselwagens ab und etwa 3000 kg Chlorgas str~mten aus, ehe es gelang, die 0ffnung durch Einschlagen eines Zapfens abzudichten. Der Wind stand insofern giinstig, als er die Gaswolke yon der in anderer Richtung sich anschlieBen- den Stadt abdrangte. Das auf dem Terrain t~tige Betriebspersonal hatte aber, um aus der Giftzone herauszukommen, nur den Weg durch die Gasschwaden, da auf tier anderen Seite die Memel das Ausweichen ver- hinderte. 10 hlinuten spater konnte die mit Gasschutzgeraten ausge- riistete Feuerwehr die VentilSffnung schlieBen. Chlorgas reizt bekanntlich heftig die Lungen bzw. die Alveolen- w~nde. In die Lungen strSmt mehr Biut ein und Blutfliissigkeit tritt aus den GefaBen in die Alveolen. GroBe Teile der Lungen werden so mit Fliissigkeit angefiillt und ihrer physiologischen Tatigkeit entzogen. Die Fliissigkeitsschicht zwischen Luft und Lungenkapillaren behindert die Atmung -- das klinische Bild des Lungen~dems. Sauerstoffmangel und Blutverlust fiihren zu schweren Schadigungen, besonders seitens des Kreislaufs. Das Herz erlahmt sehr schnell und in den Gef~Ben kommt es zu Thrombenbfldung.

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Page 1: Chlorgas-Vergiftungen, berufliche

V e r g i f t u n g s f i t l l e .

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A 349

Chlorgas -Verg i f tungen , berufl iche.

Bericht yon W. David , St~dtisches Krankenhaus, Tilsit.

Das meistens auf elektrolytischem Wege gewonnene Chlorgas wird zu chemisch-technischen Zwecken vielfach gebraucht, nachdem es bis zur Verfliissigung verdichtet, in Kesselwagen gefiillt ist und so auf der Bahn zur Weiterverarbeitung in die Fabriken versandt Wird. In der Zellstoff- u n d Papierindustrie wird Chlor zum Bleichen der Zellulose gebraucht.

In einer solchen Zellstoffabrik (in T.) erfolgte a m 19. XI. 1932 auf dem AnschluBgeleis durch die Besch~digung des Ventils eines mit fliissigem Chlor gefiillten Kesselwagens ein Ausstr~men yon Chlorgas, durch das sich 18 WerksangehSrige der Fabrik sowie 9 Personen v0n Schiffsbesatzungen Gasvergiftungen zuzogen und in das St~dtische Kmnkenhaus eingeliefert werden muBten.

Der Unfall hatte sich dadurch ereignet, dab der betreffende mit Chlor gefiillte Kesselwagen nicht mit der Lokomotive gekuppelt zur Fabrik iiberfiihrt worden war, sondern auf einem abschiissigen AnschluB- geleise abgestoBen wurde, so dab schon am Eingang zur Fabrik der allein laufende Wagen eine erhebliche Geschwindigkeit erreicht hatte. Der auf dem Wagen befindliche Bremser vermochte den Wagen nicht mehr recht- zeitig abzubremsen, so dab er auf einen fahrbaren schr~ stehenden Kran auflief. Durch den Anprall brach ein Ventil des Kesselwagens ab und etwa 3000 kg Chlorgas str~mten aus, ehe es gelang, die 0ffnung durch Einschlagen eines Zapfens abzudichten. Der Wind stand insofern giinstig, als er die Gaswolke yon der in anderer Richtung sich anschlieBen- den Stadt abdrangte. Das auf dem Terrain t~tige Betriebspersonal hatte aber, um aus d e r Giftzone herauszukommen, nur den Weg durch die Gasschwaden, da auf tier anderen Seite die Memel das Ausweichen ver- hinderte. 10 hlinuten spater konnte die mit Gasschutzgeraten ausge- riistete Feuerwehr die VentilSffnung schlieBen.

