das wesen des moralischen schwachsinns

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XI. Aus der psychiatrischen Universit~tsklinik zu Mfinchen (Prof. Dr. Kraepelin). Das Wesen des moralischen Schwachsinns. Yon Prof. Dr. Hans Gudden in Miinchen. Seitdem Grohmann in Nasse's Zeitschrift ffir psychische Aerzte in den Jahren 1818--1820 das Krankheitsbild des moralischen Schwactt- sinus oder der Moral insanity gezeichnet und psychologisch zu entwickeln gesucht hat, das dann yon Prichard 1835 klinisch sch~ffer umgrenzt wurde, ist die Berechtigung des moralischen Schwachsinns als einer GeistesstSrung sui generis vie]fach umstritten worden. Besonders lebhaft erhob sich in unserer Zeit die alte Streitfrage dutch das Auflreten Lombroso~s, in dessen Lehre vom ,,delinquente nato" der moralische Schwaehsinn einen Haupttyp bildet. Lombroso grfindet seine Lehre yore ,delinquente nato" bekannt- lich auf physischen und psyehischen Atavismus. Der geborene u brecher stellt nach ihm im Sinne des Darwinismus und der Biologie einen Rfickschlag in die pr•historische Formation des Menschen- gesehlechts oder aueh einen Zustand der niedrigsten Kulturstufe lebender wilder u und Rassen der Jetztzeit dar. Seine Itauptbeweise sucht Lombroso aus der Aehnlichkeit gewisser Anomalien am Sehi~del und Skelett sowie in gewissen instinctiven und seelischen Zustanden: die sogar an einen Rfickschlag in lhierische Verhi~ltnisse denken lassen so]len und wonach der Yerbreeher welt mehr als der Irre den niederen Rassen nahestehen sol]. Die Lehren Lombroso's fanden ebensoviel Anhlinger wie ent- sehiedene Gegner. Unter den letzteren sei nur Niicke angeffihrt~ welcher in seiner Abhandlung ,Ueber die sogenannte Moral insanity" es als das Verkehrteste erkl~irt, die menschliehe Psyehologie sogar auf

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Page 1: Das Wesen des moralischen Schwachsinns

XI.

Aus der psychiatrischen Universit~tsklinik zu Mfinchen (Prof. Dr. Kraepelin).

Das Wesen des moralischen Schwachsinns.

Yon

Prof. Dr. Hans Gudden in Miinchen.

Seitdem G r o h m a n n in Nasse ' s Zeitschrift ffir psychische Aerzte in den Jahren 1818--1820 das Krankheitsbild des moralischen Schwactt- sinus oder der Moral insanity gezeichnet und psychologisch zu entwickeln gesucht hat, das dann yon P r i c h a r d 1835 klinisch sch~ffer umgrenzt wurde, ist die Berechtigung des moralischen Schwachsinns als einer GeistesstSrung sui generis vie]fach umstritten worden. Besonders lebhaft erhob sich in unserer Zeit die alte Streitfrage dutch das Auflreten Lombroso~s , in dessen Lehre vom ,,delinquente nato" der moralische Schwaehsinn einen Haupttyp bildet.

L o m b r o s o grfindet seine Lehre yore ,delinquente nato" bekannt- lich auf physischen und psyehischen Atavismus. Der geborene u brecher stellt nach ihm im Sinne des Darwinismus und der Biologie einen Rfickschlag in die pr•historische Formation des Menschen- gesehlechts oder aueh einen Zustand der niedrigsten Kulturstufe lebender wilder u und Rassen der Jetztzeit dar. Seine Itauptbeweise sucht L o m b r o s o aus der Aehnlichkeit gewisser Anomalien am Sehi~del und Skelett sowie in gewissen instinctiven und seelischen Zustanden: die sogar an einen Rfickschlag in lhierische Verhi~ltnisse denken lassen so]len und wonach der Yerbreeher welt mehr als der Irre den niederen Rassen nahestehen sol].

Die Lehren L o m b r o s o ' s fanden ebensoviel Anhlinger wie ent- sehiedene Gegner. Unter den letzteren sei nur Niicke angeffihrt~ welcher in seiner Abhandlung ,Ueber die sogenannte Moral insanity" es als das Verkehrteste erkl~irt, die menschliehe Psyehologie sogar auf

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die Thiere fibertragen zu wollen. Aehnlieh verhalte es sieh mit den sogenannten Wilden~ zumal ram1 yon deren Psyche noch viel zu wenig Sieheres wfisste. ,,Es giebt eben zu viele Ausnahmen von dem gew6hn- lich davon entworfenen Bilde und dies sollte uns zur grSssten Vorsicht in der Beurtheilung gewisser Thatsaehen mahnen. Aber selbst, wenn gewisse Zfige bei allen sehr an die Moral insanity erinnerten, w'~re es cloth, wie bei den Kindern, nur ein p h y s i o l o g i s e h e r Zustand der Mensehheit~ kein pathotogiseher, und alas ist das entscheidende Moment."

