das konzept der achtsamkeit zur kontaktaufnahme mit den...
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Das Konzept der Achtsamkeit zur Kontaktaufnahme mit den Ich-Zuständen aus der Transaktionsanalyse
Bachelorarbeit
im
Studiengang Soziale Arbeit
angefertigt von
Marie Luise Born
1. Betreuer/-in: Prof. Dr. Hanke 2. Betreuer/-in: Prof. Dr. Haenselt
urn:nbn:de:gbv:519-thesis2016-0326-6
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort .............................................................................................................................. ........................... 3
1 Einleitung .............................................................................................................................. ................. 4
2 Das Konzept der Achtsamkeit ................................................................................................................ 5
2.1 Buddhismus als Quelle heutiger Achtsamkeitspraxis .................................................................... 6
2.2 Achtsamkeitspraxis und Achtsamkeitforschung in der westlichen Welt, speziell Mindfulness-Based Stress-Reduction (MBSR) ................................................................................................................ 7
2.2.1 Persönliche Voraussetzungen zum Durchlaufen des Übungsprogramms ........................... 11
2.2.2 Die Atemmeditation im Sitzen oder Liegen ......................................................................... 12
2.2.3 Die Body-Scan Meditation ................................................................................................ ... 13
2.2.4 Hatha-Yoga .............................................................................................................. ............ 14
2.2.5 Gehmeditation ........................................................................................................... ......... 15
2.2.6 Das achtsame Alltagsleben .................................................................................................. 16
2.3 „Ziele“ der achtsamen Meditationspraxis ................................................................................... 17
2.4 Exkurs: Achtsamkeit in der Psychotherapie ................................................................................ 18
3 Die Transaktionsanalytischen Ich-Zustände nach Eric Berne .............................................................. 21
3.1 Das „Eltern-Ich“ und die Programmierung durch die Eltern ....................................................... 23
3.2 Das Kindheits-Ich ......................................................................................................... ................ 24
3.3 Das Erwachsenen-Ich ....................................................................................................... ........... 25
3.4 Die Transaktion aus den Ich-Zuständen ...................................................................................... 25
4 Die achtsame Haltung zum Erkennen der Ich-Zustände ..................................................................... 26
4.1 Intrapersonell .............................................................................................................................. 27
4.2 Interpersonell ............................................................................................................ .................. 28
4.3 Im praktischen Beratungskontext ................................................................................................ 29
5 Fazit ....................................................................................................................... .............................. 30
Literatur ..................................................................................................................... .................................. 32
Erklärung ..................................................................................................................... ................................ 35
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Vorwort
Angewandte Achtsamkeit in akut belastenden Lebenssituationen ist meiner eigenen Erfahrung schwer
manipulativ herbeizuführen. Ich bin eine Verfechterin des Grundsatzes, dass sich bestimmte
Lebensführungen „einstellen“ und nicht „sind“, solange formelle Übungen in Hinblick auf
Selbstoptimierung praktiziert werden. Wohl aber kann das Üben von Meditation, Yoga oder jede Art in
der Anstrengung bei vollem Bewusstsein ausgeführte Tätigkeit eine Basis schaffen, für Gegebenheiten, in
denen nur ein Leben, fernab von allem was wir über gut und richtig wissen, möglich ist. Genau so kann
Meditationspraxis auch „Mitspielerin“ im eigenen Neurosengefüge sein, selbst wenn jemand wie ich,
schon in Montessori-und Freinet-Grundschulzeiten positive Erfahrungen mit vergleichsweise freiem
Üben der im Westen so fortschrittlicher Praktiken gemacht hat.
Später transzendierte ich den Hunger, ließ ihn in Meditationsübungen, Yogapraxis und Tanz einfach
„Sein“ bis er mir als angenehme Gefühlssensation viel gab: Eine Art Wärme, ein strömendes
Glücksgefühl, Wachheit, Energie. Das scheint im Widerspruch zu den heftig obsessiven Gedankenspiralen
über Essen, Hungern, Sport, Essen zu stehen. Ich tue mich auch heute schwer diese beiden Pole
zusammenzubringen – trotz all der Lektüre und kognitivem Erfassen der vorhandenen Essstörung. Der
transzendental schwebende Zustand des ausgehungerten Geistes ist biologischer Natur. Natürlich liegen
Meditationsübungen dann attraktiv nahe – sie fallen leicht, der Geist ist unter Zwang ständig
diszipliniert. Das ist eine Voraussetzung für die nachhaltige Praxis. Bei manchen Menschen - ich würde
sogar behaupten bei vielen Menschen - ist es aber der Garant dafür, dass alles gehörig schiefgeht. Der
Weg von Disziplin zu Obsession ist kurz. Eine Vorüberlegung, die dem Leser in Betracht zu ziehen nun
freisteht.
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1 Einleitung
Vorab führe ich an, dass diese Arbeit mit den mir auf erliegenden Bestimmungen zum wissenschaftlichen
Arbeiten als solche im Widerspruch zu dem Inhalt (oder eher dem Nicht-Inhalt) der traditionellen
Achtsamkeitslehre und auch zu denjenigen, die sie weiterentwickelt haben, steht. Es werden Begriffe wie
„Ziel“, „Erfolg“, „Gewinne“, „gelingend“ usw. verwendet. Die Absichtslosigkeit der Praxis wird in allen
Werken immer wieder betont und doch stellt sie sich bei keinem Menschen in der Spanne zwischen
Geburt und Tod ein. Der Weg in die vollkommene Absichtslosigkeit ist das Leben, das gerade gelebt wird,
in dem es immer Wünsche, Anhaften und Absichten geben wird, selbst für jemanden, der in völliger
Abgeschiedenheit und Askese lebt. Es kann für den physischen Menschen immer nur einen gewissen
Grad dessen geben, das als „Erleuchtung“ oder „Erwachtheit“ bezeichnet wird. Es geht viel mehr darum,
den anhaftenden Seelenanteile, die zum menschlichen Sein gehören, trotz aller inneren Instanzen, die
ihr Wort für und gegen sie in die Waagschale legen, ihren Freiraum zu erlauben und ihr Kommen und
Gehen außerhalb von Manipulation zu betrachten.
In den folgenden Ausführungen wird die meditative Achtsamkeitsarbeit aus Jon Kabat-Zinns
wissenschaftlichen Ausführungen auf Grundlage des Zen – Buddhismus vorgestellt und in Verbindung
mit den Grundbausteinen der Transaktionsanalyse nach Eric Berne gesetzt. Nachdem das Konzept der
Achtsamkeit und die von Jon Kabat-Zinn angewandten Methoden in Kapitel zwei auch im Speziellen
vorgestellt worden sind und die drei transaktionsanalytischen Ich-Zustände definiert wurden, soll
beantwortet werden, ob und wie eine achtsame Grundhaltung, erreicht durch die regelmäßige Praxis
von Meditation die Bewusstheit über die eintretenden Ich-Zustände erhöhen kann. Es wird zu einer
Verdeutlichung der Wichtigkeit und Möglichkeit der Balancierung (Angemessenheit) von Erwachsenen-
Ich-Zustand, Eltern-Ich-Zustand und Kind-Ich-Zustand durch angewandte Achtsamkeit kommen.
Ist es dadurch möglich, die Transaktionen aus den Ich-Zuständen, balancierter und vorteilhafter, im Sinne
der Zufriedenheit und Lebensqualität der Transaktionspartner zu gestalten?
Es soll dargestellt werden, wie Menschen mithilfe einer achtsamen Lebensweise befähigt werden
können zu erkennen, in welchem der drei Ich-Zustände aus der Transaktionsanalyse sie sich in inter- und
intrapersonellen Dialogen und Konflikten befinden und wie es möglich werden kann, bewusste
Entscheidungsfähigkeit über den eigenen Umgang mit anderen zu gewinnen.
Diese Arbeit soll darauf Antworten geben und die Möglichkeiten, die zielführend sein können vorstellen.
Das Vorhandensein dieser Wünsche soll erlaubt werden. Sie sind in unserer Kultur nicht im Sinne einer
völligen buddhistischen „Begehrlosigkeit“ einfach aufzuheben. Sie verlieren durch das Erlauben
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allerdings signifikant an Persistenz und Gewicht für das Leben eines Menschen. Trotzdem ist die
Achtsamkeitspraxis nicht nur denjenigen vorbehalten, deren Hauptziel das „Nicht-Anhaften“ ist. Dass
dies ein Ziel ist, impliziert als solches genau betrachtet ebenso ein Anhaften. Auch der Buddhismus kennt
in seiner Lehre Regeln und Empfehlungen und damit auch Gelingen und Nicht-Gelingen, obwohl es um
andere Inhalte und Wünsche gehen mag. Der achtfache Pfad etwa, wird als eine Art Regelwerk
verstanden (vgl. Olendzki 2009, S. 410).
2 Das Konzept der Achtsamkeit
Achtsamkeit kann als „Gewahrsein gegenwärtiger Erfahrungen mit Akzeptanz“ bezeichnet werden (vgl.
Fulton/Siegel 2009, S.51).
Als Begriff stammt das englische „mindfulness“ im Deutschen mit „Achtsamkeit“ übersetzt - vom
buddhistischen schriftsprachlichen Begriff „sati“ ab. Er umfasst in dieser alten Psychologie-Tradition
Gewahrsein, Aufmerksamkeit und Erinnern (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 23).
Beim buddhistischen Autor Thich Nhat Hanh wird von „das eigene Bewusstsein für die gegenwärtige
Wirklichkeit lebendig halten“ gesprochen und Kabat-Zinn schließt nach ihm mit seiner Definition die
Wertfreiheit ein: „Das Gewahrsein, das in Erscheinung tritt durch die absichtliche Aufmerksamkeit im
gegenwärtigen Moment und ohne Wertung der Erfahrung, die sich von Moment zu Moment entfaltet“
(Kabat-Zinn zit. nach Fulton/Siegel 2009, S.19ff.).
Der Molekularbiologe und Gründer der „Stress Reduction Clinic“ in Massachusetts (USA) Jon Kabat-Zinn
entwickelte in den 1980er Jahren ein Handlungsprogramm zu Stressbewältigung durch die Praxis der
Achtsamkeit (Englisch: Mindfulness-Based Stress Reduction Programm), basierend auf der traditionellen
buddhistischen Achtsamkeitslehre Asiens.
Achtsamkeit nach Kabat-Zinn bedeutet ein wertfreies, bewusstes Erfassen des gegenwärtigen
Augenblicks, um die Fähigkeiten zur Einsicht und Aufmerksamkeit zu schulen und so das
Selbstheilungspotential zu aktivieren. Das Verweilen in der präsenten Situation ermöglicht es dem
erlebenden Menschen sich seiner ganz gewahr zu werden (vgl. Kabat-Zinn 1994, S.16). „[…Die
Aufmerksamkeit] führt zur Entwicklung einer völlig neuen Art von ‚Kontrolle‘ über unsere
Lebensumstände, zu einer tiefen inneren Weisheit“ (Kabat-Zinn 1994, S.16). Es gibt natürliche Faktoren
und Umstände, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Viele Umstände jedoch, von denen
geglaubt wird, sie entzögen sich, sind in Wirklichkeit beeinflussbar. Innere Überzeugungen oder
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Glaubenssätze, die das Innere eines Menschen, oder die Welt um ihn herum betreffen, wirken in die
Lebensführung hinein, ohne dass es den Betreffenden jederzeit bewusst ist.
Wird aber mithilfe einer achtsamen Haltung mehr Bewusstsein darüber erlangt, können autonomere
Entscheidungen, unabhängig von der inneren „Fürsprache“ sekundärer Instanzen (vor allem ehemaliger
elterliche Autoritäten) getroffen werden. Die Energien können vom Individuum bewusst für etwas
tatsächlich selbst Gewolltes eingesetzt werden. Sie versickern weniger in unbewussten
Entscheidungsfindungsprozessen auf Grundlage fremdbestimmter Überzeugungen (vgl. Kabat-Zinn 1994,
S.18).
