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Christian Stoll Die Öffentlichkeit der Christus-Krise

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Christian Stoll

Die Öffentlichkeit der Christus-Krise

Christian Stoll

Die Öffentlichkeit der Christus-Krise

Erik Petersons eschatologischer Kirchenbegriff im Kontext der Moderne

Mit einem Vorwort von

Hans Maier

Ferdinand Schöningh

Umschlagabbildung:

John Singer Sargent, Interior of Hagia Sophia (1891)

Speed Art Museum Louisville (USA)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen

Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-506-78628-9

INHALT

Vorwort von Hans Maier ............................................................................ 11

Einleitung ................................................................................................. 15

A. Im „Laboratorium der klassischen Moderne“: Kirchlicher Aufbruch und Christozentrik als Krisendiskurse ............................................................................. 23

I. Die Modernisierung der Theologie in der Weimarer Zeit ............... 24

1. Was bedeutet Modernisierung der Theologie? ............................ 24

2. Modernisierungstheoretische Deutungen der Weimarer Theologiegeschichte ............................................ 26

II. Modernisierungstheoretische Signaturen des ekklesiologischen Aufbruchs ................................................... 32

1. Protestantismus und Katholizismus in Deutschland nach 1918 .......................................................... 33

2. Das politische Denken der Weimarer Zeit und das Scheitern der Republik .................................................. 42

3. Der ekklesiologische Aufbruch als Krisendiskurs – eine modernisierungstheoretische Skizze ................................ 48

III. Christozentrik als Mittel theologischer Modernisierung ............................................................................ 53

1. Christozentrik als Modernisierungsprogramm ........................... 53

2. Krisis und Krise: die Doppelkodierung des Krisenbegriffs in der Theologie Karl Barths ....................... 57

3. Konturen katholischer Christozentrik: Balthasars Buch über Karl Barth ................................................ 60

INHALTSVERZEICHNIS 6

B. „Zwischen den Zeiten“ – Erik Peterson als Krisentheologe ............................................................................. 65

I. „Krisenrede“: Genus, Stil und theologischer Charakter der Schriften Petersons ............................ 67

1. Prophetische Theologie als charismatische Schriftauslegung und Gerichtsrede ............................................ 70

2. Dogmatik als theologische Sprachform: der systematische Charakter der Theologie und die Krise der Offenbarung ................................................... 79

3. Schauende Theologie: Peterson als Mystiker und Phänomenologe? .............................. 90

4. „Antihistorische Revolution“? Petersons Krisentheologie und die Geschichte ........................ 106

II. Kirche aus der Krise: Peterson und Adolf v. Harnack .................................................... 122

1. „Von dem Duft einer leeren Flasche“ – die evangelische Kirche nach 1918 .......................................... 124

2. Auf der Suche nach einem Surrogat der alten Staatskirche? .............................................................. 129

3. Eschatologischer Realismus: die offenbarungstheologische Dimension des Privatisierungsvorwurfes ................................................... 134

4. Der „spezifisch kirchliche Öffentlichkeitsbegriff“ als doppeltes Krisenphänomen ................................................. 140

INHALTSVERZEICHNIS

7

III. Kirche als oder unter der Krise? Peterson und Karl Barth ............................................................. 144

1. Vom rechten Ernstnehmen der Offenbarung: die Kontroverse um „Was ist Theologie?“ ............................... 146

2. Offenbarungswissen: Petersons Radikalisierung der Barthschen Krisentheologie im Thomaskolleg .................. 152

3. Anschauliche Krise: die ekklesiologisch-politische Stoßrichtung der Kritik an Barth .............................................. 166

IV. Öffentlichkeit als Bildgestalt der Krise: Peterson und Carl Schmitt .......................................................... 178

1. Schmitts Konzept repräsentativer Öffentlichkeit und Petersons „altchristlicher Kirchenbegriff“ ........................ 180

2. Repräsentation der Christus-Krise oder mythologische Verkörperung des Politischen? ................ 199

3. Der „trotzig und plastisch hervortretende“ Christus: der Monotheismus-Traktat als krisentheologisches Manifest ................................................... 212

4. Gegenöffentlichkeit: das Echo Schmitts in Petersons apokalyptischen Schriften .................................... 235

C. Die Öffentlichkeit der Christus-Krise – eine systematische Zusammenschau ............................. 249

I. Die werkgenetische Konjunktur des Öffentlichkeits- begriffs und einer krisenförmigen Offenbarungs- theologie ........................................................................................ 251

1. Periodisierung des Werkes mit dem Öffentlichkeitsbegriff ............................................................... 251

2. Steigerungen des Bildhaften: Wandel und Variation der offenbarungs- theologischen Grundstruktur .................................................... 257

INHALTSVERZEICHNIS 8

II. Christus im Raum seines Volkes: Grundparadigma der kirchlichen Öffentlichkeit .......................... 273

1. Die Christus-Krise zwischen Akt und Bild: zur kosmischen „Christologie“ in Petersons Schriftauslegungen ................................................... 274

2. Der Ruf der ekklesía: die Kirche als Bürgerversammlung der Himmelsstadt .................................... 304

3. Die Räumlichkeit der Kirche .................................................... 315

III. Öffentliches Darstellen und Handeln: die irdische Kirche im Vollzug .................................................. 321

1. Sichtbare und unsichtbare Kirche: das kirchliche Amt und die Himmelsstadt ............................... 321

2. Rechtsvollzüge und Kultakte im liturgischen Paradigma der irdischen Kirche ........................... 332

3. Engel und Zeugen: Ergänzungen aus dem mystischen und apokalyptischen Themenkreis ........................ 342

IV. Krisis des Kosmos: das Außenverhältnis der Kirche ................................................. 345

1. Die Erlösung des kosmischen und äonischen Menschen ......................................................... 345

2. Gericht als Entsprechung oder Destruktion? Die Christus-Krise und die politische Ordnung ....................... 349

INHALTSVERZEICHNIS

9

D. Der Beitrag Erik Petersons zum katholischen Diskurs über die Kirche in der Moderne .............................. 369

I. Rückblick ...................................................................................... 371

1. Systematische Zusammenfassung ............................................ 371

2. Ausblendung oder Ausschluss? Zum Umgang mit den Leerstellen in Petersons Konzeption ........................................................... 382

II. Ungleichzeitigkeiten: Erik Peterson und der konziliare Diskurs über die Kirche ................................. 387

1. Die Gegenläufigkeit zweier moderner Kirchendiskurse ....................................................... 387

2. Zur Aktualität Petersons fünfzig Jahre nach dem Konzil ................................................. 391

III. Unterwegs zu einem neuen Begriff kirchlicher Öffentlichkeit ............................................................ 397

1. Das vormoderne Paradigma: Kirche als staatsanaloge Öffentlichkeit .................................... 397

2. Das moderne Paradigma: Kirche als Teil der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ................................. 404

3. Zur Fortschreibung des Petersonschen Öffentlichkeitsbegriffs ............................................................. 412

Literaturverzeichnis ................................................................................ 421

Personenregister ..................................................................................... 447

Danksagung .............................................................................................. 453

VORWORT

Erik Peterson (1890-1960), aus Hamburg gebürtiger Patrologe und Histo- riker, einer Familie mit schwedisch-französischem Hintergrund entstam- mend, war noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland ein Geheimtipp. Allenfalls Fachtheologen kannten und schätzten seine „Theologischen Trakta-te“, und Historiker sahen in seinem „Briefwechsel mit Harnack“ eine wichtige Quelle für den Protestantismus der Weimarer Zeit. Einige Kenner wussten wohl auch von seiner Kontroverse mit Carl Schmitt. Von Angesicht hatten ihn aber nicht viele gesehen – kein Wunder, da er, nach einer Zeit als evangeli-scher Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament in Bonn (1924-1929), in den dreißiger bis fünfziger Jahren als Konvertit hauptsächlich in Rom lebte und wissenschaftlich arbeitete. Die meisten, die mit ihm in Berüh-rung gekommen waren, dachten wohl auch, er habe nur ein schmales Oeuvre hinterlassen. Kurz, sein Leben und Wirken schlug keine größeren Wellen.

Peterson war nur wenigen bekannt. Doch wer ihn hörte und kennenlernte (ich hatte als Student Gelegenheit in Freiburg 1951), der war von ihm faszi-niert. Ich las seine „Theologischen Traktate“, die 1951 erschienen. Seither lässt mich der Name Erik Peterson nicht mehr los. Und so schreibe ich gern ein Vorwort zu diesem Buch – dem jüngsten Zeugnis des rasch gewachsenen Forschungsinteresses für den hamburgisch-römischen, protestantisch-katho-lischen Theologen.