Ohne im geringsten Partei ftir L o m b r o s o zu nehmen, darf man wohl das Urtheil N aeke ' s als ein sehr schroffes bezeiehnen. Es scheint, dass N~eke die Forsehungen des letzten Jahrzehntes fiber Thier- psychologic yon W a s m a n n , Fo re l , Thorndike~ E d i n g e r , Morgan, S t u m p f , Verworn , K i n n a m a n n u.a. entgangen sind. Wenn man sich n i eh t wie L o m b r o s o a u f A t a v i s m u s d. h. a u f R f i e k s c h l ~ g e des [ n d i v i d u u m s in E i g e n s e h a f t e n , we lehe i r g e n d w e l e h e V o r e l t e r n b e s a s s e n , v e r s t e i f t , sonde rn davon ausgeh t , we lche I n s t i n k t e s ieh in der T h i e r r e i h e bis zum Mensehen h inau f n a e h w e i s e n lassen und wie d iese I n s t i n k t e u n t e r dem Ein- f luss der I n t e l l i g e n z bezw. der C u l t u r s ieh v e r ~ n d e r n , ge- h e m m t oder g e f S r d e r t werden~ so w i r d . a u f das Wesen des m o r a l i s e h e n S e h w a e h s i n n s ein b e d e u t s a m e s L ieh t geworfen . Es soll nicht die mensehliehe Psyehologie auf die Thiere fibertragen werden, sondern es sollen die der Thier- und Mensehenpsyehologie ge- meinsamen Thatsachen gewiirdigt Werden.

Kein Geringerer als Fore I hat sehon im Jahre 1877 die These aufgestellt, dass sammtliehe gigenschaften der mensehliehen Seele aus Eigenschaften der Seele der hSheren Thiere abgeleitet werden k6nnen. Dem ffigte er in einem Vortrage vom 13. August 1901 fiber die psy- ehischen F~higkeiten der Ameisen und einiger anderer lnseeten hinzu, dass s~immtliehe Seeleneigensehaften h6herer Thiere sieh aus denjenigen niederer Thiere ableiten liessen~ mit anderen Worten, die Evolutions- lehre gelte genau so gut auf dem psyehisehen Gebiet als auf allen anderen Gebieten des organischen Lebens.

Bei,Besprechung unseres Gegenstandes l~sst es sich nieht vermeiden, noch einige weitere grundlegende Thatsaehen aus der Thief- und Mensehenpsyehologie zu erSrtern. Zun~ehst mfissen wir uns mit den Begriffen ,Intelligenz" und ,lnstinkt a befassen. Der erstere Begriff wird yon Wasm ann folgendermaassen definirt: ,Intelligenz - - Verstand - - Einsieht - - bedeutet sowohl dem etymologisehen Sinne nach aueh dem Begriff naeh, den man bisher in der wissensehaftliehen Psychologic aller Zeiten damit ~erband, aussehliesslieh die Pahigkeit, die Be-

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z i e h u n g e n der Dinge zueinander zu erkennen und daraus Schl/isse zu ziehen. Sic umsehliesst somit wesentlieh ein A b s t r a e t i o n s v e r m S g e n d. h. die FSohigkeit, aus mehreren Einzelvorstellungen alas Gemeinsame zusammenzufassen und dadurch a l l g e m e i n e B eg r i f f e zu bilden. Sic umschliesst ferner eine Ueber l egungs f~ ih igke i t~ welche die Be- ziehung der Mittel zum Zweeke und des Subjects zu den eigenen Th/~tigkeiten zum Gegenstand ihres Denkens machen kann und dadureh das intelligente Wesen zum S e l b s t b e w u s s t s e i n und zum v e r - nf inf t igen , f r e i en t t a n d e l n bef/~higt."

Was dagegen unter ,Instinct" zu verstehen ist, entwiekelt Was- mann in glg, nzender Weise an der Hand einer t{eihe yon Bei- spielen~ auf deren Wiedergabe leider verziehtet werden muss, ungeflihr wie folgt ;

Die instinetiven Handlungen entspringen aus den Trieben des sinn- lichen BegehrungsvermSgens und sind daher yon sinnlieher Wahr- nehmung und Empfindung abh~ngig. Sie sind unbewusst zweekmassige ThS.tigkeiten. Sinnliehes Bewusstsein ist bei den Instinethandlungen unleugbar vorhanden~ leitet und begleitet sie, aber es ist g~tnzlieh ver- sehieden vom geistigen Zweekbewusstsein. Viele Instinethandlungen werden unabh~ngig yon der Uebung und grfahrung des Thieres voll- kommen fertig ausgeiibt~ andere erforden erst eine individuelle Uebung und Erfahrung. ~Instinet ist~ in seinem tiefsten Wesen betraehtet~ die erblieh zweekmS, ssige Anlage des sinnliehen Erkenntniss- und Begehrungs- vermSgens im Thiere. Aus dieser Anlage entspringen sowohl die sinn- lichen Affeete wie die mannigfaltigen Smsseren Thatigkeiten~ welehe dureh die Acre des sinntiehen BegehrungsvermSgens veranlasst werden. Aus der zweekmassigen Anlage des sinnliehen Erkenntniss- und Begehrungs- vermSgens erkl~rt sieh einerseits die nieht selten fast wunderbar% den mensehliehen Yerstand tibersteigende Seharfe des instinetiven Erkenntniss- vermSgens ebenso wie andererseits die nieht minder auffallende Blind- heit und Beschrfmktheit eben desselben instinetiven Erkenntnissver- mSgens, dureh welehe es in offenbarem Gegensatz zu der [ntelligenz steht und Mar bekundet~ dass die fief durehdaehte Weisheit des Instincts nieht aus der eigenen Ueberlegung des Thieres stammen kann . . . . . Der Menseh hat zwar aueh Instinet~ aber er hat offenbar mehr als In- stinct~ er hat fiberdies Intelligenz und freien Willen; diese sind es~ denen der Mensch haupts~tchlich folgen muss~ wenn er sein Ziel er- reiehen: ein mensehenwfirdiges Dasein ffihren and nicht zum Thief herabsinken will . . . . . Das Instinetleben f~llt saehlieh zusammen mit dem Sinnesleben~ wlihrend die lntelligenz identisch ist mit dem Geistesleben. a