2.1 Buddhismus als Quelle heutiger Achtsamkeitspraxis
Seit circa zweitausendfünfhundert Jahren besteht das Wissen um eine systematische Schulung der
Achtsamkeit durch Meditationsübung in Asien. Aufgrund der Unabhängigkeit von Glaubenssystemen
und Ideologien, wie es nicht im Sinne des Buddhismus wäre, steht das uralte Wissen jedem zur
Verfügung und die Meditationen können auf dieser Grundlage überall auf der Welt praktiziert werden.
Es soll hier schon einmal angemerkt sein, dass die Hauptanliegen buddhistischer Tradition die Linderung
des Leids und die Beseitigung der Täuschung sind. Dies ist der Hauptverknüpfungspunkt zum
Transaktionsanalytischen Konzept auf den später eingegangen wird (vgl. Kabat-Zinn 1994, S.28). Zwar
belegen vielfältige Quellen asiatischer Kulturgeschichtsschreibung den Nutzen von
Achtsamkeitsmeditation, sie wurde im Verhältnis jedoch erst vor kurzem einer wissenschaftlichen
Prüfung unterzogen und in der Psychotherapiepraxis eingeführt (vgl. Germer 2009, S. 50).
Eine der sogenannten „Vier edlen Weisheiten“ im Buddhismus ist die der Wahrheit vom Leiden (Dukkha
Sacca = Das Leben im Daseinskreislauf sei leidvoll und dies sei zu durchschauen). Mit dem Beschreiten
des nach der Legende des Buddha „Achtfachen Pfades“, soll es zur vollständigen Leidensaufhebung
durch den Eintritt ins Nirvana kommen, wenn alle acht Elemente dieses Pfades von den Übenden
gemeistert worden sind.1 Ein Element um das es hier gehen soll ist „Samma Sati“, zu Deutsch: „Die
Rechte Achtsamkeit“. (vgl. Gantzhorn 2016, Internetquelle). Im „Achtfachen Pfad“ wird von „Rechter
Achtsamkeit“, „Rechter Ansicht“ usw. gesprochen. „Das Wort 'recht' wird jeder Leitlinie vorangestellt,
1 Der „Achtfache Pfad“ stellt im Buddhismus den Weg zum „Nirvana“ und somit zur vollständigen Leidensaufhebung dar. Er umfasst die Rechte Ansicht (Samma Ditthi), das Rechte Denken (Samma Sankappo), die Rechte Rede (Samma Vaca), die Rechte Handlung (Samma Kammanto), den Rechten Lebenserwerb (Samma Ajivo), die Rechte Anstrengung (Samma Vayamo), die Rechte Achtsamkeit (Samma Sati) und die Rechte Konzentration (Samma Samadhi). Meistert der Übende alle acht Elemente selbst, so steht ihm/ihr das „Nirvana“ offen (vgl. Gantzhorn 2016, Internetquelle)
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nicht um eine rigide, normative Gussform vorzuschreiben, sondern eher im Sinne von 'geeignet' und
'wohl abgestimmt'“ (Germer/Olendzki 2009, S.410). Achtsamkeit wird in der buddhistischen
Schriftsprache Pali als „vipassana“ bezeichnet, was gleichbedeutend mit Einsicht ist. Im Gegensatz zur
Konzentrationsmeditation mit dem Fokus auf einem bestimmten Objekt, lässt man in der
Achtsamkeitsmeditation das Gewahrsein von einem Objekt zum nächsten wandern, wobei es zur
Einsicht in die subjektive Konstruktion von Erfahrungen und den drei Merkmalen der Existenz kommen
kann. Es handelt sich um die Vergänglichkeit (pali = anicca), das Leiden (dukkha) und das Nicht-Selbst
(anatta), das in Hinblick auf die Transaktionsanalyse und die Ich-Zustände besonders interessant ist. Zwar
wird auch im Buddhismus angenommen, dass es einzigartige Persönlichkeitsmuster gibt, die sich im
Lebensverlauf eines Individuums entwickeln, doch bedeutet die Einsicht in das „Nicht-Selbst“, dass diese
wiederum nur Muster des erlernten Verhaltens (bzw. Konditionierung) und ihnen die Essenz fehlt. Das
Anhaften an eigene Gedanken und Empfindungen (Eigentum, „meines“, „das bin ich“) ist danach Quelle
des Leidens und Ursache psychischer Störungen (vgl. Olendzki 2009, S. 406f.).
Die Wahrnehmung des unauflöslichen Zusammenhängens aller Lebewesen, wird durch Erfahrungen in
der Meditationspraxis gestärkt und ermöglicht Verständnis und Mitleid für das eigene Leiden und das
Leiden aller anderen Lebewesen (vgl. Goleman 2004, S. 12).
Die Einheit allen Lebens wird im Verlauf des Achtsamkeitspfades also entdeckt und die Illusion des
abgesonderten Selbst, zugunsten eines echten Durchschauens des Ich-Komplexes aufgedeckt.
2.2 Achtsamkeitspraxis und Achtsamkeitforschung in der westlichen Welt, speziell
Mindfulness-Based Stress-Reduction (MBSR)
Das von Jon Kabat-Zinn in den 1980er Jahren entwickelte Programm zu Stressbewältigung, auf Basis der
traditionellen buddhistischen Achtsamkeitslehre Asiens, kann ins Deutsche mit achtsamkeitsbasierte
Stressreduktion übersetzt werden. In dieser Arbeit wird der Abkürzungsbegriff MBSR oder MBSR
Programm gebraucht.
Kabat-Zinn behandelte vor allem körperlich (oft eindeutig psychosomatische Symptomatik,
psycho=geistig, soma=körperlich) erkrankte Menschen, mit teilweise starken Schmerzen und tödlichen
Erkrankungen wie AIDS und Krebs, sowie orthopädischen Leiden, Herzerkrankungen, Bluthochdruck,
Verdauungsbeschwerden, Hauterkrankungen, Kopfschmerzen. In diesem Sinn ist mit Stress vor allem
somatischer Schmerz und die damit einhergehende Beschränkung in der Lebensführung gemeint. Aber
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auch Menschen mit vordergründig psychischen Leiden wie Angst- und Schlafstörungen oder
Depressionen wurden zur Behandlung in die Klinik überwiesen. Beschrieben werden Menschen, die mit
der „ganzen Katastrophe“ leben (vgl. Kabat-Zinn 2013, S.36f.). „Es sind Geschichten körperlicher und
seelischer Qualen, der Enttäuschung über medizinische Behandlungen; ergreifende Geschichten von
Menschen, die von Gefühlen wie Bitterkeit und Schuld gequält werden, und von Menschen, deren
Selbstvertrauen und Selbstachtung in belastenden Lebensumständen schwerstens gelitten haben, oft
schon seit der frühen Kindheit“ (Kabat-Zinn 2013, S.37).
Achtsamkeit nach Kabat-Zinn bedeutet ein wertfreies, bewusstes Erfassen des gegenwärtigen
Augenblicks, um die Fähigkeiten zur Einsicht und Aufmerksamkeit zu schulen und so das eigene
Selbstheilungspotential zu aktivieren. Das Verweilen in der gegenwärtigen Situation ermöglicht es dem
erlebenden Menschen sich seiner ganz gewahr zu werden(vgl. Kabat-Zinn 1994, S.16). „[…Die
Aufmerksamkeit] führt zur Entwicklung einer völlig neuen Art von ‚Kontrolle‘ über unsere
Lebensumstände, zu einer tiefen inneren Weisheit“ (Kabat-Zinn 1994, S.16). Es gibt natürliche Faktoren
und Umstände, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Viele Umstände jedoch, von denen
geglaubt wird, sie entzögen sich, sind in Wirklichkeit beeinflussbar. Überzeugungen oder Glaubenssätze,
die das Innere eines Menschen, oder die Welt um ihn herum betreffen, wirken in die Lebensführung
hinein, ohne dass es den Betreffenden bewusst ist. Wird aber mithilfe einer achtsamen Haltung mehr
Bewusstsein darüber erlangt, können autonomere Entscheidungen, unabhängig von der inneren
„Fürsprache“ zweiter Instanzen (vor allem ehemaliger elterliche Autoritäten) getroffen werden. Die
Energien können vom Individuum bewusst für etwas tatsächlich selbst Gewolltes eingesetzt werden. Sie
versickern weniger in unbewussten Entscheidungsfindungsprozessen auf Grundlage fremdbestimmter
Überzeugungen (vgl. Kabat-Zinn 1994, S.18).
In Jon Kabat-Zinns Stressklinik werden Patienten auf einem sogenannten „Weg der Achtsamkeit“
begleitet. In einem achtwöchigen Programm unterbrechen viele von ihnen zum ersten Mal bewusst alles
Tun und versuchen sich bei angeleiteten Übungen dem Augenblick wertungsfrei hinzugeben. Vom
„Aktions-Modus“ wird in den „Seins-Modus“ umgeschaltet (vgl. Kabat-Zinn 1994, S.34f.).
„Wir möchten ihnen vermitteln, daß es möglich ist, mit der totalen Katastrophe zu leben und trotzdem
ganz und gar Mensch zu sein, Glück und Freude zu erleben, kurz: Alles Sein als vollkommen zu erfahren.
Das nennen wir den ‚Weg der Achtsamkeit‘“ (Kabat-Zinn 1994, S.35). Menschen, deren chronische
Schmerzen und Stresslevel sie völlig haben vergessen lassen, wie sich Entspannung anfühlt, weil sie in
ständigem inneren Widerstand dagegen leben, können durch die Beobachtung ihres Geistes endlich dem
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Schmerz die Aufmerksamkeit schenken, die er verlangt, damit es in letzter Konsequenz möglich wird,
dass er die Betreffenden weniger quält.
Um sich aus einem chronischen Schmerzkreislauf zu befreien, sollten die Patienten erkennen, dass das
Leid von der Reaktion auf den Schmerz stammt und eine akzeptierende Haltung entwickeln (vgl. Siegel
2009, S.275).
Betont wird in allen Veröffentlichungen zur Achtsamkeit, dass ihre Anwendung kein
Entspannungstraining ist. So heißt es bei Ronald D. Siegel, dass Entspannung bei regelmäßiger Praxis
eintreten kann und unangenehme Symptome durch die Senkung physiologischer Erregung verringert
werden können, jedoch geht das eigentliche Ziel der Praxis nicht weiter, als sich dem im gegenwärtigen
Augenblick Vorhandenen mit Akzeptanz zuzuwenden. Es wird von „erforschender Qualität“ des
Achtsamkeitsmodells gesprochen. Dies resultiert anfangs sogar eher in einer Erhöhung der
Symptomintensität, weil jegliche Ablenkung reduziert wird und unangenehme Gedanken, Gefühle und
Erinnerungen ins Gewahrsein gelangen (vgl. Siegel 2009, S.272f.).
Es gibt bereits einige Forschungsergebnisse zur Anwendung des MBSR Programms. Jon Kabat-Zinn
veröffentlichte 1982 und 1985 unkontrollierte MBSR-Studien über chronische Schmerzen. Durch das
Fehlen angemessener Kontrollen mangelt es ihnen allerdings an Validität. Eine 1992 veröffentlichte
MBSR Studie zu Angst- und Panikstörungen fand eine signifikante Abnahme der Punktezahl für
Depression und Ängstlichkeit (Beck und Hamilton Skala) und nur die Hälfte der Teilnehmer berichtete in
der letzten Kurswoche von Panikattacken - im Vergleich zum Zeitraum vor Kursbeginn. Neben dem
Fehlen einer Kontrollgruppe ist problematisch, dass zwölf von vierundzwanzig Teilnehmer Anxiolytika
einnahmen (Kabat-Zinn et al. 1992, zit. nach Lazar 2009, S. 321). In einer Folgestudie durch Miller et al.
(1995) wird außerdem angegeben, dass die Hälfte der Versuchspersonen in der Interventionsphase
zusätzlich Psychotherapie wegen Ängstlichkeit erhielt. Trotz des hohen zeitlichen Aufwands der MBSR
Praxis wird vermutet, dass sie als alleinstehende Therapie nicht genügt hat und aufgrund der Verbindung
mit psychotherapeutischer Behandlung die positive Wirkung erzielen konnte (vgl. Lazar 2009, S. 321).