Denn der Unbekannte, oft Verkannte ist inzwischen zu einer wichtigen Figur der gegenwärtigen Theologie aufgestiegen – nicht als planvoller Syste-matiker (das wollte er nie sein), sondern eher als ein in die Tiefen der Ge-schichte hinabsteigender, an unerwarteten Stellen plötzlich zugreifender Entdecker. Wer redet heute nicht vom „eschatologischen Vorbehalt“? Das Wort geht auf Peterson zurück. Wer begegnet seinem Namen nicht bei der internationalen Diskussion über den Begriff „Politische Theologie“? Sein umfangreiches Werk liegt mittlerweile in neun Bänden ausgewählter Schriften im Echter Verlag in Würzburg vor. Es reicht von der klassischen Archäologie bis zur biblischen Exegese, von der Patrologie bis zur neueren Kirchen- und Zeitgeschichte. Führende evangelische und katholische Theologen haben sich an der Edition beteiligt. Grundlage war Petersons Nachlass in der Universität Turin, die „Bibliotheca Erik Peterson“ mit ihren Büchern, Manuskripten und sonstigen Papieren – und den Hauptanstoß zur Erschließung verdanken wir (auf Anregung Karl Lehmanns) der Mainzer Theologin Barbara Nichtweiß.

Barbara Nichtweiß hat auch das Buch geschrieben, das eine „Neue Sicht auf Leben und Werk“ des Theologen eröffnete: „Erik Peterson“ (1992). Ihrer umfangreichen, mit 25 Exkursen angereicherten Biographie sind inzwischen weitere Peterson-Studien gefolgt: so die beiden Sammelbände „Vom Ende der Zeit. Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson“ (2001), hg. von Barbara Nichtweiß, sowie „Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines

VORWORT VON HANS MAIER 12

Outsiders“ (2012), hg. von Giancarlo Caronello; dann die Untersuchungen von Kurt Anglet, „Der eschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur Erik Petersons“ (2001) und von Roger Mielke, „Eschatologische Öffentlichkeit. Öffentlichkeit der Kirche und Politische Theologie im Werk von Erik Peterson“ (2012) – um nur einige wenige zu nennen.

In diese Spur der Forschung reiht sich auch das vorliegende Buch ein – eine Wiener theologische Dissertation, die unter der Obhut von Jan-Heiner Tück und Werner Löser entstanden ist. Sie will ein Gesamtbild des Theologen Peterson entwerfen, und sie wählt mit einiger Kühnheit als Schlüssel hierzu den Begriff der „Christus-Krise“ – einen Begriff, der seine Nähe zur dialekti-schen Theologie nicht verleugnet. Dies ist der Ausgangspunkt der Arbeit – Stoll deckt das „barthische“ Prinzip in Petersons Denken auf, dem er eine lebenslang anhaltende Wirkung auf sein Werk zuschreibt. Der Zielpunkt der Untersuchung Stolls liegt – in ökumenischer Parallelität – auf der „anderen Seite“: es ist der Versuch, eine Verbindung zu schaffen zwischen Petersons Konzeption der im Licht der Christus-Krise gesehenen Geschichte einerseits und der katholischen Ekklesiologie nach dem Zweiten Vaticanum anderseits. Mit anderen Worten: Stoll nutzt die protestantische Herkunft der Peterson- schen Theologie auch für deren katholische Aneignung; er macht deutlich – ohne das Faktum der Konversion zu leugnen –, wie sehr dieser frühe Grund-ansatz das Ganze seines theologischen Werks beherrscht.

Stolls Studie macht in allen Teilen klar, wie sehr die „Christus-Krise“ Pe-tersons Blick auf die gesamte Geschichte von den Anfängen bis zur Gegen-wart geprägt hat. Auch der Einspruch des Theologen und Kirchenhistorikers gegen den Nationalsozialismus, seine Kritik am Kirchenbild der Deutschen Christen, zuerst geäußert in dem Aufsatz „Die neueste Entwicklung der protestantischen Kirche in Deutschland“ (Hochland Oktober/ November 1933), erschließt sich von daher. Peterson wendet sich gegen die Übertragung politischer Begriffe auf die protestantische Kirche, gegen den Versuch, ihr eine an „Reich“, „Volk“, „Führer“ angelehnte Struktur zu geben. Er betont, dass „neben dem staatlichen Recht [...] das Recht der Apostel und das der Kirche“ steht. Er appelliert an die Katholiken, sich nicht in ähnlicher Weise an Geschichte, Sprache, Politik eines Volkes zu binden, sondern an ihrer überna-tionalen Verfassung festzuhalten, da sich die Botschaft Christi an alle Men-schen richte und die Verkündigung nicht an eine spezifische Sprache gebun-den sei, Kirche vielmehr im Wunder des Pfingstfests aus dem Heiligen Geist erstehe.

Noch grundsätzlicher wird diese Haltung in dem zu Recht berühmt gewor-denen Traktat „Der Monotheismus als politisches Problem“ (1935) begründet, in dem Peterson – gegen Carl Schmitt – die Forderung nach dem „Bruch mit jeder ‚politischen Theologie’[...], die die christliche Verkündigung zur Recht-fertigung einer politischen Situation missbraucht“, erhebt. Man darf diese These heute im Licht des Petersonschen Gesamtwerks, vor allem seiner schriftauslegenden und historischen Arbeiten, allgemeiner fassen – dann

VORWORT VON HANS MAIER

13

bedeutet sie, dass der christliche Glaube die im Altertum selbstverständliche Einheit von Religion und Politik auflöst, dass er – im Blick auf den weltjensei-tigen Gott – die antiken Staatskulte überwindet, dass er die Politik als Feld des Menschen freigibt. Neben die Polis, die Civitas – die „Kirchen“ der antiken Religion – tritt die christliche Gemeinde als Volk der Erlösten; sie verweigert dem Kaiser den Götterkult und stellt im Namen Gottes die Eigenmacht irdischer Herrscher „zur Schau“.

Politik wird so im christlichen Äon im radikalen Sinn zu „Menschenwerk“. Denn sie ist, wie das Irdische überhaupt, geschaffen, endlich, vorläufig. Nimmt man den „eschatologischen Vorbehalt“ ernst, kann sie kein „Letztes“ sein. Damit verschwindet nicht nur die faktische „Verkettung mit dem Imperi-um Romanum“ (Peterson) oder mit anderen privilegierten politischen Formen, sondern auch die Möglichkeit, solche Symbiosen mit Hilfe einer „politischen Theologie“ zu rechtfertigen. Und die modernen Totalitarismen erscheinen in diesem Zusammenhang als Rückfälle in überlebte Gottesbegriffe und Weltbil-der – in eine „Redivinisierung“ (Eric Voegelin) des modernen Staates, die dem Gebot christlicher Säkularität nicht standhält.

Die Arbeit von Christian Stoll lädt jedoch nicht nur zu theologischen Gip-felwanderungen ein. Sie bietet auch ein breites Panorama kirchlicher – katho-lischer wie evangelischer – Zeitgeschichte, das man mit Interesse und Gewinn zur Kenntnis nimmt. Mit kritischem Sinn wertet der Verfasser die historisch-politische Literatur zur Weimarer Republik und zum Protestantismus und Katholizismus in dieser Zeit (u.a. Bracher, Breuning, Dahlheimer, Graf, Lutz, Sontheimer) aus. So weitet sich die Theologiegeschichte unter seiner Hand zur Kirchen- und Epochengeschichte. Dabei präsentieren die großen Dialoge Petersons mit Adolf von Harnack, Karl Barth und Carl Schmitt, die Stoll ausführlich referiert, nicht nur sachlichen Aufschluss – sie bieten an vielen Stellen ein ausgesprochenes Lesevergnügen.

Hinzu kommt die besondere Sensibilität des Verfassers für Petersons ei-genwilligen Stil. Wie schreibt ein durch die „Christus-Krise“ Betroffener und Gezeichneter, der sich gleichwohl in Reden und Schriften „objektiv“ äußern und auch Anders- und Nichtgläubigen verständlich machen will? Genügt die wissenschaftliche Rede? Es verwundert nicht, dass Peterson neben Vorlesun-gen, Untersuchungen, Traktaten, Rezensionen, Miszellen und Briefen auch Erzählungen, Bekenntnisse, Gebete („Der Himmel des Garnisonspfarrers“, „Als ich gestorben war“, „O, mein Gott, aus dem Lärmen des Lebens...“) geschrieben hat. Auch sie gehören zum Gesamtbild des Hamburger Gottesge-lehrten, den nach eigenem Bekenntnis das Evangelium in Gestalt der Gehei-men Offenbarung von Kindheit an in seiner Ruhe störte – und der seinerseits ein Leben lang nicht aufhörte, die theologischen Kollegen aus ihrer Ruhe zu schrecken.