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Die Definitionen Wasm ann 's verlieren dadurch , dass W. a l s Theo- loge eino strenge Scheidung zwischen Mensch und Thier errichtet, nichts yon ihrem Werth, umsoweniger als die rein n a t u r w i s s e n s c h a f t - l i chen Forschungen Wasmann 's sich durchaus mit denjenigen eines Fore l , L loyd : Morgan, T h o r n d i k e , SchSn ichen u. A. deeken und alle zu dem Ergebniss gekommen sind: dass Intelligenz im Sinne der oben angeffihrten Definition einzig und allein der Mensch besitzt. Denn wenn z. B. Morgan unter ,intelligence" der Thiere niehts welter ver- steht als die F'~higkeit der Sinneserfahrung, d. h. das VermSgen des Thieres, durch sein sinnliehes Bewusstsein die instinctiven Thlitigkeiten zu controlliren und durch Erfahrung zu vervollkommnen~ wiihrend er mit ,,reason" das VermOgen des begrifflichen Denkens (conceptual thought) bezeichnet~ so handelt es sich hier offenbar nur um eine Ab- weichung in der Auslegung des Wortes~ nicht aber um sachliche Diffe- renzen.

Auch Wundt ist der Meinung, dass die sogenannten Intelligenz- ~usserungen der Thiere sich vollst~tndig aus Verhi~ltnismi~ssig einfaehen Associationen erkli~ren lassen und dass sich nirgends Merkmale logischer Reflexion oder eigentlicher Phantasiethiitigkeit finden.

Nut" die tier phyletisch vererbten tnstincte, d. h. die Geffihle und Triebe, die mit der Selbsterhaltung (Hunger, Durst~ Angst) und mit der Fortpflanzung zusammenhi~ngen, aussern sich zwangsmiissig~ w~hrend die fibrigen~ was auch Wasmann anerkennt~ einer Vervollkommnung dutch die Sinneserfahrung des Einzelnen zugiinglich sind. F o r e l be- zeichnet daher die zwangsmiissigen Instincte a|s Automatismen und stellt ihnen gegenfiber ,die plastischen Neurozymthiitigkeiten~ die auf actuellen Wechselwirkungen von Thi~tigkeiten im GroSshirn beruhenden Combi- nationen und individuellen Adaptionen". Fo re l und mit ihm alle F0rscher ~ die auf rein naturwissensehaftlichem Standpunkt stehen~ lassen die ,Plastieiti~t" des Centralnervensystems sich allmlihlieh his zur Intelligenz steigern~ aber aueh nach Fore l setzt die Intelligenz erst beim Menschen Bin, wie aus folgenden Si~tzen hervorgeht."

,Urn die Menschenseele mit der Thierseele zu vergleiehen~ muss man nicht den Dichter oder den Gelehrten, sondern den Wedda oder wenigstens den Analphabeten nehmen. Diese Leute sind in ihrem Denken sehr einfaeh und "~usserst eoncret~ ~hnlich wie Kinder und Thiere. Die Thatsache, dass man einem Chimpanzegehirn die Symbolik der Sprache nicht beibringen ,kaun, beweist nur, dass es dazu noch nicht genfigend entwiekelt ist. Rudimente davou sind ja vorhanden . . . . Bei hSheren Thieren kann man dutch Dressur eine gewisse mimische and acustische conventionelle Sprachsymbolik ausbilden~ indem man die

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Anlagen jeder Thierart dazu benutzt. So kann man dnen HuM leh,'en, auf bestimmte Laute oder Zeichen in einer gewissen Art zu reagiren, was man z. B. einen Fisell oder eine Ameise nieht lehren kann. Der Hund versteht dann das Zeiehen, natfirlich nicht mit den Reflexionen eines Mensehenverstandes, sondern naeh Hundegehirnmaass. Noeh viel weniger jedoch als der Wedda oder selbst, der Neger seinen Nach- kommen aus eigelmm Yriebe die angelernte Kultur fibermitteln kann~ ist ein solches Thier flihig, eine fiir sein Gehirn so hohe Leistung wie die angelernte Dressur seinen Jungen zn lehren. Es fehlt ihm aueh ganz der Trieb dazu. Jedes vom Nensehen dressirbare Gehirn kann jedoch auch dutch die Erfahrungen seines eigenen Namrlebens vieles ]ernen und verwerthen."

Die letzteren Bemerkungen F o r e l ' s leiten zu unserem eigentlichen Thema fiber~ indem wit uns nun die Fragen stellen k6nnen.

1. Welche Eigensehaften finden wir bei den niederen VSlker- rassen ?

2. Weisen diese Eigensehaften eine Aehnliehkeit oder Wesens- gleiehheit mit denjenigen auf, welche den moralischen Schwachsinn kennzeiehnen ?