Psychophysiologische Störungen stehen erwiesenermaßen in Zusammenhang mit andauernden
Geisteszuständen negativer Emotion, die Veränderungen im Gewebe erzeugen, die wiederum
Schmerzsymptome verursachen. So heißt es in einer Studie: „Psychologischer Stress und speziell
Jobzufriedenheit sagen verlässlicher als physikalische Messungen oder physische Anforderungen
während der Arbeit voraus, wer schwere Rückenschmerzen entwickeln wird“ (Bigos et al. 1991, zit. nach
Siegel 2009, S. 257f.). Die westliche Unterscheidung zwischen Geist und Körper wird als Fehlschluss
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bezeichnet und Mediziner sind in jüngerer Zeit auf die gute Behandelbarkeit psychophysiologischer
Störungen mit Achtsamkeitsübungen aufmerksam geworden (Siegel 2009, S. 252ff.).
Wird eine rein physiologische Ursache ausgeschlossen, kann die Behandlung mit Achtsamkeit und
kognitiver Restrukturierung aufgenommen werden (Agency for Health Care Policy and Research, 1994;
Deyo, Rainville & Kent, 1992 zit. nach Siegel 2009, S. 261). Zur Behandlung gehören kognitive
Restrukturierung, das Wiederaufnehmen voller physischer Aktivität und der Umgang mit negativen
Emotionen. Eine große Hürde ist der nötige Veränderungsprozess des persönlichen Glaubenssystems.
Auch Klinikern fällt es schwer zu verstehen, dass Muskelspannung, etwa aufgrund von Stress die Ursache
starker Schmerzen ist. Den Patienten wird der sogenannte Rückenschmerzzyklus in einem
psychoedukativen Prozess nahegebracht, damit es ihnen möglich wird, ein darauf folgendes
Behandlungsangebot mit Achtsamkeitsübungen zu akzeptieren. Die Praxis hilft den Patienten ein
Gewahrsein dafür zu entwickeln, dass ihre Gedanken von Instanzen außerhalb ihrer selbst (Ärzte,
Freunde Familie, usw.) beeinflusst werden, es jedoch die eigenen Interpretationen der Erfahrungen sind,
die die Reaktionen bestimmen. Die Menschen machen die Beobachtung des Zusammenspiels von Furcht
und ihrem Verhalten mit dem Schmerz. Sie gewinnen Kenntnis über die Rolle von Kognition und Emotion
in ihrem Schmerzerleben (vgl. Siegel 2009, S. 262f.).
Verlässliche Daten wurden bei Stressaktivitätstest von Goleman und Schwartz (1976) erhoben. Ihre
Hypothese, dass Meditierende eine geringere physiologische Reaktivität auf unangenehme Stimuli
aufweisen als eine nichtmeditierende Kontrollgruppe wurde insofern bestätigt, als dass sie bei einem
Hautleitwiderstandstest zwar anfangs eine höhere Schweißproduktion aufwiesen als die Kontrollgruppe,
jedoch schneller als diese wieder in den Ausgangszustand zurückkehrte. Sie hatten also eine erhöhte
Antwortrate auf die benutzten Unfallbilder, konnten aber schneller von ihnen „loslassen“. Es wird
vermutet, dass sie nicht in Grübeleien über das Gesehene verharrten, was die Dauer ihrer autonomen
Erregung verlängert hätte (vgl. Lazar 2009, S. 330).
Spezifisch zur Achtsamkeitsmeditation fanden Valentine und Sweet 1999, dass die Übenden dieser
Meditationsform signifikant besser im Ausmachen unerwarteter Stimuli (Töne mit unterschiedlichen
Wiederholungsfrequenzen) war als Konzentrationsmeditation Übende. Alle meditierenden Teilnehmer
waren in den Tests erfolgreicher als eine nichtmeditierende Kontrollgruppe. Interessant war auch ein
Folgevergleich mit Meditationsanfängern und solchen mit über zwei Jahren Meditationserfahrung,
wobei diejenigen mit mehr Erfahrung fünf Prozent mehr Stimuli ausmachten – unabhängig vom
Meditationsstil (vgl. Lazar 2009, S. 330f.).
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2.2.1 Persönliche Voraussetzungen zum Durchlaufen des Übungsprogramms
Meditation – hier im konkreten Fall das MBSR Programm – erfordern Engagement und eine bestimmte
innere Haltung um als Übende eine Grundlage für die Achtsamkeitsübungen zu haben (vgl. Kabat-Zinn
2013, S.67).
Bewusstes Üben von Meditation ist unerlässlich, weil sonst der Autopilot übernimmt (vgl. Kabat-Zinn
2013, S.128).
Laut Jon Kabat-Zinn ist für eine erfüllende Meditationspraxis ein gewisses Kontingent an Energie und
Enthusiasmus nötig. Eine zwanghafte, also unangenehme Praxis führt zu einer voreingenommenen,
manipulierten Meditation, in der etwas „ganz bestimmtes, großes, besonderes“ erreicht werden muss
und geht so völlig am Grundgedanken des Achtsamkeitskonzepts vorbei (Kabat-Zinn 2013, S. 67).
„Heilung setzt Empfänglichkeit und Akzeptanz voraus, die Einstimmung auf den Zusammenhang und das
Ganze“ (Kabat-Zinn 2013, S. 67). Das bedingungslose Akzeptieren eigener, vermeintlicher
Unzulänglichkeiten des Körpers und des Geistes soll zum Schlüssel zur Leidensminderung werden. Die
besten Erfahrungen machten diejenigen, deren Grundeinstellung skeptisch, aber offen gegenüber dem
Programm war (vgl. Kabat-Zinn 1994, S. 46). Es ist zu vermuten, dass diese Teilnehmer mit einer
einhergehenden Intellektualität besonders in der Lage sind, die Kerngedanken der Übungen zu erfassen
und umzusetzen.
Besonders interessant ist es, die jedem, aber vor allem Kindern inne wohnende Dynamik des
Anfängergeistes zu erleben. In Bezug auf Psychotherapeuten in Arbeit mit Kindern beschreibt Trudy A.
Goodman wie Therapeuten sich diesem kindlichen Aspekt ihrer Psyche wieder annehmen müssen, um
eine Kindertherapie in Fluss zu bringen. Kindern wohnt dieser Geist noch mit einer starken Präsenz inne.
Sie fühlen sich gewissermaßen von Augenblick zu Augenblick, wobei ein durchschnittlicher Erwachsener
dies eher kognitiv tut. Es kommt darauf an, sich, von dem Kind in dieser Weise die Welt zu erleben,
„anstecken“ zu lassen, um empfänglich für die merkwürdigen, scheinbar inakzeptablen Seelenanteile der
Patienten zu sein. Besonders um sich vorsprachlichen (auch traumatischen) Erfahrungen, die
ausgeschlossen worden sind, wieder gewahr zu werden und sie gemeinsam in der Therapie zu
integrieren (vgl. Goodman 2009, S. 294ff.). Das Bemühen um die Reaktivierung dieser kindlichen
Persönlichkeitsanteile wird im MBSR Programm optimistisch vorausgesetzt.
„Paradoxerweise kann der Geist sich fokussieren, wenn wir nicht länger darauf beharren, dass er
fokussiert sei“ (Siegel 2009, S.274). Diese Form des Loslassens, selbst von der Meditationspraxis und wie
sie im Allgemeinen beschrieben wird, bildet das unformbare, unkontrollierbare Schlüsselelement der als
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erfüllend erlebten Praxis. Die sieben Säulen des Engagement in der eigenen Achtsamkeitspraxis
bestehen aus: 1. Nicht-Beurteilen, 2. Geduld, 3. Den Geist des Anfängers bewahren, 4. Vertrauen, 5.
Nicht-Greifen, 6. Akzeptanz und 7. Loslassen (vgl. Kabat-Zinn 1994, S. 47ff.).
2.2.2 Die Atemmeditation im Sitzen oder Liegen
Während die Meditationspraxis im Rahmen von Liegen, Sitzen auf dem Boden oder einem Stuhl und
sogar im Gehen stattfinden kann, ist der Atem der wichtigste Meditationsgegenstand und bei Kabat-Zinn
der wichtigste Verbündete für das Sein im gegenwärtigen Moment.
Atem gibt, wie der Herzschlag, den Rhythmus der menschlichen Lebendigkeit vor. Alle
Lebenserscheinungen zeichnen sich durch sichtbare und nicht sichtbare, immer vorhandene
Bewegungsabläufe aus. Dies passiert zum Stoffaustausch. Beim Atemvorgang bedeutet das Austausch
mit der externen Umgebung – konkreter: Das Eintauschen von Kohlendioxidmolekülen gegen
überlebensnotwendige Sauerstoffmoleküle aus der Luft. Nach Kabat-Zinn ist der Atem als
Meditationsobjekt so besonders wertvoll, weil er sich, anders etwa als der Herzschlag, viel leichter
beobachten lässt, einem ständigen Wandel unterliegt und vom Menschen unmittelbar mental
beeinflussbar ist (z.B. den Atem anhalten). „Wenn wir uns beim Meditieren auf den Atem konzentrieren,
üben wir uns von Anbeginn im Zulassen von Veränderung und trainieren unsere Flexibilität“ (Kabat-Zinn
2013, S. 85). Die mit dem Atem verbundenen körperlichen Vorgänge, wie das Heben und Senken des
Brustkorbs, das Ein- und Ausströmen der Luft durch die Nasenlöcher und die Empfindungen die mit
diesen Vorgängen einhergehen, sollen in dem Moment bewusst wahrgenommen werden, in dem sie
stattfinden, ohne dass der Atem forciert oder sonst irgendwie manipuliert wird. Auch ist nicht gemeint,
über das Atmen als solches nachzudenken, sondern vielmehr ein Gewahrsein dafür zu entwickeln,
welche Gefühle durch den eigene Atem und die eigenen Körperfunktionen entstehen. Ein Beispiel dafür
ist das Beobachten und Spüren des sich Hebens- und Senkens der Bauchdecke. Der Atem fungiert als
Anker und das Medium, über das mit dem Gewahrsein selbst Verbindung geschafft wird. Besser als die
flache Brustatmung versorgt die Zwerchfell- oder Bauchatmung den Körper, bei der die Bauchdecke
entspannt wird um diesen Atemraum zu öffnen. Kinder, vor allem Babys, atmen natürlicherweise auf
diese Art. Erwachsenen verlangt eine gute Bauchatmung oft ein Wiedererlernen ab, das allerdings als
verhältnismäßig großer Gesundheitsgewinn erlebt wird. (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 86ff.).
Besonders gut lässt sich das Atmen im meditativen Sitzen üben. Das meditative Sitzen unterscheidet sich
durch den Grad des Gewahrseins vom normalen Sitzen. Es wird eine Haltung eingenommen, die als
„würdevoll“ beschrieben werden kann: Aufrecht, präsent und zugleich entspannt. Es ist möglich auf dem
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Stuhl, vorzugsweise ohne sich anzulehnen und mit beiden Füßen auf dem Boden, oder auf dem Boden,
klassisch mit gekreuzten oder unter das Gesäß geschobenen Beinen zu sitzen. Meditationsbänke- oder
Kissen können die Meditation auf dem Boden erleichtern. Wichtiger als die Position ist jedoch die innere
und äußere Meditationshaltung. Es wird aus den umherschweifenden Gedanken wieder sanft und
beharrlich, aber ohne Kritik an ihrem Dasein zu üben zum Atem zurückgekehrt (vgl. Kabat-Zinn 2013, S.
95ff.).
2.2.3 Die Body-Scan Meditation
Im Laufe ihres Lebens geraten die meisten Menschen in eine Krise in Bezug auf ihr Selbstbild, in Folge
derer sich eine Befangenheit auf alles Körperliche entwickelt. Hat der Körper für jemanden plötzlich
größte soziale Bedeutung und stimmt er nicht mit dem durch äußere Einflüsse geprägten „Idealbild“
überein, scheint es unmöglich sich genügend und wertig zu fühlen. „Es sind unsere Gedanken über
unseren Körper, die das Spektrum der Gefühle einschränken, die wir uns überhaupt eingestehen“ (Kabat-
Zinn 2013, S.113). Das Erscheinungsbild gewinnt überproportional an Wichtigkeit, während das
Körpergefühl verkümmert. Die Identifikation mit Bildern attraktiver „Idealtypen“ aus der Werbung, die
suggerieren, man sei glücklich, wäre man nur wie sie, münden oft in Ablehnung des eigenen Körpers
(vgl. Kabat-Zinn 2013, S.112ff.).