Chlorgas reizt bekanntlich heftig die Lungen bzw. die Alveolen- w~nde. In die Lungen strSmt mehr Biut ein und Blutfliissigkeit tritt aus den GefaBen in die Alveolen. GroBe Teile der Lungen werden so mit Fliissigkeit angefiillt und ihrer physiologischen Tatigkeit entzogen. Die Fliissigkeitsschicht zwischen Luft und Lungenkapillaren behindert die Atmung -- das klinische Bild des Lungen~dems. Sauerstoffmangel und Blutverlust fiihren zu schweren Schadigungen, besonders seitens des Kreislaufs. Das Herz erlahmt sehr schnell und in den Gef~Ben kommt es zu Thrombenbfldung.

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Zwei Drittel der eingelieferten Kranken wiesen sehr heftige Reiz- erseheinungen seitens der Atemwege sowie eine stark besehleunigte Atmung und starke Zyanose auf. An den Augen waren die Erscheinungen ~eringer. Die Kranken husteten stark und manehe verglichen ihre Ver- giftung mit Erlebnissen, wie sie sie aus der Kriegszeit in Erinnerung hatten. Der Resorptionseffekt des Gases schien eine animierte Stimmung hervorzurufen, wenigstens liel~ ein gewisser Rededrang auf etwas der- artiges sehliel~en. Neben Hustenreiz und Atemnot klagten einige fiber ein Beklemmungsgefiihl mit Angstvorstellungen. Die Herzauskultation ergab niehts besonderes. Manche warren in den ersten Tagen ein zwet- sehenbrfihartiges Sputum aus. Einige Patienten entfernten sich naeh Abklingen der ersten Erseheinungen heimlich. Einer bekam noch sp~ter starke Atemnot (beginnendes LungenSdem) und es zeigte sieh wieder, wie wichtig es ist, dab alle, die ein Lungenreizgas eingeatmet haben, als vergiftet zu gelten haben und nieht vorzeitig naeh Hause zu entlassen sind. Daher wurde auch allen Kranken mit Atemnot, Unruhe und heftigem Husten ein Aderlal~ gemacht, sowie Kampfer, Strophanthinum eompositum und Sauerstoff zugef~ihrt. Naeh diesen ~Ial~nahmen b0t der Krankensaal ein weit besseres Bild: es trat Ruhe ein und der Husten- reiz liel] naeh.

Die weitere Behandlung bestand in Expektorantien, MentholSlin- halation und Bromgaben. Der Blutdruck bewegte sieh meist um 100 mm maximal, der H~moglobingehalt betrug zwischen 85 und 100%. Bei einigen Kranken trat in den n~ehsten Tagen Fieber (38,5 o) mit sehleimig~ eitrigem Auswurf auf; bei anderen blieb das Beklemmungsgef~ihl auf der Brust, andere klagten fiber Schwindel und Kopfschmerz an verschiedenen Stellen. Das Augentranen 1;.el~ im allgemeinen schnell nach, nur bei zweien kam es zu st~rkerer Sekretion, Sehmerzen, Lidkrampf und Sehwellung der Lider oder Schleierbildung. Einige Vergiftete zeigten ein pathologisehes Harnsediment mit Erythrocyten. Bei einem Patienten fanden sich bronchopneumonische Herde mit sekund~rer Pleuritis ex- sudativa. W~hrend bei den fibrigen u die aufgenommenen Elektrokardiogramme ka~m Besonderheiten boten, war bei diesem Patienten deutlich eine u des S-T-Zwisehenstiiekes unter die isoelektrische Linie zu sehen; dasselbe Bild zeigte sich nach 5 Woehen. In der zweiten Fieberperiode lielten sich die erwahnten bronchopneu- monisehen Herde naehweisen sowie eine exsudative Pleuritis. Im Aus- wurf Spuren Blut; Leukoeytenzahl des Blutes 11800, davon 18% stab- kernige. Bronehopneumonie und P!euritis heilten ohne Defekt ab. Bei dem Kranken hatte es sich um einen frisehen Koronarinfarkt gehandelt.

(Ausffihrlieher Bericht in ~Ied. Klin. 1933, Nr 6, S. 184.) Referent: C. Baehem, Bonn.