Will man Erik Peterson, den Meister des Aphorismus, selbst auf eine apho-ristische Formel bringen, so könnte man sagen: Wenn Ernst Troeltsch vor dem Ersten Weltkrieg erklärte, das eschatologische Büro der Theologie sei „heut-

VORWORT VON HANS MAIER 14

zutage zumeist geschlossen“ (Glaubenslehre, nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912 hg. von Gertrud von le Fort, 1925, S. 36), so hat es Erik Peterson aufs neue (und wohl dauerhaft) wieder geöffnet.

Aber man lese das alles in aller Ruhe in Christian Stolls spannender und aufschlussreicher Studie nach!

HANS MAIER

EINLEITUNG

Der Theologie Erik Petersons war seit der Weimarer Zeit eine stark schwan-kende Aufmerksamkeit beschieden. In den zwanziger Jahren hatte der protes-tantische Bibelwissenschaftler und Kirchenhistoriker Lehrstühle in Göttingen und Bonn inne und war in einige weithin beachtete theologische Auseinander-setzungen – vor allem mit Karl Barth und Adolf von Harnack – verwickelt. 1930 hatte er sich in die katholische Kirche aufnehmen lassen und war nach Rom übersiedelt, wo er unter widrigen Umständen eine wachsende Familie ernähren musste. Als Konvertit und Laie befand er sich damit kirchlich und akademisch im Abseits.1 Dennoch ist es Peterson gelungen, durch einige pointierte Vorträge und Aufsätze, die quer zum völkisch-nationalen Zeitgeist standen, in der katholischen Welt Gehör zu finden.2 Während er nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich wieder in eine gesicherte akademische Stellung kam, zog er sich überwiegend auf philologische Studien zurück, die nur von Spezialisten rezipiert wurden.3 Dass er sich gleichzeitig überzeugen ließ, seine früheren theologisch gehaltenen Aufsätze in zwei Bänden, den „Theologi-schen Traktaten“ und den „Marginalien zur Theologie“, noch einmal zu publizieren, hat ihn vor dem Vergessen bewahrt.

Dennoch wurde es in Deutschland4 nach seinem Tod im Jahr 1960 schnell still um den streitbaren Gelehrten. Er hat keine unmittelbaren Schüler hinter-lassen und auch sein schmales publiziertes Werk eignete sich kaum zur systematischen Fortführung. Im Hintergrund wirkten seine pointierten Ein-sprüche zwar durchaus weiter. Dies gilt insbesondere für seine kryptische Auseinandersetzung mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt in dem Traktat „Der Monotheismus als politisches Problem“5, der Ende der sechziger Jahre eine eigene Wirkungsgeschichte in der Diskussion um die „Neue Politische Theo-logie“ entfaltete6 und schließlich gar den greisen Schmitt zu einer letzten scharfen Replik auf den bereits verstorbenen Theologen führte,7 die Petersons Namen auch über die Theologie hinaus präsent hielt. Dies änderte jedoch nichts daran, dass über Petersons theologische Positionen kaum mehr bekannt war, als aus den beiden Sammelbänden entnommen werden konnte. Das

1 Siehe dazu Barbara NICHTWEIß, „Auswanderung um des Glaubens willen“. 2 Besonders Erik PETERSON, Die Kirche aus Juden und Heiden; DERS., Christus als Imperator;

DERS., Zeuge der Wahrheit; DERS., Von den Engeln. 3 Erik PETERSON, Frühkirche, Judentum, Gnosis. 4 Eine eigene, nie ganz abgerissene Wirkungsgeschichte hat Petersons Werk in Italien durch-

laufen. Siehe dazu Giancarlo CARONELLO, Zur Rezeption Petersons in Italien. 5 Erik PETERSON, Der Monotheismus als politisches Problem. 6 Hans MAIER, Kritik der Poltischen Theologie; Jürgen MOLTMANN, Theologische Kritik der

Politischen Religion; Ernst FEIL, Von der ‚politischen Theologie‘ zur ‚Theologie der Revolu-tion‘?; Karl LEHMANN, Die ‚politische Theologie‘.

7 Carl SCHMITT, Politische Theologie II.

EINLEITUNG 16

Potenzial Petersons schien nach eingehender Beleuchtung der Kontroverse mit Schmitt ausgeschöpft.8

Der nach dem Krieg ebenfalls konvertierte protestantische Neutestamentler Heinrich Schlier, ein enger Weggefährte Petersons, wusste, dass dieser kein systematischer Kopf war, der in der Lage gewesen wäre, heimlich theologi-sche Summen auszuarbeiten. Schlier mutmaßte in seinem Nachruf jedoch, dass Peterson in seinen exegetischen Vorlesungen manche theologische Linie breiter ausgezogen haben könnte und sich hieraus theologisch schöpfen ließe.9 Dass dem tatsächlich so ist, hat die 1992 erschienene, von Karl Lehmann angestoßene Dissertation von Barbara Nichtweiß schließlich bestätigt. Nicht-weiß hat den in Turin aufbewahrten Nachlass Petersons erstmals ausgewertet und in ihrer Studie einen reichen Einblick in die Fülle der unveröffentlichten Texte Petersons gewährt.10 In der Folge hat sie eine Auswahledition des Nachlasses begonnen, die inzwischen weitgehend abgeschlossen ist.11

Dies hat zu einer Renaissance Petersons in den letzten zweieinhalb Jahr-zehnten geführt. Der Vielfalt der Themen und methodischen Zugänge in Petersons Werk entspricht dabei eine große Bandbreite an neuen Forschungs-arbeiten zu seinen nachgelassenen Texten. Sie reichen von biographischen und zeitgeschichtlichen Beiträgen, über Würdigungen Petersons als Bibelwissen-schaftler, Patrologe und Religionsgeschichtlicher bis hin zu systematisch-theologischen Studien über einzelne Themenfelder.12

Eine solche Vielfalt an Zugängen ist durch die Vielgestaltigkeit des Werkes selbst gedeckt. Ob es so etwas wie eine theologische Mitte im Werk Petersons gibt, scheint zunächst zweifelhaft. Selbst wenn man die eher philologischen Beiträge ausklammert und sich auf die im engeren Sinne theologischen Texte Petersons beschränkt, lassen sich zwar bestimmte Themen benennen, auf die er immer wieder zurückkommt: das Dogma, die Mystik, die Engel, die Kirche, das Politische, die Liturgie, das Judentum usw. Der Versuch, Petersons Bemühungen auf all diesen Gebieten zu bündeln, scheint jedoch angesichts der Sprunghaftigkeit und elliptischen Kürze seiner Texte von vornherein zum Scheitern verurteilt.13

Gleichwohl sind solche Bündelungsversuche immer wieder unternommen worden. Jean Daniélou etwa hat schon früh von drei thematischen Linien im Werk Petersons gesprochen: einer mystischen, einer liturgischen und einer 8 Siehe Alfred SCHINDLER (Hrsg.), Monotheismus als politisches Problem?. 9 Vgl. Heinrich SCHLIER, Erik Peterson. 10 Barbara NICHTWEIß, Erik Peterson. 11 Neben einem Wiederabdruck des Bandes Frühkirche, Judentum und Gnosis ist noch ein Band

mit späten Texten im Umkreis des Kirchenthemas zu erwarten. 12 Einen Eindruck von dieser Vielfalt geben die beiden großen Tagungsbände von Michael

MEYER-BLANCK (Hrsg.), Erik Peterson und die Universität Bonn; Giancarlo CARONELLO (Hrsg.), Erik Peterson. Eine fortlaufend akualisierte Bibliographie zu Peterson findet sich unter: http://www.bistummainz.de/sonderseiten/epeter/forschung/index.html.

13 Zum Problem, eine systematische Einführung in Petersons Werk zu geben, vgl. Barbara NICHTWEIß, Das Neue durch den Abbruch hindurch schauen, 53-58.