Um die Köperwahrnehmung zu stärken und überhaupt wieder einen Kontakt mit dem eigenen Körper
herzustellen, wird bei der MBSR die Body-Scan Methode eingesetzt. Es soll durch sie gelingen, den
Körper als Ganzheit wahrzunehmen und anzunehmen, selbst wenn Teile des Körpers krank sind, oder
schmerzen (vgl. Kabat-Zinn 2013, S.122).
Die Problematik der westlichen Unterscheidung von Geist und Körper führt laut Siegel zur einseitigen
Betrachtung eben meist psychophysiologischer Störungen, deren Symptome nur umfassend behandelt
werden können, wenn zu klassischen Empfehlungen auf physiologischer Ebene (Medikamente, Diät,
Physiotherapie) auf psychologischer Ebene behandelt wird (vgl. Siegel 2009, S.255). Hier bieten Formen
der Achtsamkeitspraxis mit dem Fokus auf den eigenen Körper besondere Chancen zur ganzheitlichen
Genesung. Über die gleichbleibende Aufmerksamkeit beim Body-Scan und das Annehmen der realen,
körperlichen Gegenwart im Moment und eine Meditationspraxis, die über das Konzept von Erfolg oder
Misserfolg hinausgeht, kann sich Genesung und geistige Klarheit einstellen (vgl. Kabat-Zinn 2013,
S.122ff.). Hier wird beschrieben, wie ein minimaler Manipulationsaufwand, und eben nur dieser zur
Leidensbefreiung führt. Hilfreich zum Verständnis dieser Art von Übung ist es, zu wissen, was Meditation
14
und hier speziell Body-Scan nicht bedeutet. Die Beweggründe loszulassen, und sich eine gewisse
Gleichgültigkeit zu eigen zu machen, sind die Hauptkontributionen der Übenden um zu einer –
hauptsächlich im westlichen Kontext vorkommenden – „gelingenden“ Praxis und ihren Vorteilen zu
kommen. Dies mag im Widerspruch zum verzweifelten Genesungswunsch von Patienten und auch
Ärzten stehen. Allerdings wird diese „Drucksituation“ enorm entschärft, sobald die Absichtslosigkeit und
Gleichgültigkeit von Meditation dem Praktizierenden erläutert und ermutigt wird. Dies lässt sich in der
westlichen Psychologie mit dem Konzept der Paradoxen Intervention vergleichen, wobei
Systemtherapeuten ihre die Sichtweise ihrer Patienten auf manipulative Art zu erschüttern versuchen,
um eine Problemlösung möglich zu machen. Ein Beispiel dafür ist einem Menschen mit Suizidambitionen
einen Strick entgegenzuhalten und ihm bei seinem Vorhaben Hilfe anzubieten, in der Hoffnung, dies
bringe ihn dazu das Vorhaben aufzugeben. (vgl. Stangl, W. 2016).
Mit diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die Erlaubnis zur Absichtslosigkeit in der Meditation doch
stark von einer paradoxen Intervention unterscheidet. Lediglich das Prinzip, die Denkmöglichkeiten der
Betreffenden zu erweitern bleibt gleich.
Das Ziel dieser Meditationsform ist das Zu-Sich-Kommen und jetzt im Augenblick, mit diesem Körper
ganz zu sein. Es wird eine Abfolge von Aufmerksamkeitsschritten angewendet, um den Körper von Kopf
bis Fuß als Ganzes zu spüren. Nicht aber ist das Training zur bloßen Entspannung gedacht (Kabat-Zinn
2013, S. 124f.).
2.2.4 Hatha-Yoga
Seinen Ursprung hat Yoga in der altindischen Philosophietradition und bedeutet in der sanskrit-Sprache
so viel wie Vereinigung, womit die Vereinigung von Körper und Geist bzw. die Erkenntnis gemeint ist,
dass beide nicht voneinander getrennt sind (vgl. Kabat-Zinn 1994,S. 104).
Hatha-Yoga ist eine Meditationsform im MBSR-Programm, bei der die Meditationsobjekte der eigene
Atem, der eigene Körper und seine Bewegungen sind. Es ist keine bloße Körperübung, zur Ertüchtigung
oder Kräftigung und in keinem Fall ein kompetitiver Sport, auch wenn es den Anschein haben kann.
Vielen Menschen fällt es schwer, den eigenen Körper nicht gegen einen Widerstand, ohne Zwang und
intuitiv wissend zu betätigen. Im Yoga geht es darum, diese Kompetenzen wieder als solche zu
betrachten und zurück zu bekommen (vgl. Kabat-Zinn 2013, S.128ff.).
Kabat-Zinn beschreibt das Erleben einer Yogapraxis als ein zutiefst vertrautes Gefühl der Heimkehr nach
langer Abwesenheit. Sie bezieht sich auf den Körper der Übenden und er spricht von
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„Wiedereinkörpern“. Gerade nach langen Phasen von Krankheit, mit bewegungsarmen Tagesabläufen
und der Praxis von Sitzmeditation und Body-Scan wird Yoga von vielen als besonders angenehme und die
für sie stimmigste Achtsamkeitsübungsform wahrgenommen (vgl. Kabat-Zinn 2013, S.128f.).
Die Form des Hatha-Yoga ist besonders geeignet, weil es sehr wirksamsten und gleichzeitig wohltuend
ist. Die Dehn-, Kräftigungs- und Gleichgewichtsübungen, Asanas genannt, werden sehr langsam und
bewusst atmend ausgeführt. Der ganze Körper wird beteiligt und es ist möglich, eine tiefe Entspannung
und zugleich ein lebendiges Körpergefühl zu erreichen.
Diese Selbsterfahrung des eigenen Körpers geht oft Hand in Hand mit einer psychischen Selbsterfahrung,
um wieder in Kontakt mit verschütteten oder unterdrückten Persönlichkeitsanteilen zu kommen. Kommt
man bei den Übungen in der Yogapraxis in den sogenannten „Flow“, gleicht sich der geistige Zustand
dem eines Kindes im selbstvergessenen Spiel an. Auf dieses Erleben wird im Verlauf folgender Kapitel
eingegangen. Hier erfolgt eine Kontaktaufnahme mit dem freien Kind-Ich- Zustand. Der vermeintliche
Widerspruch aus Bewusstheit und Selbstvergessenheit löst sich auf, wenn die scheinbare
Selbstvergessenheit als extrem erhöhtes Bewusstsein für genau den gegenwärtigen Moment begriffen
wird. Die Begegnung mit dem freien Kind-Ich wird besonders hoch eingeschätzt, weil es sich hierbei
häufig um den am wenigsten beachteten oder am meisten unterdrückten Ich-Zustand handelt, dessen
Eintreten dem Erwachsenen jedoch viel beschworene Autonomie und Unbefangenheit zurückgeben
kann, derer er sich als Kind oft bediente und die während seiner Kindheit im besten Fall
lebensbestimmend waren (vgl. Schlegel 1995, S.27).
2.2.5 Gehmeditation
Wer schon mal einen ausgiebigen Spaziergang durch die Natur gemacht hat, der weiß um den
Erholungswert, der sich durch die körperliche Anstrengung und die sich anschließende Entspannung
einstellt. Während der immer wiederkehrenden Bewegung besteht ausreichend Muße, um seine
Gedanken schweifen zu lassen.
Im Gegensatz dazu bedeutet Gehmeditation, das Gehen selbst gezielt zu erleben. Meditationsgegen-
stand sind die körperlichen Bewegungsabläufe des Gehens als koordinierter, bewusster Vorgang. Als
MBSR-Methode wird das Gehen in größter Langsamkeit praktiziert, so dass alle Bewegungsaspekte
bewusst ausgeführt und wahrgenommen werden. Der Blick schweift nicht in der Gegend herum,
sondern wird auf den Boden kurz vor dem Gehenden gerichtet, ohne jedoch die eigenen Füße zu
fokussieren. Auch die umherschweifenden Gedanken werden immer wieder auf den Gehvorgang
16
zurückgebracht. Die Absichtslosigkeit der Bewegung erleichtert es, den Geist zur Ruhe zu bringen.
Gleichzeitig wird der Aspekt der Verbundenheit mit dem Untergrund der Erde als Lebensgrundlage
wahrgenommen und als heilsam erlebt (Kabat-Zinn 2013, S. 117ff.).
2.2.6 Das achtsame Alltagsleben
Alle Verrichtungen des Alltags können in achtsamer Weise oder unachtsam ausgeführt werden. „Alles,
was sich benennen oder auch nur fühlen lässt, kann zum Gegenstand von Achtsamkeit werden.“ Nicht
nur formale Übungen sind dafür geeignet, meditative Zustände zu erreichen. Auch Tätigkeiten wie das
Abwaschen, mit Kindern spielen oder essen haben, wenn sie bewusst und achtsam ausgeführt werden,
gleiche Effekte. Oft lästige Alltagspflichten werden durch die Fokussierung auf den gegenwärtigen
Augenblick zu wenig anstrengenden, erfüllenden Erfahrungen. Die vermeintliche Schwierigkeit einer
achtsamen Alltagspraxis sollte im Hinblick auf die Vorteile nicht von einem Versuch abhalten. Belege
dafür lassen sich im eigenen Leben immer wieder finden, wenn sich der Zustand der vollkommenen
Übereinstimmung zwischen der ausgeführten Tätigkeit und dem Menschen selbst einstellt (vgl. Kabat-
Zinn 2013, S. 169ff.). Das Erleben des gegenwärtigen Moments, in dem dieser subjektiv wahrgenommen
wird, legt ein Aktivsein des transaktionsanalytischen Erwachsenen-Ich-Zustands nahe. Erleben die
Betreffenden nun zu diesem Moment Gefühle und machen Sinnerfahrungen tritt der Kind-Ich-Zustand
ein und es wird der eintretende Eltern-Ich-Zustand sein, dessen Ermahnung hilft, möglicherweise
schädliche Affekte zu regulieren, der Person Grenzen, passend zur Situation und im Sinne ihres eigenen
Wohls aufzeigt. Das bewusste Durchleben von Alltagssituationen kann zu einem ausgewogeneren
Verhältnis der Ich-Zustände führen und Ich-Zustands-Ausschlüsse deutlich machen, sowie zu einer
selbstbestimmten Reintegration führen. Treten fast ausschließlich zwei bestimmte Ich-Zustände auf,
während der dritte immer ausgeschlossen bleibt und blockiert wird, ist den Betreffenden ein gesundes,
ausgeglichenes Erfahren ihrer Umstände nicht möglich (vgl. Harris 2010, S. 137). Ein Blockieren
verschiedener Ich-Zustände zugunsten anderer kommt zum Beispiel periodisch bei manisch-depressiven
Menschen vor. Ein ausgeschaltetes Erwachsenen-Ich wird in Zusammenhang mit psychotischen
Störungen gestellt (vgl. Harris 2010, S. 141ff.). Für die mentale Gesundheit kann es also von großer
Bedeutung sein, auch im Alltag mit Mitteln aus der Achtsamkeitspraxis widerkehrenden
Zustandsmustern auf die Spur zu kommen und sich wieder als selbstbestimmter zu erleben. Es geht
darum, die Erkenntnis zu gewinnen, eine Wahl zu haben (vgl. Harris 2010, S. 153). Darum soll es
ausführlicher auch im nächsten Kapitel gehen. Die vorgegriffenen Ich-Zustände werden ausführlich in
Kapitel drei behandelt.
17
2.3 „Ziele“ der achtsamen Meditationspraxis
Das MBSR Programm trägt sein Ziel eigentlich schon im Namen: „SR“ steht für Stressreduktion. Stress
fungiert hierbei als Sammelbegriff für alle belastenden Lebenssituationen. Er wird durch verschiedenste
Stressoren ausgelöst. Dies können genau wie äußere Stressauslöser, etwa Lärm oder Naturphänomene
Gefühle und Gedanken sein. Interessant ist allerdings, dass die Stressreaktion selbst eigentlich ein
Anpassungsversuch ist, um einen Organismus auf die jeweiligen Anforderungen und Belastungen
einzustellen. So liegt es nahe, die Stressresistenz erhöhen zu wollen, um als unpassend und störend
erlebte Stressreaktionen zu vermeiden. Zu der „gesunden Lebensweise“, die dazu führen kann, zählt laut
Kabat-Zinn auch die Meditation. Er führt die Sichtweise an, dass der Mensch viel mehr Einfluss auf
potenzielle Stressauslöser hat, als normalerweise geglaubt wird und zwar indem die Perspektive
gegenüber den Stressoren verändert wird und sie als weniger bedrohlich wahrgenommen werden (vgl.