3. L~isst sich im Falle des Bestehens einer Aehnliehkeit bezw. Wesensg]eiehheit der moralisehe Schwachsinn psyehologiseh und ana- tomisch begriinden ?

Es ist ffir unsere Zwecke nicht nothwendig~ Umsehau zu halten fiber die F~thigkeiten~ Sitten und Gebr~iuche aller tiefstehenden V~Slker- rassen 7 es gentigt~ wenn wit allein die Negerrassen herausgreifen, be- senders da ihre Verpflanzung in ein hochcultivirtes Land~ naeh Amerika~ G01egenheit giebg ihre ,Plastieit~it" zu verfolgen.

In einer kfirzlieh ersehienenen Studie fiber ,die Negerseele" nennt Dr. O e t k e r besonders zwei Eigensehaften, die der Negerpsyche ge- wissermaassen den Stempel aufdriieken und die meisten fibrigen Com- ponenten des Sedenlebens beeinflussen und erklliren. ,Das ist zu aller- erst die ausgesprochene Beeinflussbarkeit~ sodann das prompte Abreagiren aller Affect% sobald und soweit diese in Erseheinung treten. Der Neger reagirt in gleieh hohem Maasse auf optisehe und akustisehe~ mimische und verbale Suggestionsmittel. Findet man aber~ bei gleiehen in. tellectuellen Fiihigkeiten und WJssen~ eine so]the Beeinflussbarkeit~ wie sic der Neger im Durehschnitt aufweist, bei einem Europ~ier~ so wird man ihn ohne weiteres als psychisch minderwerthig ansehen. Bei jenem ist es aber ein durchaus natfir]ieher Zustand . . . . Zuneigung~ Dankbar- keit~ Mitleiden~ Erfureht und welche sonstigen zu den ethischen Seelen- componentet3 geh6rigen Eigenscbaften des Culturmenschen man noch

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nennen kSnnte, kennt der Neger nicht oder aber sie sind in so kfimmer- lichen Ans~tzen vorhahden, dass sie gar nieht in Betracht kommen. Er hat aueh in der bestausgebildeten Negersprache Afrikas~ dem Kisuaheli, keine Worte oder Ausdrficke ftir diese abstracten Begriffe. Mit Hfilfe seines Schauspielertalents tauscht aber der Neger mit Erfolg in dieser und mancher andern Hinsicht eine grosse Anzahl yon Europaern, selbst Leut% die Jahre lang mit ihm zu thun hatten, die es aber nie verstanden, in der See]e eines Naturmensehen zu lesen. Unter" anderm ist jedes etwa als Reue erscheinende Affectzeichen eine ComSdie. Die Reue ist dem Neger ebenso fremd wie den Hiihnern das Schwimmen. Es fehlt dem Neger vor allem die Stetigkeit in seinen seelischen Functionen. Die Eindrficke yon aussen sind bei ihm wohl ffir den Augenblick yon Wirkung. Aber er gewinnt und wahrt ihnen gegen- fiber keine feste Stellung. Die ererbte Anlage und die Gesammtheit der Erlebniss% aus deren gemeinsamen Wirkungen die PersSnlichkeit eines Mensehen gebildet wird, bleiben bei ihm in dieser Hinsicht gltnzlich ergebnisslos. Und in welchen geistigen Zustand man ihn auch bringen mag, er wird immer aus ihm herausfallen, sobald die Kraft, die ihn hineinversetzte, keine Wirkung mehr ausfibt."

Diese letZteren Siitze decken sich, wie wir sehen, dem Sinne naeh v611ig mit den oben yon Fore ] citirten.

O e t k e r betont weiterhin die unbezwingliehe Neigung des iNegers zur Confabulation und zur Lfige. ,Wenn man einen Neger nach irgend etwas fi'agt und sei es auch das allerg]eichgfiltigste, so tritt bei ihm, wenn er sieh nicht sofort fiber die Situation im Klaren ist, ein ge- wisses ZSgern ein. Dies dient aber niemals dazu~ um sich zu erinnern oder zu tiberlegen, welche Antwort der Wahrheit entsprechend ist, sondern welehe Aussage in seinem eigenen [nteresse liegt." O e t k e r fiihrt das fortwlihrende Vermischen yon Wahrheit und Dichtung beim Neger theils auf das st~ndige Vortreten des persSnlichen Interesses~ theils auf die grosse Beeinflussbarkeit zuriiek. In vielen Fallen liige der Neger auch~ ohne sich dessen bewusst zu sein. ,Er redet h~tufig irgend etwas in den Tag hinein, ohne zu wissen~ was er sagt; und be- sonders dann~ wenn seine Phantasie ihm dazu bunte Bilder vorgaukelt. Aueh lfigt er gelegentlich das Blaue vom Himme] herunter, wenn. er glaubt~ jemandem gefallen zu kSnnen."