EINLEITUNG

17

politischen.14 Eine größere Zahl von neueren Beiträgen behandelt Petersons Verständnis der eschatologischen Zeit und ihr Verhältnis zu einer „Politischen Theologie“.15 Daneben stehen Beiträge, die Petersons Interesse an der Katego-rie des Dogmas als Plädoyer für eine kirchlich gebundene Theologie verste-hen.16 Versucht man diese Bündelungsversuche zu schematisieren, stößt man auf folgende Struktur: Fokussiert wird zuerst eine betont eschatologische Form von Offenbarungstheologie (I.), die in der spezifischen Gestalt einer Kirche präsent ist (II.) und schließlich eine besondere Außenbeziehung zum Politischen unterhält (III.).17 Mindestens eines der drei Elemente dieses Gefüges findet sich in allen Darstellungen, die beanspruchen, zu Petersons tieferen theologischen Intentionen vorzustoßen.18 Die Mystik lässt sich diesem Gefüge a priori nicht sicher zuordnen. Sie wird zum Teil damit vermittelt,19 zum Teil gesondert behandelt.20

Bereits ein solch formales Schema legt nahe, dass in der Mitte der theologi-schen Bemühungen Petersons die Kirche steht, denn sie ist es, die eine betont eschatologische Offenbarungstheologie und ihre spezifische politisch-theologische Signatur präsent hält und vermittelt. Stützen lässt sich diese Vermutung durch eine weitere äußere Beobachtung. In den drei zentralen, bis heute beachteten Kontroversen, die Peterson in den zwanziger und dreißiger Jahren mit seinen wichtigsten Gesprächspartnern austrug, ging es letztlich um die Kirche: Was in der brieflich geführten Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack offensichtlich ist,21 zeichnet sich auch in der Kontroverse mit Karl Barth ab, die im Umfeld des bekannten Vortrags „Was ist Theologie?“ geführt wurde. An Petersons Verteidigung des kirchlichen Dogmas zeigt sich exemp-larisch seine tiefer liegende Überzeugung, dass eine betont eschatologische Offenbarungstheologie (I.) nur dann zu einem entsprechenden Verhältnis zum Politischen führt (III.), wenn dazwischen die Kirche als sakramentale Vermitt-lungsgestalt der Offenbarung liegt (II). Auch die berühmte Auseinanderset-zung mit Carl Schmitt, die auf der Grundlage des Monotheismustraktates oft

14 Vgl. Jean DANIÉLOU, Préface. 15 Kurt ANGLET, Messianität und Geschichte; DERS., Der eschatologische Vorbehalt I; Barbara

NICHTWEIß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit; DIES., Erik Peterson und die politische Theologie; Christoph SCHMIDT, Apokalyptischer Strukturwandel der Öffentlichkeit; DERS., Die Rückkehr des Katechons; Massimo BORGHESI, Critica della theologia politica. Hierher gehört auch die Auseinandersetzung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben mit Peterson, die inzwi-schen ihrerseits Reaktionen hervorgerufen hat: Giorgio AGAMBEN, Herrschaft und Herrlich-keit. Dazu: Christoph SCHMIDT, Die Rückkehr des Katechons; Benjamin LEVEN, Auf der Spur der Engel.

16 Thomas ERVENS, Keine Theologie ohne Kirche. Aus evangelischer Perspektive siehe Reinhard HÜTTER, Theologie als kirchliche Praktik.

17 Dieses Schema wird deutlich sichtbar in der Studie von Michele PANCHERI, Pensare ‚ai margini‘.

18 Dies gilt neben den genannten auch für die Monographie von Andreas ROBBEN, Märtyrer. 19 So bei Jean DANIÉLOU, Préface, der an Petersons Buch „Von den Engeln“ anschließt. 20 Stefan DÜCKERS, Pathos der Distanz. 21 Erik PETERSON, Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog.

EINLEITUNG 18

auf die Frage reduziert wird, ob die christliche Trinitätslehre eine politische Theologie ausschließt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Auseinanderset-zung um die sichtbare, kirchliche Repräsentation einer eschatologischen Offenbarungstheologie nach der Himmelfahrt Christi. Ironischerweise ist es auch sein Antipode Schmitt, der Peterson den entscheidenden Impuls geliefert hat, um die kirchliche Vermittlungsgestalt einer solchen Offenbarungstheolo-gie auf den Begriff zu bringen: Im Austausch mit ihm gelangt Peterson dazu, von der Kirche als einer Öffentlichkeit zu sprechen.

Dass die Rede von der „Öffentlichkeit der Kirche“ ein Schlüssel zum Werk Erik Petersons ist, hat Barbara Nichtweiß erstmalig gezeigt und dabei auch auf die Parallelen zwischen Schmitts politischen Formprinzipien und Petersons Kirchenbegriff hingewiesen.22 Roger Mielke hat diese These weiter belegt und vertieft. Unter dem Titel „Eschatologische Öffentlichkeit. Öffentlichkeit der Kirche und politische Theologie im Werk Erik Petersons“ hat Mielke das Beziehungsgefüge zwischen eschatologischer Offenbarungstheologie, kirchli-cher Öffentlichkeit und politischer Theologie auf den Punkt gebracht und sich überdies intensiv bemüht, die Konzeption Petersons mit aktuellen protestanti-schen Ansätzen, insbesondere der sog. „radical orthodoxy“, ins Gespräch zu bringen.23

Nichtweiß24 und in noch größerem Maße Mielke sind schließlich auch die Pioniere einer wichtigen Fragestellung, die Petersons Texte heute zwangsläu-fig aufwerfen. Seine scharfe Polemik gegen den modernen Nationalstaat und eine liberale Wirtschaftsordnung sowie sein teilweise verächtlicher Blick auf das freie Individuum stellen vor die Frage, wie Petersons Antiliberalismus gedeutet werden kann und welche Schlüsse daraus für die Anschlussfähigkeit seiner Konzeption unter den Bedingungen eines weithin akzeptierten demo-kratischen Verfassungsstaats, wie Peterson ihn noch nicht vor Augen hatte, gezogen werden müssen. Mielke ist zu dem Schluss gekommen, dass Peterson trotz seiner antiliberalen Polemik das Christentum als „differente und doch anschlussfähige Lebensform“ unter den Bedingungen der Moderne verstanden habe.25 Auf der Grundlage einer Analyse des rhetorischen Charakters der Texte Petersons geht Mielke davon aus, dass dieser die durch soziale Diffe-renzierung gekennzeichnete Moderne zwar nicht anerkennt, durch seine differenzbetonten Einsprüche jedoch selbst dazu beiträgt, diesen Prozess zu forcieren: „Peterson begegnet der Logik der Ausdifferenzierung also mit der Behauptung von Differenz – und damit verstärkt Peterson die Ausdifferenzie-

22 Siehe Barbara NICHTWEIß, Offenbarung und Öffentlichkeit; DIES., Apokalyptische Verfas-

sungslehren. 23 Roger MIELKE, Eschatologische Öffentlichkeit. Auch der Beitrag von Christoph SCHMIDT,

Apokalyptischer Strukturwandel der Öffentlichkeit schließt an Nichtweiß an. 24 Barbara NICHTWEIß, Erik Peterson: Ein Konvertit zwischen Modernismus und Antimoder-

nismus. 25 Vgl. Roger MIELKE, Eschatologische Öffentlichkeit, 259.

EINLEITUNG

19

rung, gegen die er protestiert.“26 Mielke spricht von einer „paradoxen Moder-nitätsverstärkung“.27

An dieser Stelle setzt die vorliegende Untersuchung ein: Sie möchte zum einen das Profil des kirchlichen Öffentlichkeitsbegriffs weiter schärfen und seine Zentralstellung im Werk Erik Petersons umfassend aufzeigen. Zum anderen greift die Untersuchung die Frage nach dem Verhältnis der theologi-schen Konzeption Petersons zur Moderne auf, um ihre Genese genauer zu verstehen, aber auch um diese Konzeption zu aktualisieren und fortzuschrei-ben. Die Studie verfolgt daher drei über bisherige Darstellungen hinausgehen-de Ziele:

Erstens soll der kirchliche Öffentlichkeitsbegriff Petersons systematisch rekonstruiert und analysiert werden. Das bedeutet zunächst, sein offenba-rungstheologisches Fundament offenzulegen. Petersons kirchlicher Öffent-lichkeitsbegriff steht im Dienst eines ereignishaften eschatologischen Krisen-aktes, der mit Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi eng verbunden ist. Er wird im Rahmen der Untersuchung als Christus-Krise bezeichnet.28 Struktur und Reichweite ihres Geltungsanspruchs gilt es zu bestimmen. Das protestan-tische Gepräge dieses offenbarungstheologischen Ausgangspunktes soll dabei gegenüber konfessionellen Vereinnahmungstendenzen, wie sie bei der Deu-tung eines Konvertiten schnell aufkommen, herausgearbeitet und ernst ge-nommen werden. Überdies soll auch der Öffentlichkeitsbegriff selbst schärfer konturiert werden, damit deutlich wird, dass es sich dabei um ein bestimmtes politisches Formprinzip handelt, das zur Bündelung und Gliederung der Theologie Petersons systematisch herangezogen werden kann. Dabei kann auch die vorliegende Untersuchung nicht den Anspruch erheben, alle dogma-tisch relevanten Themenstränge des Werkes zu synthetisieren. Insbesondere zum Komplex der Mystik und dem Spätwerk Petersons ab circa 1940 sind Abgrenzungen notwendig. Dennoch soll gezeigt werden, dass verschiedene Lehrstücke Petersons aus den zwanziger und dreißiger Jahren sich mit Hilfe des kirchlichen Öffentlichkeitsbegriffs in eine Zusammenschau fügen lassen. Die Zentralstellung des Begriffs im wohl wichtigsten Teil des Werkes wird auf diese Weise offenbar.

Zweitens soll die Fragestellung nach dem Verhältnis dieser Konzeption zur Moderne auf ihre theologische Genese ausgeweitet werden. Es geht also nicht zuerst um einen Abgleich der Ekklesiologie Petersons mit soziologischen oder philosophischen Theorien der Moderne, sondern um eine modernisierungs-theoretische Deutung der theologischen Umbruchprozesse der Weimarer Zeit. Gelingt es, den Ort der Theologie Petersons in diesem Umbruchprozess zu bestimmen, sind daraus wesentliche Erkenntnisse über die modernisierungs-

26 Ebd., 257. 27 Vgl. ebd., 37-38. 28 Zu den Vorzügen dieser Begriffsbildung siehe unten C.II.1.

EINLEITUNG 20

theoretische Signatur des offenbarungstheologischen Prinzips Petersons und seines kirchlichen Öffentlichkeitsbegriffs zu gewinnen, die auf der Aussage-ebene der Texte sonst nicht zu erreichen sind. Auch hier gilt es, den protestan-tischen Ausgangspunkt Petersons ernstzunehmen. Die eschatologische und modernisierungstheoretische Doppelkodierung der „Krisentheologie“ Peter-sons wird nur verständlich, wenn man ihr enges Verhältnis zur dialektischen Theologie Karl Barths und das in ihr neu ausgelotete Verhältnis von Christen-tum und Moderne beachtet. Erst vor diesem Hintergrund ist Petersons Aneig-nung einer im Öffentlichkeitsbegriff zusammenlaufenden sakramentalen Ekklesiologie überhaupt zu verstehen. Durch eine bewusst breit angelegte, überkonfessionelle Sicht auf die theologischen Modernisierungsprozesse nach 1918 soll der eigentümliche Platz, den Peterson darin einnimmt, erkennbar werden.

Auf diese Weise soll drittens die Aktualisierung der Ekklesiologie Petesons von einem katholischen Standpunkt aus vorbereitet werden. Dabei geht es nicht um eine nachträgliche konfessionalistische Engführung der Konzeption Petersons. Vielmehr soll diese Konzeption auf ihre Anschlussfähigkeit an die katholische Ekklesiologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil befragt werden. Dafür muss die gemeinsame Basis zweier sehr verschiedener moder-ner Diskurse über die Kirche zunächst einmal sichtbar gemacht werden. Der Aktualisierungsversuch, der im Rahmen der Untersuchung unternommen wird, soll fünfzig Jahre nach dem Konzil zeigen, wie Petersons Konzeption Überhangfragen des konziliaren Diskurses über die Kirche aufnehmen kann, die angesichts einer veränderten Wahrnehmung der Moderne zutage treten. In der Hauptsache geht es dabei darum, Petersons Konzeption so fortzuschreiben, dass sie zur Formulierung eines erneuerten Öffentlichkeitsbegriffs in der katholischen Ekklesiologie herangezogen werden kann.

Die Untersuchung umfasst vier Teile, die jeweils ohne Schwierigkeiten separat gelesen werden können. Der Schwerpunkt liegt auf den beiden mittle-ren Teilen, in denen jeweils eine umfassende Rekonstruktion der Konzeption Petersons mit unterschiedlichen Methoden versucht wird. Teil C bietet dabei eine klassische, die theologischen Aussagen in den Mittelpunkt stellende systematische Zusammenschau der Öffentlichkeit der Kirche in Petersons Konzeption. Unterschieden wird dabei zwischen einer primären Ebene, die um den im Himmel thronenden Kyrios angelegt ist, und einer sekundären kirchli-chen Ebene, die die Vollzüge der irdischen Kirche umfasst. Die Außenbezie-hung der kirchlichen Öffentlichkeit, insbesondere zum Politischen, wird ebenfalls in einem eigenen Schritt behandelt. Teil B nähert sich der Konzepti-on Petersons dagegen über ihre theologische Genese im Gespräch mit seinen drei wichtigsten Gesprächspartnern Adolf von Harnack, Karl Barth und Carl Schmitt, ohne die Petersons offenbarungstheologische Grundposition und sein kirchlicher Öffentlichkeitsbegriff nicht verstanden werden können. Diese im engeren Sinne theologiehistorische Perspektive wird jedoch ergänzt durch eine modernisierungstheoretische Außenperspektive, die jeweils darauf gerichtet

EINLEITUNG

21

ist, wie sich die von Peterson im Gespräch mit den drei Gelehrten getroffenen theologischen Optionen zu Modernisierungsprozessen ins Verhältnis setzen.

Damit eine solche Perspektive eingenommen werden kann, werden in Teil A einige vorbereitende Annäherungen unternommen, die das theoretische Rüstzeug für eine modernisierungstheoretische Deutung der Umbruchprozesse in der Weimarer Theologie bereit stellen und bereits einen Überblick über wesentliche Felder dieses Umbruchprozesses verschaffen. Teil D gilt schließ-lich der Aktualisierung der Konzeption Petersons fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dort finden sich eine systematische Zusam-menfassung der beiden Rekonstruktionsgänge sowie eine knappe Skizze zum Umgang mit Leerstellen in Petersons Konzeption von seinen eigenen Voraus-setzungen aus. Petersons Anschlussfähigkeit an die Ekklesiologie des Konzils wird näher diskutiert, bevor gezeigt werden kann, worin der spezifische Beitrag eines erneuerten kirchlichen Öffentlichkeitsbegriffs in der heutigen katholischen Ekklesiologie bestehen könnte, wie er sich durch die Fortschrei-bung der Position Petersons gewinnen lässt.

A. IM „LABORATORIUM DER KLASSISCHEN MODERNE“1: KIRCHLICHER AUFBRUCH UND CHRISTOZENTRIK ALS

KRISENDISKURSE

Der erste von zwei Schritten, in denen die Theologie Erik Petersons rekonstru-iert werden soll, zielt darauf, die von ihm aufgeworfene Frage nach der Öffentlichkeit der Kirche gegen stereotype Deutungsmuster als modernes Phänomen in den Blick zu nehmen und gleichzeitig vor groben konfessionel-len Zuschreibungen zu bewahren. Damit dies im Teil B geschehen kann, sollen im Folgenden einige Vorbereitungen getroffen werden, die noch nicht direkt auf Erik Peterson eingehen.

Zunächst wird in aller Kürze eine theoretische Annäherung an eine moder-nisierungstheoretische Deutung der Weimarer Theologie versucht, die an die Untersuchungen von Thomas Ruster und Friedrich Wilhelm Graf anschließt. Zu benennen sind in diesem Zusammenhang auch die Missverständnisse, die bei einer solchen Deutung mit Blick auf Erik Peterson drohen. Um diese zu vermeiden, ist es notwendig, eine doppelte Perspektive grundsätzlich anzuer-kennen: weder darf eine modernisierungstheoretische Außenperspektive eine genuin theologische Perspektive diskreditieren, noch umgekehrt. (I.)

Vor diesem Hintergrund werden zwei Themenfelder umrissen, die für das theologische Profil Petersons von zentraler Bedeutung sind. Die Frage nach der Öffentlichkeit der Kirche lässt sich zunächst dem ekklesiologischen Aufbruch der Weimarer Zeit zurechnen. In beiden Konfessionen rückt das Kirchenthema ins Zentrum und steht in einer spezifischen Wechselwirkung mit den politischen Umbrüchen der Zeit. Dieser durchaus prekäre ekklesiolo-gisch-politische Komplex soll problembewusst angegangen werden, ohne die konkreten Unterschiede einzelner Ansätze aus den Augen zu verlieren. (II.)

Ein zweites Schlaglicht betrifft ein Feld, das zum offenbarungstheologi-schen Fundament der Ekklesiologie Petersons führt. In einem unspezifischen Sinne lässt sich Peterson rasch als pointiert christozentrischer Theologe ausweisen. Ein modernisierungstheoretischer, konfessionsübergreifender Blick auf Begriff und Phänomen der Christozentrik soll Petersons Option besser verständlich machen. Der krisenförmigen Christozentrik Karl Barths und ihrer Rezeption im Sinne einer dezidiert katholischen Christozentrik bei Hans Urs von Balthasar kommt dabei besondere Bedeutung zu. Das protestan-tische und in spezifischer Weise moderne Profil der Offenbarungstheologie Erik Petersons zeichnet sich vor diesem Hintergrund bereits ab. (III.)

1 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Repu-

blik, 3.

TEIL A: IM LABORATORIUM DER KLASSISCHEN MODERNE 24

I. Die Modernisierung der Theologie in der Weimarer Zeit

1. Was bedeutet Modernisierung der Theologie?

Inwiefern kann von einem Modernisierungsprozess der Theologie in der Weimarer Zeit die Rede sein? Was kann es überhaupt bedeuten, dass eine Wissenschaft wie die Theologie sich modernisiert? Anschließen lässt sich dabei zunächst an soziologische und philosophische Modernisierungstheorien. Mit dem Begriff „Moderne“ droht man dabei in eine uferlose Debatte um seine Bedeutung einzutreten. Aufgegriffen werden soll an dieser Stelle ein Vorschlag, den Hans Joas in Anlehnung an Ernst Troeltsch unterbreitet hat.1 Er hat den Vorzug, auf emphatische normative Bestimmungen weitgehend zu verzichten, indem er sich auf die Beschreibung und Erklärung des Phänomens Moderne zu beschränken versucht.2 Joas bezeichnet die Moderne als „Zeitalter der Kontingenz“. Damit meint er zum einen das zunehmende Bewusstsein der Veränderlichkeit sozialer Interaktionsformen, zum anderen das Anwachsen der Optionen sozialen Handelns.3 Die Einsicht in die Nicht-Notwendigkeit überkommener Denk- und Handlungsmuster vollzieht sich Joas zufolge in immer neuen Schüben bis zur „radikalen Verzeitlichung des menschlichen Selbstverständnisses“ um das Jahr 1800.4

Jürgen Habermas hat diesen soziologischen Befund auf die Selbstverständi-gungsdiskurse der neuzeitlichen Philosophie übertragen. Mit der Philosophie Hegels sieht Habermas einen Prozess der Selbstvergewisserung in den Geis-teswissenschaften anbrechen, die er den „philosophischen Diskurs der Moder-ne“ genannt hat.5 Angesichts der Brüche, die Aufklärung und französische Revolution im kulturellen Bewusstsein hinterlassen, wird bald von einer neu angebrochenen Epoche, der „Neuzeit“, gesprochen. Die Neuheit dieser Epoche wird so radikal wahrgenommen, dass ihre Beschreibung und Bestim-

1 Vgl. Hans JOAS, Glaube als Option, 106-128; DERS., Braucht der Mensch Religion?. 2 Joas’ Bestimmung der Moderne als „Zeitalter der Kontingenz“ setzt sich gegen angemaßte

rationalistische Meta-Standpunkte zur Wehr und betont, die in der Moderne geforderte „Fä-higkeit zur reflexiven Distanzierung“ bedeute keine „kühle Distanz“, keine „Verinnerlichung unter Vorbehalt“, sondern ein „höheres Maß an Freiheit in der Bindung“, vgl. Hans JOAS, Glaube als Option, 143. Die Rede von der „kontingenten Gewissheit“, über die der Glauben-de heute im Unterschied zum „Stil alter geschichtsphilosophischer Metaerzählungen“ verfü-ge, ist dabei ein Versuch, die Gewissheit des Glaubens mit dem Kontingenzbewusstsein der Moderne zu versöhnen (vgl. ebd., 127). Dabei bleibt offen, ob dieses Bewusstsein die Rede von einer konkreten Offenbarung mit einem universalen normativen Anspruch zulässt. Wenn sich „in vielen oder allen Religionen [...] eine Selbstoffenbarung Gottes“ sehen lässt und alle Religionen gleichermaßen nicht „als quasi-wissenschaftliche Lehrgebäude“, „sondern als Versuche zur Auslegung menschlicher Erfahrungen“ gelten, gerät dieser Anspruch in Gefahr (vgl. ebd., 152-153).

3 Vgl. Hans JOAS, Glaube als Option, 121-123. 4 Ebd., 123. 5 Vgl. Jürgen HABERMAS, Der philosophische Diskurs der Moderne, 15.

MODERNISIERUNG DER THEOLOGIE

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mung selbst zu einem Grundsatzproblem der Philosophie wird, ohne dessen Klärung sich klassische philosophische Fragen gar nicht mehr stellen lassen. Bei Hegel schließlich „spitzt sich das Problem der Selbstvergewisserung der Moderne so zu, daß Hegel diese Frage als philosophisches Problem und zwar als das Grundproblem seiner Philosophie wahrnehmen kann“.6 Michel Foucault spricht von der Problematisierung einer „Aktualität“.7 Die Philoso-phie weiß ihre Fragen nur noch unter Einbeziehung dieser Aktualität zu thematisieren. Aus der Frage: was ist wahr? wird ein: was ist heute (noch) wahr?

Mit diesen Bestimmungen im Hintergrund zeichnet sich ab, was unter Mo-dernisierung der Theologie verstanden werden kann. Zentral ist, dass ange-sichts massiver Kontingenzerfahrungen der Zeitindex des „Heute“ zum konstitutiven Bestandteil theologischer Aussagen wird. Der ins Auge zu fassende theologische Modernisierungsprozess braucht dabei nicht – wie bei Habermas – um eine explizite Theorie der Moderne zu kreisen. Entscheidend ist die Erfahrung einer historischen Diskontinuität, die überkommene theolo-gische Aussageformen unplausibel werden lässt und zu neuer theologischer Anstrengung herausfordert. Dies vollzieht sich in dem Bewusstsein, dass ohne eine geschichtliche Ortsbestimmung die angezielte theologische Botschaft gar nicht adäquat ausgesagt werden kann.8

In diesem Sinne lässt sich die neuscholastische katholische Theologie, wie sie um die Wende zum 20. Jahrhundert im katholischen Bereich noch einmal forciert wurde, als vormodern bezeichnen.9 Sie verlief noch ganz in den Bahnen barocker Vorgänger, was die scholastische Form ihrer Darlegung betrifft, vor allem aber, was den Ausfall jedweder Reflexion über ihre eigene Relevanz in der Gegenwart angeht. Die für den hier ins Auge gefassten Prozess theologischer Modernisierung zentrale Frage, wie etwas heute gesagt werden kann, spielt dort keine Rolle. Dies ändert sich erst in der Weimarer Zeit, deren massive Kontingenzerfahrungen eine Theologie neuen Typs hervorbringt, die die geschichtliche, soziale und anthropologische Bedeutung des katholischen Christentums in der Krise herausstreicht.10 Die Protagonisten

6 Vgl. ebd., 26. 7 Vgl. Michel FOUCAULT, Was ist Aufklärung?, 839. 8 In diesem weiteren Sinne wird Habermas aufgegriffen bei Hans SCHELKSHORN, Das Zweite

Vatikanische Konzil als kirchlicher Diskurs über die Moderne. 9 Legt man andere Kriterien zugrunde, kann man auch im Katholizismus des 19. Jahrhunderts

Modernisierungsphänomene beobachten. Es lassen sich etwa die Rationalisierung und Büro-kratisierung der kirchlichen Hierarchie, die Verwendung moderner Kommunikationsmittel, die kirchlich gelenkten Massenbewegungen als Modernisierungserscheinungen lesen. In diese Richtung auch Hans JOAS, Glaube als Option, 100, wo er von einer „eigenen Form der Mo-dernisierung und Individualisierung“ im gegenreformatorischen Katholizismus ausgeht. Hermann-Josef GROßE KRACHT spricht von der „Dynamik einer unbeabsichtigten katholi-schen Modernisierung“, vgl. Kirche in ziviler Gesellschaft, 13.

10 Exemplarisch für den neuen Stil sind die Gesamtschauen auf das „Wesen des Katholizismus“. Besonders einflussreich und weit verbreitet: Karl ADAM, Das Wesen des Katholizismus.

TEIL A: IM LABORATORIUM DER KLASSISCHEN MODERNE 26

des theologischen Aufbruchs – die bekanntesten und einflussreichsten sind vielleicht Romano Guardini, Karl Adam, Erich Przywara und Odo Casel – verlassen die Bahnen der neuscholastischen Theologie, welche vierzig Jahre später in Deutschland bereits vollständig verschwunden sein wird.

2. Modernisierungstheoretische Deutungen der Weimarer Theologiegeschichte

Trotz der Hochschätzung, die den Pionierleistungen Weimarer Theologen in der katholischen Theologie gemeinhin widerfährt, hat das spezifische Profil der hier vollzogenen Modernisierung nur selten Beachtung gefunden. Über-schattet wird dies meist vom Modernediskurs, wie er auf dem Zweiten Vati-kanischen Konzil zum Durchbruch kam und die katholische Theologie bis heute prägt.11 Dafür gibt es gute Gründe. Die Weimarer Theologen drohen dadurch jedoch schnell zu bloßen Vorläufern des Konzils und seiner Moderni-sierungsleistung herabzusinken.

Demgegenüber hat sich vor allem Thomas Ruster darum bemüht, den Mo-dernisierungsprozess der katholischen Theologie während der Weimarer Zeit aus dem Windschatten des Konzils zu holen.12 Ruster stellt den Aufbruch der katholischen Theologie als Suche nach der „verlorenen Nützlichkeit der Religion“ dar. In einer allerorten als massiv wahrgenommenen Krise des geistigen, sozialen, politischen und ökonomischen Lebens nach dem Ende des wilhelminischen Kaiserreiches versuchen katholische Theologen in einem eigentümlichen Junktim von triumphalem Selbst- und epochalem Krisenbe-wusstsein den Beitrag des katholischen Glaubens zur Überwindung dieser Krise aufzuzeigen.13 Die Frage nach der anthropologischen und sozialen Relevanz des Glaubens bildet das Leitmotiv dieser Erneuerung auch dort, wo mit großem Pathos das Übernatürliche beschworen wird. Die Modernisierung der katholischen Theologie ist demnach von Anfang an durch zwei teilweise gegensätzliche Haltungen bestimmt: einerseits von der Wahrnehmung einer tiefgreifenden geistigen Krise, die vor den eigenen Sprach- und Praxisformen durchaus nicht Halt macht; andererseits von der Überzeugung, das katholische Christentum selbst bilde das Heilmittel gegen die Krise, bis hin zu der Erwar-tung einer neuen Blüte christlicher Kultur.14 Die Einsicht, manchmal auch nur

11 Siehe dazu Hans SCHELKSHORN, Das Zweite Vatikanische Konzil als kirchlicher Diskurs

über die Moderne. 12 Thomas RUSTER, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. 13 Dieses Bemühen spiegelt sich auch in der neuen Form des theologischen Schrifttums wider.

„Es beginnt eine Verwischung der Grenzen zwischen der theologischen Fachliteratur und der religiös unterweisenden Literatur für den Laien, offensichtlich aus Protest gegen eine Selbst-verkapselung der theologischen Wissenschaft.“ Ebd., 30.

14 In der Weimarer Zeit verbindet sich die Erwartung einer neuen Blüte des Christentums meist mit der Auffassung, die Kirche stelle die Ressourcen zur Rettung der Moderne vor dem Un-

MODERNISIERUNG DER THEOLOGIE

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der unterschwellige Verdacht der Kontingenz15 der sozialen Gestalt der Kirche und der Sprachformen ihrer Theologie trägt die Frage nach der Relevanz des Glaubens in den theologischen Diskurs und drängt Theologen, den Katholi-zismus auf die Zeitumstände hin zu profilieren. Dass hier nicht nur für die moderne katholische Theologie wichtige Durchbrüche erzielt wurden, sondern auch erhebliche Gefahren lauerten, zeigt Ruster anhand wirkmächtiger katho-lischer Reformer wie Karl Adam, Karl Eschweiler und Romano Guardini.

Auf die Bedeutung der Zäsuren von 1918 und der florierenden Krisendiag-nosen für die Umbruchprozesse der evangelischen Theologie während der Weimarer Zeit hat auch Friedrich Wilhelm Graf immer wieder hingewiesen.16 Die theologischen Avantgardisten dieser kurzen Zeitspanne habe die Suche nach „einer der krisengeschüttelten Moderne kompatiblen Theologie“ umge-trieben.17 „Für die große Mehrheit der Weimarer Theologen war die ‚Krise der Gegenwart‘ im Kern eine Glaubenskrisis, die einen katastrophalen Verlust an ‚Werten‘ mit sich gebracht habe und nun in skeptizistischem ‚Relativismus‘, der nihilistischen Vergleichgültigung aller moralischen Orientierungen kulmi-niere.“18 Insbesondere im Kampf der theologischen Avantgarde gegen den Historismus der liberalen Theologie zeige sich daher ein „Interesse an der Schaffung neuer gesamtgesellschaftlich institutionalisierbarer ethischer Verbindlichkeit. Insofern verstehen sich die theologischen Antihistoristen als Repräsentanten einer religiösen Avantgarde, welche einen Ausweg aus der Krise der modernen Kultur zu weisen vermag.“19 Dieser Wunsch spreche unter anderem aus der Hochkonjunktur betont eschatologischer Theologien, die um den Begriff des „Kairos“ kreisen: „[A]n die Stelle des pragmatischen Um-gangs mit geschichtlich gegebenen, insofern relativen Konfliktlagen tritt das Pathos letzter Entscheidungen, politische Auseinandersetzungen gewinnen die quasireligiöse Qualität eines weltgeschichtlichen Prinzipienkampfes zwischen Licht und Finsternis, und nüchternes Sicheinstellen auf die politisch-soziale Komplexität moderner Gesellschaften wird durch die Dauerproduktion von Unbedingtheit und Kompromißlosigkeit abgelöst.“20 Graf hat daher seine Untersuchungen auf die Frage zugeschnitten, wie die theologischen Aufbrüche

tergang bereit. Ruster spricht von einem „katholischen Menschheitsrettungs-Pathos“, vgl. ebd., 76.

15 Insofern wird hier von Habermas’ Begriff des philosophischen Diskurses der Moderne abgewichen. Habermas bezeichnet damit vor allem die explizite Reflexion über das Phäno-men „Neuzeit“ als Voraussetzung der Philosophie. Dies geschieht im Weimarer theologi-schen Diskurs noch kaum. Über die Frage nach der Relevanz des katholischen Glaubens in der Krise, wird jedoch der Zeitindex zunächst zaghaft zum theologischen Erkenntnisort.

16 Wichtige Beiträge sind gesammelt in: Friedrich Wilhelm GRAF, Der heilige Zeitgeist. Siehe außerdem DERS., Geschichte durch Übergeschichte überwinden; DERS., Annhihilatio histo-riae?

17 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Zeit, 3. 18 Ebd., 5. 19 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Die „antihistorische Revolution“ in der protestantischen

Theologie der zwanziger Jahre, 120. 20 Ebd., 135-136. Zur Figur des Kairos siehe auch Alf CHRISTOPHERSEN, Kairos.

TEIL A: IM LABORATORIUM DER KLASSISCHEN MODERNE 28

zur ersten deutschen Demokratie standen und inwiefern sie für ihr jähes Scheitern Verantwortung tragen.21

Die Dominanz des Ideologieverdachts

Die Deutung Rusters und in noch höherem Maß diejenige Grafs richten den Blick auf die Gefahren des theologischen Modernisierungsprozesses der Weimarer Zeit. Modern sind die theologischen Aufbrüche dieser Zeit der Tendenz nach im Sinne pathologischer Ausprägungen von Modernität, wie sie in den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts furchtbare Gestalt ange-nommen haben. Die Ideologieanfälligkeit von Protagonisten des theologischen Umbruchsprozesses ist in beiden Deutungen durchgängig präsent. Dieser Fokus beruht bei beiden Autoren auf konfessionsspezifischen und sehr ver-schiedenen Ausgangslagen.

Rusters Blick ist breit gestreut und bietet ein differenziertes Panorama des Transformationsprozesses, den die katholische Theologie während der Wei-marer Zeit durchläuft. Ausdrücklich benennt er die Gefahr, dass die moderni-sierungstheoretische Optik des Nachgeborenen zu leichtfertigen und im Einzelfall ungerechtfertigten Urteilen führen kann.22 Dennoch führt er das weite Spektrum der von ihm untersuchten Theologen auf das Muster einer Suche nach der „verlorenen Nützlichkeit der Religion“ zurück. Gleichzeitig hält er dieses Muster für die spezifische Signatur des katholischen Diskurses der Moderne, das sich auch im Umfeld des Zweiten Vatikanums nicht wesent-lich verändert hat.23 Hierin zeigt sich eine Distanz zur katholischen Erneue-rung, die jedoch missverstanden wäre, wenn man sie als restaurativen Arg-wohn gegenüber einer modernen katholischen Theologie auffassen würde.

Zwar hat Ruster die Vorzüge des neuscholastischen Theologietyps hervor-gehoben24 und immer wieder in kreativer Weise auf Lehrstücke der neuscho-lastischen Dogmatiken zurückgegriffen.25 Ziel dieser Bemühungen ist jedoch nicht die Restauration der Neuscholastik als vormoderner Theologie, sondern gerade eine in spezifischer Weise moderne Theologie, die sich den Zeitindex des Heute in Gestalt eines kontextualisierenden Blicks auf die politischen Rahmenbedingungen theologischer Rede zu eigen macht. Ruster geht es dabei nicht in erster Linie um hermeneutische Übersetzungsleistungen, sondern um eine differenzbetonte, kritische Perspektive auf politische und ökonomische Machtstrukturen. Dabei betont Ruster durchgängig die politische Gestaltungs- 21 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Zeit,

10-11. 22 Vgl. Thomas RUSTER, Die verlorene Nützlichkeit der Religion, 33. 23 „[E]s ist nicht zu sehen, daß in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wesentlich neue Ansätze

hinzugekommen wären.“ Ebd., 13. 24 Siehe z.B. Thomas RUSTER, Kleine (systemtheoretische) Apologie der Neuscholastik. 25 Siehe Thomas RUSTER, Von Menschen, Mächten und Gewalten; DERS., Wandlung. Im

Zusammenhang mit Peterson siehe auch DERS., Das kirchliche Amt in der Theologie Erik Petersons.

MODERNISIERUNG DER THEOLOGIE

29

kraft des Christentums, das diese aus ihrem eigenen Überzeugungsraum zu schöpfen vermag und gegenüber „dämonischen“ Strukturierungen von Macht in Stellung zu bringen hat. Insofern ist das von Ruster im Nachgang zu seiner modernisierungstheoretischen Deutung der Weimarer Theologie entwickelte theologische Profil nicht vormodern. Es fußt jedoch erkennbar auf einer anderen Option als ein wichtiger Strang in der Erneuerung der katholischen Theologie, der Modernisierung vor allem als hermeneutische oder politische Vermittlungsleistung versteht oder sich gar um explizite Synthesen mit dem philosophischen Denken der Moderne bemüht.26

Die Gründe für das negative Vorzeichen in Rusters modernisierungstheore-tischer Perspektive auf die Weimarer Zeit sind auf diese Weise ganz anders gelagert als die noch wesentlich kritischere Sicht des Protestanten Friedrich Wilhelm Graf. Zwar hat auch dieser gelegentlich gegenüber der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil durchgebrochenen Modernisierung der katholi-schen Theologie geargwöhnt, hierbei handele es sich nur um eine Scheinmo-dernisierung, die unter modernen Bedingungen nicht mehr begründbare Positionen in strategischer Absicht lediglich in neuem Gewand präsentiert habe.27 Den Theologietypus, den Graf in seiner Deutung der Umbruchprozesse in der protestantischen Theologie durchgängig verteidigt, ist jedoch der von der theologischen Avantgarde der Weimarer Jahre bekämpfte liberale und historistische Kulturprotestantismus. Während sich diese Avantgarde gegen die „Umformung der überkommenen dogmatischen Theologie in eine histo-risch-hermeneutische Christentumswissenschaft“28 zur Wehr setzt, versucht Graf zu zeigen, wie diese Abwehr die wissenschaftstheoretischen Standards der Moderne allenthalben unterläuft. Dass es sich dabei dennoch um ein spezifisch modernes, freilich der Tendenz nach pathologisches Phänomen handelt, verliert er dabei nicht aus dem Blick.29

Konsequenzen für die modernisierungstheoretische Deutung Petersons

Vor dem Hintergrund dieser konfessionell gefärbten Gemengelage ist eine modernisierungstheoretische Deutung der Theologie eines Konvertiten wie Erik Peterson ein von verschiedenen Vorurteilen bedrohtes Unternehmen.

Sieht man von Deutungsmustern ab, die sich auf eine modernisierungstheo-retische Deutung der Weimarer Theologie gar nicht erst einlassen, ist zunächst an einen auf das Zweite Vatikanum fixierten katholischen Modernediskurs zu denken, der die Weimarer Zeit nur als überholte Vorstufe zu registrieren bereit

26 Siehe dazu vor allem die kritische Auseinandersetzung mit Karl Rahner: Thomas RUSTER,

Der verwechselbare Gott. 27 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus?,

62-65. 28 Friedrich Wilhelm GRAF, Die ‚antihistorische Revolution‘ in der protestantischen Theologie

der zwanziger Jahre, 111. 29 Siehe dazu unten B.I.4. mit weiteren Nachweisen.

TEIL A: IM LABORATORIUM DER KLASSISCHEN MODERNE 30

ist. Zieht man dagegen die wenigen katholischen Untersuchungen heran, die sich darum bemühen, das spezifische modernisierungstheoretische Profil der Weimarer Theologie zu entschlüsseln, stößt man vor allem auf Warnungen vor der Ideologieanfälligkeit ihrer Protagonisten.30 Das kulturprotestantisch inspirierte Deutungsmuster der Umbruchprozesse in der evangelischen Theo-logie würde sich der Theologie Petersons mit einem ähnlichen Vorurteil nähern, indem es diese von vornherein als pathologisches Modernisierungs-phänomen, das kein konstruktives Verhältnis zur Moderne ausgeprägt hat, in den Blick nähme.

Nimmt man hingegen den Blickwinkel der protestantischen theologischen Avantgarde der Weimarer Zeit – etwa der dialektischen Theologie – ein und stellt sich damit auf einen Standpunkt, der behauptet, gerade durch seine Ablehnung des Liberalismus eine neue, unhintergehbare Verhältnisbestim-mung von Christentum und Moderne entwickelt zu haben,31 stößt man dage-gen auf eine gewisse Reserve gegenüber einer kontextuellen Theologiege-schichtsschreibung. So wie es den antihistoristischen Dialektikern darum ging, eine genuin theologische Perspektive wiederzugewinnen, tut sich mancher Anhänger dieses Paradigmenwechsels schwer damit, den Umbruch in den Kontext der Weimarer Zeit einzuordnen und damit zu relativieren.32

Dieser Befund ist für eine Deutung der Theologie Petersons, die diese sys-tematisch stark machen und zugleich als modernes Phänomen in den Blick bekommen will, keine günstige Ausgangslage. Eine solche Deutung droht nur dann nicht vor vornherein an gängigen Mustern des theologischen Diskurses zu scheitern, wenn man die gleiche Legitimität einer genuin theologischen Innenperspektive und einer modernisierungstheoretischen kontextuellen Außenperspektive akzeptiert. Es kann also weder darum gehen, von einem absoluten theologischen Standpunkt aus die Kontextualisierung der Theologie Petersons in einem theologischen Diskurs der Moderne von sich zu weisen, noch darum, aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive dem theolo-gischen Standpunkt Petersons von vornherein die Berechtigung abzusprechen, etwa in dem man ihn pauschal als nicht modernitätsverträglich abtut.

Unter dieser Prämisse kann es gelingen, sich der Theologie Petersons mo-dernisierungstheoretisch zu nähern und gleichzeitig seine theologischen Anliegen ernstzunehmen. Zu Vermittlung dieser beiden Perspektiven kann dabei an dieser Stelle kein allgemeiner, theoretischer Beitrag geleistet werden. 30 Neben Ruster sind zu nennen die Untersuchungen von Lucia SCHERZBERG, Kirchenreform

mit Hilfe des Nationalsozialismus; DIES. (Hrsg.), Gemeinschaftskonzepte im 20. Jahrhundert zwischen Wissenschaft und Ideologie.

31 Zur Frage der „Unhintergehbarkeit“ siehe Ingolf Ulrich DALFERTH, Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, bes. 420-422.

32 Vgl. die Kritik an Jürgen Moltmann bei Friedrich Wilhelm GRAF, Protestantische Universi-tätstheologie in der Weimarer Zeit, 14-16. Moltmann hatte behauptet, die Dialektische Theo-logie stamme „nicht aus der Krisenstimmung jener turbulenten Jahre“. Vgl. Jürgen MOLTMANN, Vorwort, IX. Siehe auch den Einspruch von Gerhard SAUTER, Zum Kontext deutscher evangelischer Theologie in den dreißiger Jahren.