Kabat-Zinn 2013, S. 171ff.). Die Achtsamkeitspraxis soll zu der Perspektive führen, aus der der Wandel,
dem alles Leben unterliegt, als die Norm statt als Bedrohung betrachtet wird (vgl. Kabat-Zinn 2012, S.
281ff.). Dem Nervensystem soll auf lange Sicht mehr Beständigkeit erlaubt werden, indem die Übenden
Einsicht in ihren Geist bekommen und sich bei Bedrohungen und Wechselfällen weniger bedroht fühlen
und weniger in Widerstand gehen (vgl. Siegel 2009, S. 273).
Im Buddhismus muten die „Ziele“ der Meditationspraxis weit weniger weltlich und erstrebenswert für
den Kontext an, in dem ein an bestimmte Gesellschaftssysteme gebundenen Menschen lebt. So heißt es
bei Fulton und Siegel zur buddhistischen Psychologie: „Achtsamkeitsmeditation ist für nichts weniger als
die vollkommene psychologische, emotionale, moralische und spirituelle Befreiung vorgesehen,
allgemein auch ‚Erleuchtung‘ genannt“ (Fulton/Siegel 2009, S. 67). Es soll weder das gesunde Selbst,
noch das Selbstwertgefühl wie in der klinischen Psychologie hergestellt werden (diese „Vorzüge“ gelten
in der buddhistischen Tradition sogar als Bedingung für eine Pathologie!), sondern Verständnis über eine
„Nicht-Wirklichkeit des Selbst“ entstehen. Dies vermindere die Sorge um Selbstschutz und
Selbsterhöhung und erlaube mitfühlende Begegnung zwischen den Praktizierenden und der lebendigen
Welt. Dass die Einsicht über die Notwendigkeit von Selbstschutz und Selbsterhöhung in z.B.
psychodynamischen Therapieprozessen ein Schritt auf dem Weg, vor allem für westlich sozialisierte
Menschen ist, würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch von Vertretern buddhistischer Lehre bestätigt.
Allerdings herrscht in westlichen Schulen nach Einsicht und Bewusstseinserhöhung oft große Ratlosigkeit
über die „Bearbeitung“. Es bleibt unklar, wie mit den Einsichten umgegangen wird und es werden z.B.
fernöstliche Traditionen zu Rate gezogen. Dieser heute weit verbreitete Eklektizismus – man könnte es
auch Beliebigkeit des Intervenierens nennen – führt immer häufiger zu dem Konformgehen mit der
buddhistischen Weisheit über die Konstruiertheit psychodynamisch wirkender Kräfte, bzw. die
18
Selbsttäuschung, der die von inneren Instanzen abhängigen Menschen unterliegen. Die Notwendigkeit
des Sich-Lösens von „schützenden“ psychopathologischen- und Behandlungsmodellen zugunsten eines
an dem Bedarf des speziellen Patienten orientierten Heilens mit der Fülle des Wissens, auch abseits
westlicher, klinischer Schule wird eingesehen (vgl. Fulton 2009, S. 104ff.). Zusammenfassend ist ein
Erkenntnisgewinn um seiner selbst willen auch ohne weitere Bearbeitung ein Moment der Heilung und
er kann umso besser ausgeschöpft werden, je achtsamer die am Prozess beteiligten Erkenntnis
gewonnen haben. Erlernte formelle Übungen, abseits von Therapie weitergeführt, stellen jedoch ein
sehr greifbares und wirksames Mittel der Bearbeitung dar.
Allen Ansätzen ist grundsätzlich der Gedanke, Achtsamkeit als Antwort auf das unumgängliche
menschliche Leiden gemein. Es sind Konditionierungen, die dazu führen, Unbehagen zu vermeiden und
Vergnügen zu suchen um schmerzhaften Zuständen zu entkommen. Die buddhistische
Achtsamkeitstradition und alle westlichen Psychotherapieformen, die Achtsamkeit in die Behandlung mit
aufnehmen, versuchen diese Strategien durch sowohl formelle, als auch informelle, in Alltagshandlungen
integrierbare Gewahrseinsübungen zu ersetzen (vgl. Fulton/Siegel 2009, S. 51ff.).
2.4 Exkurs: Achtsamkeit in der Psychotherapie
Zur transaktionsanalytischen Persönlichkeitstheorie hinführend soll es hier gewissermaßen um einen
„Brückenexkurs“ über die Anwendung von Achtsamkeitskonzepten in der Psychotherapie gehen, da die
Transaktionsanalyse vor allem als klinische Methode der psychodynamischen Psychotherapie
Verbreitung fand.
Aufgrund der weiten Verbreitung von Wissen über Achtsamkeit bei Vertretern verschiedener
Psychotherapieschulen, fließt dieses schon länger auch konzeptuell mit in die Arbeit ein. Die
Psychoanalyse beschäftigte sich schon in ihren Anfängen mit buddhistischer Psychologie und Freud
beschrieb in „Das Unbehagen in der Kultur“ - obwohl wenig überzeugt von östlichen Philosophien - dass
das „ozeanische Gefühl“ in der Meditation essentiell eine regressive Erfahrung sei (vgl. Freud 1930, zit.
nach Germer 2009, S. 25). Freudschüler Carl Gustav Jung positionierte sich zustimmend gegenüber
buddhistischer Lehre und setzte sich in seinem Werk damit auseinander. In den 1960er Jahren gelangten
Ideen über Erleuchtung, Yoga und Meditation, vor allem durch Indienreisende an meistens akademisch
gebildete Westler – auch an Psychotherapeuten, die über eigene Praxis und Informiertheit ihr Wissen
über die Jahre in ihre Arbeit einfließen ließen. Sie verfassten eigene Theorien und Therapieschulen zur
Achtsamkeitsmeditation und versuchten sich an klinischer Anwendung und Forschung (vgl. Germer
2009, S. 25f.). „Achtsamkeit kann ein Konstrukt werden, das klinische Theorie, Forschung und Praxis
19
näher zusammenbringt und dabei hilft, das private und professionelle Leben von Therapeuten zu
integrieren“ (Germer 2009, S. 26).
Bei Fulton heißt es, die Anwendungsspanne in Therapie reiche vom impliziten Einfluss meditierender
Therapeuten, über achtsamkeitsinformierte Psychotherapie, bis zur expliziten Anleitung von
Achtsamkeitsübungen für Patienten (vgl. Fulton 2009, S. 85). Passenderweise wird angemerkt, dass
Therapiemodelle nur eine von vielen Variablen für gelingende Therapie sind und mit ihrer
Methodentechnik, vor allem im Verhältnis zur Qualität der Therapiebeziehung, bedeutungsarm sind (vgl.
Fulton 2009, S. 86f.). Es ist anzunehmen, obgleich es noch an empirischen Belegen mangelt, dass in
Achtsamkeit geschulte Therapeuten erfolgreicher Therapie Beziehungen zum Vorteil der Patienten
aufbauen (vgl. Fulton 2009, S. 89.f.). Laut den Autoren ist außerdem der Vorteil in Therapie integrierter
Achtsamkeit, dass neurotischen Patienten Kernsymptome oft erst durch ein Achtsamkeitstraining
aufsteigen lassen können. Etwa zeigt ein junger Mann offen depressive und zwanghafte Symptome
(Unsicherheit, Eifersucht), aber erst in ausführlichen Meditationssitzungen wurde er von den
unterliegenden Ängsten und von Furcht vor Verlust geliebter Personen, inklusive gewalttätiger Szenen in
denen ihnen etwas zustieß regelrecht überflutet. Die Wichtigkeit einer dabei vorhandenen
therapeutischen Instanz und deren Fähigkeit zum Containing in derartigen Prozessen sei angemerkt.
In ihrer Tradition ist die Achtsamkeitsmeditation der Verhaltensänderung verschrieben (vgl.
Fulton/Siegel 2009, S. 58f.). Deshalb liegt es nahe, dass sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapien
sich ihrer bedienen. Ausdrücklich achtsamkeitsbasierte Verfahren im verhaltenstherapeutischen Bereich
sind die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), entwickelt von Marsha Linehan, die „Akzeptanz und
Commitment“-Therapie (ACT) und die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT), ein Verfahren,
angelehnt an MBSR nach Jon Kabat-Zinn. Diese Therapieschulen zielen auf Emotionsregulation bei
depressiven, zwangsgestörten und Borderline-Patienten ab, wobei die Patienten sich in Konfrontation
mit negativen Emotionen begeben und achtsame Akzeptanz vorhandener Symptome geübt wird (vgl.
Morgan 2009, S. 191f.). Es wurde als Wirkung z.B. bei der ACT eine verminderte Glaubwürdigkeit
negativer Gedanken festgestellt (vgl. Zettle & Hayes 1986, zit. nach Morgan 2009, S. 191). Auch das
MBCT Training („Gedanken sind keine Fakten.“), wobei Gedanken und Gefühle objektiv betrachtet
werden sollen und Patienten sich in diesem Prozess der sogenannten „Dezentrierung“ weniger
vermeidend gegenüber Gedanken und Gefühlen verhielten und weniger auf sie reagierten. Die Rückfälle
in Depressionsepisoden verminderten sich (vgl. Segal, Williams et al. 2002, zit. nach Morgan 2009,
S.192). In der DBT geht es darum, achtsamkeitsbezogene Fertigkeiten zu erlangen, um ein erfolgreiches
Leben im zwischenmenschlichen Bereich, unabhängig von Gefühlen führen zu können. Die Patienten
20
werden mit ihren Affektlagen in einer Atmosphäre der Akzeptanz konfrontiert (vgl. Germer 2009, S.
181f.).
Die Stimuluskonfrontation wird auch in der psychodynamischen Psychotherapie angewandt. Wie in der
Einsichtsmeditation erscheinen in diesem Setting unausweichlich Gedanken und Gefühle und sind in der
vertraulichen Therapiebeziehung ausdrücklich eingeladen und nicht mehr „verboten“. Sie sind
Gegenstand des therapeutischen Gesprächs (Fulton/Siegel 2009, S. 75f.). Daniel N. Stern plädiert für eine
Sichtweise wie durch ein Vergrößerungsglas des Gegenwartsmoment in Psychotherapie. Er wirft der
Psychoanalyse vor, den Gegenwartsmoment zugunsten der Bedeutung und narrativen Kohärenz von
Lebensgeschichten zu vernachlässigen (vgl. Stern 2005, S. 146ff.). Dies müsse sich für ein erfolgreicheres
Therapieverhältnis, in dem etwa frei Assoziation ihr Netzwerk aus Bedeutung entfalten kann, ändern. So
heißt es bei Stern: „Je länger der Therapeut am Gegenwartsmoment festhalten kann und ihn erforscht,
umso mehr Pfade, die in die unterschiedlichsten Richtungen führen, werden sich auftun“ (Stern 2005, S.
147). Deutet der Therapeut die Übertragungsbeziehung zu schnell, wird er der Beziehung im
Gegenwartsmoment nicht gerecht, deren Bedeutung nach Stern einen größeren klinischen Wert hat, als
bislang angenommen wurde (vgl. Stern 2005, S. 146ff.). Hieran anschließend erschließen sich die
Betrachtungen der Stille in Therapiesitzungen von Stephanie P. Morgan an, wonach Stille Momente
fruchtbar und transformativ sein können. In der Stille erfolgt sehr viel Kommunikation und sie wird
jeweils und von Augenblick zu Augenblick unterschiedlich erlebt (Transformation). Gedanken werden in
den Gesprächspartnern laut und haben Raum sich mit weniger äußerer Störung zu entwickeln. Wird die
Stille achtsam wahrgenommen, erschließt sich den Erlebenden ihre Fülle (vgl. Morgan 2009, S. 201f.).