Besondere Beachtung verdienen noeh fo]gende Bemerkungen O e t k e r ' s :

,Wohl die meisten der modernen Psychologen und Psyehiater nehmen heute an~ dass innerhalb der Gesundheitsbreite bei den Menschen der Unterschied in Bezug auf ihr Geftihlsleben oder Affectivit~it sehr

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viel grSsser sei als auf dem Gebiet des Intellects trod dass die Geffihl% Wtinsche oder Beffirchtungen meistens die Gedanken regiren und Ursaehe der Willensimpulse und somit aueh der Handlungen sind. Anderseits ]~sst sieh durch viele Beispiele der Beweis erbringen, dass die Intelligenz u n d die ethisehe Veranlagung und Beth~tigung unabh~ngig yon ein- ander in den verschiedenen Abstufungen und Verh~ltnissen bei einem Menschen vorkommen kSnnen. Ein Vie! oder Wenig des einen lgsst keinesfalls einen Schluss auf das andere zu. Fiir die Richtigkeit dieser Annahmen und Beobachtungen dfirfte jedoch nichts einen besseren Be- weis liefern als die Negerpsyehe. In der Gelehrigkeit steht der Neger dem Europi~er um wenig oder gar nichts hath. Er lernt Lesen~ Schreiben~ Rechnen~ Singen~ Handwerk% Musikinstrumente spielen u. s. w. Aber es hat - - auch in Westindien und Nordamerika~ wo sie alle Rechte und Freiheiten der Weissen geniessen - - bisher noch keinen einzigen wirklichen Kfinstler~ Gelehrten oder Staatsmann unter ihnen gegeben. 1) Neben den Kenntnissen, die er sich aneignen kann~ fehlen dem Neger die Phantasie nnd das VorstellungsvermSgen hierzu nicht. Im Gegen- theil~ diese gaukeln ibm haufig Bilder und Situationen vor~ deren Ge- schehen oder Verwirklichung entweder unm(iglich ist oder ihn in gef~hr]icher Weise in Conflict mit den berechtigten Interessen anderer oder der 5ffentlichen Ordnung bringen. Was ihm dagegen viillig ab- geht~ alas ist die Combination und Coordination bei schwierigeren Denkprocessen wie complicirten Schlussfolgerungen und Voraus- bereehnungen~ das feinere Geffihl und die Gestaltungskraft. Er ist also in der Aufnahme yon Lernstoffen und in der gedachtnissteehnischen und mechanischen Widerholung yon geistigen Aufgaben ann~hernd gleichwerthig mit dem Kaukasier~ aber in den Geffihlsqualiti~ten~ den Zielvorstellungen und in tier Erstproduction steht er den AngehSrigen dieser Rasse (auch der mongolischen) um ein Bedeutendes nach . . . . . Seit Jahrhunderten mit den Europiiern in Berfihrung~ in Nordamerika seit langer Zeit mit viilliger Freiheit und politischen Rechten ans- gestattet~ in Brasilien seit nun bald 20 Jahren aus der Sklaverei be- freit, in seinem Heimathland Afrika yon vielen Tausenden yon Enrop'aern belehrt und fast in allc Zweige menschlieher Thiitigkeiten eingeweiht~ bleibt er immer tier Negcr. Alles~ was er angenommen hat: gleicht

1) Oer et.waige Hinweis auf die Negerphilanthroloen und die gebildeten Neger~ an ihrer Spitze Booker T. Washington~ ist hinf~llig~ da alle diese sehon mit Weissen gemischtes Blut haben, speeiell auch d'er bokannte B o o ker T, Washington. Dieser ist Sohn einer Negersldavin~ war selbs~ Sklav% hat aber einen weissen Yater.

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den Farbst0ffen, mit denen wir die Zellen und Bakterien unserer mikroskopisehen Pr~parate fi~rben. Es ist abel" nicbt verarbeitet und assimilirt, also nicht Bestandtheil im physiologischen Sinn ge- worden."

Nach H. Zache besitzt der Neger zwar in hervorragendem Grade die Energie der Ausdauer, die ihn zum Knecht der gerrenviilker pr~- destinir~ daffir fehlt ihm giinzlieh die Energie der Anspannung~ der Kraftconcentration. Er sorgt ffir seine Bedfirfnisse nicht weiter~ als gerade erforderlich ist. In Hungersn(ithen erliegt manchmal die HMfte des Stammes und mehr~ aber die Ueberlebenden haben nichts gelernt und leben in den Tag hinein wie zuvor. Die geistige Entwicklung des Negers kommt mit der beendeten Geschlechtsreife zum Stillstand. Der Neger lfigt genau so instinctiv, wie das erschreckte Thier eine Flucht- bewegung macht~ ,denn im Naturzustand war und ist die Lfige zweifel- los zweckm~tssiger fiir die Se|bsterhaltung als die Wahrheit".

Diese]ben Beobachtungen fiber die Negerseele, wie sie Oe tke r kritiseh zusammenfasste, sind schon lange yon zah]reichen Forschungs reisenden gemacht worden; namentlich Kandt bringt in seinem Werke ,Caput Nili" viele psychologische Einzelheiten fiber den Charakter des Negers.

Naeh Ansieht gewiegter Afrikakenner sol] die h(ihere Erziehung des Negers den Erfolg haben~ dass er seine guten Eigenschaften ab- streift, daffir seine schleehten u m so ausgepriigter hervortreten llisst~ weshalb die ,,Missionsboys" nur ungern in Ste]lung genommen werden. Aehnlieh sind die Erfahrungen in Amerika. In einem Artikel fiber , the great American question" schreibt Thomas Ne l son Page unter An- derem: , . . . Wenn die Neger die Macht haben~ sind sie me}st an- maassend~ prahlerisch und aufschneiderisch~ gefiihrlich und unertri~glich, �9 . . Unter soeialer Gleichste]lung verstehen sie nut ein Ding, nlimlieh das Reeht, mit weissen Frauen ebenso zu verkehren, wie es die weissen Miinner thun . . . . Die weisse Rasse hat aus der Uebertragung der Re- gierung an die Neger eine Lehre gezogen~ we]che thatsachlich jede Wiederholung eines solchen Experimentes aussch]iesst~ so lange das Ge- d'~chtniss an die Schrecken naeh dem Kriege yon 1865 (zwisehen den Nord- und Sfidstaaten) dauert . . . . Der Leopard kann seine Fleeken ~ndern~ der Aethiopier seine Hautfarbe~ aber keiner yon beiden kann das ~ndern~ woffir seine "~usseren Merkmale Symbol sind, seine Natur."

Die Erfahrungen in Afrika wie in Amerika lehren~ dass die Neger: rasse einer hSheren Culturstufe nieht zug:~inglich ist und in dieser Be- ziehung n ieh t e r z i e h b a r ist. Betraehten wir mm mit Riicksicht auf die zu Anfang gegebenen thierpsychologischen Erkliirungen den Cha-

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rakter und die geistigen Eigenschaften der Neger~ so kommen wir mit Nothwendigkeit im Sinne F o r e l ' s zu dem Schluss, dass be[ den Negern die instinct[yen Eigenschaften fiberwiegen uud dass ihre Intelligenz nut soweit sich entwickelt hat, um die instinct[yen Fiihigkeiten mit mSg- lichstem Vortheil egoistisch auszunutzen. Die ]ntelligenz tier Neger reicht nicht aus~ um mit fremder Hiilfe eine h6here Culturstufe zu er- klimmen.

Be[ Feststellung dieser Thatsache sei eine kurze Bemerkung fiber die verschiedenen Formea des Lernens gestattet. Wasmann unter- seheidet 2 Hauptformeu, and zwar selbststlindiges Lernen und Lernen durch fremden Einfluss. Das selbststiindige Lernen geschieht~ wenn wit von tier instinct[yen Einfibung angeborener Refiexmechanismen absehen, entweder durch sinnliehe Erfahrung, indem dutch dieselbe neue Vor- stel]un~s- und Triebassociationen gebildet werden (sinnliches Gedfiehtniss) oder dureh sinnliehe Erfahrung ~md inteliigentes Sehiiessen voil friiherea auf neue Yerhaltnisse. Das Lernen durch fremden Einfluss geschieht entweder durch Anregung des Nachahmungstriebes oder durch Dressur~ durch welehe der Menseh anderen sinnlichen Wesen neue Vorstellungen und Triebassociationen each seinem Plan ei~pr~gt oder durch intelligente Belehrung (Unterricht)~ dutch welche ein iatelligentes Wesen ein anderes lehrt, nicht btoss neue Vorsteilungsassociationen unmitteibar zu bilden, sondern aueh neue Schliisse zu ziehen aus frtiheren Erkenntnissen.

Nur beim Menschen allein finden sieh slimmtliche Fi~higkeiten des Lernens vereint~ w~ihrend be[ den Thieren je nach dem Grade ihrer psychischen Begabung bloss die yon der Intelligenz unabhlingigen Formen theilweise oder ganz vorhanden sind. Dem Neger steht nun dank seiner hoch entwicl~elten Instincte neben den nicht inte]ligenten Formen die eine Form des intelligenten Lernens, die sieh auf alas sinnliche Oedacht- hiss stfitzt~ zweifellos in hohem Grade zur Verftigung~ dagegen scheitert be[ ihm die Anwendung der anderen Form, namlich tier intelligenten Belehrung zum grOssten The[l, weft eben hier im WesentHehen das Arbeiten mit abstructen Begriffen in F,'age kommt. Fore[ finder sogar die sich a,ff das sinnlicbe Gediiehtniss stiitzende Form des intelligenten Lernens be[ den niedrigstee Viilkerschaften ausserordentlich tiefstehend und we[st darauf hin~ dass selbst die Neger ihre Civil[sat[on mid sogar die Formen der Cultursprache vertieren: sobald sie den Contact mit den Weissen nicht mehr besitzen, wie es im hmern Haitis dec Fall [st.

N~ch all demVorspann wende~ wir m~s zum moralischen Schwach- sine. Nach Niieke soll sich das unter dem Namen ,moral insanity" geschilderte Krankheitsbild bis etwa auf eine rain[male Gruppe in drei Abtheilungen mit bekannten ~Namen unterbringen lassen: 1. in die der

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Imbecillit~t, 2. die der cyklisehen Stimmungsanomalien und 3. die tier psychischen Degeneration. Demgegenfiber mSehte ieh in Ueberein- stimmung mit T i l i ng ~bemerken, dass wohl die Mehrzahl der Autoren ausser der ,minimalen Gruppe" fiberhaupt nur die 3. Abtheilung als zum moralischen Schwachsinn gehSrig ziihlt. Als anerkannte Merkmale des moralisehen Schwachsinns gelten: Urtheilssehwache~ 0berfl~chlich- keit~ phantastisehes Denken mit .ausgepri~gter Neigung zur Ltige (Pseudo- logia phantastiea) , gesteigerte Affecterregb~rkeit, ]eiehte Bestimmbarkei~, ethische Defecte (Mangel der Liebe und Anhanglichkeit zu Eltern und Gesehwistern, Fehlen der hSheren Geffihle wie des Pfliehtgeftihls, des Sinnes ffir (~emeinwohl, Vaterlandsiiebe~ Mifleid u. s. w.)~ grenzenlose Selbstsucht~ Eitelkeit und gesteigertes Selbstbewusstsein. Gekr0nt wird dieser Complex dureh eine nahezu absolut% allen Methoden spottende U n e r z i e h b a r k e i t . Wean wit noeh hinzuffigen, dass die moraliseh Schwachsinnigen sich meist bis zur Zeit der Pubertat dutch Gelehrigkeit naeh manehen Richtungen auszeichnen, dann auf einmal in der geistigen Entwicklung stehen bleiben, die in sic gesetzten Ewartungen enttauschen and all ihre Fehler durchbreehen 'lassen, so haben wit ein Bild vor uns, das aufs Haar dem Negertypus gleicht. Die Aehnlichkeit der Symptome des moralischen Schwachsinns mit dam Charakter niedrig stehender VSlkerrassen oder: wie wir ebenso gut behaupten k0nnen, mit Rassen, deren feinste (mikroskopische) 6rosshirnorganisation noch ver- hgltnissm~ssig rohe Zimmerung aufweist, ist um so reiner, als beim moralischen Sehwachsinn die angeborenen oder acuten StSrungen, welche bei sonstigen Geisteskrankeiten'anzutreffen sind (Wahnbildungen, 8innes- t~usehungen, AssoeiationsstSrungen: starkere periodische Stimmungs- schwankungen. Krampfe); vermisst werden.

Das Fehlen snlcher Symptome riickt den moralischen Schwachsinn seharf yon den eigentliehen Psyehosen ab. Ebenso l~sst er sieh yon Imbeeillit~t and Idiotic scheiden, well bei diesen eine Geistessehwaehe vorhaaden ist: die sieh in gr0sse,'er oder geringerer Unf~higkeit auch for manehe n ich t intelligeate Formen des Lernens aussert, wahrend der moralisch Sehwaehsinnige gerade darin Meister ist und dadureh blender. Wieviele ,LSwen des Salons" und raffinirte Hoehstapler ent- puppen sich doeh als moralisch Sehwachsinnige!

Wir sehen also, dass die moraliseh Schwachsinnigen wie die Neger mit allen instinctiven Eigenschaften reiehlich ausgestattet sind and dass sic bezfiglich der Intelligenz haupts~chlieh mit H[ilfe des sinnlichen Ged'~chtnisses und der sinnlichen Erfahrung arbeiten. Aus dem Fehlen der h0heren intellectuellen u entspringt mit Nothwendigkeit jener Symptomencomplex~ den wir beim Neger wiederfinden. Die An-

Arct).iv f, Psychiatrie, Bd. 44. Heft L ~ 5

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nahme ist daher unabweislich~ dass die Aehnlichkeit des moralischen Schwachsinns mit den Charaktereigenschafteu~ denen wir beim Neger begegnen, nicht nut eine ~tusserlich% sondern auch eine innerliche ist~ dass demnach der moralische Schwachsinn nicht wie di~ Imbecilliti~t und Idiotie auf mehr oder weniger ungleichmlissigen Entwicklungs- hemmungen bezw. Schi~digungen des Gehirns~ oder wie andere Geistes- stSrungen auf Erkrankung des vorher wohlausgebildeten Gehirns beruht, sondern dass er aus einer an sich in tegren~ a b e t zu d i i r f t igen G r o s s h i r n a n l a g e zu e r k l a r e n ist.

Die Ursachen ffir die zu dfirftige Grosshirnanlage sind fl'eilich bei den niederen VSlkerrassen und beim moralischen Schwachsinn ver- schieden. Bei den ersteren sind sie phylogenetischer, beim letzteren individueller Natur e wobei die erbliche Belastung e ine grosse Rolle spielt. Es ist Jedoch nieht ang~tngig~ den moralischen Sehwachsinn gleich als atavistischen Rfiekschlag hinzustellen, wie es L o m b r o s o thut~ man miisste ja sonst jede qualitative Reduction eines Organs --. denn wesentlich um eine solche handelt es sich - - unter die Atavismen einreihen. Zudem finden sich bei den wenigsten Fallen you moralischem Schwachsinn die von Lom broso beschriebenen atavistischen Bildungen des Knochenbaus~ des Haarwuehses u. s. w. Dass es gerade das Gross- hirn bezw. der Hirnmante] ist~ welcher aus einer belasteten Keimaniage sich minderwerthig~entwicke]t~ w/~hrend die tibrigen Hirnantheile sich normal entfalten~ wird freilich dadurch bedingt sein; dass in der Eve- lutionsgesehichte des Centralnervensystems der Hirnmantel das jfingste und feinst gebaute Glied ist.

Die minderwerthige Ausbildung des Grosshirns liisst sich ill Parallele stellen mit dem nicht selten vorkommenden theilweisen Fehlen tier Knochenepiphys% in Folge dessen danu der betreffende Knochen im Gesammtwachsthum zurtiekbleibt. Wie mir Herr Professor Lange mit- theilt% sind solche Epiphysendefecte, ebenso das vSllige Fehlen eines RShren- oder Phalangealknochens nicht auf Abschn~rung durch Amnion- f~tden~ ~uch nicht auf Entwicklungshemmungen wie z.B. die Hasen- schart% Blasenectopie u. s. f. zuriickzufiihren~ sondern sie beruhen wahr- scheinlich auf einer krankhaften Keimanlage. Von Atavismus kann man hier sicher nicht reden.

Nach unseren Ausftihrungen muss der moralische Schwachsinn als ein selbststitndiges Zustandsbild erachtet werden. Fiir die oben ent- wickelte anatomische Auffassung seines Wesens diirfte auch spreehen~ dass zuweilen Fi~lle zur Beobachtung kommen~ welche bis ill das 25. Lebensjahr und noch dartiber hinaus ausgepriigt moralisch schwach- 8innig sind and dann doeh noeh zu aller Ueberraschung aus eigener

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Kraft geordnete Bahnen einschlagen und sich auf ehrliche Weise~ sogar mit geistiger Arbeit ihr Brod zu verdienen vermSgen. Derartige Fiill% welche G r a s h e y in seinen Vorlesungen als ,Sp~tentwicklung r be- zeiehnete~ kSnnen nieht in die Kategorie der Imbecillen eingereiht werden, denn diese bleiben imbecill~ dagegen lassen sie sich reeht wohl mit der Theorie des integern Grosshirns vereinigen~ dessen Dfirftigkeit noch am Ende der Wachsthumsperiode einer besseren Ausgestaltung Platz macht. H~ufiger sind freilich die entgegengesetzten F~ille 7 welehe sich mit Imbecillitlit~ cyklischen Stimmungschwankungen oder mit Dementia praeeox combiniren. Das sind dann offenbar Mischformen~ wo das Gehirn ausser seiner ,I~egerverfassung"~ wenn ieh reich so aus- drficken daft, noch weitere Sch~idigungen erfahren hat. Die Disposition zu Erkrankungen ist ja bei einem solchen Gehirn~ das dutch seine minderwerthige BJldung seine Schw~che verrlith, viel leichter gegeben als bei einem normalen Gehirn. In der That erkrankt sogar die Neger- bev5lkerung~ sobaid sie in Verh~iItnisse gedriingt wird~ denen sie mit ihrem Gehirn nicht mehr gewachsen ist~ weitaus zahlreicher an Geistes- stSrung. Einem Aufsatz yon G e o r g Busehan~ ,Ueber Cultur und Gehirn"~ ist zu entnehmen~ dass die Statistik yon dem Zeitpunkt der Sklavenfreilassung in Amerika einen plStzlichen Anstieg der Geistes- krankheiten der Neger zeigt. Im Jahre 1850 kamen auf 1 Million Farbige 169 Geisteskranke, im Jahre 1860 auf 1 Million Farbige 175 Geisteskranke. 1863 fand die Freilussung start.

Im Jahre 1870 kamen auf 1 Million 367 Neger~ ,, ;. 1880 , . 1 ,, 912 .

, , 1890 ~ , 1 ~ 986 ,

Diese stetige Zunahme der Psychosen unter den Schwarzen betraf indessen nut die Freigelassenen; unter den Negersklaven blieb die H~ufigkeit der Geisteskrankheiten noch ziemlich dieselbe. R u s e h a n theilt ferner mit~ dass besonders in denjenigen Staaten~ wo das weisse Element v0rherrschend i s t und der Schwarze mit diesem in einen hiirteren Wettbewerb zu treten hat~ er leichter unterliegt als in den- jenigen Staaten~ wo die BevSlkerung sich vorwiegend aus Negern zu- sammensetzt und er nur mit seinesgleichen in Concurrenzkampf zu treten braueht. So ist das Yerh~ltniss der Geisteskrankheiten unter den Schwarzen zwisehen den Staaten Georgi% wo die Neger weitaus das numerische Uebergewicht haben~ und New-York wie 1 :4 .

Der moralische Sehwachsinn, welcher bei NaturvS]kern noch ein physiologischer Zustand ist~ muss bei den AbkSmmlingen eivilisirter Nationen als pathologisch~ als eine Geisteskrankheit erachtet werd~n

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und damit beantwortet sich auch die Frage nach tier Zurechnungs- fahigkeit der moralisch Schwaehsinnigen. Ihr e Zurechnungsf~higkeit reicht nicht weiter~ als sic h(ihere Begriffe wirklich verarbeiten und zur Grundlage ihres selbststandigen Vorstellens und ttandelns machen kSnnen. Die Kenntniss des leeren Wortes allein thut es nicht. Gegen die Verfehlungen der Neger mit Gefangnissstrafen anzuk~mpfen~ hat sich als fruchtlos erwiesen~ fiberhaupt bei ihnen ein codificirtes Straf- recht anwenden zu wollen. Dagegen sieht man vom Arbeitszwang gute Erfolge. Aehnliche Maassnahmen empfehlen sich gegen die kriminellen moralisch Schwachsinnigen.

Was die Differentialdiagnose des moralischen Schwachsinns be- senders gegeniiber der Imbecillitlit betrifft~ so dfirfte diese weniger Schwicrigkciten haben~ wenn in der Exploration des Falles die ver- schiedeuen oben besprochenen Formen des Lernens mehr als bisher ge- wfirdigt und auseinander gehalten, womSglich diesbeztigliche systematische Versuche angestellt werden.

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