Die Wichtigkeit einer achtsamen Therapiebeziehung, ausgehend vom Therapeuten erschließt sich vor
allem konkret, wenn es um selbstverletzendes Verhalten, auch abseits von verbal geäußerter Suizidalität
oder realer Verhalten geht. Es geht darum, so achtsam zu sein und den Moment so gänzlich
wahrzunehmen, dass kaum Regungen der Patienten „entschlüpfen“ können, damit sie vor Schaden
bewahrt werden können. Subtile Bewegungen und vor allem Blicke (z.B. ständiges zur Seite schauen)
oder Stimmveränderungen des Patienten in Zusammenspiel mit seinen Schilderungen geben dem
wahrnehmenden Therapeuten Hinweise auf das Ausmaß von Selbstverletzung, das oft sehr individuelle
Formen annimmt, die nicht allgemeingültig als selbstverletzend eingestuft werden können (Das volle
Kontinuum der Selbstverletzung beachten). So würde „sehr viel für andere tun“ nicht unbedingt in diese
Kategorie fallen. Der im gegenwärtigen Moment in der Therapie anwesende Patient zeigt aber etwas
anderes, wenn er davon erzählt. Für diesen Betreffenden speziell hat das viele Helfen selbstverletzenden
Charakter (vgl. Morgan 2009, S. 216f.). Bei Eric Berne geht es weiter darum, Kommunikationsmittel der
Patienten auf den Gehalt bestimmter Ich-Zustände zu überprüfen, um die wahre Herkunft des
21
Überbrachten ans Licht zu bringen. Vor allem beziehen seine Überlegungen, genau wie bei Morgan die
körperlichen Ausdrucksformen mit ein. Sie verraten mehr als das tatsächlich Gesagte, dessen kognitive
Natur - allein durch den Gebrauch von Sprache - weniger Tiefenaussagekraft enthält (vgl. Berne 2001, S.
413ff.).
Die Relationale Psychotherapie wird bei Janet L. Surrey als besonders fruchtbar beschrieben. Die
Relational-kulturelle Theorie und Praxis entstand in den 1970er Jahren aus weiblichen
Erfahrungsperspektiven. Professionelle Ideale des „Selbst“ und der „Eigenständigkeit“ werden als für
Gesundheit und Wohlergehen dienlich in Frage gestellt. Authentisch verbunden sein ist nach dieser
Theorie Kern psychologischen Wohlseins. Diese Sichtweise versteht menschliches, psychisches Leiden als
abgeschnitten und nicht verbunden sein, weil die Leidenden daran gehindert werden, sich an
beidseitigen authentischen, emphatischen und persönlich befähigenden Beziehungen zu beteiligen (vgl.
Surrey 2009, 135ff.). Die Erfahrungen der Patienten werden in „Co-Meditation“, in einer nicht
abreißenden, starken Verbindung von Therapeut und Patient gemeinsam beforscht. „Das emphatische
Einstimmen des Therapeuten hilft, die Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks mit Akzeptanz
herauszuziehen, ohne den Patienten zu überfluten oder zu beschämen“ (Surrey 2009, S. 140). Auch bei
Jon Kabat-Zinn heißt es, dass viele Krankheiten regelrecht auf das Konto traumatischer
Kindheitserlebnisse, in denen die Erfahrung von getrennt sein gemacht und verinnerlicht wurden. Der
Wunsch nach Verbundenheit ist allen Menschen der Tiefste. Achtsamkeit führt zu Verbundenheit,
während Unachtsamkeit zum Getrennt-Sein führt. Dieses Getrennt-Sein, von anderen, von sich und dem
eigenen Körper erlebte der Arzt bei seinen Patienten als größeren Leidensfaktor als die physischen
Schmerzen. Die fahrlässig zugefügten Kindheitswunden sind kaum zu heilen, wohl aber wirkt
Achtsamkeit im Umgang mit anderen und vor allem Kindern präventiv (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 187ff.)
Es wird einmal mehr deutlich, dass Achtsamkeitsmeditation als Mittel zur Heilung keine Einbahnstraße
sein kann und es immer der Beziehung bedarf, um Heilungsfortschritte zu erzielen. Auch die
transaktionsanalytische Therapie und Beratung stellt, ihrer Natur gemäß, Beziehung als
Behandlungsmittel in den Vordergrund.
3 Die Transaktionsanalytischen Ich-Zustände nach Eric Berne
Die vom Psychiater und Psychoanalytiker Eric Berne entwickelte Transaktionsanalyse ist eine Theorie der
Persönlichkeit, der Sozialaktion und eine klinische Methode der Psychotherapie. Ihren Kern bilden die
Konstrukte der Ich-Zustände. Sie stellt ein Modell zur Verfügung, um alle denkbaren Formen von sozialen
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Verhaltensweisen zu erklären. Ein Ich-Zustand ist nach Berne definiert als ein „in sich geschlossenes
Muster von Fühlen und Erleben, das in direktem Zusammenhang steht mit einem in sich geschlossenen
Verhaltensmuster“ (Berne zit. nach Stewart/Joines 2000, S.39). Fühlen und Erleben laufen zusammen ab
und die gezeigten Verhaltensweisen bilden ein zueinander und zum Erleben passendes, geschlossenes
Ganzes (vgl. Stewart/Joines 2000, S.39).
Jeder erwachsene Mensch trägt drei Ich-Zustände in sich. In den folgenden Ausführungen beschränken
sich die Begriffe auf die Kurzformen: „Eltern-Ich-Zustand“, „Kind-Ich-Zustand und „Erwachsenen-Ich-
Zustand“ (vgl. Berne 2001, S.37). Die nächsten Kapitel enthalten Definitionen aller drei Ich-Zustände und
werden mit Beispielen unterlegt. Beim Zusammenfügen der drei Ich-Zustände ergibt sich das Ich-
Zustands-Modell, das den Kern der Transaktionsanalyse ergibt. Es wird auch als Strukturdiagramm erster
Ordnung bezeichnet (vgl. Stewart/Joines 2000, S.34).
Abb. 1 Strukturmodell erster Ordnung Das funktionelle Modell der Ich-Zustände (Glöckner 2016)
Das funktionelle Modell der Ich-Zustände teilt den Eltern-Ich-Zustand in das kritische Eltern-Ich und das
nährende oder fürsorgliche Eltern-Ich ein. Der Erwachsenen-Ich-Zustand wird nicht unterteilt und beim
Kind-Ich-Zustand wird zwischen dem angepassten und rebellischen Kind-Ich-Zustand unterscheiden. Die
Bedeutung der Ich-Zustände und deren Unterteilungen werden in folgenden Kapiteln erläutert.
Der Transaktionsanalyse ist eigen, dass die Theorie sofort auf lebensweltliche Exempel bezogen wird.
Berne hat zur Verdeutlichung auch mit „Geschichten“ und Märchen gearbeitet. In der Theorie stellen die
Ich-Zustände einen wichtigen Stützpfeiler dar, sie sind jedoch nur ein Instrument zum Verstehen
größerer Lebenszusammenhänge und dienen speziell der Analyse von Transaktionen, spielen aber auch
in der Skriptanalyse eine große Rolle, die hier nicht behandelt wird. So werden Skripte, Spiele,
Lebenspläne und Grundannahmen in dieser Arbeit nicht oder nur marginal miteinbezogen. Auch
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weiterführende und weiter unterteilende Modelle, sowie weitere differenzierte Betrachtungen über Ich-
Zustände und Transaktionsarten sind nicht vorgesehen.
3.1 Das „Eltern-Ich“ und die Programmierung durch die Eltern
Dieser Ich-Zustand tritt dann in Erscheinung, wenn Lebenssituationen moralische Bewertungen und
autoritäres Handeln zu verlangen scheinen. Im Sinne einer Gewissensfunktion wird er etwa aktiv, wenn
die eigenen Kinder erzogen werden. Berne ordnet den Einsatz des Eltern-Ich sogar als Überlebensfaktor
des „Menschengeschlechts“ ein und begründet dies damit, dass so viel Zeit und Energie gespart werden
kann, weil es Dinge gibt, die „man eben einfach tut“. Ehemalige Waisenkinder etwa, hätten es
bedeutend schwerer im Umgang mit ihren eigenen Kindern, weil ihnen ein stabiles/gesundes Eltern-Ich
fehle, das einem Kind genügend Schutz böte (vgl. Berne 2005, S. 36). Allerdings können alle Menschen
eine Form des Eltern-Ich-Zustandes aktivieren und situationsbedingt die gleiche Geisteshaltung und den
gleichen Habitus wie die Eltern(-Vertreter) einnehmen. „Jedes Individuum hat Eltern (oder Eltern-
Stellvertreter) gehabt, und es besitzt in seinem Innern eine Gruppe von Ich-Zuständen, die die Ich-
Zustände seiner Eltern (so wie es sie aufnahm) wiedergeben […]“ (Berne 2005, S. 31). Diese Anteile
werden auch als „elterliche Introjekte“ bezeichnet, was bedeutet, dass die von den Eltern kommenden
Botschaften gewissermaßen ungefiltert und nicht hinterfragt als Regelwerk für die eigene Lebensführung
Teil der Betreffenden werden (vgl. Stewart/Joines 2000, S. 61). Allerdings bedeutet elterliche
Programmierung im psychoanalytischen Sinn auch, dass ihr Einmischen in die freie Ausdrucksform des
Kindes von allen Beteiligten unterschiedlich beurteilt wird. Die Mutter sagt z.B. einen Satz wie: „Du bist
viel zu jung, als daß du Whisky trinken könntest!“ und behauptet damit gesagt zu haben: „Ich will nicht,
daß mein Sohn Whisky trinkt.“ Sie meint eigentlich: „Das Whiskytrinken ist ausgesprochene
Männersache, aber du bist noch ein kleiner Junge!“ Bei dem Jungen kommt als Botschaft der Mutter an:
„Wenn die Zeit soweit ist, daß du dich als Mann erweisen mußt, dann wirst du Whisky trinken müssen.“
Dieser Denkversuch des Kindes den wesentlichen Kern des Gesagten zu erfassen, um sich die Liebe
seiner Mutter zu erhalten wird als „marsisches Denken“ bezeichnet. Es richtet sein gesamtes Denken
daran aus, weiterhin den Schutz, die Liebe und teilweise sogar das Überleben durch die Eltern zu
erhalten. Das Kind ist existentiell von ihnen abhängig. So programmiert sich ein Lebensplan, ausgerichtet
nach den Direktiven seiner Eltern. Lediglich starke Lebenseinschnitte wie Prüfungen (Krieg, Migration,
usw.), eine Ekstase (Konversion, Liebe), aber auch Psychotherapie können laut Berne „aus den Fesseln
der Eltern“ befreien (vgl. Berne 2001, S. 125f.).
24
Nach Bernes transaktionsanalytischen Überlegungen, werden also bereits in frühester Kindheit
Entscheidungen darüber getroffen, wie der Mensch sein Leben ganz konkret gestalten wird. Dies
geschieht unbewusst. Er geht sogar so weit, die Aussage zu treffen, die meisten Menschen täuschten ein
Leben lang andere und vor allem sich selbst (vgl. Berne 2001, S.47). Jene Selbsttäuschungen
aufzudecken, kann auch das Ziel achtsamer Meditationspraxis sein. In dieser Arbeit hat Meditation
diesen Bedeutungsaspekt als Hauptziel und weicht damit kaum von dem traditionell buddhistischen
Gedanken der Leidensaufhebung durch Aufhebung der Selbsttäuschung ab. Zu einer Befreiung
elterlicher Abhängigkeiten ist jedoch die Bearbeitung dieses Abhängigkeitskomplexes in dyadischen
Beziehungen, wie Berne es beschreibt nötig (vgl. Berne 2001, S. 126). Achtsamkeit ist die Stützkraft für
das Gelingen dieser Beziehungen in Hinblick auf die eigene Autonomie. Treffen zwei achtsam
kommunizierende Menschen aufeinander, ergibt sich eine, in dieser Hinsicht denkbar gewinnbringende
Konstellation.
3.2 Das Kindheits-Ich
Berne beschreibt, dass jeder Mensch den kleinen Jungen oder das kleine Mädchen, das er oder sie
einmal war auch als Erwachsener in sich trägt. Verhaltensweisen und Gemütszustände sind im Kind-Ich-
Zustand nicht kindlich oder etwa „unreif“ (diese Einschätzung wäre von der Eltern-Ich-Ebene
vorausgenommen), sondern zur Abgrenzung davon viel mehr kindhaft. Dieser Erwachsene verhält sich
wie das Kind, das er oder sie in einer bestimmten Entwicklungsphase einmal war (vgl. Berne 2001, S.27).
Zwar gibt es allgemeingültige Orientierungsmarker dafür, dass sich ein Mensch gerade im Kind-Ich-
Zustand befindet, allerdings stellen diese Indizien höchstens den Beginn eines Begreifens dessen dar,
was nach der Transaktionsanalyse mit dem Kindheits-Ich-Zustand gemeint ist. Für eine verlässliche,
individuelle, verhaltensbezogene Diagnose ist es erforderlich zu wissen, wie speziell diese Person als
Kind gelebt hat, wie sie sich ihren Eltern gefügt und auf Ereignisse reagiert hat (Stewart/Joines 2000, S.
72ff.).
Im funktionellen Modell der Ich-Zustände wird zwischen dem angepassten Kind-Ich-Zustand und dem
freien Kind-Ich-Zustand unterschieden. Angepasst bedeutet als Kind vor allem Anpassung an die Eltern(-
Vertreter). Das Kind richtet sein Verhalten an den Bedürfnissen der Eltern aus und geht darauf ein, was
von ihm erwartet wird. Auch ein rebellierendes Kind richtet sein Verhalten an Erwartungen und in
Abhängigkeit der Eltern aus, weil es sich etwa gegen elterlichen Druck auflehnt. Es wird immer noch auf
die Kindheitsregeln reagiert. Der freie Kind-Ich-Zustand ist gekennzeichnet durch ein unzensiertes,
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natürliches, von den Eltern und anderen Autoritäten unabhängiges Erleben und Fühlen, wie es als Kind
beispielsweise im völlig versunkenen Spiel der Fall war. Sowohl der angepasste Kind-Ich-Zustand, sowie
der freie Kind-Ich-Zustand können je nach Situation einen positiven oder negativen Charakter haben. Vor
allem in sozialen Kontexten, in denen nur ein bestimmtes Verhalten gutes Miteinander ermöglicht, sind
etwa angepasste Verhaltensregeln mit positivem Effekt für das eigene Leben anzubringen (vgl.
Stewart/Joines 2000, S. 49ff.).
Ein Beispiel für den (negativ) angepassten Kind-Ich-Zustand wäre etwa eine Person, deren Chef ihr die
Leviten für zu spätes Erscheinen am Arbeitsplatz liest, worauf diese leise (Lautstärke) und ängstlich
(Mimik, Gestik, Körperhaltung) eine Entschuldigung (Redewendungen) stottert. Hier wird deutlich, dass
viele andere Formen des Reagierens möglich wären. Diese liegen jener speziellen Person jedoch fern,
weil das angepasste Kind-Ich bei ihr, zumindest in solchen Momenten stark zu sein scheint (vgl.
Stewart/Joines 1990, S. 73ff.).
3.3 Das Erwachsenen-Ich
Nach Berne arbeitet das Erwachsenen-Ich wie ein Computer. Ein Mensch befindet sich im Erwachsenen-
Ich-Zustand, wenn er seine Umwelt objektiv abschätzt und seine Möglichkeiten und
Wahrscheinlichkeiten nach seinen bisher gemachten Erfahrungen berechnet (vgl. Berne 2001, S.27). In
der Diagnoseanweisung zum Erkennen dieses Zustandes empfehlen Stewart und Joines die
Verhaltensweisen zu beobachten (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Sprechweise usw.), um den gezeigten
Ich-Zustand zu erkennen. Beim Erwachsenen-Ich-Zustand können das ein ausgeglichener Stimmklang,
eine aufrechte Körperhaltung und eine entspannte Mimik sein. Einzelne Hinweise sind für die Diagnose
niemals ausreichend (vgl. Stewart/Joines 2000, S.72f.). „Die Haltung des Erwachsenen-Ichs ist flexibel,
alert und mobil“ (Berne 2001, S. 416). Deutlich wird, dass der Erwachsenen-Ich-Zustand für eine
praktische, an vorhandene Gegebenheiten angepasste Alltagsbewältigung, zum Zweck der
Überlebenssicherung dienlich ist.
3.4 Die Transaktion aus den Ich-Zuständen
Jede menschliche Kommunikation ist Transaktion. Die transaktionsanalytische Kommunikation zeichnet
sich durch Beobachtbarkeit aus. Transaktion nach Eric Berne findet statt, wenn ein
Kommunikationspartner auf eine bestimmte Art anbietet, mit jemandem anderes in Verbindung zu
treten und dieser Andere zum Anbietenden hingewandt reagiert. Es gibt drei Arten der Transaktion.
26
Als Paralleltransaktion oder Komplementärtransaktion wird bezeichnet, wenn der Stimulus des einen
Partners genau die Reaktion beim Gegenüber hervorruft, die zum Stimulus passt. Ein Beispiel ist eine
Ansprache aus dem Eltern-Ich-Zustand (Stimulus), zum Kind-Ich-Zustand des Gesprächspartners. Die
„Einladung“ aus dem Eltern-Ich-Zustand wird mit dem Reagieren aus dem Kind-Ich-Zustand
angenommen – die Transaktion verläuft parallel (vgl. Stewart/Joines 2000, S. 99ff.). Wichtig ist zu
betonen, dass lediglich dazu eingeladen werden kann, aus einem bestimmten Ich-Zustand heraus zu
reagieren. Dies kann niemals „automatisch bewirkt“ werden (vgl. Stewart/Joines 2000, S. 109f.).
Bei der Überkreuztransaktion reagiert der Adressierte aus einem anderen Ich-Zustand als dem, zu dem
er eingeladen worden ist. Etwa wird eine neutrale Fragestellung nach der Uhrzeit aus dem Erwachsenen-
Ich-Zustand mit einer heftigen Reaktion aus dem kritischen Eltern-Ich-Zustand laut und aufbrausend
„beantwortet“ und eine Tirade an Vorwürfen über Zuspätkommen beim Fragesteller abgeladen (vgl.
Stewart/Joines 2000, S. 103f.).
In der verdeckten Transaktion scheint das Gesagte einem bestimmten Ich-Zustand zugehörig, jedoch
lässt Tonfall, Mimik, Gestik und Körperhaltung auf einen anderen Ich-Zustand schließen. Der verdeckte
Stimulus wird verstanden und die Reaktion erfolgt dann im Sinne einer Komplementärtransaktion auf
eben diesen (vgl. Stewart/Joines 2000, S. 107ff.).
4 Die achtsame Haltung zum Erkennen der Ich-Zustände
Die Ich-Zustände treten zumeist unbewusst ein. Je achtsamer Menschen sind, desto mehr kommen sie in
eine Beobachterposition ihrer selbst. Dieser Vorgang wurde in vorangegangenen Kapiteln hinreichend
beschrieben. Ist im MBSR Programm das Hauptziel die Behandlung schmerzhafter Erkrankungen und
Schmerzlinderung, so ist das Erkennen der Ich-Zustände Gegenstand der Überlegungen dieser Arbeit
und steht für die psychische Leidensminderung. Wird nun das Wissen um die Untrennbarkeit von Psyche
und Soma angewandt, erschließt sich der Sinn dieser Art von Behandlung für beide Leidensorte.
Bei den formellen Achtsamkeitsübungen, deren Regeln oder Empfehlungen den Übenden bekannt sind,
wird sich bei fast allen Menschen ein innerliches Kritisieren ihrer Praxis einstellen, wenn sie glauben, von
den Regeln abzuweichen und dass die Übungen ihnen nicht gelingen. Hier kann die Kontaktaufnahme
mit dem Eltern-Ich-Zustand stattfinden, erkennt man an der Wortkomposition und dem kritisch,
zurechtweisenden Inhalt der gedachten Worte das kritische Eltern-Ich (vgl. Stewart/Joines 2000, S. 75).
Wird die Praxisempfehlung nun befolgt, werden die kritischen Stimmen wahrgenommen. Dann wird
27
versucht, sie nicht wertend vorüberziehen zu lassen und nicht über Gelingen oder Nicht-Gelingen dieser
Praxis zu urteilen.
Entsteht in Achtsamkeitsmeditationen oder einfach sehr achtsam ausgeführten Alltagtätigkeiten ein
sogenannter „Flow“-Zustand, dessen Charakter das völlig im Moment-Aufgehen und ihn in Gänze, ohne
Ablenkungen wahrnehmen ist, so stellen viele Übende ein kindliches Erleben der Praxis fest. Sie erleben
Momente, wie sie in ihrer Erinnerung an die Kindheit beim völlig versunkenen Spielen, Malen oder
Musizieren vorkamen. Hier wird deutlich, dass nachdem wie Meditation oft beschrieben wird, ein
Idealzustand erreicht ist, befinden sich die Meditierenden, transaktionsanalytisch betrachtet, im freien
Kind-Ich-Zustand.
Der Erwachsenen-Ich-Zustand ist eingetreten, wenn der Meditierende in der Beobachterperspektive
gegenüber sich selbst und seiner gegenwärtigen Situation ist.
Eine achtsame Haltung kennzeichnet sich durch Akzeptanz. Diese ist eine Erweiterung des „Nicht-
Wertens“ und impliziert ein gewisses Maß an Liebenswürdigkeit, Herzensgüte und Freundlichkeit. Sich
selbst und anderen gegenüber eine solche Haltung einnehmen zu können, erleichtert den Umgang mit
starken Emotionen wie Trauer oder Wut. Viele Menschen brauchen ein solches Klima sogar, um
überhaupt Zugang zu dieser Art von Emotionen zu haben. Dialektisch behavioral und
achtsamkeitsbasiert arbeitende Therapeuten wie Marsha Linehan sprechen von „radikaler Akzeptanz“
(vgl. Germer 2009, S. 21).
4.1 Intrapersonell
Über die Praxis der Achtsamkeitsübungen fällt es leicht mit Geisteszuständen in Kontakt zu kommen. Sie
drängen sich förmlich, oft auch unangenehm auf, während Übende in Stille sitzen oder liegen,
besonders, wenn vorher kaum oder kein bewusster Kontakt vorhanden war. Es ermöglicht die eigene
Dysbalance selbst zu erkennen und eigenmächtig in Fühlung mit diesen Anteilen des Selbst zu kommen,
ohne dass die Erkenntnis darüber in dyadischen (Therapie-)Beziehungen vorweggenommen wird (vgl.
Siegel 2009, S.272f.). Im Sinne der Ich-Zustände aus der Transaktionsanalyse setzen sich im Menschen
die Mitglieder des innerpersönlichen Systems auseinander, so wirft jeder Ich-Zustand sein Wort in die
Waagschalen der Auseinandersetzung zu einem bestimmten Thema. Die Ich-Zustände existieren mit
ihren Positionen nebeneinander, folgen schnell aufeinander, scheinen sich zu überlappen und ein Ich-
Zustand übernimmt meist dominant die Führung in einer inneren Debatte oder der Einschätzung einer
äußeren Situation (vgl. Schlegel, L. 1995, S. 10ff.). Der innere Dialog, in dem während der Mediation
28
ebendiese beurteilt wird ist ein Beispiel für Ich-Zustandswechsel. Ist die verurteilende Stimme dem
Eltern-Ich-Zustand zuzuschreiben („es klappt ja doch nicht!“), so löst der Funke des sogenannten
„Anfängergeistes“ ein Wechsel in den Kind-Ich-Zustand aus („Wie aufregend! Ich fühle mich als würde
ich schweben“) und der Erwachsenen-Ich-Zustand holt die Verbindung zu Zeit, Raum und Alltag zurück
(„Wie spät ist es eigentlich?) (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 47ff.). Die buddhistische Tradition fordert den
Achtsamkeit übenden auf, durch diese Erkenntnisse zu einem Nicht-Selbst („anatta“) zu finden und mit
dem Geist nicht an im Moment vorhandenen Geisteszuständen zu haften. Die Auseinandersetzung, etwa
mit den Ich-Zuständen, kann ein Schritt auf dem Weg zum Loslassen der Identifikation mit den Aspekten
des Selbst sein, auf dem es in der Regel keine Abkürzungen gibt.
4.2 Interpersonell
Die Achtsamkeitstradition und die klassische Meditationspraxis haben eine einsame Qualität. Sie
unterscheiden sich damit von Therapie- und Beratungsformen psychodynamischer und behavioraler Art
als Form der „Behandlung“ neurotischer und psychosomatischer Zustände. Meditation scheint anfällig
dafür zu machen, interpersonelle Konflikte zu vermeiden, oder sich immer wieder in neurotischen
Beziehungskonflikten wiederzufinden (vgl. Fulton/Siegel 2009, S.75f.). Eine isolierte Meditationspraxis,
wie sie oft als Klischee des Eremiten in klösterlicher Abgeschiedenheit dargestellt und verstanden wird,
ist keine praktikable Methode um die eigene Beziehungsfähigkeit zu verbessern, so dies denn gewollt ist.
Die achtsame Haltung in dyadischen Beziehungen ist ausschlaggebend für ihr zufriedenstellendes
Bestehen. Diese Aussage ist wissenschaftlich nicht zu verifizieren. Die achtsame Haltung geht allerdings
jeder Form von Genesung, Authentizität und einer „gewaltfreien Kommunikation“ voraus und macht
diese viel gepriesenen Ziele des „Seins“ überhaupt möglich. Auch Bewusstheit nimmt den Weg immer
über die Achtsamkeit. Im interpersonellen Kontext kann Achtsamkeit etwa helfen, die non-verbalen
Aspekte von Kommunikation wahrzunehmen und gleichzeitig im Sinne einer möglichst authentischen
Mitteilungsweise mit sich selbst in Kontakt zu bleiben (vgl. Huppertz 2011, S. 172f.). Neben zahlreichen
Möglichkeiten, sich Meditationsgruppen anzuschließen, gibt es konkrete formelle Partnerübungen. Ein
Beispiel dafür ist die „Co-Meditation“ aus der Relationalen Psychotherapie. Es wird an zu einem
gemeinsamen Objekt, etwa dem Atem meditiert. So folgt etwa der Therapeut dem Atem des Patienten,
um eine nachhaltige Verbundenheit in der Beziehung zu vertiefen. Eine liebend, mitfühlend und präsent
offene Haltung, kann über diesen Weg zum Ausdruck kommen und die Beziehung in Fluss bringen (vgl.
Surrey 2009, S. 159f.).
29
In absichtsvollen Interaktionen nicht-privater Art, das heißt hier, in Therapie und Beratung unterscheidet
sich achtsames Vorgehen durch die besondere Verantwortungsanforderung an den Berater.
4.3 Im praktischen Beratungskontext
Achtsamkeit als psychosozialer Berater in der Praxis ist ein Hauptkriterium für gelingende Beratung im
Sinne des Wohlergehens der zu Beratenden. In diesem Kriterium sollte sie sich nicht von der
Psychotherapie unterscheiden. Wenn Achtsamkeit Gewahrsein bedeutet, wird das Gegenüber im
Moment mit allen Facetten und Aspekten seines Seins wahrgenommen und wirklich gesehen. Die
nonverbale Verbindung, etwa mit Blicken im Zusammensein, übertrifft mit ihrer Wirksamkeit alle
Methoden und „Kniffe“ die in Beratungsgesprächen angewendet werden. Ein Beispiel dafür ist das
sogenannte Paraphrasieren. Wird das berichtete Erlebte durch den Berater (möglicherweise unachtsam)
umschrieben und werden verbale Lösungen und Erklärungen angeboten, besteht die Gefahr,
Erfahrungen auszuschließen und die spezielle, vorgetragene Erfahrung in ihrer Einzigartigkeit zu
übergehen. Dies beschreibt Goodman im Zusammenhang mit der Therapie von Kindern. Um
Erwachsenen zu helfen, in Kontakt mit ihrem Kind-Ich-Zustand und damit ihrem Gefühlserleben zu
kommen, ist es wichtig auch mit ihnen in intuitiv, achtsamem Gewahrsein, statt mit einem objektiven,
intellektuellen, bewussten Erkennen „sein“ zu können. Es wird von der Fähigkeit gesprochen aushaltend
mit den zu Beratenden „sitzen“ zu können und sich im Fluss des gemeinsamen Momenterlebens treiben
lassen zu können (vgl. Goodman 2009, S. 298f.). „Durch die emotionale Einstimmung und authentische
Präsenz sind wirksame Therapeuten vollständig in schwer fassbare, aufeinanderfolgende, flüchtige
Augenblicke engagiert“ (Goodman 2009, S. 299). Diese Haltung ist ohne ein achtsames Gewahrsein, auch
um die Angebrachtheit dieser Form des Miteinanders einzuschätzen, nicht möglich. Mit dem Wissen aus
der Transaktionsanalyse darüber, dass in der menschlichen Kommunikation meist mehr als nur eine
Botschaft übermittelt wird und dem intuitiven, verantwortungsvoll genutzten Gewahrsein im
gegenwärtigen Beratungsmoment kann effektiv beraten werden (vgl. Stewart 2000, S. 20f.). Dazu müsse
der Transaktionsanalyse betreibende Berater laut Eric Berne ein „richtiger Arzt“ sein. Damit ist gemeint,
dass er sich vor allem und zuerst auf die Heilung seiner Patienten konzentrieren muss. Er soll in jeder
Behandlungsphase wissen was er tut und fähig sein zu planen und im Rahmen seiner Fachkompetenz
alleine die Verantwortung für das Wohl seines Patienten übernehmen. (vgl. Berne, zit. nach Stewart
2000, S. 23f.) Es wird deutlich, dass diese Grundsätze über den Arbeitsbereich eines sozialpädagogisch
ausgebildeten Beraters, ohne Therapieerlaubnis hinausgehen können. Mag dieser nicht in gleicher
Verantwortung arbeiten, wie ein psychologischer Psychotherapeut oder Facharzt, so wird auch ein
30
Berater in seiner Arbeit von einer achtsamen Haltung und möglicherweise einer Anwendung formeller
Techniken in seiner Praxis mit den Klienten profitieren. Es bleibt umstritten, an welche Theoriekonzepte
Berater ihre Verantwortung binden sollen.
5 Fazit
Ein Achtsamkeitstraining ersetzt nicht die Auseinandersetzung mit einer den Gesundheitszustand
belastenden und von traumatischen Erlebnissen durchzogenen Vergangenheit. Stark traumatisierten
Menschen fällt es schon schwer, die Augen zu schließen, ohne große Angst zu haben (vgl. Siegel 2009, S.
277). Ist schon in der frühen Kindheit kein Anlass, vertrauen zu können erlebt worden, fehlt die Idee
eines solchen Zustands, der nur in dyadischen Beziehungen gelernt werden kann. Eine
Achtsamkeitspraxis, während der innere Zustände allein mit sich selbst erlebt werden, erweist sich dann
als wenig sinnvoll, geht es darum, Lebensqualität durch positives Verbundenheit mit der äußeren Welt
und anderen Menschen zu erlangen. Menschen mit der Neigung sich selbst zu verletzen, weil der
Umgang ihrer Eltern und der Gesellschaft (v.A. Überbleibsel christlicher Religionspraxis mit an
Bedingungen geknüpftes „Heil“) in der sie leben, nur Strafe als Antwort auf Normabweichungen kennt,
ist es nicht möglich, mit Achtsamkeitspraxis nachhaltig mehr Lebensqualität zu schaffen. Sie können es
wohl anwenden, jedoch ohne Erfahrungen über das Nicht-Anhaften zu machen und ohne auf lange Sicht
Leiden zu vermindern. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die vermeintlich heilbringende Meditation als
Suchtmittel fungiert um tiefe psychische Wunden zu lindern. Ist es in der frühen Kindheit verpasst
worden, die Urwünsche des Säuglings zu erfüllen, existieren diese so lange, bis ihnen schlussendlich
doch jemand Aufmerksamkeit schenkt. Die erwähnte Qualität der Achtsamkeitspraxis liegt in ihrer
Stützkraft für die Selbstexploration, für die es viel mehr die zwischenmenschliche Begegnung braucht. Die
Transaktionen mit Gesprächs- oder Beziehungspartner werden bei regelmäßiger Praxis von Achtsamkeit,
gerade im Alltag, schon allein mit dem durch das Bewusstwerden der Ich-Zustände gewonnene
Entscheidungspotential verbessert. Es herrscht weniger Hilflosigkeit in affektbeladenen Interaktionen.
Eigene Bedürfnisse, Grenzen und Nöte können dem Anderen mitgeteilt werden, wo vorher ein großes
Unwissen über die eigene Seelenwelt geherrscht hat. So ist es möglich, das Eintreten der eigenen Ich-
Zustände in Gesprächen zu reflektieren und darüber in Austausch zu gehen. Es geht hierbei nicht um
eine mögliche Affektregulierung durch biochemische Körperveränderung im Zuge meditativer Praxis,
sondern um die Nutzung des Erkenntnisgewinns aus den Übungen (physiologische Entspannungseffekte
sollen hier höchstens als hilfreicher Nebeneffekt gelten, obgleich es trotz schlechter
wissenschaftsgewonnener Beweislage als sicher gilt, das Körper und Psyche nicht getrennt voneinander
31
funktionieren). Die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns, in den Übungen behandelt auch Jon Kabat-
Zinn ausführlich in seinem Werk.
Es ist es sehr wohl möglich, über die Erfahrungen während des Achtsamkeit Übens mit psychischen
Wunden, Selbstsabotage und inneren Abhängigkeiten in Kontakt zu treten und sich ihrer gewahr zu
werden. Hierzu Kabat-Zinn: „[Die Achtsamkeitspraxis] ist eine Methode, mit der man tief ins eigene
Innere schaut, um sich selbst und die Art seines Bestehens zu erforschen“ (Kabat-Zinn 1994, S. 27).
Wissen die Übenden um die Existenz der drei Ich-Zustände und erleben sie diese während ihrer Praxis
und schließlich auch im Alltag, können sie ihre Gefühle zuordnen, ihre Herkunft benennen und haben die
Möglichkeit sich ihnen zu ergeben, wenn sie es wünschen, oder das Einspringen eines Ich-Zustandes zu
überdenken und gegebenenfalls abzuwenden. Um diese Aussage nicht allzu optimistisch wirken zu
lassen, betone ich, dass dadurch lediglich eine neue Möglichkeit zum autonomen Verhalten besteht.
Keineswegs führt die Achtsamkeitspraxis die Veränderungen von Abhängigkeit zur Autonomie parallel
herbei. In der Arbeit wird auch deutlich, dass das menschliche Leben immer in Entwicklung begriffen ist
und eine vollkommene Autonomie, auch im geistigen Sinn weder möglich, noch wünschenswert ist.
Zufriedenheitsbringendes Verbunden-Sein mit anderen Menschen, der Umwelt und dem eigenen Körper
und Geist ist Grundessenz aller Wünsche und Sehnsüchte, die Menschen bewegen Beratung und
Therapie aufzusuchen, sowie Erfüllung durch Achtsamkeitspraktiken zu finden. Die Verbindung mit den
Ich-Zuständen aus der Transaktionsanalyse kann als eine Grundlagen- oder Einstiegsübung zur
Kontaktaufnahme mit bislang unbewussten Seelenanteilen betrachtet werden. Sie bietet sich besonders
für Bewusstmachung im Alltag, im individuellen und zwischenmenschlichen Bereich an.
Achtsamkeitspraxis und die Arbeit mit den transaktionsanalytischen Ich-Zuständen sind leicht, aber nicht
einfach, weil sie schnell Anstoß zu umfassenderen geistigen Veränderungsprozessen geben und ihre
Vertreter freigiebig, wenig elitär mit angesammeltem Wissen umgehen.
32
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URL: http://lexikon.stangl.eu/2919/paradoxe-intervention/ [Stand 26.06.2016].
35
Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit mit folgendem Thema:
Das Konzept der Achtsamkeit
zur Kontaktaufnahme mit den Ich-Zuständen aus der Transaktionsanalyse
Selbstständig erstellt habe. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn
nach entnommen sind, sind unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht. Alle verwendeten Quellen wur-
den angegeben. Das gilt auch für Abbildungen.
Neubrandenburg, 08.07.2016
Unterschrift: