david harvey der neue imperialismus - vsa verlag

241
David Harvey Der neue Imperialismus VS V

Upload: others

Post on 28-Jan-2022

9 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

David Harvey

Der neueImperialismus

VS

V

Page 2: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

David HarveyDer neue Imperialismus

Page 3: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

David Harvey, geb. 1935 in Kent, England, ist Professor für An-thropologie am Graduate Center der City University of New York.Er lehrte an der Oxford University und an der Johns Hopkins Uni-versity.

Page 4: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

David Harvey

Der neue Imperialismus

Aus dem Amerikanischen von Britta Dutke

VSA-Verlag Hamburg

Page 5: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

© der Originalausgabe (erschienen unter dem Titel »The New Imperialism«bei Oxford University Press, Oxford 2003): David Harvey.© des Nachworts (erschienen in der Taschenbuchausgabe bei Oxford UniversityPress 2005): David Harvey© der deutschsprachigen Übersetzung:VSA-Verlag 2005, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 HamburgUmschlagabbildung: Oxford University PressAlle Rechte vorbehaltenDruck- und Buchbindearbeiten: Idee, Satz & Druck, HamburgISBN 3-89965-092-1

www.vsa-verlag.de

Page 6: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

Inhalt

Vorwort ............................................................................................... 7

Kapitel 1Es geht nur um Öl ............................................................................. 9

Kapitel 2Wie Amerikas Macht wuchs ........................................................... 33

Kapitel 3Die Unterjochung des Kapitals ....................................................... 89

Kapitel 4Akkumulation durch Enteignung................................................. 136

Kapitel 5Vom Konsens zum Zwang ............................................................ 179

Nachwort ........................................................................................ 206

Zum Weiterlesen ............................................................................ 226

Literatur .......................................................................................... 229

Page 7: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

6

Page 8: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

7Vorwort

Vorwort

Die Clarendon-Vorträge wurden am 5., 6. und 7. Februar 2003 inder School of Geography and the Environment an der UniversitätOxford gehalten. Der Zeitpunkt ist nicht unbedeutend. Der Krieggegen den Irak schien zwar bevorzustehen, sollte aber erst noch be-ginnen, und es bestand noch die leise Hoffnung, dass er verhindertwerden könnte. Diese Hoffnung wurde von den großen weltweitenDemonstrationen bestärkt, bei denen in London und Barcelona etwaeine Million Menschen auf die Straße gingen und beeindruckendeZahlen aus vielen anderen Städten überall auf der Welt gemeldetwurden, darunter auch am 15. Februar in den USA. Im Sicherheits-rat der Vereinten Nationen herrschte die Ansicht vor, die Bedro-hung durch ein Regime, das alle als barbarisch und despotisch ansa-hen, könnte durch diplomatische Mittel eingedämmt werden. Trotzdieser Opposition wurde am 20. März auf Geheiß der USA und mitsehr deutlicher Unterstützung durch Großbritannien und Spaniender Militäreinsatz gegen den Irak eingeleitet. Während ich dies schrei-be, ist der Ausgang des Krieges, wenn auch in militärischer Hinsichtunzweifelhaft, immer noch ungewiss. Wird er in eine, scheinbare oderechte, koloniale Besatzung münden, ein durch die USA oktroyiertesRegime von Schützlingen oder in eine echte Befreiung?

Einerseits ergaben sich durch diese schnelle Folge von Ereignis-sen viele Schwierigkeiten für die Konzipierung einer Vortragsreihezum Thema »neuer Imperialismus«. Andererseits machte gerade dieArt dieser Ereignisse und die Bedrohung der globalen Sicherheit inwirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht eine gründli-che Analyse unbedingt nötig. Daher beschloss ich, so gut ich konntezu versuchen, unter den Fluss der Dinge an der Oberfläche zu drin-gen und tieferliegende Strömungen aufzuspüren, die zur historischenGeographie der Welt beigetragen haben und ein wenig erhellen kön-nen, warum eine so gefährliche und schwierige Situation entstandenist.

Page 9: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

8

Bei der Verfolgung dieses Ziels hat es mir sehr geholfen, als Zuhö-rer in einem einjährigen Seminar zum Thema »Imperialismus« zusitzen, das von Neil Smith und Omar Dahbour im Center for Place,Culture and Politics am City University of New York Graduate Cen-ter abgehalten wurde. Ich bin Neil, Omar und den Teilnehmerinnenund Teilnehmern dieses Seminars sehr dankbar für ihre Hilfe bei derEntwicklung vieler meiner Einsichten. Außerdem haben mehrereKolleginnen und Kollegen im Anthropology Program an der CUNYsich frei zu meinem Thema geäußert und ich danke Louise Lenni-han, Don Robotham, Ida Susser, Jane Schneider, Talal Assad undinsbesondere Michael Blim und den Studierenden, die an unseremgemeinsamen Seminar zu »Land, Arbeit und Kapital« teilgenom-men haben, für ihre Beiträge. Ursprünglich kam mir die Idee zu derArt Intervention, wie ich sie hier konstruiere, bei einem Seminar inden Sinn, das ich gemeinsam mit Giovanni Arrighi an der Johns-Hopkins-Universität abhielt. Bei Giovanni stehe ich besonders inder Schuld. Ich bin meinen Kolleginnen und Kollegen an der Ox-ford School of Geography für die Einladung dankbar, an meinen al-ten Lieblingsort zurückzukehren und diese Vorträge zu einer so pas-senden Zeit und an einem so passenden Ort zu halten. Insbesonderemöchte ich Maria Kaika, Jack Langton und Erik Swyngedouw fürihre herzlichen Willkommensgrüße und ihr intensives Interesse andem Thema danken. Anne Ashby von der Oxford University Presszeigte sich besonders hilfsbereit und wie immer spielte Jan Burkeihre unschätzbare Rolle, mich zum Handeln anzutreiben. Im Laufder Jahre habe ich viel aus Begegnungen mit anderen gelernt, die vielzu zahlreich sind, um sie hier zu erwähnen. Ich hoffe, ich habe ihreindividuellen und kollektiven Einsichten und Kenntnisse in diesenVorträgen gut genutzt.

D. H.

Vorwort

Page 10: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

9Es geht nur um Öl

Kapitel 1Es geht nur um Öl

Meine Absicht ist es, den gegenwärtigen Zustand des globalen Kapi-talismus zu betrachten und zu prüfen, welche Rolle ein »neuer«Imperialismus darin möglicherweise spielt. Das tue ich aus der Per-spektive der Langfristigkeit und durch die Linse dessen, was ich denhistorisch-geographischen Materialismus nenne. Ich möchte einigeder tiefgreifenden Veränderungen aufdecken, die unterhalb all deroberflächlichen Turbulenzen und Unstetigkeiten stattfinden, unddamit das Terrain für die Diskussion öffnen, wie wir unsere heutigeSituation am besten interpretieren und auf sie reagieren könnten.

Der längste Zeitabschnitt, den irgendwer von uns tatsächlich er-fahren kann, ist natürlich ein Menschenleben. Mein erstes Verständ-nis der Welt wurde während des Zweiten Weltkriegs und seinen un-mittelbaren Nachwirkungen geprägt. Damals hatte der AusdruckBritisches Empire noch Klang und Bedeutung. Die Welt schien miroffen zu stehen, weil so viele Gebiete auf der Weltkarte rot gefärbtwaren, ein Reich, in dem die Sonne nie unterging. Wenn ich nochweitere Beweise für die Besitzverhältnisse brauchte, konnte ich siein meiner Briefmarkensammlung finden – der Kopf des britischenMonarchen zierte die Briefmarken aus Indien, Sarawak, Rhodesien,Njassaland, Nigeria, Ceylon, Jamaika ... Doch bald musste ich er-kennen, dass die britische Macht dahinschwand. Das Empire zer-bröckelte in einem erschreckenden Tempo. Großbritannien hatte dieWeltmacht an die USA abgetreten, und die Farben auf der Weltkarteänderten sich, während die Geschwindigkeit der Entkolonialisierungzunahm. Die traumatischen Ereignisse der Unabhängigkeit und Tei-lung Indiens von 1947 bezeichneten den Anfang vom Ende. Zunächstwurde mir zu verstehen gegeben, das Trauma sei ein typisches Bei-spiel dafür, was geschieht, wenn die »vernünftige« und »faire« briti-sche Herrschaft durch irrationale Leidenschaften der Einheimischen

Page 11: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

10 Kapitel 1

und den Rückfall in althergebrachte Vorurteile ersetzt wird (ein be-merkenswert hartnäckiges Denkmuster des Weltverständnisses, dasnicht auf Großbritannien beschränkt war und ist). Doch mit derzunehmenden Intensität der Kämpfe um die Entkolonialisierung tratauch die dunklere und niederträchtigere Seite der Imperialherrschaftdeutlicher zutage. Den Höhepunkt stellte, für mich und viele anderemeiner Generation, der englisch-französische Versuch von 1956 dar,den Suezkanal zurückzuerobern. Damals rügten die USA Großbri-tannien und Frankreich dafür, dass sie auf das Mittel des Kriegeszurückgriffen, um mit Nasser ein arabisches Staatsoberhaupt zu stür-zen, das in den Augen des Westens ganz genau so bedrohlich und»böse« war, wie Saddam Hussein heute dargestellt wird. Eisenho-wer zog eine friedliche Politik der Eindämmung einem Krieg vor,und man kann zu Recht sagen, dass das weltweite Ansehen der Füh-rungskraft der USA ebenso jäh anstieg wie das von Großbritannienund Frankreich sank. Nach der Suezkrise fiel es mir schwer, die per-fide Seite eines unverhüllt eigennützigen und rapide schwindenden,doch unverkennbar britischen Imperialismus zu bestreiten.

Einem jungen Studenten aus der Bronx, der in den frühen 1960erJahren nach Oxford kam, stellten sich die Dinge ganz anders dar.Marshall Berman dokumentiert, wie unerträglich er sie fand, diese»matten jungen Männer, die aussahen wie Komparsen aus Brides-head Revisited, die in Smokings herumlümmelten (oft in einem Zu-stand, als hätten sie darin geschlafen) und dahinvegetierten, wäh-rend ihren Vätern das Britische Empire und die Welt gehörte. Oderzumindest gebärdeten sie sich, als gehörte ihren Vätern die Welt. Ichwusste, wie viel davon in Wirklichkeit nur Gebärde war: das Empirewar am Ende; die Kinder seiner herrschenden Klasse lebten von Treu-handfonds, die jedes Jahr weniger wert waren, und würden Firmenerben, die pleite gingen … ich wusste zumindest, dass ich in der Weltaufstieg.«1 Ich frage mich, wie er jetzt darüber denkt, wo all diesegescheiterten Firmen des neuen Markts die US-amerikanische Land-

1 M. Berman, »Justice/Just Us: Rap and Social Justice in America«, in: A.Merrifield und E. Swyngedouw (Hrsg.), The Urbanization of Injustice (NewYork: New York University Press, 1997), S. 148.

Page 12: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

11Es geht nur um Öl

schaft verschandeln, angesichts der Buchführungsskandale, des ka-tastrophalen Niedergangs an den Börsen, der einen guten Teil derRentenansprüche vieler Menschen zerstört hat, und plötzlicher streit-lustiger Parolen – am auffallendsten die auf der Titelseite des Maga-zins der New York Times vom 5. Januar 2003: »American Empire:Get Used to It« (»Das amerikanische Imperium: Gewöhnt euchdran«).2 Für mich ist es überaus merkwürdig, während des Nieder-gangs des einen Imperiums Weltbewusstsein zu erlangen und zumZeitpunkt einer so öffentlichen Ausrufung der offiziellen Geburteines anderen ins Pensionsalter zu kommen.

Michael Ignatieff, der Autor des New York Times-Artikels, wie-derholt eindringlich eine frühere Behauptung (ebenfalls im Magazinder New York Times, vom 28. Juli 2002): »Amerikas gesamter Krieggegen den Terrorismus ist eine Ausübung von Imperialismus. Dasmag für Amerikaner, die ihr Land nicht gerne als Imperialmacht se-hen, ein Schock sein. Aber wie sollte man die US-amerikanischenLegionen von Soldaten, Spionen und Spezialeinheiten, die den Glo-bus umspannen, sonst nennen?« Die USA, argumentiert er, könntensich nicht länger auf ein Empire »lite« versteifen oder erwarten, esauf die billige Tour erledigen zu können. Sie sollten bereit sein, eineernsthaftere und dauerhaftere Rolle zu übernehmen und eine lang-fristigere Politik zu verfolgen, um wichtige Ziele und große Verän-derungen zu realisieren. Dass eine Mainstream-Publikation den Ge-danken eines amerikanischen Imperiums so in den Vordergrund stellt,ist bedeutsam. Und Ignatieff steht mit seinen Forderungen nicht al-lein. Max Boot, einer der Herausgeber des Wall Street Journal, meint,»eine Dosis US-Imperialismus ist vielleicht die beste Reaktion aufden Terrorismus«. Amerika müsse expansiver sein, sagt er: »Afgha-nistan und andere Länder in Schwierigkeiten schreien nach der Artvon aufgeklärter Verwaltung aus dem Ausland, wie selbstsichereEngländer in Jodhpurhosen und Tropenhelmen sie einst stellten.«

2 M. Ignatieff, »The Burden«, New York Times, 5. Januar 2003, Sunday Ma-gazine S. 22-54, Wiederabdruck als »Empire Lite«, in: Prospect (Februar 2003),S. 36-43. Siehe auch ders., »How to Keep Afghanistan from Falling Apart: TheCase for a Committed American Imperialism«, New York Times, 26. Juli 2002,Sunday Magazine, S. 26-58.

Page 13: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

12

Nach dieser so nostalgischen Darstellung ihrer vornehmen imperia-listischen Traditionen begannen die Briten auch mitzumischen. Derkonservative Historiker Niall Ferguson (dessen Fernsehserie undBegleitbuch auf wahrhaft patriotische Weise nicht nur die heroischenTaten der Erbauer des britischen Imperiums dokumentieren, son-dern auch den Frieden, den Reichtum und das Wohlergehen, den dasEmpire der Welt angeblich brachte) empfiehlt, die USA müsstenentschlossener handeln, das Geld herausrücken und »den Übergangvon der inoffiziellen zur offiziellen Imperialmacht vollziehen«. Ein»neuer Imperialismus«, so behaupten inzwischen viele, sei bereitsim Gange, erfordere aber ein ausdrücklicheres Eingeständnis undein massiveres Engagement, wenn er eine Pax Americana stiften sol-le, die der Welt denselben Nutzen bringen könne wie die Pax Bri-tannica in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.3

Zu diesem Engagement ist Präsident Bush offenbar gern bereit,trotz seiner Erklärung in der West Point Rede, »Amerika hat keinImperium, das es vergrößern und keine Utopie, die es errichten will«.Der 11. September, so schrieb er in einem Leitartikel für die NewYork Times zum Jahrestag der Tragödie, habe die Rolle der Vereinig-ten Staaten in der Welt klargestellt und großartige Möglichkeiteneröffnet. »Wir werden unsere Position beispielloser Stärke und nochnie da gewesenen Einflusses dazu nutzen, eine Atmosphäre der in-ternationalen Ordnung und Offenheit zu schaffen, in der Fortschrittund Freiheit in vielen Nationen gedeihen können. Eine friedlicheWelt wachsender Freiheit dient den langfristigen Interessen Ameri-kas, spiegelt die dauerhaften amerikanischen Ideale wider und ver-eint Amerikas Verbündete. … Wir streben einen gerechten Friedenan«, schrieb er, während er den Krieg vorbereitete, »in dem Unter-drückung, Ressentiments und Armut von der Hoffnung auf Demo-kratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel abgelöst wer-den«, wobei die letzten beiden »ihre Fähigkeit, ganze Gesellschaftenaus der Armut zu ziehen, unter Beweis gestellt« hätten. Die USA,

3 Viele dieser Zitate sind praktischerweise zusammengestellt in B. Bowden,»Reinventing Imperialism in the Wake of September 11«, Alternatives: TurkishJournal of International Relations, 1/2 (Sommer 2002). Dies ist online zugäng-lich unter http://alternatives.jounal.fatih.edu.tr/Bowden.htm.

Kapitel 1

Page 14: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

13

behauptete er, »werden sich für Mäßigung, Toleranz und die unver-handelbaren Erfordernisse der Menschenwürde einsetzen – Rechts-staatlichkeit, Beschränkung der Machtbefugnisse des Staates undRespekt für Frauen, Privateigentum, freie Meinungsäußerung undGleichheit vor dem Gesetz«. Heute, so schloss er, hielte »die Mensch-heit die Chance in den Händen, den Triumph der Freiheit über allihre uralten Feinde zu ermöglichen. Die Vereinigten Staaten tragenmit Freude die Verantwortung ihrer Führungsrolle bei dieser gro-ßen Mission.« Genau dieselbe Sprache las man in der Vorrede zudem Dokument zur Nationalen Sicherheitsstrategie, das kurze Zeitspäter erschien.4 Das kommt keiner offiziellen Ausrufung eines Im-periums gleich, ist aber ganz sicher eine Erklärung, die nach imperi-alistischen Absichten riecht.

Es hat viele verschiedene Arten von Reichen gegeben (das römi-sche, das osmanische, das chinesische Kaiserreich, das russische, dassowjetische, Österreich-Ungarn, das napoleonische, das britische,das französische, usw.). Aus diesem bunt zusammengewürfeltenHaufen können wir leicht ersehen, dass die Antworten auf die Fra-ge, wie ein Imperium aufgefasst, verwaltet und aktiv aufgebaut wer-den sollte, stark variieren. Verschiedene und manchmal auch kon-kurrierende Imperiumsbegriffe können sogar in ein und demselbenRaum existieren. Das chinesische Kaiserreich durchlief eine Phasestarker Expansion und der Erforschung der Meere, nur um sich plötz-lich und mysteriöserweise in sich selbst zurückzuziehen. Der ameri-kanische Imperialismus schlittert und schlingert seit dem ZweitenWeltkrieg von einem vagen (weil nie diskutierten) Imperiumsbegriffzum anderen. Während Bush, der Jüngere, einen gewissen napoleo-nischen Impuls an den Tag legt, wenn er auf Bagdad marschierenwill und danach vielleicht auf Teheran (wohin, wie einige der Falkenin der Regierung anscheinend glauben, »echte Männer« wahrhaft ge-hören), ähnelte Clintons Ansatz (von der Bush-Regierung interes-

4 G. W. Bush, »Securing Freedom’s Triumph«, New York Times, 11. Septem-ber 2002, S. A33. The National Security Strategy of the United States of Ameri-ca findet sich auf der Webseite www.whitehouse.gov/nsc/nss. Ignatieff, »TheBurden«, eröffnet seine Argumentation (S. 22) mit einer Diskussion von BushsWest Point Rede.

Es geht nur um Öl

Page 15: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

14

santerweise »feminin« getauft) eher dem des Osmanischen Reichsauf dem Höhepunkt seiner Macht. Stark zentralisiert innerhalb desUS-amerikanischen Finanzministeriums, wo Rubin und später Sum-mers die tonangebenden Figuren waren, wurde der soft power derVorzug gegenüber der hard power gegeben, und der Rest der Weltwurde mit großer multikultureller Toleranz behandelt. Politik wur-de eher auf multilaterale denn auf unilaterale Weise betrieben. DerAufbau amerikanischer imperialer Macht unter Roosevelt, Trumanund Eisenhower bis hin zu Nixon spiegelte dagegen am ehesten densowjetischen Ansatz der untergeordneten Satellitenstaaten wider, mitdem Unterschied, dass Japan, anders als Ungarn oder Polen, die Frei-heit belassen wurde, seine eigene Wirtschaft zu entwickeln, voraus-gesetzt, es blieb in politischer und militärischer Hinsicht den US-amerikanischen Wünschen gegenüber willfährig. Das tatsächlichexistierende amerikanische Imperium wurde, so legt Ignatieff nahe,nicht in einem Anfall von Geistesabwesenheit erworben (wie dieBriten gerne für sich in Anspruch nahmen), sondern in einer Hal-tung der Selbstverleugnung: Weder durften imperialistische Hand-lungen auf Seiten der USA als solche benannt werden, noch ließ manzu, dass sie in die innenpolitische Situation hineinspielten. Das wares, was ein »Empire lite« hervorbrachte, anstelle eines Imperiumsmit massiven, langfristigen Verpflichtungen.5

Innerhalb dessen, was man die »traditionelle Linke« nennen könn-te, existiert vielfach die Meinung, die USA seien seit mindestens ei-nem Jahrhundert oder länger eine Imperialmacht. In den 1960er Jah-ren kursierten übertriebene Analysen des amerikanischen Imperia-lismus, die sich besonders auf die Rolle der USA in Lateinamerikaund Südostasien konzentrierten. Es kam zu heftigen Disputen zwi-schen den Vertretern der damals neu entwickelten Dependenztheo-rie (wie Frank) und denjenigen, die eher geneigt waren, Hobson,Hilferding, Lenin, Luxemburg und andere Denker der Jahrhundert-wende beim Wort zu nehmen. Und Mao sah den US-amerikanischen

5 In M. W. Doyle, Empires (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1986),findet sich eine interessante vergleichende Studie über Imperien. Für den Fallder USA siehe auch W. A. Williams, Der Welt Gesetz und Freiheit geben. Ame-rikas Sendungsglaube und imperiale Politik (Hamburg: Junius, 1984).

Kapitel 1

Page 16: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

15

Imperialismus sicherlich als den primären Widerspruch an, mit demer fertig werden musste. Aber die Publikation von Hardt und Neg-ris Empire (2000) und die Kontroverse darum stellte traditionelleDiskussionen in Frage und legte nahe, dass die linke Opposition über-dacht werden müsse in Bezug auf die dezentrale Struktur eines Im-periums, das viele neue (postmoderne) Qualitäten aufweist. Obgleichviele dieser Argumentationsrichtung kritisch gegenüberstanden, be-gann man innerhalb der Linken zu erkennen, dass die Mächte derGlobalisierung (wie man diese auch analysieren mag) eine neuartigeSituation schufen, die eine neue Rahmenstruktur für die Analyseerforderlich machte.6 Die offene Selbstbezichtigung des Imperiumsund des Imperialismus von Seiten der Rechten wie auch von Libera-len war daher eine willkommene Bestätigung einer schon lange exis-tenten Tatsache. Gleichzeitig ließ sie aber auch erahnen, dass der Im-perialismus nun einen ganz anderen Reiz bekommen könnte. Daseben Beschriebene hat bewirkt, dass die Fragen des Imperiums unddes Imperialismus quer durch das politische Spektrum zum Themaoffener Diskussionen geworden sind (es ist erwähnenswert, dass dieMainstream-Medien der Arbeit Hardt und Negris Beachtung schenk-ten). Doch daraus ergibt sich dann die weitere Frage: Was, wennüberhaupt, ist an alledem neu?

Ich nähere mich dieser Frage zunächst durch eine Untersuchungaktueller Ereignisse. Die USA haben, unterstützt von Großbritan-nien, Spanien und Australien und mit dem Einverständnis diverseranderer Staaten, einen Krieg gegen den Irak angefangen. Doch tatensie dies unter dem entschiedenen Widerstand mehrerer traditionel-ler Verbündeter, vor allem Frankreichs und Deutschlands, sowie lang-

6 Das Thema »neuer Imperialismus« ist von linker Seite angeschnitten wor-den in L. Panitch, »The New Imperial State«, New Left Review, 11/1 (2000), S.5-20; siehe auch P. Gowan, L. Panitch und M. Shaw, »The State, Globalizationand the New Imperialism: A Round Table Discussion«, Historical Materialism,9 (2001), S. 3-38. Andere interessante Kommentare sind J. Petras und H. Velt-meyer, Globalization Unmasked: Imperialism in the 21st Century (London:Zed Books, 2001), R. Went, »Globalization in the Perspektive of Imperialism«,Science and Society, 66/4 (2002/3), S. 473-97; S. Amin, »Imperialism and Globa-lization«, Monthly Review (Juni 2001), S. 1-10; und M. Hardt und A. Negri,Empire: die neue Weltordnung (Frankfurt a.M.: Campus, 2002).

Es geht nur um Öl

Page 17: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

16

jähriger Gegner, vor allem Russlands und Chinas. Überall auf derWelt kam es zu breiten Mobilisierungen gegen den Krieg und vieleMenschen fragen sich erstaunt, warum die Bush-Regierung sich aufdieses Vorgehen fixiert hat. Das Beweismaterial legt nahe, dass hieretwas tieferliegendes eine Rolle spielt, es lässt sich aber nur schwererkennen, was das ist. Diese tieferen Bedeutungen müssen unter ei-nem unglaublichen Schaum aus irreführender oberflächlicher Rhe-torik und Desinformation freigelegt werden.

Eine Geschichte aus zwei ölproduzierenden LändernDer Putsch, der im April 2002 Präsident Chavez von Venezuela stürz-te, stieß in Washington auf große Euphorie. Der neue Präsident – einGeschäftsmann – wurde sofort anerkannt und man verlieh der Hoff-nung Ausdruck, Stabilität und Ordnung würden in das Land zu-rückkehren und damit die Basis für eine solide künftige Entwick-lung schaffen. Der Leitartikel der New York Times sprach dieselbeSprache. Die meisten Menschen in Lateinamerika jedoch erkanntensofort die Handschrift des CIA und erinnerten sich an das, was dieChilenen jetzt ironisch »ihren kleinen 11. September« von 1973 nen-nen, als der demokratisch gewählte Sozialist Salvador Allende durcheinen brutalen Putsch von General Augusto Pinochet gestürzt wur-de. Im Archiv des US-Außenministeriums über den Fall existiert einCIA-Telegramm, das lautet: »Feste und anhaltende politische Ab-sicht ist, dass Allende durch einen Putsch gestürzt werden soll … Zudiesem Zweck werden wir weiterhin maximalen Druck ausüben undjedes geeignete Mittel einsetzen. Es ist unbedingt erforderlich, dassdiese Aktionen geheim und sicher durchgeführt werden, so dass dieBeteiligung der Regierung der Vereinigten Staaten und Amerikasverborgen bleiben.«7 Man kann sich leicht vorstellen, dass ähnlicheTelegramme mit Bezug auf Venezuela später einmal die Webseite desAußenministeriums zieren werden.

Der Putsch endete drei Tage später damit, dass Chavez wieder andie Macht kam. Das US-Außenministerium leugnete schlicht jegli-

7 Im Original zitiert in C. Johnson, Blowback: The Costs and Consequencesof American Empire (New York: Henry Holt, 2000), S. 18.

Kapitel 1

Page 18: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

17

che vorherige Kenntnis und bezeichnete das Ganze als interne An-gelegenheit. Es ließ verlauten, man komme hoffentlich zu einer fried-lichen, demokratischen und verfassungsgemäßen Lösung der Schwie-rigkeiten. Der Leitartikel der New York Times folgte diesem Bei-spiel und fügte lediglich hinzu, da einer der fundamentalen Werteder USA die Unterstützung der Demokratie sei, sei es vielleicht kei-ne so gute Idee, allzu entgegenkommend auf den Sturz einer demo-kratisch gewählten Regierung, wie unausstehlich auch immer, zureagieren.

Die Parallele zum Irak, zufällig ebenfalls ein wichtiges Mitgliedder OPEC, ist aufschlussreich. Dort haben die USA angeblich einInteresse an der Errichtung einer Demokratie. Natürlich stürztensie einst, 1953, den demokratisch gewählten Mossadegh im Iran undinthronisierten den diktatorischen Schah von Persien. Vermutlich sindes also nur bestimmte demokratisch gewählte Regierungen, die tole-riert werden. Aber in diesem Fall war die vorgebliche Absicht, denIrak und die ganze Region demokratisieren zu wollen, nichts als einevon unzähligen, oft widersprüchlichen Erklärungen dazu, warumdie Bereitwilligkeit, einen Krieg zu beginnen, so wichtig war. Diemeisten Menschen, sogar die Befürworter, waren über die Rationali-sierungen verblüfft und verwirrt. Es erwies sich als schwierig, denWirrwarr aus Desinformation und ständig neu zurechtgelegter Ar-gumentation zu durchschauen. Ein früher Versuch, den Irak mit denAnthrax-Angriffen in den USA in Verbindung zu bringen, scheiter-te kläglich. Der Irak hat zwar eine grauenerregende Vorgeschichte,was den Einsatz biologischer und chemischer Waffen angeht, dochzu diesem kam es größtenteils zu der Zeit, als die USA den Irakgegen den Iran unterstützten, und das US-Außenministerium machtedie Weltöffentlichkeit in dem Wissen, dass dies nur der Irak tat, fälsch-lich glauben, beide Seiten hätten damals auf solche verabscheuungs-würdigen Methoden zurückgegriffen.8 Die ebenso entsetzliche Vor-geschichte in Sachen Menschenrechte ist ein berechtigter Gesichts-punkt, doch ergibt dies politisch kaum einen Sinn, wenn die US-

8 J. Hilterman, »Halabja: America Didn’t Seem to Mind Poison Gas«, Inter-national Herald Tribune, 17. Januar 2003, S. 8.

Es geht nur um Öl

Page 19: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

18

Regierung Algerien militärische Hilfe anbietet – einem Land, das,was seine brutalen Menschenrechtsverletzungen zur Unterdrückungder islamistischen Opposition angeht, mit dem Irak wetteifert (manschätzt 120.000 Todesfälle im Laufe der letzten acht Jahre). WilliamBurns, der für den Nahen Osten zuständige stellvertretende Staats-sekretär im Außenministerium, ging sogar so weit zu sagen, »wasdie Beherrschung des Terrors angeht, können wir viel von den Alge-riern lernen«.9 Das erklärt vielleicht, warum die Frage, wann Foltermöglicherweise berechtigt sei (der die New York Times ebenfalls ei-nen herausragenden Ort einräumte) in den USA plötzlich zum The-ma der öffentlichen Diskussion wurde.

Dann ist da das Problem der Massenvernichtungswaffen. Was derIrak tatsächlich hat, ist schwer zu sagen, doch seine militärischenKapazitäten wurden während und nach dem Golfkrieg so stark de-zimiert, dass selbst CIA-Berichte das Land nicht als echte Bedro-hung für den Frieden in der Region einstuften. Dies ließ die Beteue-rungen, der Irak stelle eine Bedrohung für die USA dar (in denenPräsident Bush sich bizarrerweise zu der Behauptung verstieg, einirakischer Angriff auf die USA würde der US-Wirtschaft großenSchaden zufügen), töricht klingen. Die CIA kam zu dem Schluss,Saddam würde biologische und chemische Waffen, sollte er welchehaben, nur einsetzen, wenn er provoziert würde. Das machte es dop-pelt schwer zu erklären, warum die USA zu einer solchen Provoka-tion so entschlossen schienen. Höchstwahrscheinlich versucht derIrak, Nuklearmacht zu werden, allerdings gilt das auch für viele an-dere Länder, etwa Nordkorea, das dies öffentlich bekannt gibt. Alsdie Waffeninspektoren schließlich ins Land gelassen wurden, konn-ten sie nicht sehr viel finden. In jedem Fall war ursprünglich derRegierungswechsel das Ziel, und die Entwaffnung erhielt als Grundnur Bedeutung, um sich auf die Vollmacht der Vereinten Nationenberufen zu können, denn Präventivangriffe verbietet die UN-Char-ta. Und wenn nicht aus diesen Gründen, dann musste Saddam weg,weil er ein Lügner war (eine Bezeichnung, die so vielen Politikern

9 Wiedergegeben in R. Fisk, »The Case Against War: A Conflict Driven bythe Self-Interest of America«, Independent, 15. Februar 2003, S. 20.

Kapitel 1

Page 20: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

19

anhaftet, dass sie schnell zu einem Witz wurde), unbarmherzig (al-lerdings ist Scharon das auch), leichtsinnig (nicht bewiesen) oder eineInkarnation des Bösen, die bekämpft werden musste, als sei der Kriegim Mittleren Osten die Episode eines mittelalterlichen Moralstücksmit vielen Folgen (in dem Saddam als Sauron auftritt und Bush alsder tapfere Frodo, begleitet von Blair als sein treuer Sam). Schließ-lich ließ man das Ganze klingen, als hätten die USA und Großbri-tannien sich zu einer großartigen moralischen Mission verpflichtet,das irakische Volk, was auch geschehe, zu befreien und dem Mittle-ren Osten Aufklärung im amerikanischen Stil einzuimpfen.

Bei alldem konnte man sich schwerlich des Eindrucks erwehren,etwas sehr Wichtiges werde unter einer ganzen Reihe von Deck-mänteln gehalten. Zunächst schien es plausibel, dass es geheime In-formationen gab, die nicht aufgedeckt werden durften, aber jederVersuch, etwas aus dem Geheimarchiv aufzudecken, brachte entwe-der etwas Triviales, etwas leicht zu Widerlegendes oder – wie im Fallder britischen Enthüllungen, die ohne Quellenangabe aus einer fünfJahre alten Dissertation abgeschrieben worden waren (von der einTeil bereits in Foreign Affairs gestanden hatte) – etwas so schlampigRecherchiertes zum Vorschein, dass man es kaum ernst nehmen konn-te. Aus den Geheimdiensten sickerte durch, einige ihrer Mitgliederseien unzufrieden über die Art, wie ihre Informationen von der Re-gierung verfälscht würden. Es kann kaum verwundern, dass dieWeltöffentlichkeit trotz einer kriegslustigen Presse (die weltweit 175in Murdochs Besitz befindlichen Zeitungen, deren Chefredakteureangeblich ihrer Unabhängigkeit wegen ausgewählt wurden, priesenden Krieg einmütig als eine gute Sache, dasselbe taten diverse andereim Besitz von Mediengiganten) und des Tyrannisierens durch Politi-ker insgesamt skeptisch blieb oder den Krieg rundheraus ablehnte.

Was geht nun wirklich vor? Die angegebenen Gründe überzeu-gen nicht; sie ergeben schlicht keine zwingenden Argumente. Wasalso könnten die nicht angegebenen Gründe sein? Und hier müssenwir möglicherweise der Tatsache ins Auge sehen, dass nicht einmaldie Hauptakteure des Dramas diese Gründe richtig verstehen, oderdass die Gründe, wo man sie versteht, aktiv unterdrückt oder ge-leugnet werden.

Es geht nur um Öl

Page 21: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

20

Die innere Dialektikder bürgerlichen Gesellschaft der USAKurz vor den deutschen Bundestagswahlen von 2002 verursachtedie deutsche Justizministerin einen Skandal, als sie andeutete, dieBush-Regierung versuche durch ihre gewagten Unternehmungen imAusland von ihren innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. IhrFehler war hinzuzufügen, auch Hitler habe diese Taktik angewandt,und dafür musste sie gehen. Leider verhinderte dies jede ernsthafteDiskussion des ersten Teils ihrer Aussage.

Tatsächlich hat der Versuch von Regierungen in innenpolitischenSchwierigkeiten, ihre Probleme entweder durch Abenteuer im Aus-land oder durch die Erfindung ausländischer Bedrohungen als Mit-tel zur Festigung heimischer Solidarität zu lösen, eine lange Geschich-te. In diesem Fall ist der Gedanke ein berechtigter Gesichtspunkt,denn die innenpolitische Lage der USA war 2002 in vielerlei Hin-sicht so prekär wie seit langem nicht mehr. Die Rezession, die An-fang 2001 eingesetzt hatte (und durch den Schock vom 11. Septem-ber vorangetrieben wurde), wollte nicht vorübergehen. Die Arbeits-losigkeit stieg und die wirtschaftliche Unsicherheit war spürbar. Esregnete Firmenskandale und scheinbar solide Riesenunternehmenlösten sich buchstäblich über Nacht in Nichts auf. Ein Versagen derBuchführung (sowie ausgemachte Korruption) und ein Versagen derRegulative brachten die Wall Street in Verruf und Aktien und andereVermögenswerte stürzten ab. Die Rentenfonds verloren zwischeneinem Viertel und einem Drittel ihres Werts (wenn sie nicht voll-kommen verschwanden wie im Fall der Fonds der Enron-Angestell-ten), und die Aussichten der Mittelschicht für ihre Pensionierungerhielten einen empfindlichen Schlag. Die Gesundheitsfürsorge steck-te in großen Schwierigkeiten, die staatlichen Überschüsse auf Bun-des-, Staats- und kommunaler Ebene schwanden schnell dahin unddas Defizit türmte sich immer bedrohlicher auf. Der aktuelle Saldogegenüber der restlichen Welt geriet in immer stärkere Schieflageund die USA wurden zum größten Schuldnerstaat aller Zeiten. Diesoziale Ungleichheit hatte schon lange ständig zugenommen, dochdie Steuersenkungsmanie der Regierung schien direkt darauf abzu-zielen, sie weiter zu vergrößern. Der Umweltschutz lag völlig am

Kapitel 1

Page 22: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

21

Boden, und es bestand ein tiefer Widerwille, dem Markt erneut ir-gendeine regulierende Struktur aufzuerlegen, sogar noch angesichtseindeutiger Belege für ein Versagen des Markts. Als Krönung all des-sen war der Präsident eher in einer Fünf-zu-vier-Abstimmung vomObersten Gerichtshof gewählt worden als vom Volk. Am Vorabenddes 11. September wurde seine Legitimität von mindestens der Hälfteder Bevölkerung in Frage gestellt. Das einzige, was die völlige poli-tische Niederlage der Republikaner verhinderte, war die äußerst großeSolidarität – an der Grenze zur nationalen Wiedererweckung – nachden Ereignissen vom 11. September und dem Anthrax-Schrecken(letzterer ist seltsamerweise immer noch nicht aufgeklärt und imGroßen und Ganzen vergessen, außer als Vorbote der Dinge, dieSaddam uns nur zu bereitwillig zufügen würde). Während Afgha-nistan sich der US-amerikanischen Macht schnell und (für die Ame-rikaner) unblutig ergab, war Osama nicht »tot oder lebendig« auf-gegriffen worden und der Krieg gegen den Terrorismus hatte an spek-takulären Ergebnissen nicht sehr viel vorzuweisen. Welcher Momentwäre also besser geeignet, die Konzentration auf den Irak zu rich-ten, als eine der Hauptsäulen einer »Achse des Bösen«, der die Fal-ken10 in der Bush-Regierung schon seit dem unbestimmten Ausgangdes Golfkriegs mit militärischen Mitteln nachstellen wollten? Dassdie Ablenkungstaktik funktionierte, zumindest kurzfristig, ist Ge-schichte. Die amerikanische Öffentlichkeit akzeptierte größtenteilsdie Vorstellung, es hätte irgendeine Art von Verbindung zwischenAl-Qaida und Saddams Regierung gegeben und letztere sei jeden-falls ein ausreichend gefährlicher und bösartiger Feind gewesen, umMilitäraktionen zu ihrer Entfernung zu rechtfertigen. Und en pas-sant gelang es den Republikanern, durch die Kongresswahlen diepolitische Macht zu konsolidieren, und der Präsident konnte denGeruch der Unrechtmäßigkeit, der seiner Wahl angehaftet hatte, los-werden.

10 »Hawkish members« – die Unterscheidung von hawks (Falken) und do-ves (Tauben) in der Sprache der amerikanischen Internationalen Politik beziehtsich auf die Gegensatzpaare Unilateralismus/Multilateralismus, hard power/soft power und mehr oder weniger auch auf die paradigmatische Unterschei-dung Realismus/Idealismus. (Anm. d. Red.)

Es geht nur um Öl

Page 23: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

22

Aber möglicherweise ist hier etwas weitaus Tieferliegendes amWerk, das den scheinbaren flachen politischen Opportunismus ineine zwingende und dauerhafte politische Kraft in der geopolitischenGeschichte der USA verwandelt. Zunächst einmal hatte die Angstvor der Macht des Iraks und vor einer potenziell Unruhe stiftendenpanarabischen Bewegung schon mehrere aufeinanderfolgende US-Regierungen geplagt. Colin Powell hatte bereits vor dem erstenGolfkrieg militärische Notfallpläne in Bezug auf den Irak geschmie-det. Paul Wolfowitz, später Bushs stellvertretender Verteidigungs-minister, war schon 1992 explizit für einen Regierungswechsel imIrak eingetreten und erklärte das die 1990er Jahre hindurch öffent-lich. In der Clinton-Regierung wurde dies die allgemein akzeptiertePolitik. Eine Gruppe von Neokonservativen, die sich 1997 unter derÜberschrift »Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert« zu-sammentat, bekräftigte, der Regierungswechsel im Irak sei das wich-tigste Ziel und drang darauf, es mit militärischen Mitteln zu verfol-gen. Rumsfeld, Wolfowitz, Armitage, Perle und einige andere, dieden Kern von Bushs Verteidigungs- und Außenpolitikteam bildensollten, waren Mitglieder dieser Gruppe. Geostrategisch hatten sieden Irak also lange Zeit im Blick gehabt. Aber in einem Bericht von1999 gestanden sie ein, dass »ein katastrophales und katalysierendesEreignis, wie ein neues Pearl Harbor« nötig wäre, um einen militäri-schen Schlag international und innenpolitisch akzeptabel zu machen.Der 11. September bot diese Gelegenheit, wenn es nur gelänge, eineVerbindung zwischen Saddam und Al-Qaida herzustellen.11 Ange-sichts der Gleichgültigkeit und Unwissenheit eines großen Teils deramerikanischen Öffentlichkeit gegenüber praktisch allem Geogra-phischen, konnte man die Jagd auf Terroristen leicht dazu nutzen,Saddam zur Strecke zu bringen und zu beseitigen. Der Rest der Weltwar nicht so überzeugt.

Diese interne Dynamik hat noch eine weitere Dimension, derenVerständnis wichtig ist. Die USA sind eine recht außergewöhnliche

11 Bericht in R. Fisk, »This Looming War isn’t about Chemical Warheads orHuman Rights: It’s about Oil«, Independent, 18. Januar 2003, S. 18. Siehe auchdie Webseite www.newamericancentury.org.

Kapitel 1

Page 24: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

23

multikulturelle Einwanderergesellschaft, angetrieben von einem star-ken, vom Konkurrenzdenken geprägten Individualismus, der dasgesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben ständig revo-lutioniert. Diese Kräfte machen die Demokratie chronisch instabil,schwierig, wenn nicht unmöglich zu beherrschen, außer durch dieBestechung mit finanzieller Macht. Es gibt Zeiten, in denen das gan-ze Land so ungebärdig wirkt, dass es scheint, als könne man es nichtregieren. Hannah Arendt erfasst, worum es bei einer solchen bür-gerlichen Gesellschaft genau geht: »Ein auf diese Art Macht begrün-detes Gemeinwesen konnte in der Ruhe der Stabilität nur zerfallen.So wie das Individuum in der Gesellschaft in seinem Konkurrenz-kampf nie erlahmen darf, will es nicht von anderen an die Wand undaus dem Spiel gespielt werden, so muss ein auf diese Gesellschaftgegründeter Staat, der seine Macht erhalten will, dauernd danachstreben, mehr Macht zu erwerben. Nur in der dauernden Machter-weiterung, im Prozess der Machtakkumulation, kann er sich stabilerhalten. Ein ewig schwankendes Gebäude, ist er darauf angewie-sen, dass er dauernd von außen neue Stützen erhält, soll er nicht überNacht zusammenstürzen in das zweck- und prinzipienlose Nichts,aus dem er entstand. Dies stellt sich politisch in der Theorie von demNaturzustand dar, in welchem die Staaten gegeneinander verbleibenund der als Krieg aller gegen alle einen dauernden Machtzuwachsauf Kosten anderer Staaten ermöglicht.«12

Der Kalte Krieg war vorbei und die Bedrohung durch mit Schneean ihren Stiefeln durch ganz Kanada heruntergestapft kommendeRussen nicht mehr glaubwürdig. Während der 1990er Jahre gab eskeinen eindeutigen Feind und die boomende Wirtschaft in den USAhätte in allen außer den am stärksten unterprivilegierten und margi-nalisierten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft ein nie da gewesenesMaß an Zufriedenheit garantieren müssen. Doch wie Arendt vor-ausgesagt hätte, erwiesen sich die 1990er Jahre als eines der uner-freulichsten Jahrzehnte in der Geschichte der USA. Die Konkur-renz war brutal, Repräsentanten der New Economy wurden über

12 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus,Imperialismus, totale Herrschaft (München: Piper, 2005), S. 323f.

Es geht nur um Öl

Page 25: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

24

Nacht zu Millionären und protzten mit ihrem Reichtum, Gaunerei-en und betrügerische Machenschaften griffen um sich, man weidetesich überall an Skandalen (echten wie eingebildeten), unheilvolleGerüchte über Mordkomplotte im Weißen Haus kursierten, es wur-de versucht, den Präsidenten durch ein Impeachment-Verfahren sei-nes Amtes zu entheben, die Talkshow-Moderatoren Howard Sternund Rush Limbaugh standen für die völlig außer Kontrolle gerate-nen Medien, in Los Angeles brachen Unruhen aus, Waco und Okla-homa wurden zum Symbol für einen lange nur latent vorhandengewesenen Hang zu innerem Widerstand und Gewalt, Teenager er-schossen ihre Klassenkameraden in Columbine, irrationale Über-schwänglichkeit gewann gegenüber gesundem Menschenverstand dieOberhand und die Korruption des gesamten politischen Prozesseswar eklatant. Die bürgerliche Gesellschaft war, kurz gesagt, weitdavon entfernt, zivil zu sein. Die Gesellschaft schien in alarmieren-dem Tempo zu zerfallen und auseinander zu driften. Es schien, alsstürze sie allmählich zusammen, wie Arendt sagen würde, in daszweck- und prinzipienlose Nichts.

Ich vermute, teilweise beruhte George Bushs Anziehungskraft beider Wahl von 2000 auf seinem Versprechen, einer allmählich außerKontrolle geratenden bürgerlichen Gesellschaft einen willensstarkenund robusten moralischen Kompass zur Verfügung zu stellen. Aufalle Schlüsselpositionen berief er Neokonservative mit einer Vorlie-be für ein autoritäres Vorgehen des Staats, wie John Ashcroft als Jus-tizminister. Der Neokonservatismus ersetzte die Art von Neolibe-ralismus, für die Clinton eingetreten war. Aber was den Anstoß gab,die Zügellosigkeit der 1990er Jahre aufzugeben, war natürlich der11. September. Er bot die politische Chance, nicht nur nationaleEntschlossenheit zu beteuern und landesweite Solidarität auszuru-fen, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft im Land Ordnungund Stabilität aufzuzwingen. Der Krieg gegen den Terror, rasch ge-folgt von der Aussicht auf den Krieg gegen den Irak, ermöglichtedem Staat die Akkumulation von Macht. Viel mehr als eine bloßeAblenkung von innenpolitischen Schwierigkeiten war der Kampf imIrak eine großartige Gelegenheit, dem Land ein neues Gefühl dersozialen Ordnung zu oktroyieren und das Gemeinwesen an die Kan-

Kapitel 1

Page 26: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

25

dare zu nehmen. Kritik wurde als unpatriotisch zum Schweigen ge-bracht. Der böse äußere Feind wurde zur wesentlichen Kraft, mitderen Hilfe die im Inneren lauernden Teufel ausgetrieben oder ge-zähmt werden sollten. Diese Beziehung zwischen den internen undexternen Bedingungen der politischen Macht spielte eine wichtige,wenn auch größtenteils verborgene Rolle in den Dynamiken, die denKonflikt mit dem Irak anfachten. Im Folgenden werden wir mehrals einmal Gelegenheit haben, auf sie zurückzukommen.

Es geht nur um ÖlIn der Darstellung der Gegner des Irakkriegs geht es bei dem Konf-likt häufig nur um Öl. Die US-Regierung tut diese Behauptung ent-weder als absurd ab oder ignoriert das Thema völlig. Es ist keineFrage, dass Öl äußerst wichtig ist. Aber genau wie und in welchemSinn, ist nicht so leicht zu bestimmen.

Eine eingleisige Verschwörungsthese beruht auf der Vorstellung,die Regierung in Washington sei nichts als eine Ölmafia, die sich deröffentlichen Domäne bemächtigt habe. Dieser Gedanke wird durchdie engen Beziehungen von Bush und Cheney zu Vertretern vonÖlinteressen unterstützt, in Verbindung mit Berichten, nach denenHalliburton, Vize-Präsident Cheneys alte Firma, unmittelbar nachKriegsende durch Verträge für Dienste im Bereich der Ölgewinnungfast eine Milliarde Dollar einnehmen wird.13 Das wird sie zwar nichtschmerzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das gesamte po-litisch-militärische Establishment oder Vertreter von Firmeninter-essen im Allgemeinen aus solchen Gründen einen Krieg gutheißenwürden. Es stimmt natürlich, dass US-amerikanische und britischeÖlfirmen aus dem Irak ausgeschlossen waren und dass man franzö-sischen, russischen und chinesischen Firmen den Vorzug gegebenhatte. Die Opposition gegen Krieg anstelle von friedlicher Entwaff-nung war am deutlichsten von den Ländern artikuliert worden, diebereits eine Konzession hatten. Wäre die Entwaffnung bestätigtworden, hätte man die UN-Sanktionen aufgehoben und die existie-

13 N. Banerjee, »Energy Companies Weigh their Possible Future in Iraq«,New York Times, 26. Oktober 2002, S. C 3.

Es geht nur um Öl

Page 27: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

26

renden Konzessionäre hätten profitiert. Nach einem Regierungs-wechsel durch Krieg wird über die Konzessionen praktisch mit Si-cherheit neu verhandelt werden. Aber der Irak besitzt das Öl unddie Aussichten für die Ölfirmen sind auch nach einem Regierungs-wechsel nicht unbedingt rosig. Das einzige Szenario, das funktio-nierte, wäre die Übernahme der irakischen Ölfirma durch eine US-amerikanische Nachkriegsverwaltung oder die Errichtung einer Tarn-organisation – etwa eines internationalen Konsortiums, in dem dieUSA, wie im IWF, Vetorecht hätte –, um die Gewinnung und Nut-zung des Öls zu kontrollieren. Doch all dies auszuhandeln, ohnedabei starke Feindseligkeiten sowohl des Iraks als auch der kapita-listischen Mächte auf sich zu ziehen, wäre für die USA schwierig.

Man kann die Ölfrage jedoch aus einem noch größeren Blickwin-kel betrachten. Dieser lässt sich in die folgende Aussage fassen: Werimmer den Mittleren Osten kontrolliert, kontrolliert den globalenÖlhahn, und wer immer den globalen Ölhahn kontrolliert, kannzumindest in naher Zukunft die Weltwirtschaft kontrollieren.14

Wir sollten daher nicht allein an den Irak denken, sondern diegeopolitischen Verhältnisse im gesamten Mittleren Osten und seinegeopolitische Bedeutung für den weltweiten Kapitalismus berück-sichtigen. Dieses Argument taucht auch in der offiziellen Rhetorikauf. Der Plan für einen Regierungswechsel im Irak stellt unverhoh-len fest, dass der Einfluss einer demokratischen und proamerikani-schen Regierung für die ganze Region zuträglich wäre und vielleichtsogar ähnliche Regierungswechsel woanders begünstigen würde(wobei der Iran und Syrien die naheliegendsten Ziele sind, dicht ge-folgt von Saudi-Arabien). Einige Mitglieder der Regierung sind so-gar so anmaßend zu glauben, ein allgemeiner Flächenbrand in derRegion biete Gelegenheit, die ganze Landkarte des Mittleren Ostensneu zu gestalten (ähnlich wie in der alten Sowjetunion und Jugosla-wien). Die Staatenbildung in der Region war schließlich größtenteilsNebenwirkung des Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg.

14 M. Klare, Resource Wars: The New Landscape of Global Conflict (NewYork: Henry Holt, 2001), bietet einen Überblick über die Geopolitik des Öls.

Kapitel 1

Page 28: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

27

Es ist allgemein anerkannt, dass dieser Vertrag die arabischen Inter-essen verriet und der Region eine Staatenstruktur aufzwang, die dieimperialistischen Interessen der Briten und Franzosen widerspiegel-te. Diese Struktur könnte man als anachronistisch und in ihrer Funk-tion gestört ansehen. Ein umfassendes Übereinkommen würde mög-licherweise separatistische Interessen bedienen (beispielsweise einBundesland Kurdistan in einem föderalisierten Irak und vielleichtdie Abtrennung eines südlichen schiitischen Staats vom Irak mitHauptstadt in Basra). Aber vor allem könnte es durch die Bildungeines größeren palästinensischen Staates, der Jordanien und vielleichteinen Teil Saudi-Arabiens umfasste, eine Einigung in der israelisch-palästinensischen Frage einschließen. Dagegen sprechen sehr ent-schiedene Meinungen in den Vereinten Nationen, der Erhalt der ter-ritorialen Integrität des Iraks, wie er heute existiert, müsse in jegli-chem Nachkriegsabkommen vorrangiges Ziel sein, und dem habendie USA zumindest nominell zugestimmt.

Die USA haben ein lange bestehendes geopolitisches Interesse ander Region. Wesentlich für das ganze Konzept der weltweiten Kon-trolle, wie es während des Zweiten Weltkriegs erarbeitet wurde, wardie Kontrolle des Mittleren Ostens, der als Teil des alten BritischenEmpire und absolut unverzichtbar für die wirtschaftliche, militäri-sche und politische Kontrolle der Welt galt – nicht zuletzt, weil dortder größte Teil der nachgewiesenen Ölvorkommen der Welt lagert.Die USA begannen also in den 1950er Jahren mit einer langen Reiheoffener und geheimer Operationen in der Region, indem sie zunächstdie demokratisch gewählte Mossadegh-Regierung im Iran stürzten,die in ausländischem Besitz befindliche Ölfirmen verstaatlicht hatte.Der Erfolg der US-Offensive war eindeutig. Zwischen 1940 und 1967erhöhten US-Firmen ihre Kontrolle über Ölreserven im MittlerenOsten von 10% auf knapp 60%, während die Vorräte unter briti-scher Kontrolle im gleichen Zeitraum von 72% auf 30% abnahmen.15

15 »U.S. Imperial Ambitions and Iraq«, Monthly Review, 54/7 (2002),S. 1-13 (Editorial).

Es geht nur um Öl

Page 29: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

28

In den späten 1960er Jahren gaben die Briten die militärische Prä-senz östlich von Suez auf und überließen den USA die alleinige Kon-trolle. Wegen Vietnam beschlossen die USA, die Ersatzstaaten Iranund Saudi-Arabien dafür einzusetzen, sich um ihre stark zunehmen-den Anteile in der Region zu kümmern. Sie zählten auch darauf,dass ihre besonders entschiedene, fast bedingungslose UnterstützungIsraels dort einen stabilen Vorposten amerikanischer Stellvertreter-macht in der Region schaffen würde. Doch der von der OPEC 1973organisierte Ölboykott mit anschließender Preiserhöhung und derSturz des Schahs im Iran 1979 machten diese Lösung der indirektenHerrschaft durch Stellvertreter unhaltbar. Präsident Carter formu-lierte die Doktrin, die USA würden unter keinen Umständen zulas-sen, dass der Ölzufluss aus der Golfregion unterbrochen würde.Damit verpflichteten sich die USA dazu, die Straße von Hormuspassierbar zu halten (denn das System der Liefer- und Verteilungs-wege hat in jeder Hinsicht dieselbe Bedeutung wie die Ölfelderselbst), eine ständige militärische Präsenz in der Region aufrechtzu-erhalten sowie eine schnelle Eingreiftruppe zu bilden, um auf Zwi-schenfälle reagieren zu können. Die USA förderten und unterstütz-ten heimlich den brutalen und tödlichen Krieg des Iraks gegen denIran, doch die wachsende Macht des Iraks führte lange vor der Ku-wait-Invasion zur (von Colin Powell initiierten) Planung eines Kon-flikts mit dem Irak. Warum der US-amerikanische Botschafter demIrak signalisierte, die USA würden auf einen irakischen Einmarschin Kuwait nicht militärisch reagieren, ist immer noch umstritten,wobei eine Falle anstelle eines schlichten, wenn auch katastrophalenMissverständnisses eine mögliche Erklärung darstellt.

Auch wenn der Golfkrieg im Bezug auf den Irak ohne Ergebnisblieb, zog er doch eine viel stärkere militärische Präsenz der USA inder Region nach sich. Sie bestand während der Clinton-Regierungunvermindert fort. Gemeinsame Patrouillen mit den Briten in den»Flugverbotszonen« brachten ständige leichte Luftgefechte und Ra-ketenangriffe auf irakische Militäreinrichtungen mit sich. Joseph Nye,ein Mitglied der Clinton-Regierung und im Allgemeinen ein Befür-worter der »soft power« erklärte kategorisch, die USA würden ohnezu zögern militärische Gewalt in der Golfregion einsetzen und dies

Kapitel 1

Page 30: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

29

falls nötig auch allein tun, wenn US-amerikanische Interessen in ir-gendeiner Weise gefährdet seien.16 1997/98 war eine starke Massie-rung der US-Truppen nötig, um den Einlass der ersten Runde derWaffeninspektoren in den Irak zu erzwingen, die sicherstellen soll-te, dass die Bedingungen des Friedensabkommens über die Entwaff-nung des Iraks eingehalten wurden. Die Raketenangriffe und Luft-gefechte eskalierten. Um ihre Bemühungen zu unterstützen, richte-ten die USA den Golf-Kooperationsrat ein, mit Saudi-Arabien, Ku-wait und anderen Staaten, denen sie als Reserve für die US-Truppenin der Region militärische Ausrüstung verkauften (während der neun-ziger Jahre kam es zu einem Waffentransfer im Wert von netto 42Mrd. US-Dollar – 23 Mrd. US-Dollar allein an Saudi-Arabien). US-Truppen wurden während der 1990er Jahre in der Region vorpos-tiert und in Kuwait, Qatar und Saudi-Arabien wurden große Vor-ratslager für militärische Ausrüstung eingerichtet, um den USA dieMöglichkeit zu schnellen Bewegungen zu geben. Da der Kalte Kriegvorbei war, verlagerte sich die militärische Planung darauf, zwei re-gionale Kriege gleichzeitig zu führen, und der Irak und Nordkoreawurden als Planungsübung ausgewählt. In den späten 1990er Jahrenwaren über 20.000 Angehörige des Militärs in der Region stationiert,die Kosten dafür betrugen jährlich vier bis fünf Mrd. US-Dollar.

Ich gebe hier einen kurzen Überblick über diese Geschichte, umzwei grundlegende Argumente vorzubringen. Seit 1945 nimmt dasUS-amerikanische Engagement in der Region ständig stark zu, wo-bei nach 1980 ein signifikanter Bruch festzustellen ist, denn seit die-ser Zeit basiert es immer mehr auf einer direkten Militärpräsenz.Zweitens besteht der Konflikt mit dem Irak schon viele Jahre, undan einem Plan für die eine oder andere militärische Lösung wurdeschon lange vor dem Beginn des letzten Golfkriegs gearbeitet. Dereinzige Unterschied zwischen den Clinton-Jahren und heute ist, dassdie Maske gefallen ist und die Kriegslust eine gewisse Zurückhal-tung ersetzt hat, teilweise aufgrund der Atmosphäre innerhalb der

16 J. Nye, Das Paradox der amerikanischen Macht: warum die einzige Super-macht der Welt Verbündete braucht (Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt2003).

Es geht nur um Öl

Page 31: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

30

USA nach dem 11. September, die offene und unilaterale militäri-sche Aktionen politisch akzeptabler macht. Geopolitisch und lang-fristig betrachtet schien eine Konfrontation mit dem Irak unvermeid-lich, es sei denn, der Irak wäre ein Schützling der USA geworden,wie Saudi-Arabien. Aber warum dieser geopolitische Vorwärtsdrang?Bei der Antwort geht es erneut nur um Öl.

Der Status der weltweiten Ölreserven beruht zu jeder gegebenenZeit auf Mutmaßungen. Ölfirmen sind notorisch zurückhaltend inihren Äußerungen über ihre Kenntnisse und gelegentlich führen sieabsichtlich in die Irre. Schätzungen über Vorkommen liegen oft sehrweit auseinander. Die meisten Berichte legen jedoch nahe, dass dieGeschwindigkeit der Ausbeutung der Ölvorräte die Rate der Ent-deckungen etwa 1980 überschritten hat. Öl wird allmählich immerknapper. Wir wissen, dass viele Felder ihren Höhepunkt überschrit-ten haben und dass innerhalb etwa eines Jahrzehnts viele der heuti-gen Ölfelder der Welt erschöpft sein werden. Das gilt für die Pro-duktion im US-amerikanischen Inland, in der Nordsee, in Kanada,Russland und (unheilverkündender) in China. Andere Ölfelder ha-ben zwar eine längere Lebensspanne, doch die einzigen Felder, dieallem Anschein nach mit Sicherheit fünfzig Jahre oder länger vor-halten, sind die im Iran, im Irak, in Saudi-Arabien, den VereinigtenArabischen Emiraten und Kuwait. Neue Entdeckungen könntendieses Bild verändern, doch vorerst müssen die Strategen sich mitder im Lauf der Zeit steigenden Bedeutung des Mittleren Ostens alsSchlüssellieferant für Öl auseinander setzen. Auf der Nachfrageseitesehen wir, dass die USA zunehmend von Importen aus dem Auslandabhängig sind, dass es den dynamischen Zentren wirtschaftlichenWachstums in Ost- und Südostasien an jeglichen signifikanten Öl-vorkommen fehlt (während die Nachfrage in China jetzt mit einerphänomenalen Rate ansteigt) und dass Europa (mit Ausnahme vonGroßbritannien und Norwegen) ebenfalls vollkommen von Ölim-porten abhängig ist. Alternativen zum Öl werden erforscht, aber dieChance, dass diese vor Ablauf mehrerer Jahrzehnte ernsthafte Kan-didaten werden, ist (angesichts der von Ölfirmen und anderen fi-nanziell Beteiligten errichteten Hindernissen), sehr gering. Der Zu-gang zum Öl aus dem Mittleren Osten ist heute daher eine entschei-

Kapitel 1

Page 32: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

31

dende Sicherheitsfrage für die USA ebenso wie für die gesamte Welt-wirtschaft.

Dies führt unmittelbar auf das Problem, mit welcher Motivationdie USA, wenn nötig allein, eine engere militärische und strategischeKontrolle anstreben. Thomas Friedman beispielsweise vertritt dieAuffassung, es hätte »nichts illegitimes oder unmoralisches, wenndie USA besorgt sind, dass ein bösartiger, größenwahnsinniger Dik-tator übermäßigen Einfluss auf die natürliche Ressource gewinnt,die die industrielle Basis der Welt antreibt«. Aber wir müssen sorg-fältig darauf achten, dass wir der Öffentlichkeit vermitteln und derWelt versichern, dass die Absicht ist, »das Recht der Welt auf wirt-schaftliches Überleben zu schützen«, und nicht unser eigenes Recht,uns etwas zu gönnen, dass die USA »zum Nutzen des Planeten han-deln, nicht einfach, um die amerikanischen Exzesse mit Nahrung zuversehen. …Wenn wir den Irak besetzten und einfach einen US-freundlicheren Autokraten einsetzten, um die irakische Tankstellezu betreiben (wie wir es in anderen arabischen Ölstaaten getan ha-ben), dann wäre dieser teilweise für Öl geführte Krieg unmoralisch.«17

Kurz gesagt, wenn die USA Führungskraft ausüben und versuchen,die Nutzung des mittelöstlichen Öls zu regulieren, tun sie dies injedermanns Interesse mit allgemeiner Einwilligung? Oder strebensie nach Dominanz, um ihre eigenen, viel engeren strategischen In-teressen durchzusetzen? Friedman möchte gern an das erste glau-ben. Aber was, wenn das letztere zutrifft?

Wenn die USA erfolgreich den Sturz von Chavez und Saddameinfädeln, wenn sie eine bis an die Zähne bewaffnete saudi-arabischeRegierung, die momentan auf den losen Sand einer autoritären Herr-schaft gebaut ist (und in nahe bevorstehender Gefahr, in die Händedes radikalisierten Islams zu fallen), stabilisieren oder reformierenkönnen, wenn sie (wie sie es anscheinend anstreben werden) vomIrak zum Iran voranschreiten, eine strategische Militärpräsenz in denzentralasiatischen Republiken festigen und so die Ölvorkommen imKaspischen Becken dominieren können, dann können sie, dadurch,

17 T. Friedman, »A War for Oil?«, New York Times, 5. Januar 2003, SektionWeek in Review, S. 11.

Es geht nur um Öl

Page 33: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

32

dass sie den globalen Ölhahn fest unter ihrer Kontrolle haben, hof-fen, die nächsten fünfzig Jahre lang wirksam die Weltwirtschaft zukontrollieren. Europa und Japan sowie Ost- und Südostasien (in-zwischen, was ausschlaggebend ist, einschließlich China) sind starkvom Golföl abhängig und bilden jeweils regionale Formationen po-litisch-wirtschaftlicher Macht, die momentan für die globale Hege-monie der USA in den Bereichen Produktion und Finanz eine Her-ausforderung darstellen. Wie könnten die USA diese Konkurrenzbesser abwehren und ihre eigene hegemoniale Position sichern, alsindem sie den Preis, die Bedingungen und die Verteilung der wirt-schaftlichen Schlüsselressource kontrollieren, auf die diese Konkur-renten angewiesen sind? Und wie könnten sie das besser tun als mitHilfe der einen Art von Machtausübung, in der die USA immer nochallmächtig sind – durch militärische Überlegenheit? Dieses Argu-ment hat auch einen militärischen Aspekt. Das Militär wird mit Ölbetrieben. Nordkorea mag eine hochentwickelte Luftwaffe haben,aber es kann sie nicht oft einsetzen, weil es ihnen an Treibstoff fehlt.Die USA müssen nicht nur die Versorgung ihres eigenen Militärssichern, sondern jeder künftige militärische Konflikt mit, beispiels-weise, China wird einseitig sein, wenn die USA die Macht haben,ihrem Gegner den Ölhahn abzudrehen. Doch eine solche Argumen-tationsweise ergibt nur einen Sinn, wenn die USA Anlass zu derBefürchtung haben, dass ihre dominante Position innerhalb des welt-weiten Kapitalismus irgendwie bedroht ist. Es ist eher die wirtschaft-liche als die militärische Dimension dieser Frage, der ich mich inKapitel 2 dieser Untersuchung zuwende.

Kapitel 1

Page 34: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

33

Kapitel 2

Das Wort Imperialismus geht leicht von der Zunge. Aber es hat sounterschiedliche Bedeutungen, dass seine Verwendung als analyti-scher und nicht bloß polemischer Ausdruck ohne weitere Klärungproblematisch ist. Ich definiere hier die spezielle »kapitalistischerImperialismus« genannte Sorte, als widersprüchliche Verschmelzungvon der »Politik von Staaten und Imperialen« (Imperialismus alsunverkennbar politisches Projekt seiner Akteure, deren Macht aufder Befehlsgewalt über ein Territorium und dem Vermögen beruht,seine menschlichen und natürlichen Ressourcen zu politischen, wirt-schaftlichen und militärischen Zwecken zu mobilisieren) mit den»molekularen Prozessen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit«(Imperialismus als diffuser politisch-wirtschaftlicher Prozess in Raumund Zeit, in dem die Befehlsgewalt über und die Verwendung vonKapital Vorrang hat). Mit ersterem möchte ich die politischen, di-plomatischen und militärischen Strategien betonen, die ein Staat (odereine Ansammlung von Staaten, die als politischer Machtblock ope-riert) ins Feld führt und anwendet in dem Bemühen, in der ganzenWelt seine Interessen durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen.Mit letzterem richte ich das Augenmerk auf die Weisen, in denenwirtschaftliche Macht – durch die alltägliche Praxis von Produktion,Handel, Gewerbe, Kapitalflüsse, Geldtransfer, Arbeitsmigration,Technologietransfer, Währungsspekulation, Informationsflüsse, kul-turelle Impulse und ähnliches – durch das Raumkontinuum strömt,in territoriale Einheiten (wie Staaten oder regionale Machtblöcke)hinein oder aus ihnen hinaus.

Wenn Arrighi von der »territorialen« und der »kapitalistischen«Logik der Macht spricht, sind das in Wirklichkeit zwei verschiedene

Wie Amerikas Macht wuchs

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 35: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

34

Dinge.18 Erstens einmal unterscheiden sich die Motivationen und In-teressen der Akteure. Der Kapitalist im Besitz von Geldkapital möch-te dieses dort anlegen, wo Profite erzielt werden können, und strebttypischerweise danach, mehr Kapital zu akkumulieren. Politiker undStaatsmänner streben typischerweise Resultate an, die die Macht ih-res eigenen Staates gegenüber anderen Staaten erhalten oder vergrö-ßern. Der Kapitalist sucht den individuellen Vorteil und ist (wennauch normalerweise durch das Gesetz eingeschränkt) niemandemals ihrem oder seinem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld ver-antwortlich, während der Staatsmann den kollektiven Vorteil sucht,durch die politische und militärische Situation des Staats einge-schränkt und auf die eine oder andere Weise den Bürgern oder, häu-figer, einer Elite, einer Klasse, einer Verwandtschaftsstruktur odereiner anderen gesellschaftlichen Gruppe verantwortlich ist. Der Ka-pitalist operiert im Raum-Zeit-Kontinuum, während der Politikerinnerhalb der Grenzen seines Hoheitsgebiets operiert und, zumin-dest in Demokratien, in einer vom Wahlzyklus diktierten Zeitlich-keit. Andererseits kommen und gehen kapitalistische Firmen, sie ver-schieben ihren Standort, fusionieren oder schließen, wohingegen Staa-ten langlebige Einheiten sind, nicht abwandern können und, außerunter außergewöhnlichen Umständen geographischer Eroberung, aufTerritorien mit festen Grenzen beschränkt sind.

Die beiden Logiken unterscheiden sich noch in anderer Hinsicht.Obgleich der Grad und die Modalitäten der Beteiligung der Öffent-lichkeit sehr unterschiedlich sind, wird die Politik von Staaten undImperien, wie wir sie jetzt erfahren, offen diskutiert und debattiert.Spezifische Entscheidungen müssen getroffen werden, wie die, obman einen Krieg gegen den Irak beginnt oder nicht, ob man diesallein tun will oder nicht, wie mit den Schwierigkeiten nach einemKrieg umzugehen ist und so weiter. Außenpolitische Institutionenund Politik- bzw. Militärexperten diskutieren diese Fragen und eswäre wirklich außergewöhnlich, wenn es dabei keine Meinungsver-schiedenheiten gäbe. Doch klare Entscheidungen müssen getroffen

Kapitel 2

18 G. Arrighi, The Long Twentieth Century: Money, Power, and the Originsof our Times (London: Verso, 1994), S. 33f.

Page 36: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

35

werden, mit allem, was daran hängt. Im Gezerre des politischen Pro-zesses, in dem vielfältige Interessen und Meinungen aufeinanderpral-len (die manchmal sogar von Überzeugungen oder dem Charismader Mächtigen oder vom Ergebnis persönlicher Konflikte zwischeneinflussreichen Figuren abhängig gemacht werden), werden strate-gische Entscheidungen von zuweilen immenser Bedeutung (und vie-len, gelegentlich überraschenden und unbeabsichtigten Folgen) ge-fällt und ausgeführt.

Die geographischen Prozesse der Kapitalakkumulation anderer-seits sind viel diffuser und einer solchen expliziten politischen Ent-scheidungsfindung weniger zugänglich. Hier handeln überall Ein-zelne (normalerweise Geschäftsleute, Finanzexperten oder Unter-nehmen), und die molekulare Form führt zu einer Vielzahl von auf-einandertreffenden Kräften, die manchmal einander entgegenwirken,manchmal bestimmte Gesamttrends verstärken. Diese Prozesse las-sen sich praktisch nur indirekt regulieren, und häufig erst, nachdemein Trend sich bereits etabliert hat. Die staatlich verankerten institu-tionellen Rahmenvorgaben spielen, wie wir noch sehen werden, eineeinflussreiche Rolle dabei, der Kapitalakkumulation den Boden zubereiten. Und es gibt währungs- und finanzpolitische Hebel undFäden (wie die, die Alan Greenspan als Vorsitzender der US-Noten-bank zieht) sowie eine Palette von währungs- und finanzpolitischenInterventionsmöglichkeiten (darunter Steuervereinbarungen, Um-verteilungspolitik, staatliche Bereitstellung öffentlicher Güter unddirekte Planung), die den Staat selbst eindeutig in die Position einesmächtigen wirtschaftlichen Akteurs versetzen. Doch selbst in auto-ritären Staaten oder solchen, die ich aufgrund ihrer starken innerenBeziehungen zwischen staatlicher Politik, Finanzwesen und indus-trieller Entwicklung »interventionistisch« nennen möchte, entzie-hen sich die molekularen Prozesse häufig der Kontrolle. Wenn ichbeschließe, einen Toyota zu kaufen statt eines Fords oder einen Hol-lywood- statt eines Bollywoodfilms zu sehen, welchen Einfluss hatdas auf die US-amerikanische Handelsbilanz? Wenn ich Geld ausNew York an bedürftige Verwandte im Libanon oder in Mexikoüberweise, welchen Einfluss hat das auf den finanziellen Saldo zwi-schen den Nationen? Es scheint unmöglich, die Kapital- und Geld-

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 37: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

36

ströme durch das launenhafte Kreditsystems vorherzusagen, undschwierig, auch nur den Überblick über sie zu behalten. Alle mögli-chen psychologischen Unbestimmbarkeiten, wie das Vertrauen vonInvestoren oder Konsumenten, fließen als bestimmende Kräfte mitin das Gesamtbild ein. So führte Keynes (der sich hier heimlich aufMarx berief) die »Tierlaunen« des Unternehmers und die Erwartun-gen des Finanziers als entscheidend für die Energie und die Lebens-fähigkeit des Kapitalismus ins Feld. Bestenfalls können wir die Da-ten nachträglich besorgt kontrollieren, in der Hoffnung, dass wirTrends ausmachen, die nächsten Marktbewegungen vorhersagen undein Korrektiv anwenden können, um das System in einem einiger-maßen stabilen Zustand zu halten.

Es ist grundlegend, die territoriale und die kapitalistische Logikder Macht als voneinander verschieden zu begreifen. Und doch istebenso unbestreitbar, dass die beiden Logiken auf komplexe undmanchmal widersprüchliche Weise miteinander verwoben sind. DieLiteratur zu Imperialismus und imperialer Macht geht zu oft voneinem ungezwungenen Einklang zwischen ihnen aus: dass politisch-wirtschaftliche Prozesse durch die Strategien von Staat und Imperi-um gelenkt werden und Staaten und Imperien immer aus kapitalisti-schen Motiven operieren. In der Praxis ziehen die beiden Logikenregelmäßig in verschiedene Richtungen, manchmal bis hin zu offe-ner Feindseligkeit. Beispielsweise wäre es schwierig, den Vietnam-krieg oder den Einmarsch in den Irak allein im Hinblick auf die un-mittelbaren Erfordernisse der Kapitalakkumulation zu verstehen. Ja,es lassen sich plausible Argumente dafür finden, dass solche Wagnis-se für die Geschicke des Kapitals eher hinderlich sind als förderlich.Ebenso schwierig wäre es aber, die allgemeine territoriale Strategieder Eindämmung sowjetischer Macht zu verstehen, die die USA nachdem Zweiten Weltkrieg verfolgten – die Strategie, die auf eine US-amerikanische Intervention in Vietnam hinauslief –, ohne einzuge-stehen, welche zwingende Notwendigkeit Vertreter US-amerikani-scher Geschäftsinteressen darin sahen, einen möglichst großen Teilder Welt für Kapitalakkumulation durch die Expansion von Handel,Gewerbe und Möglichkeiten zur Auslandsinvestition offen zu hal-ten. Die Beziehung zwischen diesen beiden Logiken sollte daher als

Kapitel 2

Page 38: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

37

problematisch und oft widersprüchlich (also dialektisch) angesehenwerden statt als funktionell oder einseitig. Diese dialektische Bezie-hung ist die Grundlage für eine Analyse des kapitalistischen Imperi-alismus als Schnittstelle dieser beiden unverwechselbaren aber ver-wobenen Logiken der Macht. Die Schwierigkeit bei konkreten Ana-lysen tatsächlicher Situationen ist, gleichzeitig auf beiden Seiten die-ser Dialektik anzusetzen und weder in eine ausschließlich politischenoch in eine überwiegend wirtschaftliche Argumentationsweise zuverfallen.

Es ist nicht immer leicht, die relative Bedeutung dieser beidenLogiken für die Hervorbringung eines gesellschaftlichen und politi-schen Wandels zu bestimmen. Wurde die Sowjetunion durch die stra-tegische Entscheidung der Reagan-Regierung zu Fall gebracht, eingewaltiges Wettrüsten zu beginnen und seiner Wirtschaft das Rück-grat zu brechen? Oder durch die molekularen Veränderungen inner-halb der politischen Körperschaft des sowjetischen Systems (darun-ter beispielsweise den zerstörerischen Einfluss der Geldmacht oderdie Formen kapitalistischer Kultur, die heimlich von außen eindran-gen)? Erleben wir heute den offenen politischen Anspruch auf im-periale Macht und den Imperialismus, der damit auf politischer undterritorialer Ebene innerhalb der USA einhergeht, gerade währendsich die Ströme ökonomischer Macht und sogar kulturellen und mo-ralischen Einflusses von ihren Ufern zurückziehen, hin zu diffuse-ren regionalen Machtblöcken (beispielsweise konzentriert auf Asienund Europa)? Werden wir in dem Moment Zeugen des Zerfalls derUS-Hegemonie innerhalb des globalen Systems und des Aufstiegseines »neuen Regionalismus« der politisch-wirtschaftlichen Macht,in dem die USA sich vor unseren Augen verhalten, als seien sie dieeinzige Supermacht, der man gehorchen muss? Welche Gefahrenbedeutet dieser Regionalismus angesichts der Tatsache, dass er zu-letzt in den 1930ern vorherrschte und diese unter wirtschaftlichemund politischem Druck in einen weltweiten Krieg kollabierten? Ha-ben die USA die Macht, eine solche regionale Zersplitterung umzu-kehren oder zu kontrollieren? Das sind die großen Fragen, denenich mich hier widmen möchte. Auf die genaue Wirkungsweise derMolekularprozesse der Kapitalakkumulation werde ich in Kapitel 3

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 39: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

38

näher eingehen. Aber ich muss sie hier bereits besprechen, um dieEinschränkungen, innerhalb derer die territoriale Logik der Machtwirkt, genauer auszuführen. Bei imperialistischen Praktiken geht es,aus der Perspektive der kapitalistischen Logik, typischerweise dar-um, die ungleichen geographischen Bedingungen, unter denen es zurKapitalakkumulation kommt, sowie das, was ich die unvermeidli-cherweise aus räumlichen Tauschbeziehungen entstehenden »Asym-metrien« nenne, auszunutzen. Letztere drücken sich in unfairem undungleichem Handel, räumlich manifestierten Monopolmächten,Wucherpraktiken in Verbindung mit eingeschränktem Kapitalflussund dem Erzielen von Monopolgewinnen aus. Gegen die Bedingungder Gleichheit, üblicherweise für perfekt funktionierende Märktevorausgesetzt, wird verstoßen und die Ungleichheiten, die sich dar-aus ergeben, drücken sich in spezifischer Weise räumlich und geo-graphisch aus. Der Reichtum und Wohlstand bestimmter Gebietewird auf Kosten anderer vermehrt. Ungleiche geographische Bedin-gungen entstehen nicht bloß aus der ungleichmäßigen Verteilung na-türlicher Ressourcen und aus Standortvorteilen, sondern werden, wasnoch wichtiger ist, durch die ungleichen Dynamiken hervorgebracht,durch die Wohlstand und Macht selbst sich aufgrund asymmetri-scher Tauschbeziehungen an bestimmten Orten stark konzentrie-ren. Das ist der Punkt, an dem die politische Dimension wieder insSpiel kommt. Eine der Hauptaufgaben des Staates ist zu versuchen,die asymmetrische Struktur des räumlichen Tauschs, die sich zu sei-nem eigenen Vorteil auswirkt, zu erhalten. Wenn die USA beispiels-weise die Kapitalmärkte rund um den Globus mit Hilfe des IWF(Internationaler Währungsfonds) und der WTO (Welthandelsorga-nisation) zur Öffnung zwingen, dann weil man davon ausgeht, dassden US-amerikanischen Finanzinstitutionen daraus bestimmte Vor-teile erwachsen. Der Staat ist, kurz gesagt, die politische Einheit, diepolitische Körperschaft, die diese Prozesse am effektivsten aufein-ander abstimmen kann. Dies zu unterlassen würde vermutlich zueiner Verringerung des Wohlstands und der Macht des Staates füh-ren.

Es gibt natürlich auch innerhalb von Staaten eine Menge unglei-cher geographischer Entwicklung, die teilweise auf asymmetrischen

Kapitel 2

Page 40: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

39

Tauschbeziehungen beruht. Subnationale politische Einheiten wiedie Regierungen von Metropolen oder Regionen spielen bei solchenProzessen eine entscheidende Rolle. Doch dies nennt man im Allge-meinen nicht Imperialismus. Obwohl man teilweise, und nicht ganzungerechtfertigt, von internem Neokolonialismus oder sogar Me-tropolenimperialismus (seitens New York oder San Francisco)spricht, möchte ich die Untersuchung einer möglichen Parallelitätzwischen den Aktivitäten subnationaler regionaler Einheiten und Im-perialismus einer allgemeineren Theorie ungleicher geographischerEntwicklung überlassen und so den Ausdruck Imperialismus, zu-mindest für den Moment, bestimmten zwischenstaatlichen Bezie-hungen und Machtströmen innerhalb eines globalen Systems der Ka-pitalakkumulation vorbehalten. Vom Standpunkt der letzteren ausist die Mindestbedingung für imperialistische Politik die Aufrecht-erhaltung und Ausnutzung jeglicher asymmetrischer und durch dieAusstattung mit natürlichen Ressourcen bedingter Vorteile, die durchstaatliche Macht zusammengetragen werden können.

Die Logik des Territoriums und die Logik des KapitalsZu jedem gegebenen historisch-geographischen Zeitpunkt mag dieeine oder die andere Logik dominieren. Die Akkumulation von ter-ritorialer Kontrolle als Zweck an sich hat offensichtlich ökonomi-sche Folgen. Diese können im Hinblick auf die Extraktion von Tri-buten, Kapitalströmen, Arbeitskraft, Waren etc. positiv oder negativsein. Doch das ist etwas ganz anderes als eine Situation, in der Kon-trolle über Territorium (ob damit tatsächlich Übernahme und Ver-waltung eines Gebiets verbunden ist oder nicht) als notwendigesMittel zur Akkumulation von Kapital angesehen wird. Was den Im-perialismus kapitalistischen Einschlags von anderen Konzeptionenvon Imperien unterscheidet, ist, dass hier typischerweise die kapita-listische Logik dominiert, auch wenn, wie wir noch sehen werden,zeitweise die territoriale Logik in den Vordergrund tritt. Und diesführt nun hin zur entscheidenden Frage: Wie kann die territorialeLogik der Macht, die gewöhnlich in ungünstiger Weise räumlich fi-xiert ist, auf die offenen räumlichen Dynamiken unendlicher Kapi-talakkumulation reagieren? Und was impliziert die unendliche Ka-

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 41: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

40

pitalakkumulation für die territoriale Logik der Macht? Umgekehrt,wenn Hegemonie innerhalb des Weltsystems die Eigenschaft einesStaats oder eines Staatenkollektivs ist, wie kann die kapitalistischeLogik dann so gehandhabt werden, dass sie den Hegemon trägt?

Eine scharfsinnige Beobachtung von Hannah Arendt wirft etwasLicht auf dieses Problem: »Eine unabsehbar fortschreitende Besitz-akkumulation«, schrieb sie, »[kann] sich nur halten …, wenn sie sichauf eine ›unwiderstehliche Macht‹ gründet. Der unbegrenzte Pro-zess der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung einer›unbegrenzten Macht‹, nämlich eines Prozesses von Machtakku-mulation, der durch nichts begrenzt werden darf«.19 Daraus ergabsich, in Arendts Sicht, die »progressive« Ideologie des späten 19. Jahr-hunderts, die den Aufstieg des Imperialismus bereits ahnen ließ. Wennjedoch die Akkumulation von Macht die Akkumulation von Kapitalnotwendig begleiten muss, muss die bürgerliche Geschichte eineGeschichte von Hegemonien sein, in denen sich immer größere undausdehnungswilligere Macht ausdrückt. Und das ist genau das, wasArrighi in seiner komparativen Geschichte der Verschiebung vonden italienischen Stadtstaaten über die niederländische, die britischeund jetzt die US-amerikanische Phase globaler Hegemonie verzeich-net: »So wie die Rolle der Hegemonialmacht im späten 17. und frü-hen 18. Jahrhundert für einen Staat der Größe der Vereinigten Pro-vinzen20 zu groß geworden war, so war sie im frühen 20. Jahrhun-dert für einen Staat der Größe und der Ressourcen Großbritannienszu groß geworden. In beiden Fällen fiel die Rolle der Hegemonial-macht einem Staat zu – Großbritannien im 18., den USA im 20. Jahr-hundert –, der in den Genuss einer beträchtlichen »Schutzpacht«gekommen war, das heißt exklusiver Kostenvorteile in Verbindungmit absoluter oder relativer geostrategischer Insellage. … Aber dieserStaat hatte in beiden Fällen außerdem ausreichend Gewicht in derkapitalistischen Weltwirtschaft, um das Machtgleichgewicht zwischenkonkurrierenden Staaten seinen Interessen entsprechend verschie-

Kapitel 2

19 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 326.20 Gemeint ist die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande (Anm. d.

Übers.).

Page 42: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

41

ben zu können. Und da die kapitalistische Weltwirtschaft sich im 19.Jahrhundert beträchtlich ausgeweitet hatte, waren das Territoriumund die Ressourcen, die man im frühen 20. Jahrhundert benötigte,um Hegemonialmacht zu werden, viel größer als im 18.«21

Aber wenn Arendt Recht hat, muss jeder Hegemon, wenn er sei-ne Position in Bezug auf unendliche Kapitalakkumulation aufrechterhalten will, endlos danach streben, seine Macht zu erweitern, aus-zudehnen und zu intensivieren. Doch darin liegt eine stets gegen-wärtige Gefahr, denn, wie Paul Kennedy in The Rise and Fall of theGreat Powers mahnt, haben sich Überdehnung und Überschreitungder eigenen Belastungsgrenzen immer wieder als Achillesferse vonHegemonialstaaten und -reichen erwiesen (Rom, Venedig, Nieder-lande, Großbritannien).22 Seine Warnung (von 1990), die USA selbstseien in Gefahr, blieb, sofern man sie überhaupt wahrnahm, offen-bar unbeachtet – in den 15 Jahren, die seit der Veröffentlichung sei-nes Werks vergangen sind, haben die USA ihre militärische und po-litische Macht beträchtlich vergrößert, so stark, dass die Gefahr, sichzu übernehmen, greifbar ist. Dies wirft eine weitere Frage auf: Wenndie USA alleine nicht mehr ausreichend groß und ressourcenreichsind, um die beträchtlich ausgeweitete Weltwirtschaft des 21. Jahr-hunderts zu lenken, welche Art von Akkumulation politischer Machtunter welcher Art von politischer Ordnung kann dann, angesichtsder Tatsache, dass die Welt immer noch in hohem Maße der unbe-grenzten Kapitalakkumulation verschrieben ist, ihren Platz einneh-men? Auf diese Frage werde ich später zurückkommen. Aber schonan diesem Punkt lassen sich faszinierende Möglichkeiten erkennen.Teilweise wird vertreten, eine Weltregierung sei nicht nur wünschens-wert, sondern unvermeidlich. Ein anderer Standpunkt ist, dass eineArt Kollektiv eng zusammenarbeitender Staaten (ähnlich dem, wieKautsky es in seiner Theorie des Ultra-Imperialismus vorschlug undwie Zusammenkünfte von Organisationen wie der G 7 – jetzt G 8 –es andeuten), in der Lage sein könnte, die Angelegenheiten zu re-

Wie Amerikas Macht wuchs

21 Arrighi, The Long Twentieth Century, S. 62.22 P. Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte: ökonomischer Wandel

und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000 (Frankfurt a.M.: Fischer, 1989).

Page 43: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

42

geln. Dem könnten wir die weniger optimistische Vorstellung hin-zufügen, dass die unendliche Kapitalakkumulation sich, sollte es sichaus irgendeinem Grund als unmöglich erweisen, diese immer gewal-tigere Akkumulation politischer Macht zustande zu bringen, ver-mutlich in Chaos auflösen und die Ära des Kapitals dann nicht miteinem revolutionären Knall enden würde, sondern in einer gequäl-ten Anarchie.

HegemonieWas also macht Hegemonie überhaupt aus? Gramscis eigener Ge-brauch des Begriffs war mehrdeutig genug, um vielerlei Interpreta-tionen zuzulassen. Manchmal bezieht er sich allein auf die durch diepolitische Führung und unter Einwilligung der Regierten ausgeübtepolitische Macht, im Gegensatz zu jener, die als Dominanz durchZwang ausgeübt wird. Bei anderen Gelegenheiten bezieht er sichanscheinend auf die für die Ausübung politischer Macht spezifischeMischung aus Zwang und Einwilligung. Ich verwende den Begriffzwar gelegentlich im letzteren, interpretiere Hegemonie aber imGroßen und Ganzen im ersteren Sinne. Ich folge auch Arrighis Über-tragung des Begriffs auf die zwischenstaatlichen Beziehungen: »DieVormachtstellung einer Gruppe oder, in diesem Fall, eines National-staats, kann … sich auf zwei Weisen manifestieren: als ›Dominanz‹und als ›intellektuelle und moralische Führung‹. Eine soziale Gruppedominiert feindliche Gruppen, die sie normalerweise ›liquidiert‹ oderunterwirft, vielleicht sogar mit Waffengewalt; sie führt gleichgesinnteoder verbündete Gruppen.« Aber sie kann auf zwei unterschiedli-che Weisen führen. Aufgrund seiner Errungenschaften »wird ein do-minanter Staat zum ›Modell‹, dem andere Staaten nacheifern, unddamit zum Zugpferd einer der eigenen ähnlichen Entwicklung. … Dieskann das Prestige und damit die Macht des dominanten Staats ver-größern … , aber in dem Maße, in dem die nacheifernden Staaten Er-folg haben, entsteht dadurch potenziell ein Gegengewicht und da-mit eher eine Abnahme als eine Steigerung der Macht des Hegemons,indem Konkurrenten entstehen und die ›Besonderheit‹ des Hege-mons sich verringert.« Auf der anderen Seite ist Führung gekenn-zeichnet durch »die Tatsache, dass ein dominanter Staat das Staaten-

Kapitel 2

Page 44: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

43

system in die gewünschte Richtung führt und dadurch weithin aner-kannt wird, dass er ein allgemeines Interesse verfolgt. Führung indiesem Sinne steigert die Macht des dominanten Staats.«23

Aus diesem Argument folgt die wichtige Unterscheidung zwi-schen »distributiver« und »kollektiver« Macht. Erstere hat das We-sen eines Nullsummenspiels, in dem der Wettbewerb die Positiondes Hegemons dadurch stärken kann, dass anderen Macht entzogenwird, oder dieser eine regionale Koalition auf die eine oder andereWeise zu größeren Gewinnen für die Region führt. Das neuerlicheWiederaufleben des Interesses an regionalen Hegemonialmächten(das japanische Modell der »fliegenden Gänse«, in dem Japan dasübrige Asien anführt, oder das europäische, bei dem ein französisch-deutsches Bündnis führt) deutet an, dass dieser Prozess der Macht-umschichtung bei der Reorganisation des globalen Kapitalismus eineviel größere Rolle spielen könnte, als der Pauschalbegriff »Globali-sierung« gewöhnlich vermuten lässt.24 Aber wahrhaft in einem glo-balen Sinn hegemonial zu sein, macht den Gebrauch von Führungs-kraft erforderlich, um ein Nullsummenspiel zu schaffen, von demalle Seiten profitieren, entweder durch beiderseitige Gewinne ausihren eigenen Interaktionen (wie etwa Handel) oder aufgrund ihrervergrößerten kollektiven Macht gegenüber der Natur, etwa durchdie Entwicklung und den Transfer neuer Technologien, Organisati-onsformen und Einrichtungen der Infrastruktur (wie Kommunika-tionsnetzwerke und Strukturen internationalen Rechts). Arrighi be-tont die Akkumulation kollektiver Macht als die einzige solide Basisfür Hegemonie innerhalb des globalen Systems. Die Macht des He-gemons jedoch hat ihre Grundlage und ihren Ausdruck in einer stän-dig neu auszutarierenden Balance zwischen Zwang und Konsens.

Bedenken wir einen Moment lang, wie sich diese Kategorien imFall der USA über die letzten 50 Jahre hinweg darstellen. Die USA

Wie Amerikas Macht wuchs

23 G. Arrighi und B. Silver, Chaos and Governance in the Modern WorldSystem (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1999), S. 26ff.

24 J. Mittelman, The Globalization Syndrome: Transformation and Resistance(Princeton: Princeton University Press, 2000), insbesondere Teil II; Mittelmanist einer von vielen Autoren, die die Regionalisierungsthese ernsthaft aufgegrif-fen haben.

Page 45: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

44

waren regelmäßig auf Dominanzverhalten und Zwang angewiesenund schreckten nicht vor einer Liquidierung ihrer Gegner zurück.Auch ihre interne Geschichte der Härte straft ihre Achtung vor ih-rer Verfassung und vor Rechtsstaatlichkeit Lügen. Die McCarthy-Ära, die Ermordung oder Inhaftierung führender Mitglieder derBlack Panther, die Internierung von Japanern im Zweiten Weltkrieg,die Überwachung und Infiltration oppositioneller Gruppen aller Artund jetzt eine gewisse Bereitschaft, durch die Verabschiedung desPatriot und des Homeland Security Act die Bill of Rights zu Fall zubringen. Noch bedeutender war und ist die Rücksichtslosigkeit derUSA im Ausland, denn sie finanzierten Putsche im Iran, Irak, inGuatemala, Chile, Indonesien und Vietnam (um nur einige wenigezu nennen), bei denen unzählige Menschen umkamen. Sie unterstüt-zen Staatsterrorismus überall auf der Welt, wo immer es ihnen gele-gen kommt. Die CIA und Spezialeinheiten operieren in unzähligenLändern. Angesichts dieser Bilanz werden die USA häufig als dergrößte »Schurkenstaat« der Erde portraitiert. Es gibt eine große In-dustrie von Autoren, die dies tun, angefangen bei Chomsky, Blum,Pilger, Johnson und vielen anderen.25 Möglicherweise wissen wir nochnicht einmal die Hälfte, doch das Erstaunliche an den USA ist, wieviel von ihren Machenschaften aus offiziellen oder quasioffiziellenQuellen bekannt und auch belegt ist und wie grausig, verabscheu-ungswürdig und tief verstörend die Liste dieser Machenschaften ist.Liquidierung kann durch eine Vielzahl von Mitteln erreicht werden.Die wirtschaftliche Macht zur Dominanz (wie das Handelsembargogegen den Irak und Kuba oder auf Geheiß des US-Finanzministeri-ums durchgeführte IWF-Sparprogramme) kann mit ebenso viel Zer-störungskraft eingesetzt werden wie physische Gewalt. Die heraus-ragende Rolle, die US-amerikanische Finanzinstitutionen und dasUS-Finanzministerium mit Unterstützung des IWF dabei spielten,

Kapitel 2

25 Johnson, Chalmers (2000): Ein Imperium verfällt. Wann endet das Ameri-kanische Jahrhundert? Messing Verlag; J. Pilger, The New Rulers of the World(London: Verso, 2002); W. Blum, Rogue State: A Guide to the World’s OnlySuperpower (London: Zed Books, 2002); und natürlich N. Chomsky, The at-tack: Hintergründe und Folgen (Hamburg: Europa Verlag, 2002).

Page 46: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

45

eine gewaltige Abwertung von Vermögen überall in Ost- und Süd-ostasien herbeizuführen, Massenarbeitslosigkeit zu verursachen undJahre des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts riesiger Bevöl-kerungen in dieser Region effektiv zurückzuschrauben, ist ein ein-schlägiger Fall. Doch der größte Teil der US-amerikanischen Bevöl-kerung will diese Dinge entweder nicht wahrhaben und weigert sich,sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen, oder er akzeptiert die Liqui-dierungen und Zwänge, wenn er sie zur Kenntnis nimmt, passiv alsTatsachen des Lebens, als normalen Preis für das Erledigen einesgrundsätzlich ehrlichen Geschäfts in einer schmutzigen Welt.

Doch die Kritiker, die sich ständig nur mit diesem Aspekt desVerhaltens der USA in der Welt befassen, berücksichtigen allzu oftnicht, dass Zwang und Liquidierung des Feindes nur ein, noch dazumanchmal kontraproduktiver, Teil der Basis für die US-amerikani-sche Macht sind. Zustimmung und Kooperation sind ebenso wich-tig. Könnten diese nicht international erzielt und die Führung nichtzum kollektiven Nutzen ausgeübt werden, wären die USA schonlange nicht mehr die Hegemonialmacht. Die USA müssen zumin-dest so handeln, dass die Behauptung, sie handelten im allgemeinenInteresse, plausibel ist, selbst wenn sie, wie die meisten Leute arg-wöhnen, aus striktem Eigeninteresse heraus handeln. Das ist es,worum es bei der einvernehmlichen Ausübung von Führungskraftgeht.

In dieser Hinsicht bot der Kalte Krieg den USA natürlich einefantastische Gelegenheit. Die Vereinigten Staaten, selbst der unend-lichen Akkumulation von Kapital verschrieben, waren dazu bereit,die notwendige politische und militärische Macht zu akkumulieren,um diesen Prozess überall auf der Welt zu befördern und gegen diekommunistische Bedrohung zu verteidigen. Mit der Aussicht aufinternationalen Sozialismus konfrontiert, konnten sich die Besitzervon Privateigentum überall auf der Welt vereinigen, einander unter-stützen und sich hinter dieser Macht verstecken. Das Recht auf Pri-vateigentum wurde als universeller Wert angesehen und in der UN-Menschenrechtsdeklaration als solcher bezeichnet. Die USA garan-tierten die Sicherheit der europäischen Demokratien und halfen wohl-wollend beim Aufbau der vom Krieg zerrissenen Ökonomien von

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 47: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

46

Japan und der Bundesrepublik Deutschland. Durch ihre Politik des»Containment« legten sie stillschweigend die Grenzen ihres eigeneninformellen Imperiums fest (insbesondere in Asien) und gleichzeitigverpflichteten sie sich, die Macht ihres großen Konkurrenten, desSowjetreichs, mit allen verfügbaren Mitteln zu unterminieren. Wirwissen genug über die Entscheidungsfindung in den außenpolitischenGremien der Roosevelt- und Trumanjahre, um zu dem Schluss zugelangen, dass die USA immer ihre eigenen Interessen an die ersteStelle setzten, und doch zogen die besitzenden Klassen ausreichendvieler Länder genügend Gewinn daraus, um Behauptungen seitensder USA, sie handelten im Interesse der Allgemeinheit (sprich: derBesitzenden), glaubhaft zu machen und um untergeordnete Grup-pen (und Satellitenstaaten) dankbar und auf Kurs zu halten. Dieses»Wohlwollen« präsentieren die Verteidiger der USA recht plausibelals Antwort auf diejenigen, die das auf Zwang basierende Schurken-staat-Image betonen. Auch in der Art, in der die USA sich typi-scherweise selbst sehen und nach außen darstellen, wird es stark be-tont, allerdings werden hier ebenso sehr Mythen gesponnen wieWahrheiten verbreitet. So glauben US-Amerikaner gern, die USAund sie allein hätten Europa vom Joch der Naziherrschaft befreitund ignorieren völlig die viel wichtigere Rolle der Roten Armee undder Belagerung Stalingrads bei der Herbeiführung einer Wende imZweiten Weltkrieg. Die allgemeinere Wahrheit ist, dass die USAgleichzeitig Zwangs- und Hegemonialpraktiken anwenden, auchwenn das Schwergewicht in verschiedenen Zeitspannen und unterverschiedenen Regierungen mal auf der einen, mal auf der anderendieser beiden Facetten der Machtausübung liegen mag.

Zweifelsohne haben die USA viele Jahre lang den Teil der Weltangeführt, der sich der unendlichen Kapitalakkumulation verschrie-ben hat, und infolgedessen haben sie ihre Art, Geschäfte zu machen,weit verbreitet. In den Jahren des Kalten Krieges hatten sie natürlichnicht wirklich die globale Hegemonie inne. Nun, da die Bedrohungdurch den Kommunismus effektiv verschwunden ist, ist die Füh-rungsrolle der USA schwieriger zu definieren und aufrechtzuerhal-ten. Diese Frage wird in nicht sehr subtiler Weise von denjenigendiskutiert, die die Zukunft des US-amerikanischen Imperialismus und

Kapitel 2

Page 48: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

47

Imperiums auf die Welt des 21. Jahrhunderts projizieren wollen. Siewird auch von denjenigen gestellt, die eine regionale Aufteilung derMacht als alternative Struktur der politischen Ordnung innerhalbder allgemeinen Herrschaft der neoliberalen Globalisierung ansehen.

Ebenso bestimmt lässt sich sagen, dass Nacheiferung in den glo-balen Angelegenheiten eine wichtige Rolle gespielt hat. Ein großerTeil der restlichen Welt wurde durch Amerikanisierung politisch,ökonomisch und kulturell in die Globalisierung hineingezogen. Aberhier weiche ich ein wenig von Arrighi ab, denn ich denke nicht, dassNacheifern immer Konkurrenz hervorbringt und immer ein Null-summenspiel ist. Die Nachahmung des Konsumverhaltens, der Le-bensweise, der kulturellen Formen und der politischen und finanzi-ellen Institutionen der USA hat weltweit zum Prozess der unendli-chen Kapitalakkumulation beigetragen. Es kann tatsächlich zu Situ-ationen kommen, in denen das Bestreben, es jemandem gleichzutun,zu einer verschärften Konkurrenz führt (beispielsweise wenn Tai-wan einen Produktionssektor der USA vollkommen übernimmt).Und dies kann in den USA starke Auswirkungen haben (wie dielange Geschichte des Rückbaus ganzer Industriezweige wie Stahl,Schiffsbau und Textilien innerhalb der USA illustriert). Aber ich haltees für wichtig, zwischen diesem und anderen Aspekten des Nachei-ferns zu unterscheiden, die tatsächlich zur Bildung einer größerenkollektiven Macht beitragen.

Politische Macht konstituiert sich immer aus einer instabilen Mi-schung von Zwängen, Nachahmung und der Ausübung von Füh-rungskraft durch die Herausbildung von Übereinstimmung. Das sinddie Mittel. Aber was ist mit den Formen der Macht, die innerhalbder territorialen Logik, kummuliert werden müssen, um ihre Fähig-keit zur Verwirklichung ihrer Interessen sicherzustellen? Die Abs-trakta Prestige, Status, Achtung, Autorität und diplomatische Schlag-kraft müssen auf etwas Materiellem basieren. Geld, Produktionska-pazitäten und militärische Macht sind die drei Standbeine der Hege-monie im Kapitalismus. Doch auch hier finden wir sich verschiebendeund instabile Strukturen vor. Als Beispiel muss man nur an die sichverschiebende materielle Basis der US-amerikanischen Hegemonieseit dem Ende des 19. Jahrhunderts denken.

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 49: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

48

Der Aufstieg des bürgerlichen Imperialismus 1870-1945Arendt zufolge war der Imperialismus, der sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts bildete, nicht, wie vielfach behauptet, »das letzte Sta-dium des Kapitalismus«, sondern »das erste (und vielleicht zugleichauch das letzte) Stadium der politischen Herrschaft der Bourgeoi-sie«.26 Dafür gibt es umfangreiche Belege. Die erste große Krise ka-pitalistischer Überakkumulation (hauptsächlich definiert als Über-schuss an Kapital und Mangel an profitablen Möglichkeiten es ein-zusetzen – siehe aber auch die ausführlichere Darstellung in Kapitel3) war der europaweite wirtschaftliche Zusammenbruch von 1846-50, der überall in Europa bürgerliche revolutionäre Bewegungen aus-löste (mit mehr als einer Spur Beteiligung der Arbeiterklasse). Dieanschließende partielle Integration der Bourgeoisie in den Staatsap-parat wurde nicht gleichmäßig in ganz Europa vollzogen. Der Wegaus dieser ersten kapitalistischen Krise hinaus war eine doppelte Be-wegung langfristiger Investitionen in die Infrastruktur (wie in derTheorie der »produktiven Staatsausgaben« dargelegt, die Haus-smanns Umwandlung von Paris sowie der weitverbreiteten Aufmerk-samkeit, die man dem Transportwesen, den Wasser- und Abwasser-programmen und den Investitionen in den Wohnungsbau und öf-fentliche Einrichtungen in vielen anderen europäischen Ländernzollte, zugrunde lag) und geographischer Expansion, die sich insbe-sondere auf den transatlantischen Handel konzentrierte (mit den USAals Hauptabnehmer). Doch Mitte der 1860er Jahre waren die Mög-lichkeiten, Überschüsse an Kapital und Arbeitskraft durch dieseMittel zu absorbieren, erschöpft. Die Unterbrechung des Transat-lantikhandels durch den US-amerikanischen Bürgerkrieg hatte ernst-hafte Auswirkungen, und interne politische Bewegungen (wie dieje-nige, aus der die Pariser Kommune von 1871 entstand) sorgten über-all in Europa für innenpolitischen Druck. In den Jahren nach demBürgerkrieg kamen auch in den USA proletarische Bewegungen auf.

Der Kapitalüberschuss in Europa, dessen interne Verwendung vonder bestimmt auftretenden Macht der kapitalistischen Klasse immer

Kapitel 2

26 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 316.

Page 50: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

49

stärker blockiert wurde, wurde nach außen gedrängt und über-schwemmte die Welt, insbesondere nach etwa 1870, mit einer gewal-tigen Welle spekulativer Investitionen und Handelsbewegungen. Diekapitalistische Logik des Strebens nach dem, was ich in Kapitel 3»raum-zeitliche Fixierungen« nennen werde, brach im globalen Maß-stab hervor. Die Notwendigkeit, diese ausländischen Unternehmun-gen zu schützen und gar ihre Überschüsse auszugleichen, setzte Staa-ten unter Druck, auf diese expansionistische kapitalistische Logikzu reagieren. Dafür musste die Bourgeoisie, die in den USA bereitsdie Macht innehatte, ihre politische Macht gegenüber älteren Klas-senformationen konsolidieren und ältere imperialistische Formenentweder auflösen (wie in Österreich-Ungarn oder dem Osmani-schen Reich) oder zu einer charakteristisch kapitalistischen Logikbekehren (wie in Großbritannien). Die Konsolidierung bürgerlicherpolitischer Macht innerhalb der europäischen Staaten war daher einenotwendige Voraussetzung für eine Umorientierung der territoria-len Politik auf die Erfordernisse der kapitalistischen Logik.

Die Bourgeoisie hatte jedoch bei ihrem Aufstieg zur Macht dieIdee der Nation propagiert. Die Welle der Nationalstaatenbildung,zu der es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa kam(insbesondere in Deutschland und Italien), verwies rein logisch be-trachtet eher in Richtung einer Politik der internen Konsolidierungals auf eine Politik der ausländischen Unternehmungen. Darüberhinaus konnte die politische Solidarität, die von der Idee der Nationvorausgesetzt wird, nicht leicht auf »andere« ausgedehnt werden,ohne das zu schwächen, wofür die Idee der Nation eigentlich steht.Der Nationalstaat bietet daher in sich keine kohärente Grundlagefür den Imperialismus. Wie also konnte auf der Basis des National-staats eine angemessene politische Reaktion auf das Problem derÜberakkumulation und die Notwendigkeit einer globalen raum-zeit-lichen Fixierung gefunden werden? Die Antwort lag in der Mobili-sierung von Nationalismus, Chauvinismus, Patriotismus und vorallem Rassismus für ein imperialistisches Projekt, in dem nationalesKapital – und nun bestand eine überzeugende Kohärenz zwischendem Maßstab kapitalistischen Unternehmungsgeists und der Ebene,auf der Nationalstaaten operieren – die Führung übernehmen konn-

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 51: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

50

te. Dies bedeutete, wie Arendt anmerkt, die zeitweilige Einstellungdes internen Klassenkampfs und die Bildung eines Bündnisses in-nerhalb eines Nationalstaats zwischen dem, was sie »den Mob« nennt,und dem Kapital. »[F]ür den Marxismus war das neue Bündnis zwi-schen Mob und Kapital so unnatürlich«, stellt sie fest, »dass die un-mittelbaren Gefahren des imperialistischen Experiments, sein Ver-such, die Menschheit in Herren- und Sklavenrassen, in farbige undweiße Völker zu teilen und das in Klassen gespaltene Volk auf derBasis des Mobs zu einigen, gar nicht zur Kenntnis genommen wur-de.« Theoretisch, sagt sie, seien »Nationalismus und Imperialismus… durch einen Abgrund geschieden; in der Praxis ist dieser Abgrundimmer wieder durch rassisch oder völkisch orientierte Nationalis-men überbrückt worden.«27 Dass dies tatsächlich geschah, war na-türlich nicht unvermeidlich. Doch der Kampf dagegen scheiterte letz-ten Endes, wie das Auseinanderbrechen der Zweiten SozialistischenInternationale, als sich im Krieg von 1914-18 jeder Zweig auf natio-naler Ebene unterstützend hinter sein Land stellte, äußerst drama-tisch zeigte. Die Folgen waren entsetzlich. Eine Vielzahl auf Natio-nen basierender und daher rassistischer bürgerlicher Imperialismenentstand (britischer, französischer, niederländischer, deutscher unditalienischer). Daneben kamen in Japan und Russland von der Indu-strie vorangetriebene, aber nichtbürgerliche Imperialismen auf. Siealle traten für ihre ganz eigenen Doktrinen rassischer Überlegenheitein, denen man durch Sozialdarwinismus pseudowissenschaftlicheGlaubwürdigkeit verlieh, und meistens begannen sie, sich selbst alsin einen Überlebenskampf mit anderen Nationalstaaten verstrickteorganische Einheiten zu begreifen. Nachdem er lange in den Kulis-sen gelauert hatte, trat der Rassismus nun in den Vordergrund poli-tischen Denkens. Dies legitimierte praktischerweise die Wendunghin zu dem, was ich in Kapitel 4 die »Akkumulation durch Enteig-nung« (von Barbaren, Wilden und niedrigeren Völkern, die es ver-säumt hatten, ihre Arbeit angemessen an das Land zu knüpfen) nen-nen werde, und der Extraktion von Tributen aus den Kolonien inden repressivsten und am krassesten ausbeuterischen Formen von

Kapitel 2

27 A.a.O., S. 341 und 343.

Page 52: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

51

Imperialismus, die je erdacht wurden (wobei die belgische und diejapanische vielleicht die brutalsten von allen waren). Es ist, wie Arendtargumentiert, auch wichtig, Nazismus und Holocaust als innerhalbdieser historisch-geographischen Zusammenhänge vollkommen ver-ständlich anzusehen, wenn auch in keinster Weise durch sie vorher-bestimmt.

Der zugrundeliegende Widerspruch zwischen bürgerlichem Na-tionalismus und Imperialismus konnte nicht aufgelöst werden, undgleichzeitig setzte die zunehmende Notwendigkeit, eine geographi-sche Abflussmöglichkeit für überschüssiges Kapital zu finden, diepolitische Macht innerhalb jedes imperialistischen Staates auf allemöglichen Weisen unter Druck, ihren Kontrollbereich geographischauszudehnen. Daraus resultierten, wie Lenin so treffend vorausge-sagt hatte, fünfzig Jahre der zwischenimperialistischen Rivalität unddes Krieges, in denen rivalisierende Nationalismen eine große Rollespielten. Zu den wesentlichen Ereignissen dieser Zeitspanne zähltendie Aufteilung der Erde in eindeutig zugeteilte Territorien des Kolo-nialbesitzes oder Verfügungsrechts (am dramatischsten im Griff nachAfrika 1885 und der Aufteilung des Mittleren Ostens in französi-sche und britische Protektorate durch den Versailler Vertrag nachdem Ersten Weltkrieg), die Plünderung eines großen Teils der Res-sourcen der Welt durch die Imperialmächte und der weitverbreiteteEinsatz unheilvoller Doktrinen der rassischen Überlegenheit; all dementsprach die totale und vorhersehbare Erfolglosigkeit des Versuchs,das Problem des überschüssigen Kapitals innerhalb geschlossenerReichsgebiete in den Griff zu kriegen, die in der großen Depressionder 1930er Jahre deutlich wurde. Dann kam die ultimative globaleFeuersbrunst von 1939-45.

Ich schließe mich Arendts Sichtweise an, der zufolge den gesam-ten Zeitraum von 1870 bis 1945, wenn auch in der frühen Phase vonbritischer Hegemonie und zumindest ein wenig freiem Handel mar-kiert, genau dieselben rivalisierenden, auf Nationen basierendenImperialismen kennzeichnen, die nur durch die Mobilisierung vonRassismus und den Aufbau nationaler Solidarität funktionieren konn-ten und im Inland den Faschismus, im Ausland die Neigung zu ge-walttätigen Auseinandersetzungen begünstigten.

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 53: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

52

Inmitten all dessen entwickelten die USA ihre eigene charakteris-tische Form des Imperialismus. In einem beachtlichen Spurt der ka-pitalistischen Entwicklung nach dem Bürgerkrieg wurden die USAtechnologisch und ökonomisch gegenüber der restlichen Welt do-minant. Ihre Regierungsform, unbelastet von feudalen oder aristo-kratischen Überbleibseln, wie man sie in Europa vorfand, spiegeltestark die Klasseninteressen von Unternehmen und der Industrie wi-der und war schon seit der Unabhängigkeit bürgerlich bis ins Mark(wie in ihrer Verfassung formalisiert). Die politische Macht war imInneren dem Individualismus ergeben und ein erbitterter Gegnerjeglicher Bedrohung der unveräußerlichen Rechte auf Privatbesitzund der Profitrate. Es war eine multiethnische Einwanderergesell-schaft, die einen engstirnigen ethnischen Nationalismus europäischenoder japanischen Einschlags unmöglich machte. Die USA waren auchdarin außergewöhnlich, dass ihnen ein riesengroßes Gebiet für dieinterne Expansion zur Verfügung stand, in dem sowohl die kapita-listische als auch die politische Logik der Macht ausreichend Hand-lungsspielräume besaß. Ihre eigene internalisierte Form des Rassis-mus (gegenüber Schwarzen und Ureinwohnern) hielt gemeinsam miteiner allgemeineren Feindseligkeit gegenüber »Nicht-Kaukasiern«,die Versuchung in Schranken, Gebiete zu vereinnahmen, in denennichtkaukasische Bevölkerungsgruppen dominierten (wie Mexikooder Länder der Karibik). Die Theorie des »Manifest Destiny«28 gabihrem eigenen charakteristischen Rassismus und internationalen Ide-alismus neue Nahrung. Vom späten 19. Jahrhundert an lernten dieUSA allmählich, eindeutige territoriale Zugewinne und Besetzun-gen als unräumliche Universalisierung ihrer eigenen Werte zu mas-kieren und durch eine Rhetorik zu verschleiern, die letztlich, wieNeil Smith bemerkt, in dem kulminiert, was als »Globalisierung«bekannt wurde.29 Die USA hatten Phasen, in denen sie den Europä-

Kapitel 2

28 Vorstellung eines vom göttlichen Schicksal erteilten Auftrags an die Verei-nigten Staaten zur Dominanz auf ihrem Kontinent und in der Welt. Zur Recht-fertigung expansiver Bestrebungen insbesondere gegenüber den Ureinwohnerngriff man gern auf diese Idee vom »Schicksalsauftrag» zurück (Anm. d. Übers.).

29 N. Smith, American Empire: Roosevelt’s Geographer and the Prelude toGlobalization (Berkeley: University of California Press, 2003).

Page 54: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

53

ern nacheiferten, sie hatten episodenhafte Momente, in denen esschien, als sei geographische Expansion wirtschaftlich erforderlich,und sie hatten, in den diversen Formulierungen der Monroe-Dokt-rin, lange erklärt, dass die Amerikas in ihrer Gesamtheit frei voneuropäischer Kontrolle und damit de facto Teil der Sphäre ihrer ei-genen Vorherrschaft sein sollten. Und es war Woodrow WilsonsTraum, die Monroe-Doktrin allgemein gültig zu machen. Doch inSüdamerika stießen die USA auf Republiken, die sich, wie sie selbst,durch Unabhängigkeitskämpfe vom Joch des Kolonialismus befreithatten. Daher mussten sie eine Methode imperialistischer Herrschaftentwickeln, die Unabhängigkeit solcher Länder nominell zu respek-tieren, sie aber dennoch durch eine Mischung aus privilegierten Han-delsbeziehungen, Schirmherrschaft, Klientelpolitik und verdeckterAusübung von Zwang zu dominieren. Die USA hielten zwar im All-gemeinen am Prinzip der »offenen Tür« in Bezug auf den Welthan-del fest, hatten jedoch vor dem Zweiten Weltkrieg geringe Neigungoder echte Mittel es durchzusetzen. Sie beteiligten sich am ErstenWeltkrieg, spielten eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Ver-sailler Vertrags, in dem das Prinzip der nationalen Selbstbestimmungwenigstens erkennbar, wenn auch nicht praktiziert wurde (insbe-sondere in Bezug auf den Mittleren Osten), erlitten das Trauma derGroßen Depression (mehr ein Ergebnis internen Scheiterns der Klas-senherrschaft als eine Reflektion mangelnder Möglichkeiten für US-amerikanisches Kapital, geographisch zu expandieren) und wurdenin die nachfolgenden, durch interimperialistische Rivalitäten hervor-gebrachten, globalen Konflikte hineingezogen. Aber angesichts star-ker isolationistischer Strömungen sowohl innerhalb der Rechten alsauch der Linken und einer lange bestehenden historischen Angst vorausländischen Verwicklungen, die als Gefährdung der eigenen Re-gierungsform angesehen wurden, blieben imperiale Vorstöße seltenund begrenzt, in der Regel eher verdeckt als offen und waren eherpolitisch als kapitalistisch motiviert, außer im Fall von individuellenUnternehmen mit bestimmten ausländischen Interessen, die zur Un-terstützung ihrer speziellen Projekte, wann und wo immer es not-wendig war, schamlos politische Macht mobilisierten. Die USA wa-ren immer noch ebenso potenzieller Schwamm wie Produzent über-

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 55: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

54

schüssigen Kapitals, obwohl es ihnen in den 1930ern völlig miss-lang, ihre eigenen Möglichkeiten in dieser Hinsicht zu realisieren,zum großen Teil aufgrund der internen Struktur der Macht der Klas-sen, die sogar Roosevelts moderaten Versuchen während des NewDeal widerstand, die Wirtschaft durch die Umverteilung des Wohl-stands von ihren Widersprüchlichkeiten zu befreien. Die Schwierig-keit, in einer ethnisch gemischten Gesellschaft, die sich durch äu-ßersten Individualismus und starke Trennlinien zwischen den Klas-sen auszeichnete, innere Geschlossenheit zu erreichen, produziertedas, was Hofstadter den »paranoiden Stil« der amerikanischen Poli-tik nennt: die Angst vor einem »anderen« (dem Bolschewismus, demSozialismus, dem Anarchismus oder schlicht »Agitatoren von au-ßen«) wurde entscheidend für das Entstehen politischer Solidaritätan der Heimatfront.30 Der Sowjetunion und dem Bolschewismuswurden immer mehr die Rollen der Hauptfeinde und Schurken zu-gewiesen (zusammen mit einer hinter den Kulissen lauernden Angstvor China, die die Einwanderung von Chinesen mit einschloss).

Die Nachkriegsgeschichteder amerikanischen Hegemonie 1945-1970Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die USA mit Abstand diedominanteste Macht. Sie dominierten in Technologie und Produkti-on. Der Dollar (mit dem größten Teil der weltweiten Goldvorräteim Rücken) war die Leitwährung und der Militärapparat der USAwar allen anderen weit überlegen. Ihr einziger ernstzunehmenderGegner war die Sowjetunion, doch die hatte einen enormen Teil ih-rer Bevölkerung verloren und im Vergleich zu den USA eine extre-me Verringerung ihrer militärischen und industriellen Kapazitätenerlitten. Das Land hatte die Hauptlast des Kampfes gegen den Na-zismus getragen, und die Belagerung Stalingrads und anschließendeZerstörung eines großen Teils der deutschen militärischen Kapazitä-ten an der Ostfront waren wohl entscheidend für den Sieg der Alli-ierten. Dass die zweite Front in Europa mit so viel Verzögerung er-

Kapitel 2

30 R. Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics and Other Essays(Cambridge Mass.: Harvard University Press, 1996 edn.).

Page 56: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

55

öffnet wurde, machte Stalin rasend und geschah möglicherweise be-reits aus Berechnung der USA und Großbritanniens, um die Sowjet-union die Hauptlast des Kampfs tragen zu lassen. Doch die Verzö-gerung hatte ernsthafte Folgen, da sie es der Sowjetunion gestattete,große Gebiete in Europa einzunehmen, aus denen zurückzuziehensie sich später weigerte. Stattdessen errichtete sie überall in Osteu-ropa, sogar in Ostdeutschland, Satellitenstaaten. Für die Sowjetuni-on lief die Verteidigung ihrer Interessen auf die Verteidigung ihrerterritorialen Kontrolle hinaus.

Während des Krieges entwarf eine Elite innerhalb der US-Regie-rung und des privaten Sektors den Plan für ein Nachkriegsabkom-men, das Frieden, wirtschaftliches Wachstum und Stabilität garan-tieren würde. Eine Gebietserweiterung wurde ausgeschlossen. In denUSA war es lange Zeit, seit James Madison, ein einflussreiches Prin-zip politischen Denkens und politischer Praxis gewesen, dass Ver-wicklungen im Ausland vermieden werden sollten, da sie die heimi-sche Demokratie unterminierten. Die Schwierigkeit war, eine Brü-cke zu schlagen zwischen dieser Befürchtung und der offensichtli-chen Tatsache globaler US-amerikanischer Dominanz. Ähnlich wieder europäische Imperialismus versucht hatte, die Spannung zwi-schen Nationalismus und Imperialismus mit Hilfe von Rassismuszu überbrücken, versuchten die USA, ihre imperialistischen Ambi-tionen hinter einem abstrakten Universalismus zu verbergen. Dashatte, wie Neil Smith feststellt, den Effekt, dass die Bedeutung vonTerritorium und Geographie für die Artikulation imperialistischerMacht vollkommen geleugnet wurde. Henry Luce vollzog diesenSchritt in seiner einflussreichen Titelgeschichte im Magazin Life von1941 »Das amerikanische Jahrhundert«. Luce, ein Isolationist, warder Ansicht, die Geschichte hätte die USA mit weltweiter Führungbetraut und diese Rolle müsse, auch wenn sie dem Land aufgedrängtwurde, aktiv übernommen werden. Die übertragene Macht war welt-weit und universal statt auf ein bestimmtes Gebiet festgelegt, daherzog Luce es vor, von einem amerikanischen Jahrhundert zu spre-chen statt von einem Imperium. Smith bemerkt: »Während die geo-graphische Sprache von Imperien eine formbare Politik suggeriert –Imperien steigen auf, gehen unter und sind Angriffen ausgesetzt –

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 57: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

56

suggeriert das ›amerikanische Jahrhundert‹ ein unvermeidlichesSchicksal. In Luces Sprache war jede politische Krittelei an der ame-rikanischen Vorherrschaft ausgeschlossen. Wie greift man ein Jahr-hundert an? Die weltweite Dominanz der USA wurde als natürli-ches Resultat des historischen Fortschritts präsentiert und damitimplizit als Höhepunkt der europäischen Zivilisation statt als gegenKonkurrenz durchgesetztes Ergebnis der politisch-wirtschaftlichenMacht. Sie folgte so sicher wie ein Jahrhundert auf das andere. So-weit es frei von Geographie war, war das Amerikanische Jahrhun-dert frei von einer Imperialmacht und frei von Tadel.«31

Die Tatsache der territorialen Zugewinne und erblühenden Machtder Sowjetunion traf mit dem »paranoiden Stil« der US-amerikani-schen Politik zusammen, was den Kalten Krieg auslöste. Intern führtedies zu den als »McCarthyismus« bekannten Repressionen, die dieMeinungsfreiheit einschränkten und sich heftig gegen alles wand-ten, das auch nur entfernt kommunistisch oder sozialistisch klang.Die Gewerkschaften wurden von radikalen Einflüssen gesäubert undkommunistische und andere linke Parteien wurden effektiv verbo-ten. Das FBI begann ernsthaft alles, was als oppositionell angesehenwurde, zu infiltrieren. Das alles wurde legitimiert als entscheidendfür die interne Sicherheit der USA angesichts der sowjetischen Be-drohung. Resultat war politische Konformität und Solidarität imLand. Der Leviathan, wie Arendt vielleicht sagen würde, zwang dempotenziellen Chaos individueller Interessen Ordnung auf. Die Ar-beiterschaft wurde zu einer allgemeinen Übereinkunft mit dem Ka-pital gedrängt und beschwatzt und die Löhne an Produktivitätszu-wächse gekoppelt (ein fordistisches Modell, das man der Nachah-mung für wert erachtete). Man sicherte sich die Unterstützung derArbeiterklasse für eine US-amerikanische Außenpolitik im Namendes Antikommunismus und ökonomischen Interesses.

In äußeren Angelegenheiten präsentierten die USA sich als wich-tigster Verteidiger der Freiheit (interpretiert als freie Märkte) unddes Rechts auf Privateigentum. Die USA boten den besitzenden Klas-sen und politischen/militärischen Eliten, egal, wo sie sich befanden,

Kapitel 2

31 Smith, American Empire, S. 20.

Page 58: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

57

wirtschaftlichen und militärischen Schutz. Im Gegenzug legten die-se besitzenden Klassen und Eliten sich typischerweise auf eine pro-amerikanische Politik fest, in welchem Land sie auch sein mochten.Das bedeutete militärische, politische und wirtschaftliche Eindäm-mung der Einflusssphäre der Sowjetunion.32 Das Imperium der USAwar negativ definiert als alles, was nicht direkt im sowjetischen Macht-bereich lag (dieser schloss in den Augen der USA China ein, auchlange nachdem es seinen eigenen Weg gegangen war). Es war allge-mein anerkannt, dass ein Frontalangriff auf das sowjetische Reichunmöglich war, doch wurde jede Gelegenheit wahrgenommen, eszu unterminieren – eine Politik, die zu einigen Fiaskos führte, etwa,als die USA den Aufstieg der Mudjahedin und des islamischen Fun-damentalismus unterstützten, um die Sowjets in Afghanistan in Ver-legenheit zu bringen, und den Einfluss der Mudjahedin später in ei-nem Krieg gegen den von islamischen Fundamentalisten ausgehen-den Terrorismus unterdrücken mussten. Jede Ausweitung des vonKommunisten kontrollierten Gebiets wurde als ernsthafter Verlustangesehen – daher die heftigen gegenseitigen Beschuldigungen in derFrage, wer »China an Mao verloren« hatte und der Gebrauch diesesVorwurfs als Speerspitze der Angriffe McCarthys.

Zwei Hauptprinzipien der internen strategischen Praxis warenwährend des Zweiten Weltkriegs definiert worden, und sie bliebenauch danach eherne Prinzipien: Die soziale Ordnung in den USAsollte stabil bleiben (man würde keine radikale Umverteilung vonReichtum oder Macht und keinen Angriff auf die Kontrolle durchdie elitäre und/oder kapitalistische Klasse tolerieren) und die hiesigeKapitalakkumulation und der Konsum sollten sich kontinuierlichausweiten, um Ruhe, Frieden und Wohlstand im Land zu sichern.33

Ausländische Verpflichtungen sollten dem heimischen Konsumden-ken nicht in die Quere kommen: daher die Vorliebe für das, was Ig-natieff »Empire lite« nennt. Die USA setzten ihre überlegene Mili-tärmacht überall auf der Welt zum Schutz von Satellitenstaaten ein,

Wie Amerikas Macht wuchs

32 The Editors, »U.S. Imperial Ambitions and Iraq«, S. 3-13.33 Das ist die zentrale These in W. A. Williams, Empire as a Way of Life.

Page 59: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

58

die die US-Interessen unterstützten. Der Sturz Mossadeghs, der dieÖlfelder im Iran verstaatlicht hatte, sein Austausch gegen den Schah1953 (alles mit Hilfe der CIA) und anschließend das Vertrauen dar-auf, dass dieser sich in der Golfregion für die Interessen der USAverwenden würde, waren typisch für diesen Ansatz. In geopoliti-schen Schlüsselarenen wie den an das sowjetische Einflussgebiet an-grenzenden Staaten setzten die USA ihre wirtschaftliche Macht da-für ein, starke Ökonomien auf der Grundlage kapitalistischer Prin-zipien aufzubauen (daher der Marshall-Plan für Europa und die starkeUnterstützung Japans, Taiwans, Südkoreas und anderer durch sow-jetische Macht verwundbarer Staaten). Der Zugang zum MittlerenOsten mit seinen Ölreserven war ebenfalls entscheidend (trotz sei-ner Krankheit machte Roosevelt nach der Jaltakonferenz noch Zwi-schenstation, um mit den Saudis und anderen Gespräche über dieBedeutung eines anhaltenden Ölnachschubs zu führen).

Die USA setzten sich an die Spitze kollektiver Sicherheitsverein-barungen und nutzten die Vereinten Nationen und, noch wichtiger,Militärbündnisse wie die NATO, um die Möglichkeit interkapitalis-tischer Kriege einzuschränken und den Einfluss der Sowjetunion undspäter auch Chinas zu bekämpfen. Sie nutzten ihre eigene Militär-macht, verdeckte Operationen und diverse wirtschaftliche Druck-mittel, um die Einsetzung freundlich gesinnter Regierungen oderderen Fortbestand zu sichern. Zu diesem Zweck waren sie bereit,den Sturz demokratisch gewählter Regierungen zu unterstützen undsich direkt oder indirekt an Taktiken zur Liquidierung solcher Re-gierungen zu beteiligen, von denen sie glaubten, sie stellten sich ge-gen US-Interessen. Das taten sie in Iran, Guatemala, Brasilien, imKongo, der Dominikanischen Republik, in Indonesien, Chile undanderswo. Sie intervenierten in Dutzenden anderer Länder überallauf der Welt durch Wahlen und verdeckte Aktionen. Und doch zo-gen sie in China und Kuba den kürzeren und auch anderswo warenkommunistische Aufstände erfolgreich, da das sowjetische Modelleiner zügigen Modernisierung ohne Herrschaft der kapitalistischenKlasse an Zugkraft gewann.

Innerhalb der »freien Welt« strebten die USA den Aufbau eineroffenen, internationalen und auf ein kapitalistisches System abzie-

Kapitel 2

Page 60: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

59

lenden Ordnung für Handel, wirtschaftliche Entwicklung und ra-sche Kapitalakkumulation an. Dies erforderte den Abbau der frühe-ren auf Nationalstaaten basierenden Imperien. Die Entkolonialisie-rung brachte überall auf der Welt Staatenbildung und eigenständigeRegierungen mit sich. Ihre Beziehungen zu diesen neuerdings unab-hängigen Staaten gestalteten die USA auf Grundlage ihrer Erfah-rungen im Umgang mit den unabhängigen Republiken Lateinameri-kas in der Vorkriegszeit. Privilegierte Handelsbeziehungen, Klien-telpolitik, Schirmherrschaft und die verdeckte Ausübung von Zwangwaren, wie bereits erwähnt, die Hauptkontrollmechanismen. Unddie USA setzten diese Waffen bilateral, bei jedem Land einzeln ein,und setzten sich so in die Position einer Nabe mit unzähligen ver-bindenden Speichen zu allen anderen Staaten auf der Welt. Jeder An-drohung eines kollektiven Vorgehens gegen die überwältigende Machtder USA konnte mit einer Teile-und-herrsche-Strategie begegnet wer-den, indem man die Autonomie des Kollektivs durch die individuel-len Verbindungen beschränkte, selbst wenn es, wie in Europa, Be-wegungen gab, die auf einen Zusammenschluss hinwirkten.

Ein internationaler Rahmen für Handel und wirtschaftliche Ent-wicklung innerhalb und zwischen diesen unabhängigen Staaten wur-de durch das Abkommen von Bretton Woods zur Stabilisierung desweltweiten Finanzsystems errichtet, begleitet von einer ganzen Bat-terie von Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Wäh-rungsfonds, der in Basel ansässigen Bank für Internationalen Zah-lungsausgleich und der Gründung von Organisationen wie demGATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) und der OECD(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung), die dazu vorgesehen waren, das Wirtschaftswachstum zwi-schen den fortgeschrittenen kapitalistischen Mächten zu koordinie-ren und in der restlichen nichtkommunistischen Welt für wirtschaft-liche Entwicklung im kapitalistischen Stil zu sorgen. In dieser Sphä-re waren die USA nicht nur vorherrschend, sondern auch hegemonialin dem Sinne, dass ihre Position als super-imperialistischer Staat sichauf die Führung der besitzenden Klassen und dominanten Eliten,egal wo sie sich befanden, gründete. Ja, sie förderten aktiv die Her-ausbildung und die Vormachtstellung solcher Eliten und Klassen

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 61: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

60

überall auf der Welt: Sie wurden zum Hauptprotagonisten der bür-gerlichen Macht rund um den Globus. Ausgerüstet mit Rostows Sta-dientheorie ökonomischen Wachstums setzten sie sich ein für dieFörderung des wirtschaftlichen Aufstiegs (Take-off) in eine Entwick-lung, die nach und nach in jedem Land den Impuls zum Massenkon-sum fördern würde, um die kommunistische Gefahr abzuwehren.34

Der Abbau der europäischen Imperialismen war jedoch auch mitder formellen Zurückweisung des Rassismus verbunden, der dieAussöhnung des Nationalismus mit dem Imperialismus ermöglichthatte. Die UN-Menschenrechtserklärung und diverse UNESCO-Studien erklärten Rassismus für unzulässig und suchten, einen Uni-versalismus des Privatbesitzes und der individuellen Rechte zu be-gründen, der für ein zweites Stadium bürgerlicher Herrschaft ange-messen wäre. Dies machte es erforderlich, dass die USA sich als Gipfelder Zivilisation und Bastion individueller Rechte darstellten. Pro-amerikanismus musste kultiviert und im Ausland zur Geltung ge-bracht werden. Und so begann der gewaltige kulturelle Angriff aufdie »dekadenten« europäischen Werte und die Werbekampagne fürdie Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der »amerikani-schen Werte«. Die Macht des Geldes wurde dazu benutzt, die kultu-relle Produktion zu dominieren und kulturelle Werte zu beeinflus-sen (in dieser Ära »stahl« New York Paris die Idee der modernenKunst35). Der kulturelle Imperialismus wurde zu einer wichtigenWaffe im Kampf, die Hegemonie insgesamt zu behaupten. Man be-diente sich Hollywoods, der Popmusik, kultureller Formen und so-gar ganzer politischer Bewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung,um den Drang zu fördern, allem Amerikanischen nachzueifern. DieUSA wurden als Leuchtfeuer der Freiheit konstruiert, das allein dieMacht hatte, den Rest der Welt mit sich in eine dauerhafte, durchFrieden und Reichtum gekennzeichnete Zivilisation zu ziehen.

Doch die Vereinigten Staaten begannen auch als Hauptmotor derKapitalakkumulation angesehen zu werden, der die übrige Welt auf

Kapitel 2

34 W. W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums: eine Alternative zurmarxistischen Entwicklungstheorie (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967).

35 S. Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat(Dresden/Basel: Verlag der Kunst, 1983).

Page 62: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

61

seinem Weg mitziehen kann. Massive interne Umgestaltungen ihrereigenen Wirtschaft (die während des New Deal der 1930er Jahre nurangedeutet worden waren) erhielten aufgrund der durch sie erziel-ten Marktchancen weltweit großes Gewicht. Investitionen in Bil-dung und Ausbildung, das landesweite Autobahnnetz, die um sichgreifende Abwanderung in die Vororte und die Entwicklung desSüdens und Westens schluckten in den 1950er und 1960er Jahrenriesige Mengen Kapital und Erzeugnisse. In diesen Jahren wurdendie USA, sehr zum Verdruss der Neoliberalen und Konservativen,ein interventionistischer Staat. Außer in einigen Schlüsselbereichen,wie etwa dem strategischer Ressourcen, waren die USA nicht allzusehr auf die Extraktion von Wert aus der übrigen Welt angewiesen.Der Teil der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts, der dem Handelmit dem Ausland zuzuschreiben ist, blieb bis in die 1970er Jahrehinein unter 10%. Es gab zwar einige im Ausland tätige Unterneh-men wie ITT (International Telephone and Telegraph) in Chile (ei-ner seiner Geschäftsführer war Leiter der CIA gewesen) oder Uni-ted Fruit in Mittelamerika, die beträchtlichen Einfluss auf die Au-ßenpolitik der USA in diesen Regionen ausübten, doch der wirt-schaftliche Imperialismus der USA war, außer im Bezug auf strate-gisch bedeutsame Mineralien und Öl, eher verhalten. Soweit eineäußere Dialektik erforderlich war, deutete sie auf die bereits entwi-ckelten Teile der kapitalistischen Welt. Direkte Auslandsinvestitio-nen flossen nach Europa, wodurch Europäer davon besessen wur-den, das, was Servan-Schreiber »die amerikanische Herausforderung«nannte, abzuwehren.36 Im Gegenzug öffneten die USA ihren Marktjedoch für andere und schufen eine effektive Nachfrage für Produk-te aus Europa und Japan. Überall in der kapitalistischen Welt kam eszu einem starken Wachstum. Die Kapitalakkumulation schritt inForm der »erweiterten Reproduktion« geschwind voran. Profitewurden in Wachstum sowie in neue Technologien, fix(iert)es Kapi-tal und ausgedehnte Verbesserungen der Infrastruktur reinvestiert.37

Wie Amerikas Macht wuchs

36 J. J. Servan-Schreiber, Die amerikanische Herausforderung (Hamburg:Hoffmann und Campe, 1968).

37 P. Armstrong, A. Glyn und J. Harrison, Capitalism since World War II:The Making and Break Up of the Great Boom (Oxford: Basil Blackwell, 1991).

Page 63: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

62

Allerdings wurde die Kontrolle über das Abfließen von Kapital (imGegensatz zu dem von Waren) insbesondere in Europa von der vor-hergehenden Zeitspanne übernommen. Dies gab einzelnen Staatenbeträchtliche Ermessensspielräume in der Geld- und Währungspo-litik. Die Finanzspekulation blieb relativ verhalten und territorialbegrenzt. Dieser »keynesianische« Kontext staatlicher Ausgaben hingmit einer Dynamik des Klassenkampfs um Verteilungsfragen inner-halb einzelner Nationalstaaten zusammen. Es war eine Zeit, in derdie organisierte Arbeiterschaft ziemlich stark wurde und überall inEuropa sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten entstanden. Der so-ziale Lohn wurde sogar innerhalb der USA zu einem umkämpftenThema und die organisierte Arbeiterschaft verzeichnete intern meh-rere bedeutsame Siege im Bezug auf das Lohnniveau und den Le-bensstandard.

Die Zeitspanne von 1945 bis 1970 war also die zweite Stufe derpolitischen Herrschaft der Bourgeoisie und fand unter der globalenVorherrschaft und Hegemonie der USA statt. Den fortgeschritte-nen kapitalistischen Ländern brachte sie eine Zeit des bemerkens-wert starken Wirtschaftswachstums. Es bestand die stillschweigen-de globale Übereinkunft unter den großen kapitalistischen Mächten– wobei die USA eindeutig die Führungsrolle innehatten –, dass mangegenseitige Vernichtungskriege vermeiden wollte und alle an denGewinnen aus der Intensivierung eines integrierten Kapitalismus inden Kernzonen beteiligt würden. Die geographische Ausdehnungder Kapitalakkumulation wurde durch Entkolonialisierung und »In-terventionismus« als verallgemeinertes Ziel für den Rest der Weltsichergestellt. Die erweiterte Reproduktion schien sehr gut zu funk-tionieren und es waren sogar, wenn auch nur leichte und ungleich-mäßig verteilte, Nebeneffekte in allen Teilen der nichtkommunisti-schen Welt zu verzeichnen. Intern bedeutete die zunehmende Machtder Arbeiterschaft im Pakt zwischen Kapital und Arbeiterschaft, dassdie Gewinne aus dem Konsum auch auf die niedrigeren Schichtenverteilt wurden, sogar auf manche Minderheiten (wenn auch nichtgenug, wie die städtischen Unruhen der 1960er Jahre zeigten). DasProblem der Überakkumulation von Kapital war zwar stets eine Be-drohung, konnte aber bis in die späten 1960er Jahre hinein durch

Kapitel 2

Page 64: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

63

eine Mischung aus internen Anpassungsprogrammen und raum-zeit-lichen Fixierungen in den USA und außerhalb unter Kontrolle ge-halten werden. Diese Strategien, so hoffte man, würden es dem Sys-tem gestatten, die wirtschaftlichen Probleme, von denen die 1930erJahre geplagt gewesen waren, zu überwinden und es vor der Bedro-hung durch den Kommunismus zu schützen.

Doch diese zweite Stufe war nicht frei von Widersprüchen. Er-stens warf die formelle internationale Zurückweisung des Rassismusinnerhalb der USA, wo rassistische Diskriminierung grassierte, di-verse Schwierigkeiten auf. Die Bürgerrechtsbewegung, die schließ-lich zum Modell für den größten Teil der übrigen Welt wurde, ent-stand ursprünglich, ebenso wie die von Schwarzen angeführten städ-tischen Unruhen, aus internen Dynamiken; aber sie hatte auch eineinternationale Dimension, denn der Universalismus der Menschen-rechte geriet mit internen Praktiken in Konflikt und »farbige« Di-plomaten mussten auf dem Weg zwischen den Vereinten Nationenin New York und Washington D. C. feststellen, dass ihnen der Auf-enthalt in Motels untersagt war. Die Rassenselektion der US-ameri-kanischen Einwanderungspolitik geriet ebenfalls unter Beschuss unddie Zuwanderungsströme in die USA veränderten sich.

Zweitens machte die Politik des offenen Markts, wie wir in Kapi-tel 3 sehen werden, die USA im internationalen Wettbewerb ver-wundbar. Der Kapitalfluss war in dieser Zeitspanne stark auf dasGebiet innerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt (grobgesagt die OECD-Länder) konzentriert. Insbesondere die BRD undJapan schraubten ihre wirtschaftliche Macht so weit herauf, dass siedie Vorherrschaft der USA in der Produktion während der 1960erJahre in Frage stellten. Als die Fähigkeit der USA, überschüssigesKapital intern zu absorbieren, in den späten 1960er Jahren zu erlah-men begann, entstand das Problem der Überakkumulation und diewirtschaftliche Konkurrenz verschärfte sich.

Drittens entschieden die USA bei jedem Konflikt zwischen De-mokratie auf der einen und Ordnung und Stabilität im Interesse derBesitzenden auf der anderen Seite stets zugunsten des letzteren. Damitrückten sie von ihrem Standpunkt eines Förderers nationaler Befrei-ungsbewegungen ab und nahmen den eines Unterdrückers jeglicher

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 65: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

64

popularen oder demokratischer Bewegungen ein, die auch nur einenansatzweise nichtkapitalistischen (geschweige denn sozialistischenoder kommunistischen) Weg zur Verbesserung des wirtschaftlichenWohlstands anstrebten. Sozialdemokratische oder populare Bestre-bungen zur Veränderung des Kapitalismus wurden oft schonungs-los niedergeschlagen (wie es Bosch in der Dominikanischen Repub-lik geschah, Goulart in Brasilien und schließlich Allende in Chile).Selbst in Europa taten die USA alles in ihrer Macht Stehende, umden Sozialismus zu schwächen und gelegentlich sogar um die Sozi-aldemokratie zu unterminieren. Brutale diktatorische Regime wie inArgentinien in den 1970ern, die Saudis, der Schah von Persien undSuharto in Indonesien wurden dagegen von der US-amerikanischenMilitär- und Wirtschaftsmacht bedingungslos unterstützt, weil sieden US-Interessen dienten. Der wachsende Groll darüber, auf eineraum-zeitliche Situation der ständigen Unterwürfigkeit gegenüberdem Zentrum festgelegt zu sein, löste auch überall in den Entwick-lungsländern Antiabhängigkeitsbewegungen (anti-dependency mo-vements) aus. Nationale Befreiungs- und Klassenkämpfe in den Ent-wicklungsländern wurden mehr und mehr in eine antiamerikanischePolitik gedrängt. Antiabhängigkeit verschmolz mit Antikolonialis-mus zu Antiimperialismus. In all diesen Kämpfen war die Territori-alität der politischen Macht genauso wichtig für die Aufrechterhal-tung der US-Hegemonie, wie sie es für die europäischen Reiche frü-herer Zeiten gewesen war. Die USA erwarben den Status eines Im-periums nicht, wie Ignatieff beteuert, durch Selbstverleugnung: Sienutzten schlicht das Leugnen der Geographie und die Rhetorik derUniversalität, um ihr territoriales Engagement zu verbergen, mehrnoch vor sich selbst als vor anderen.

Viertens gewann infolge des Kalten Krieges und dieser ausländi-schen Verwicklungen das an Macht, was Präsident Eisenhower inseiner Abschiedsrede kritisch als einen gefährlich mächtigen »mili-tärisch-industriellen Komplex« bezeichnete. Dieser drohte, die Po-litik durch seinen allgegenwärtigen Einfluss zu dominieren und durchdie übertriebene Darstellung von Bedrohungen und die Manipulati-on externer Krisen seine eigenen engen Interessen zu verfolgen, umso eine permanente Kriegswirtschaft aufzubauen, die ihn sogar noch

Kapitel 2

Page 66: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

65

mächtiger machen würde. Um wirtschaftlich zu überleben, brauch-te die Verteidigungsindustrie einen florierenden Exporthandel mitWaffen. Dieser erhielt eine tragende Rolle in der US-amerikanischenKapitalakkumulation, zog jedoch auch die ausufernde Militarisie-rung der übrigen Welt nach sich.

Diese zweite Stufe der weltweiten Herrschaft der Bourgeoisie en-dete um 1970. Die Probleme waren vielfältig. Erstens bestand dasklassische Problem aller imperialistischen Regime – ihre Überdeh-nung. Die Eindämmung des Kommunismus (und der Versuch seinerUnterminierung) erwies sich als etwas kostspieliger für die USA alserwartet. Die steigenden Kosten des militärischen Konflikts in Viet-nam waren, in Verbindung mit der goldenen Regel des unendlichenheimischen Konsums – eine Kanonen-plus-Butter-Politik – auf Dauernicht mehr zu tragen, da Militärausgaben nur kurzfristig Abflüssefür überschüssiges Kapital bieten und wenig langfristige Abhilfe fürdie internen Widersprüche der Kapitalakkumulation schaffen. Re-sultat war eine Finanzkrise des interventionistischen Staats in denUSA. Die unmittelbare Reaktion bestand darin, das Recht auf Geld-schöpfung auszunutzen und mehr Dollars zu drucken.38 Das erzeugteweltweiten Inflationsdruck. In der Folge kam es, wie wir in Kapitel3 sehen werden, zu einer explosionsartigen Vermehrung des im Um-lauf befindlichen »fiktiven« Kapitals ohne jede Aussicht auf Einlö-sung, einer Konkurswelle (die sich anfangs auf Vermögenswerte inder Bauwesen konzentrierte), nicht mehr unter Kontrolle zu brin-gendem Inflationsdruck und dem Zusammenbruch der festen inter-nationalen Vereinbarungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg denSuper-Imperialismus der USA begründet hatten. Inzwischen triebdie wachsende Macht der organisierten Arbeiterschaft überall in denKernstaaten des globalen Systems das Niveau der Sozialausgabensowie die Lohnkosten in die Höhe und schmälerte beträchtlich dieProfite. Die Folge war Stagflation. Die Profitchancen verschwanden

Wie Amerikas Macht wuchs

38 Die Bedeutung des Rechts auf Geldschöpfung wird von G. Carchedi aufge-nommen in »Imperialism, Dollarization and the Euro«, in: Leo Panitch/ColinLeys (Hrsg.), Socialist Register 2002 (London: Merlin Press, 2001), S. 153-74.

Page 67: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

66

und es kam zu einer Krise der Überakkumulation des Kapitals. DerSchuldenüberhang vieler Regierungen aus enormen Investitionen indie physische und soziale Infrastruktur erzeugte eine finanzielleStaatskrise (die 1975 in dem spektakulären Konkurs der Stadt NewYork kulminierte). Um das Maß voll zu machen, stellte die Wettbe-werbsfähigkeit der wiederbelebten Industrie Japans und der BRDdie US-amerikanische Vorherrschaft in der Produktion in Frage undübertraf sie nun auf manchen Gebieten. Die Nachahmung der US-amerikanischen Herstellung beraubte die US-Hegemonie ihresHauptstandbeins. Die wirtschaftliche Position der USA schien un-haltbar. Überschüssige Dollars überfluteten den Weltmarkt und dieganze finanzielle Architektur des Bretton-Woods-Systems brach zu-sammen.

Neoliberale Hegemonie, 1970-2000Nun entstand ein anderes System, größtenteils unter US-amerikani-scher Leitung. Gold als materielle Basis für den Geldwert wurde auf-gegeben und forthin musste die Welt mit einem entmaterialisiertenGeldsystem leben. Ströme von Geldkapital, die sich über den Euro-dollarmarkt (Guthaben in Dollar bei Banken außerhalb der USA,die von jedermann überall gehandelt werden können) bereits frei umdie Welt bewegten, sollten vollkommen von staatlicher Kontrollebefreit werden. Die (heute belegte) Kollusion der Nixon-Regierungmit den Saudis und Iranern, um die Ölpreise in die Höhe zu treiben,schadete den europäischen und japanischen Ökonomien viel mehrals der US-amerikanischen (denn die USA waren damals nicht sosehr abhängig von den Vorräten im Mittleren Osten). Die US-Ban-ken (statt des IWFs, der von den anderen kapitalistischen Mächtenbevorzugte Vertreter) erhielten das Privileg des Monopols, die Pe-trodollar in die Weltwirtschaft zurückzuführen, was den Eurodol-larmarkt ins Land zurückbrachte.39 New York wurde zum Finanz-zentrum der globalen Ökonomie (diese Tatsache in Verbindung mitder internen Deregulierung ihrer Finanzmärkte ermöglichte es der

Kapitel 2

39 P. Gowan, The Global Gamble: Washington’s Faustian Bid for World Do-minance (London: Verso, 1999).

Page 68: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

67

Stadt, sich von ihrer Krise zu erholen und in den 1990er Jahren ineinem unglaublichen Reichtum und auffälligen Konsum zu erblü-hen).

Auf die Herausforderung im Produktionsbereich hatten die USAgekontert, indem sie ihre Hegemonie im Bereich Finanzen behaup-teten. Aber damit dieses System effektiv funktionieren konnte, musstedie Öffnung der Märkte im Allgemeinen und der Finanzmärkte imBesonderen für den internationalen Handel erzwungen werden (einlangsamer Prozess, der entschiedenen Druck der USA erforderte,unterstützt durch die Betätigung internationaler Hebel wie des IWFsund ein ebenso entschiedenes Bekenntnis zum Neoliberalismus alsneuer wirtschaftlicher Konvention). Damit verbunden war auch eineMacht- und Interessenverschiebung innerhalb der Bourgeoisie vonProduktionsaktivitäten zu Institutionen des Finanzkapitals. Finan-zielle Macht konnte zur Disziplinierung von Arbeiterbewegungeneingesetzt werden. Es ergab sich die Möglichkeit, einen Frontalan-griff auf die Macht der Arbeiterschaft zu starten und die Rolle ihrerInstitutionen im politischen Prozess zu schmälern. Präsident Rea-gans erste Amtshandlung war, die starke kollektive Macht der Flug-lotsen (PATCO) zu zerschlagen, was auch als Botschaft an die Ge-werkschaftsbewegung diente, dass ihnen dasselbe Schicksal bevor-stünde, sollte irgendeine andere Gruppe von Arbeitern streiken. EineWelle der Arbeitermilitanz überschwemmte die fortgeschrittene ka-pitalistische Welt in den späten 1970ern und den 1980er Jahren (wo-bei die Bergleute in Großbritannien und den USA die Führung über-nahmen), denn die Arbeiterbewegungen versuchten überall, das, wassie in den 1960er und frühen 1970er Jahren erkämpft hatten, zu er-halten. Im Rückblick können wir darin Rückzugsgefechte zur Ver-teidigung von Bedingungen und Privilegien sehen, die im Zusam-menhang mit der erweiterten Reproduktion und dem Wohlfahrts-staat erzielt worden waren, statt einer progressiven, eine Umgestal-tung anstrebenden Bewegung. Zum größten Teil scheiterten dieseRückzugsgefechte. Parallel zu der anschließenden Abwertung vonArbeitskraft und der stetigen relativen Herabsetzung der Arbeiter-klasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bildete sichdann in fast allen Entwicklungsländern ein riesiges, amorphes und

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 69: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

68

unorganisiertes Proletariat. Dadurch entstand überall ein Druck aufdie Tarifsätze und die Arbeitsbedingungen. Leicht auszubeutendeNiedriglohn-Arbeiterschaften in Verbindung mit der zunehmendenLeichtigkeit der geographischen Mobilität der Produktion eröffne-ten neue Möglichkeiten für den profitablen Einsatz überschüssigenKapitals. Doch dies verschärfte sofort das Problem der Entstehungüberschüssigen Kapitals weltweit. Nichtsdestotrotz stieg die Arbeits-losigkeit und Lohnsätze und Militanz der Arbeiterklasse wurden inSchach gehalten. Der Schuldenüberhang des Staates eröffnete vieler-lei Chancen für spekulative Aktivitäten, die wiederum die Staats-macht verwundbarer für finanzielle Einflüsse machten. Kurz gesagt,das Finanzkapital rückte in dieser Phase der US-Hegemonie in denMittelpunkt des Interesses und konnte sowohl auf Arbeiterbewe-gungen als auch auf Staatsaktionen eine gewisse disziplinierendeMacht ausüben, insbesondere dann wenn und dort wo der Staat be-deutende Schulden machte.

Diese ganze Verlagerung hätte ohne eine Reihe von technologi-schen und organisatorischen Neuerungen, die eine viel größere Un-gebundenheit und Flexibilität der Produktion ermöglichten, nichtso weitreichende Auswirkungen gehabt. Verringerungen der Trans-portkosten, verbunden mit politischen Veränderungen durch Regie-rungen auf allen Ebenen, um ein positives Geschäftsklima zu bietenund einige der festen Kosten eines Standortwechsels zu überneh-men, förderten eine geographische Mobilität des Produktionskapi-tals, durch die das zunehmend hypermobile Finanzkapital erstarkte.Der Wandel zur Finanzmacht brachte den USA zwar große direkteGewinne ein, doch die Auswirkungen auf ihre eigene industrielleStruktur waren durchaus traumatisch, wenn nicht katastrophal. Off-shore-Produktion wurde möglich und das Profitstreben machte siewahrscheinlich. Die Wellen der Deindustrialisierung trafen einen In-dustriezweig nach dem anderen und eine US-amerikanische Regionnach der anderen, angefangen bei Gütern mit geringer Wertsteige-rung (wie Textilien), doch Schritt um Schritt die Wertsteigerungs-skala hinaufsteigend über Sektoren wie Stahl und Schiffbau bis hinzu Hightech-Importen, insbesondere aus Ost- und Südostasien.Selbst Chrysler musste sich von der Bundesregierung aus der Pat-

Kapitel 2

Page 70: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

69

sche helfen lassen (und wurde für kurze Zeit effektiv verstaatlicht),um eine Schließung zu vermeiden. Die USA waren Mittäter bei derUnterhöhlung ihrer Dominanz im Produktionssektor, indem sie dieFinanzmächte rund um den Globus entfesselten. Der Nutzen be-stand jedoch in immer billigeren Gütern aus dem Ausland, um denunendlichen Konsum, dem die USA sich verschrieben hatten, mitNahrung zu versorgen. Die Abhängigkeit der USA vom Auslands-handel stieg und die Notwendigkeit, asymmetrische Handelsbezie-hungen aufzubauen und zu schützen, trat als Schlüsselziel der poli-tischen Macht in den Vordergrund.

Um 1980 herum wurde klar, dass die Herstellung in den USAinzwischen nicht mehr als ein Komplex unter vielen war, der in ei-nem von starker Konkurrenz geprägten globalen Umfeld agierte, unddass sie nur durch (zumindest zeitweise) Überlegenheit in den Be-reichen Produktivität, Produktdesign und Entwicklung überlebenkönnte. Kurz gesagt, sie war nicht mehr hegemonial. Sie benötigtedie Hilfe der Regierung (wie das Plaza-Abkommen von 1985, eineVereinbarung, den Dollar gegenüber dem Yen abzuwerten, um dieUS-amerikanischen Produkte im Export wettbewerbsfähiger zumachen – eine Taktik, die in den 1990er Jahren umgekehrt werdenmusste, weil die japanische Herstellung stagnierte). Einige spezielleSektoren – beispielsweise das Agrobusiness und die Rüstungsindus-trie – waren immun, aber der Rest war in allem zu radikalen Anpas-sungen gezwungen, von Produktionstechniken bis hin zu den Be-ziehungen zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft. In den Be-reichen, in denen US-amerikanische Firmen stark blieben, verlager-te das Aufkommen der Offshore-Produktion von Komponentenoder sogar ganzen Produkten mehr und mehr Produktivkapazitätenaußer Landes, auch wenn durch die Repatriierung der Profite immernoch reiche Erträge in die USA strömten. Auf anderen Gebietenboten die Privilegien von mit patentierten Technologien und Lizenz-rechten zusammenhängenden Monopolen willkommene Entlastungvom Dahinschwinden der US-amerikanischen Dominanz im Pro-duktionsbereich. Die USA bewegten sich mehr und mehr in Rich-tung einer Rentiergesellschaft gegenüber dem Rest der Welt und ei-ner Dienstleistungsgesellschaft innerhalb des Landes. Doch es kam

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 71: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

70

genügend Wohlstand zusammen, um den Konsumgeist fortleben zulassen, der schon immer die Grundlage für den sozialen Frieden ge-wesen war.

International erwies sich das Finanzkapital als immer unbestän-diger und räuberischer. Diverse Runden der Entwertung und Zer-störung von Kapital wurden verhängt (gewöhnlich durch das Wohl-wollen der strukturellen Anpassungsprogramme des IWF), weil esnicht gelang, die Kapitalakkumulation durch erweiterte Reproduk-tion weiterhin reibungslos ablaufen zu lassen. In einigen Fällen, zumBeispiel in Lateinamerika in den 1980er Jahren, wurden ganze Öko-nomien geplündert und ihre Vermögenswerte durch das US-ameri-kanische Finanzkapital sichergestellt. In anderen fand schlicht einExport der Abwertung statt. Der Angriff von Hedgefonds auf diethailändische und die indonesische Währung 1997, unterstützt durchdie vom IWF geforderte brutale Deflationspolitik, trieb selbst ren-table Unternehmen überall in Ost- und Südostasien in den Konkurs.Resultat waren Arbeitslosigkeit und Verarmung von Millionen Men-schen. Diese Krise verursachte passenderweise auch eine Zuflucht-suche in den Dollar, was die Dominanz der Wall Street festigte undeinen erstaunlichen Boom der Vermögenswerte für die Wohlhaben-den in den USA nach sich zog. In den Klassenkampf mengten sichStreitpunkte wie die vom IWF auferlegten strukturellen Anpassun-gen, die räuberischen Aktivitäten des Finanzkapitals und der Ver-lust von Rechten durch Privatisierungen. Der Antiimperialismusnahm einen feindseligen Ton gegenüber den Hauptvertretern der Fi-nanzialisierung an – wobei das Hauptaugenmerk sich häufig auf IWFund Weltbank richtete.

Schuldenkrisen innerhalb bestimmter Länder (zwei Drittel derIWF-Mitglieder machten nach 1980 eine finanzielle Krise durch,manche mehr als zwei Mal) konnten jedoch genutzt werden, um dieinternen gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion überall dortneu zu organisieren, wo durch die Krisen die weitere Durchdrin-gung mit externem Kapital gefördert wurde.40 Einheimische Finanz-

Kapitel 2

40 Siehe a.a.O., S. 49, zur Häufigkeit von Schuldenkrisen.

Page 72: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

71

systeme, einheimische Produktmärkte und florierende einheimischeFirmen wurden auf diese Weise aufgebrochen für die Übernahmedurch US-amerikanische, japanische oder europäische Firmen. Nied-rige Profite in den Kernzonen konnten dadurch aufgebessert wer-den, dass man sich von den im Ausland zu erzielenden höheren Pro-fiten ein Stück abschnitt. Das, was ich »Akkumulation durch Ent-eignung« nenne (siehe Kapitel 4), erhielt für den globalen Kapitalis-mus eine zentrale Bedeutung (und Privatisierung wurde eines seinerSchlüsselelemente). Der Widerstand auf diesem Gebiet wurde in-nerhalb der antikapitalistischen und antiimperialistischen Bewegungwichtiger als der in Arbeitskämpfen, wie sie durch erweiterte Re-produktion typischerweise hervorgerufen werden.

Kern des Systems war der Wall-Street-US-Finanzministerium-Komplex, doch hatte es viele multilaterale Aspekte. Die Finanzzen-tren von Tokio, London, Frankfurt und vielen anderen Orten warenTeil der Handlung, während die Finanzialisierung ihr Netz um dieganze Welt herum auswarf und sich dabei auf eine hierarchisch ge-ordnete Reihe von Finanzzentren und eine transnationale Elite vonBankleuten, Börsenmaklern und Finanziers konzentrierte. In die-sem Zusammenhang entstanden transnationale kapitalistische Un-ternehmen, die zwar in dem einen oder anderen Nationalstaat eineBasis haben mochten, sich aber in einer Weise über die Weltkarteausbreiteten, die in früheren Phasen des Imperialismus undenkbargewesen waren (die Trusts und Kartelle, die Lenin und Hilferdingbeschrieben, waren alle sehr eng an bestimmte Nationalstaaten ge-bunden). Das war die Welt, die das Weiße Haus unter Clinton miteinem allmächtigen, von der Spekulantenseite der Wall Street rekru-tierten Finanzminister, Robert Rubin, durch einen zentralisiertenMultilaterismus zu managen versuchte (verkörpert durch den so ge-nannten Washington-Konsens aus der Mitte der 1990er Jahre). DerMultilaterismus war immer stärker um eine Regionalisierung derWeltwirtschaft herum organisiert, mit einer vorherrschenden Tria-den-Struktur aus Nordamerika (NAFTA), Europa (der EU) und demloseren, auf Handelsbeziehungen gegründeten Interessenbündnis inOst- und Südostasien. Nach der Festigung der neoliberalen Grund-regeln, offene Finanzmärkte und relativ freie Zugänglichkeit, schien

Wie Amerikas Macht wuchs

Page 73: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

72

die Gefahr gering, dass diese regionalen Gebilde in die vom Wett-kampf geprägte Autarkie zurückfallen würden, die sich in der Zeitvor dem Zweiten Weltkrieg als so destruktiv erwiesen und eine wich-tige Rolle dabei gespielt hatte, einem zwischenkapitalistischen Kriegden Boden zu bereiten. Innerhalb dieser Triaden-Struktur schien esjedoch klar, dass die USA, aufgrund ihres riesigen Verbrauchermarkts,ihrer überwältigenden Finanzkraft und ihrer Reserve unangefochte-ner Militärmacht, immer noch die Haupttrümpfe in der Hand hiel-ten.

Und, um das Maß voll zu machen, schaffte das Ende des KaltenKrieges plötzlich eine lange bestehende Bedrohung des Gebiets derglobalen Kapitalakkumulation aus dem Weg. Die Bourgeoisie hattetatsächlich gemeinsam die Erde geerbt. Fukujama prophezeite dasnahe bevorstehende Ende der Geschichte. Einen Moment lang schienes, als hätte Lenin Unrecht und Kautsky Recht gehabt – ein Ultra-imperialismus auf der Grundlage einer »friedlichen« Zusammenar-beit aller großen kapitalistischen Mächte (jetzt symbolisiert durchdie ehemals als G 7 bekannte Gruppierung, inzwischen zur G 8 er-weitert, um Russland zu integrieren, wenn auch unter Führung derUSA) war möglich – und der kosmopolitische Charakter des Fi-nanzkapitals (symbolisiert durch die Zusammenkünfte des Weltwirt-schaftsforums in Davos) sollte seine Gründungsideologie sein.41

Aber es wäre falsch zu glauben, diese finanzielle Macht, so ehr-furchtgebietend sie auch tatsächlich war, sei allmächtig und könneihren Willen ohne Einschränkung durchsetzen. Es liegt gerade inder Natur der Finanzialisierung, dass sie ständig verwundbar ist durchihre Beziehung zur Produktion von Werten durch industrielle undlandwirtschaftliche Tätigkeit. Inmitten all der Plünderungen und Ab-wertungen bildeten sich neue und signifikante Komplexe der indus-triellen Produktion. In Ost- und Südostasien z.B. erwiesen sich re-gionale Komplexe wie das Perlflussdelta (Guangdong) in China oderpolitisch gelenkte Ökonomien wie Singapur und Taiwan nicht nurals Meister der Anpassung an finanziellen Druck, sondern waren

Kapitel 2

41 P. Anderson, »Internationalism: A Breviary«, New Left Review, 14 (3/2002), 20, bemerkt, wie es zu »Kautskys Vision« kam, und dass liberale Theore-tiker wie R. Keohane diesen Zusammenhang bereits festgestellt hatten.

Page 74: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

73Wie Amerikas Macht wuchs

sogar in der Lage, eine oppositionelle Kraft zu bilden, um die Ver-wundbarkeit des Finanzkapitals – das sich jetzt stark in den USAsowie in Europa und Japan konzentrierte – für die Produktion realerWerte zu demonstrieren. Die Tatsache, dass viele der industriellenProduktionskomplexe auf die Region eines Staates oder sogar meh-rerer Staaten konzentriert waren, hat aus Gründen, die ich in Kapi-tel 3 ansprechen werde, erhebliche Bedeutung. Subtile Taktiken zumGegenangriff auf die Hegemonie der USA im Bereich Finanzen ent-standen in den Zwischenräumen der Produktionswelten. Das warablesbar an den steigenden Handelsbilanzüberschüssen, insbeson-dere in Ost- und Südostasien. Die Rückführung dieser Überschüssein das finanzielle System ließ es jedoch scheinen, als sei die Wall Streetimmer noch das maßgebliche Zentrum des Finanzuniversums. Da-her hatte es zwar Phasen gegeben (wie in den 1980er Jahren), in de-nen die Hegemonie der USA sowohl intern als auch extern offen inFrage gestellt wurde, doch Ende der 1990er Jahre hatten diese Zwei-fel sich größtenteils zerstreut. Die Sicherheit der USA und ihre fi-nanzielle Vorherrschaft in der Welt waren offenkundig. Der Boomin Vermögenswerten innerhalb der USA und der Aufstieg der »NewEconomy«, aufgebaut auf angeblich starken Produktivitätszuwäch-sen und einer ganzen Ansammlung von Internetfirmen, ließ die US-amerikanische Wirtschaft rasch genug wachsen, um den Rest der Weltin eine Kapitalakkumulation von respektabler Geschwindigkeit hi-neinzuziehen. Der Konsum, die goldene Regel des inneren Friedensder USA, schnellte in den Vereinigten Staaten und den anderen Zen-tren des fortgeschrittenen Kapitalismus in die Höhe.

Dieses System steht jetzt vor ernsthaften Schwierigkeiten. Wie1973-75 sind die Ursachen vielfältig, aber diesmal machen es dieUnbeständigkeit und chaotische Fragmentierung der Machtkonflikteinnerhalb des politisch-wirtschaftlichen Lebens schwer zu erkennen,was hinter all dem Schall und Rauch (insbesondere des finanziellenSektors) geschieht. Aber so wie die Krise von 1997/98 zeigte, dassdas Hauptzentrum der überschüssigen produktiven Kapazität in Ost-und Südostasien lag (und man versuchte, die Abwertung auf dieseRegion zu beschränken), hat die rasche Erholung einiger Teile desost- und südostasiatischen Kapitalismus (insbesondere von Südko-

Page 75: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

74 Kapitel 2

rea) das allgemeine Problem der überschüssigen Kapazität (Überak-kumulation) wieder in den Vordergrund der weltweiten Angelegen-heiten gedrängt. Der Zusammenbruch der viel gefeierten »New Eco-nomy« zu einem Schutthaufen gescheiterter Internetfirmen in denUSA, gefolgt von Buchführungsskandalen, die in dramatischer Wei-se zeigten, dass »fiktives« Kapital sich allzu leicht als uneinlösbarerweisen kann, unterhöhlte nicht nur die Glaubwürdigkeit der WallStreet, sondern stellte die ganze Beziehung zwischen Finanzkapitalund Produktion in Frage. Die Drohung einer massiven Abwertungdes Kapitals zeichnete sich ab und angesichts des Falls der Vermö-genswerte existierten greifbare Zeichen dafür, dass diese Drohungbereits Wirklichkeit zu werden begann (am dramatischsten bei denRentenfonds, die sich immer schwerer damit taten, ihren Obligatio-nen nachzukommen).

Entweder müssen neue Arenen der profitablen Kapitalakkumu-lation eröffnet werden (wie etwa in China) oder es muss, sollte dasmisslingen, eine neue Runde der Kapitalabwertung eingeläutet wer-den. Es fragt sich: Wer wird die Hauptlast einer neuen Abwer-tungsrunde tragen? Wo wird die Axt fallen? Auch der Trend zur»Regionalisierung« innerhalb der Weltwirtschaft erweckt zunehmendBesorgnis. Man beginnt, einen Anklang an den geopolitischen Wett-kampf zu hören, der in den 1930er Jahren so zerstörerisch wurde.Dass die USA 2002 die Regeln der WTO gegen Protektionismusdurch die Auferlegung von Zöllen auf Stahlimporte vielleicht nichtdem Wortlaut, aber doch dem Grundgedanken nach fallen ließen,war ein besonders unheilvolles Zeichen. Das Platzen der Spekulati-onsblase enthüllte die Verwundbarkeit der USA durch Wertverlus-te. Die zunehmende Geschwindigkeit der Rezession, die schon frühim Jahr 2001 offensichtlich wurde, lieferte nach einem Jahrzehnt odermehr der spektakulären (wenn auch »irrationalen«) Überschwäng-lichkeit und des eifrigen Konsums weitere Belege für diese Verwund-barkeit, lange vor dem Schock, den die Ereignisse des 11. Septemberdem System versetzten. Sollte die goldene Regel der unablässigenZunahme des Konsums in den USA bald gebrochen werden?

Eine wichtige Störungszone stellt die rasche Verschlechterung derSituation der US-amerikanischen Zahlungsbilanz dar. »Die gleichen

Page 76: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

75Wie Amerikas Macht wuchs

explodierenden Importe, die die Weltwirtschaft [in den 1990er Jah-ren] antrieben«, schreibt Brenner, »ließen das US-amerikanische Han-dels- und das Leistungsbilanzdefizit in Rekordhöhen steigen undführten zu Verbindlichkeiten gegenüber überseeischen Eigentümernin noch nie da gewesenen Höhen« und »der historisch beispiellosenVerwundbarkeit der US-Ökonomie für die Kapitalflucht und denZusammenbruch des Dollars«.42 Doch diese Verwundbarkeit bestehtauf beiden Seiten. Wenn der US-Markt zusammenbricht, werden dieÖkonomien, die auf diesen Markt als Abfluss für ihre überschüssi-gen Produktionskapazitäten zählen, mit ihm untergehen. Die Be-reitwilligkeit, mit der die Verantwortlichen der Zentralbanken inLändern wie China, Japan und Taiwan Geld verleihen, um die US-amerikanischen Defizite abzudecken, ist durchaus nicht ohne Ei-geninteresse: So finanzieren sie den US-amerikanischen Konsum, derden Markt für ihre Produkte bildet. Jetzt stellen sie möglicherweisesogar fest, dass sie die Kriegsanstrengungen der USA finanzieren.

Aber die Hegemonie und Dominanz der USA ist, wieder einmal,bedroht, und dieses Mal scheint die Gefahr akuter zu sein. Ihre Wur-zeln liegen darin, dass man sich einseitig auf das Finanzkapital alsMittel zur Behauptung der Hegemonie verlassen hat. Arrighi (derdarin Braudel folgt) weist darauf hin, dass die Erweiterung des Fi-nanzsektors »nicht nur die Reife eines bestimmten Entwicklungs-stadiums der kapitalistischen Weltwirtschaft« anzeige, »sondern auchden Beginn eines neuen Stadiums«.43 Wenn die Finanzialisierung einmöglicher Auftakt zum Übergang der Vorherrschaft von einemHegemon auf einen anderen ist (wie es historisch der Fall war), scheintes, als sei die Wende der USA zur Finanzialisierung in den 1970erJahren ein selbstzerstörerischer Zug gewesen. Das Defizit (sowohlintern als auch extern) kann sich nicht unendlich unkontrolliert indie Höhe schrauben, und die Fähigkeit und Bereitschaft anderer (vorallem in Asien), es zu finanzieren, sind nicht unerschöpflich. Dasbloße Ausmaß der an die USA gezahlten Unterstützung ist erstaun-

42 R. Brenner, Boom & Bubble: Die USA in der Weltwirtschaft (Hamburg:VSA-Verlag, 2003).

43 Arrighi und Silver, Chaos and Governance, S. 31-33.

Page 77: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

76 Kapitel 2

lich, Anfang 2003 stieg sie auf 2,3 Milliarden Dollar täglich. Jedesandere Land der Welt in einer solchen makroökonomischen Verfas-sung wäre längst schonungslosen Austeritäts- und Strukturanpas-sungsprogrammen von Seiten des IWF unterworfen worden. Aberder IWF ist die USA. Wie Gowan bemerkt: »Washingtons Fähigkeitzur Manipulation des Dollarkurses und zur Ausnutzung der inter-nationalen finanziellen Vorherrschaft der Wall Street versetzte dieUS-amerikanischen Behörden in die Lage, das zu vermeiden, wasandere Staaten tun mussten: die Zahlungsbilanz im Auge behalten,die einheimische Wirtschaft so anpassen, dass im Land Einsparun-gen und Investitionen sichergestellt sind, die Höhe der öffentlichenund privaten Verschuldung beobachten, für ein effektives einheimi-sches System der Finanzintermediation sorgen, um die starke Ent-wicklung des einheimischen Produktionssektors sicherzustellen.« DieUS-Ökonomie hatte »einen Fluchtweg aus all diesen Aufgaben« undist infolgedessen »nach allen normalen Maßstäben kapitalistischerStaatsbilanzierung stark beeinträchtigt und instabil« geworden.44

Die Macht des Wall-Street-US-Finanzministerium-IWF-Komple-xes ist sowohl symbiotisch mit als auch parasitär gegenüber einemdurch Zwang auferlegten Finanzsystem, das auf dem so genanntenWashington-Konsens fußt und später durch die Errichtung einerneuen internationalen Finanzarchitektur erweitert wurde. Diese ist,schreibt Soederberg, eindeutig »ein Anhang des Staates USA«, wennsie auch ebenso den Interessen »der transnationalen Bourgeoisie ins-gesamt« dient.45 Doch die Disziplinierung, sogar Zerstörung der inOst- und Südostasien konzentrierten »interventionistischen« Staa-ten macht es verlockend, aus dem System Reißaus zu nehmen, ähn-lich wie es Malaysia tat, als es plötzlich und recht erfolgreich dieneoliberalen Spielregeln umstieß, die Disziplin des IWF verweiger-te und Kapitalkontrollen verhängte, wie man sie seit den 1960er Jah-ren nicht mehr gesehen hatte. Es ist nicht klar, wie weit man gehenkann, ehe sich regionale Bündnisse bilden, abspringen und damit dem

44 Gowan, The Global Gamble, S. 123.45 S. Soederberg, »The New International Financial Architecture: Imposed

Leadership and ›Emerging Markets‹«, in Panitch/Leys (Hrsg.), Socialist Re-gister 2002, S. 175-192.

Page 78: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

77Wie Amerikas Macht wuchs

Washington-Konsens einen Pfahl ins Herz treiben und die Strukturder neuen Finanzarchitektur unterhöhlen, die bisher so vorteilhaftfür die USA gewesen ist. Wie die Zölle auf den Stahlimport zeigen,ist ebenso wenig klar, dass die USA sich an die Spielregeln haltenwerden. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen,dass die Verabschiedung der WTO-Vereinbarungen durch den US-Senat die Vorbehaltsklausel enthielt, dass die USA jeden WTO-Ent-scheid ignorieren und verweigern könnten, den sie für grundlegendunfair gegenüber den US-Interessen hielten (womit die USA die ver-traute Haltung einnahmen, von ihrem Vorrecht auszugehen, sowohlRichter als auch Geschworene zu sein).

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sind überall Widerstandund Ressentiments gegen die Macht des Wall-Street-US-Finanzmi-nisterium-IWF-Komplexes zu spüren. Eine weltweite globalisie-rungskritische Bewegung (deren Form sich ziemlich von derjenigender Klassenkämpfe unterscheidet, die in den Prozessen der erweiter-ten Produktion verankert sind) formiert sich zu einer alternativenGlobalisierungsbewegung mit viel Unterstützung von der Basis. Po-pulare Bewegungen gegen die US-Hegemonie von ehemals fügsa-men untergeordneten Mächten, insbesondere in Asien (Südkorea istein einschlägiger Fall), aber jetzt auch in Lateinamerika, drohen, denWiderstand an der Basis in einen staatlich gelenkten, wenn nicht garentschieden nationalistischen Widerstand gegen die US-Hegemonieumzuformen. Das sind die Bedingungen, unter denen der Antiim-perialismus eine andere Färbung anzunehmen beginnt, die ihrerseitswiederum hilft, innerhalb der USA klarer zu definieren, wie das ei-gene imperialistische Projekt möglicherweise aussehen muss, wennsie ihre hegemoniale Position erhalten wollen. Wenn die Hegemonieschwach wird, besteht die Gefahr einer Hinwendung zu viel stärkerzwangbasierten Taktiken der Form, wie wir sie jetzt im Irak erleben.

MöglichkeitenDie Möglichkeiten für die USA sind begrenzt. Arrighi und seineKollegen stellen sich zwar keine ernsthafte externe Herausforderungvor, kommen aber zu dem Schluss, dass die USA ein sogar noch grö-ßeres Potenzial haben als Großbritannien vor einem Jahrhundert,

Page 79: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

78 Kapitel 2

ihre im Niedergang begriffene Hegemonie in eine ausbeuterischeVorherrschaft zu verwandeln. Wenn das System schließlich zusam-menbricht, dann hauptsächlich aufgrund des Widerstands der USAgegen Anpassung und Übereinkünfte. Umgekehrt sind Übereinkünf-te und Anpassung der USA an die aufsteigende Wirtschaftsmachtder ostasiatischen Region eine notwendige Bedingung für einen nicht-katastrophalen Übergang in eine neue Weltordnung.46

Dass sich die Bush-Regierung dem Unilateralismus zugewandthat, mit Zwang statt Konsens, mit einer viel offener imperialistischenVision und im Vertrauen in ihre unanfechtbare Militärmacht, deutetauf eine sehr risikobehaftete Herangehensweise an die Aufrechter-haltung der US-Vorherrschaft hin, die fast sicher durch militärischeBefehlsgewalt über die weltweiten Ölvorräte erfolgen soll. Da sichgleichzeitig die Zeichen für den Verlust der Vorherrschaft im Pro-duktions- und jetzt (wenn auch bislang weniger eindeutig) auch imFinanzsektor mehren, ist die Versuchung, eine ausbeuterische Vor-herrschaft anzustreben, groß. Ob dies später zu einem katastropha-len Zerfall des Systems führen wird oder nicht (vielleicht durch eineRückkehr zu Lenins Szenario der gewaltförmig ausgetragenen Kon-kurrenz zwischen kapitalistischen Machtblöcken) ist schwer abzu-wägen und schon gar nicht vorherzusagen.

Die USA könnten jedoch den von ihnen avisierten Imperialismuswenn schon nicht aufgeben, dann doch herunterstufen durch einemassive Umverteilung des Wohlstands innerhalb ihrer Grenzen undeine Umadressierung von Kapitalströmen in die Produktion und dieErneuerung der physischen und sozialen Infrastruktur (dramatischeVerbesserungen des staatlichen Bildungssystems und die Reparaturoffensichtlich nicht mehr funktionierender Teile der Infrastrukturwären ein guter Anfang). Eine industrielle Strategie zur Neubele-bung ihres immer noch beachtlichen Produktionssektors würde eben-falls helfen. Wenn sie sehr weit gehen wollten, würde diese Strategieauch eine interne Umorganisation der Machtbeziehungen zwischenden Klassen und solche Maßnahmen zur Veränderung der sozialen

46 Arrighi und Silver, Chaos and Governance, 288f.

Page 80: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

79Wie Amerikas Macht wuchs

Beziehungen einschließen, die zu erwägen die USA schon seit demBürgerkrieg systematisch ablehnen. Staatlich subventionierter Kon-sum müsste durch Projekte ersetzt werden, die am öffentlichen Wohlorientiert sind. Doch dies würde sogar noch mehr Defizitfinanzie-rung und/oder höhere Steuern erforderlich machen sowie eine star-ke staatliche Lenkung, und genau darüber auch nur nachzudenkenweigern sich die Kräfte der vorherrschenden Klassen innerhalb derUSA hartnäckig; jeder Politiker, der einen solchen Maßnahmenka-talog vorschlägt, wird ziemlich sicher von der kapitalistischen Pres-se und ihren Ideologen niedergeschrien und angesichts der überwäl-tigenden Macht des Geldes ebenso sicher jede Wahl verlieren. Unddoch könnte in der momentanen Situation ein massiver Angriff in-nerhalb der USA sowie anderer Kernländer des Kapitalismus (ins-besondere in Europa) auf die Politik des Neoliberalismus und dieKürzungen der Staats- und Sozialausgaben paradoxerweise eine derwenigen Möglichkeiten sein, den Kapitalismus von innen vor seinerNeigung zur Selbstzerstörung und zu Krisen zu schützen. Ein neu-er »New Deal« ist das absolute Minimum, aber es ist überhaupt nichtsicher, dass dies wirklich angesichts der überwältigenden Überschuss-kapazitäten innerhalb des globalen Systems funktionieren würde. Esist lehrreich, sich der Lektionen der 1930er Jahre zu erinnern: Sehrwenig spricht dafür, dass Roosevelts »New Deal« das Problem derDepression löste. Die Mühen eines Krieges zwischen den kapitalis-tischen Staaten waren nötig, um die territorialen Strategien wiederzurechtzurücken, so dass die Wirtschaft wieder auf einen stabilenPfad der anhaltenden und großflächigen Kapitalakkumulation ge-bracht werden konnte.

Noch mehr einem politischen Selbstmord innerhalb der USA kämees gleich, versuchte man durch Selbstdisziplin die Sorte Austeritäts-programm durchzusetzen, die der IWF typischerweise über andereverhängt. Jeder Versuch externer Mächte, dies zu tun (beispielsweisedurch Kapitalflucht und Zusammenbruch des Dollars), würde mitSicherheit eine brutale politische, wirtschaftliche oder sogar militä-rische Reaktion der USA nach sich ziehen. Es ist schwer vorstellbar,dass die USA so etwas friedlich akzeptieren, sich auf das phänome-nale Wachstum Ostasiens einstellen und, wie Arrighi vorschlägt, ein-

Page 81: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

80 Kapitel 2

gestehen würden, dass wir uns mitten in einem großen Umschwungin Richtung Asien als dem hegemonialen Zentrum globaler Machtbefinden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten stillund leise abtreten werden.47 Dies würde in jedem Fall eine radikaleUmorientierung des ostasiatischen Kapitalismus – für die es bereitseinige Anzeichen gibt (wie wir in Kapitel 3 sehen werden) – von derAbhängigkeit vom US-Markt zur Kultivierung eines Binnenmarktsinnerhalb Asiens erforderlich machen. Das graduelle Abziehen vonGeldmitteln aus den USA hätte katastrophale Folgen. Aber eineimmer weiter wachsende Verschuldung ist ein gefährlicher Weg, denKonsum innerhalb der USA am Leben zu halten, von der Finanzie-rung eines Krieges ganz zu schweigen. Die Lektion aus der Krisevon 1973-75 war, dass die kapitalistische Logik irgendwann auf denUrheber zurückfällt und die Unmöglichkeit einer immerwährendenKanonen-plus-Butter-Strategie bloßlegt.

Das ist der Kontext, in dem die Bush-Regierung vor unseren Au-gen dazu übergeht, ihre militärischen Muskeln spielen zu lassen –die einzige eindeutig absolute Macht, die ihr noch geblieben ist. DasunverblümteReden von einem Imperium als politische Option istwohl der Versuch, die Extraktion eines Tributs vom Rest der Welthinter einer Rhetorik zu verbergen, nach der die USA allen Friedenund Freiheit bringt. Die Kontrolle über die Ölvorkommen ist einzweckmäßiges Mittel, um auf jede innerhalb der Weltwirtschaft dro-hende – wirtschaftliche oder militärische – Machtverschiebung zuantworten. Die gegenwärtige Situation stinkt nach einer Wiederho-lung der Vorfälle von 1973, da Europa und Japan ebenso wie Ost-und Südostasien (inzwischen, was ausschlaggebend ist, auch China)sogar noch stärker vom Golföl abhängig sind als die USA. Solltendie USA erfolgreich den Sturz sowohl Chavez’ als auch Saddamseinfädeln, sollte es ihnen gelingen, ein bis an die Zähne bewaffnetes

47 Die schwer sinngebend zu übersetzende Formulierung lautet im Original:»It is unlikely that the U.S. will go quietly and peacefully into that goodnight.«Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine literarische Referenz auf dasGedicht des amerikanischen Poeten Dylan Thomas (1914-1953): »Do Not GoGentle Into That Good Night« (Anm. d. Red.).

Page 82: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

81Wie Amerikas Macht wuchs

saudi-arabisches Regime zu stabilisieren oder zu reformieren, dasmomentan auf dem losen Sand autoritärer Herrschaft basiert (undin unmittelbarer Gefahr schwebt, in die Hände des radikalisiertenIslams zu fallen), sollten sie (was möglich scheint) in der Lage sein,vom Irak zum Iran weiterzugehen und ihre Position in der Türkeiund Usbekistan als strategische Präsenz im Bezug auf die Ölvorräteim Kaspischen Becken zu konsolidieren (in die die Chinesen ver-zweifelt versuchen, sich einzukaufen), dann könnten die USA hof-fen, durch die eiserne Kontrolle über den globalen Ölhahn effektivdie Kontrolle über die Weltwirtschaft zu behalten und ihre eigeneDominanz für die nächsten 50 Jahre zu sichern. Aber, wie Friedmanin den in der Einleitung zitierten Passagen bemerkt, hängt viel da-von ab, ob die USA die Welt davon überzeugen können, dass es ih-nen bei der Ausübung ihrer Führungsrolle um die Entwicklung kol-lektiver Macht geht und sie selbst als Garant für die globale allge-meine Ölversorgung fungieren, oder ob sie aus Eigeninteresse han-deln, um ihre Position auf Kosten anderer zu sichern. Verlegen siesich, kurz gesagt, auf Vorherrschaft durch Zwang oder auf Führungdurch Hegemonie? Am wahrscheinlichsten ist, dass sie versuchenwerden, ersteres als Taktik zu verfolgen und sie mit letzterem zuverschleiern. Aber dass es nicht gelang, volle internationale Unter-stützung für den Einmarsch im Irak zu erhalten, deutet darauf hin,dass ein Großteil der Welt den Motiven der USA misstrauisch ge-genübersteht.

Die Gefahren dieser Strategie in der Golfregion sind immens. Esist mit gewaltigem Widerstand zu rechnen, nicht zuletzt in Europaund Asien, und kaum weniger in Russland und China. Das Wider-streben in den UN, insbesondere Frankreichs, Russlands und Chi-nas (das in den 1990er Jahren Zugang zur irakischen Ölförderungerhielt), einer US-amerikanischen Militärinvasion im Irak zuzustim-men, illustriert das. Und die interne Dynamik des antiamerikani-schen Kampfs in der Golfregion ist so unvorhersagbar wie komplex.Es besteht ein beträchtliches Potenzial für die Destabilisierung dergesamten Region von Pakistan bis Ägypten. Die anmaßende Sicht,die ganze Struktur der politischen Macht und territorialen Organi-sation der Region – von den Briten und Franzosen willkürlich als

Page 83: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

82 Kapitel 2

Zusatz zum Versailler Vertrag errichtet – könne unter der Führungder USA und ihrer Verbündeten umgestaltet und stabilisiert wer-den, ist schlicht zu weit hergeholt, um sie in Betracht zu ziehen (ob-gleich es innerhalb der US-Regierung Strategen gibt, die dies an-scheinend für möglich halten).

Gerade hier sind die USA jedoch in der Lage, ihren höchstenTrumpf auszuspielen – militärische Dominanz – und dies wenn nö-tig mit Zwang durchzusetzen. Wir kennen die politische Strategie indiesem Bereich ganz genau aus den in den letzten etwa zehn Jahrenherausgegebenen Dokumenten der Verteidigungspläne. Sie bestehtdarin, die militärische Vorrangstellung um jeden Preis aufrechtzuer-halten und die Entstehung jeglicher Konkurrenz-Supermacht zuverhindern und zu bekämpfen. Die Ausbreitung von Massenvernich-tungswaffen jeder Art soll verhindert werden und die USA solltenbereit sein, zu diesem Zweck falls nötig präventive Gewalt anzu-wenden. In den Clinton-Jahren wurde dies in die Fähigkeit über-setzt, aktiv zwei regionale Kriege gleichzeitig zu führen (und dieBeispiele, die man 1995 zu Planungszwecken auswählte, waren be-zeichnenderweise Irak und Nordkorea). Doch die Cheney-Wolfo-witz-Doktrin, zuerst in den letzten Jahren der früheren Bush-Re-gierung aufgestellt und im »Projekt für das neue Amerikanische Jahr-hundert« konsolidiert (das interessanterweise ebenso wie Luce da-mals die Territorialität einer Imperialmacht im begrifflichen Nebeleines »Jahrhunderts« verbirgt), ging noch weiter. Feste Bündnisse(wie die NATO) sollen aufgegeben werden (da diese zu stark ein-schränken), und man sollte von Fall zu Fall Ad-hoc-Koalitionen ein-gehen. Auf diese Weise wären die USA nicht mehr an die Stand-punkte ihrer Verbündeten gebunden. Die USA behalten sich dasRecht auf einen Alleingang mit überwältigender militärischer Feu-erkraft vor, sollte dieser nötig sein. Sie erheben offen Anspruch aufdas Recht eines Präventivschlages zur Abwehr atomarer, biologi-scher oder chemischer Angriffe, zur Sicherung des Zugangs zu stra-tegischen Schlüsselrohstoffen (wie Öl) und zum Schutz gegen terro-ristische Angriffe oder andere Bedrohungen (wie wirtschaftlicheErdrosselung). An diesen Dokumenten zur Verteidigungsstrategievon 1991/92 ist besonders interessant, wie genau ihren Verordnun-

Page 84: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

83Wie Amerikas Macht wuchs

gen jetzt gefolgt wird. Armstrong kommt nach einer genauen Un-tersuchung dieser Dokumente zu dem Schluss: »Der Plan ist, dassdie USA die Welt beherrschen. Das offen ausgesprochene Thema istUnilateralismus, aber letztlich geht es um Vorherrschaft. Gefordertwird, dass die USA ihre überwältigende militärische Überlegenheitaufrechterhalten und verhindern, dass neue Rivalen aufsteigen undsie auf der Weltbühne herausfordern. Gefordert wird die Herrschaftüber Freunde ebenso wie über Feinde. Der Plan lautet nicht, die USAmüssten mächtiger oder am mächtigsten sein, sondern sie müsstenabsolut mächtig sein.«48

Das Paradoxe in all dem ist, wie Armstrong weiter bemerkt, dassdie USA nun, nachdem sie geholfen hat, die Sowjetunion zu Fall zubringen, genau die politische Strategie verfolgen, für die dieses »Reichdes Bösen« verurteilt und bekämpft wurde. Die USA sollten, wieColin Powell es plastisch ausdrückt, der »Schikanierer rund um denBlock« (»the bully on the block«) sein. Der Rest der Welt würde diesgerne akzeptieren, beteuerte er des weiteren selbstbewusst, weil manden USA »vertrauen kann, dass sie diese Macht nicht missbrauchen«.

Darin liegt noch eine weitere mögliche Paradoxie: Wenn die Sow-jetunion wirklich durch Überlastung ihrer Wirtschaft aufgrund desRüstungswettrennens zu Fall gebracht wurde, werden dann die USAin ihrem blinden Streben nach militärischer Vorherrschaft die wirt-schaftliche Grundlage ihrer eigenen Macht unterminieren? Ihre re-gionalen militärischen Engagements sind gewaltig und nehmen wei-ter zu. Die USA gaben schon vor der militärischen Massierung inder Golfregion 4 bis 5 Milliarden Dollar pro Jahr für die Patrouillendort aus. Die Bush-Regierung hat bereits um fast 75 Milliarden Dol-lar für den Krieg ersucht, und das nur bis September 2003. Plausib-len Schätzungen zufolge ist es unwahrscheinlich, dass die Gesamt-kosten weniger als 200 Milliarden Dollar betragen werden, und hier-bei geht man davon aus, dass keine unvorhergesehenen Katastro-phen wie regionale Zersplitterungen oder ein ausgedehnterBürgerkrieg eintreten. Und die »normalen« von den USA eingeplan-

48 D. Armstrong, »Dick Cheney’s Song of America: Drafting a Plan for Glo-bal Dominance«, Harper’s Magazine, 305 (Okt. 2002), S. 76-83.

Page 85: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

84 Kapitel 2

ten Militärausgaben sind so hoch wie die der gesamten übrigen Welt.Die Gefahr der Überdehnung ist bedenklich, zumal sich das Defizitim Bundeshaushalt immer drohender in der Finanzlandschaft ab-zeichnet und Haushaltskrisen auf nationaler und lokaler Ebene sichbereits deutlich auf dem Gebiet der Bereitstellung von öffentlichenDiensten bemerkbar machen. Es ist zweifelhaft, ob die seit Roose-velt bestehende goldene Regel – dass die Ausgaben für imperialisti-sche Zwecke im Ausland der endlosen Aufwärtsspirale des heimi-schen Konsums nicht in die Quere kommen sollten – weiter beibe-halten werden kann. Die USA werden nicht nur kostbares Blut fürÖl und den Erhalt einer kränkelnden Hegemonie opfern müssen;möglicherweise werden sie auch ihre ganze Lebensweise zu opfernhaben. Die kapitalistische Logik der Macht wird die territoriale Lo-gik, der man jetzt folgt, in Stücke reißen.

Regional- und GegenhegemoneDie triadische regionale Struktur innerhalb der Weltwirtschaft, beider eine Spitzenstellung Nordamerikas unterstellt wird, ist nicht un-bedingt ein stabiles Gefüge. Es hat den Anschein, als beinhaltetendie formalen Übereinkünfte in der Europäischen Union die Mög-lichkeit einer integrierten europäischen Wirtschaft, die mindestensso groß und mächtig wäre wie die der Vereinigten Staaten. Das min-deste, was sich hier ankündigt, ist die Entstehung eines Regionalhe-gemons, möglicherweise auch eines echten Konkurrenten der USA.49

Die kapitalistische Logik innerhalb der EU, wenn auch in keinsterWeise spektakulär, scheint recht gut zu funktionieren. Verkettungenund vernetzte Wirtschaftsbeziehungen breiten sich rasch über ganzEuropa aus, und das Potenzial, den Dollar als Leitwährung der Wahlin Frage zu stellen, ist zwar schwach, aber nichtsdestotrotz real (Sad-dams Vorschlag, seine Ölverkäufe in Euros statt in Dollars abzuwi-ckeln, könnte durchaus ein weiterer signifikanter Grund für die USAgwesen sein, im Irak auf einem Regimewechsel statt bloß einer Ent-waffnung zu bestehen). Aber politisch besteht die EU aus Fragmen-

49 Mittelman, The Globalization Syndrome.

Page 86: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

85Wie Amerikas Macht wuchs

ten und ihre allgemeine territoriale Logik bleibt vage. Die USA ha-ben alle möglichen Hebel, um zu teilen und zu herrschen und da-durch die Entwicklung jeder klaren territorialen Logik auf europäi-scher Ebene zu durchkreuzen. Sie versuchen die Entstehung einer»Festung Europa« durch eine Doppelstrategie zu verhindern: (a)durch ihr Beharren auf den Regeln des Neoliberalismus als Basis fürAustauschbeziehungen und Kapitalströme (daher die große Bedeu-tung der WTO) und (b) durch die Beibehaltung bestimmter politi-scher und militärischer Hebel, durch die sie die interne Politik derEU beeinflussen können. Dies beinhaltet die Aufnahme von Gesprä-chen mit einzelnen europäischen Staaten auf bilateraler Grundlagestatt mit Europa als Ganzem und die Kultivierung spezieller Bünd-nisse (z.B. mit Großbritannien, Spanien und Italien sowie mit derje-nigen Reihe von Ostblockstaaten, mit Polen in ihrem Zentrum, diebald beitreten werden). Obgleich die USA jetzt selbst beabsichti-gen, feste Bündnisse aufzugeben und trotz deren allgemeiner Irrele-vanz nach dem Ende des Kalten Krieges halten sie teilweise deswe-gen noch an der NATO fest, weil diese die europäische Militärpla-nung und -entwicklung unter US-amerikanischer Befehlsgewalt hält.Die USA unterstützen beispielsweise die Idee, dass Europa seine ei-gene militärische schnelle Einsatztruppe entwickelt, aber nur unterder Bedingung, dass sie unter Befehlsgewalt der NATO bleibt. DieTatsache, dass NATO und EU nicht deckungsgleich sind, ist ein kla-rer Vorteil für die USA, denn sie macht den Ausbau der territorialenLogik der letzteren zu einer vereinten politischen und militärischenKraft sogar noch schwerer.

Die Uneinigkeit innerhalb der EU, hauptsächlich zwischen pro-amerikanischen Ländern und denen, die eine unabhängige Politikdurchsetzen wollen, ist momentan zu schwerwiegend, als dass einegemeinsame außen- und militärpolitische Strategie vorstellbar wäre.Es ist unwahrscheinlich, dass die EU in sehr naher Zukunft eine ver-einte Basis hervorbringen wird, mit deren Hilfe sie ihre eigene »ter-ritoriale Logik« in der Welt zur Geltung bringen könnte. Aber aufdiesem Gebiet können sich die Dinge schnell ändern, insbesonderewenn die US-Regierung dem europäischen Standpunkt weiterhin mitsolch einer vernichtenden Mischung aus Geringschätzung und har-

Page 87: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

86 Kapitel 2

ter Nichtbeachtung begegnet. Die EU stellt mit Sicherheit einen Re-gionalhegemon dar, doch ihr Potenzial, mit der USA zu konkurrie-ren, ist gegenwärtig auf die Gebiete der Produktion und der Finan-zen beschränkt.

Zu diesem Zeitpunkt erscheint die Infragestellung der US-ameri-kanischen Vorherrschaft durch Ost- und Südostasien viel schwer-wiegender. Finanzielle und produktive Macht sind in der Regionweiterhin akkumuliert worden, was zu einem Abfließen von Machtaus Nordamerika und in einem geringeren Maß aus Europa geführthat. Im Gegensatz zu Europa lassen sich in der Region wenig An-zeichen für einen Versuch erkennen, eine formale Struktur politisch-militärischer Macht aufzubauen, und die Beziehungen zwischen denStaaten sind eher ein Netzwerk als eine formale Struktur, eher kapi-talistisch als territorial. Jedenfalls üben die USA gegenwärtig in ei-nem Maß politische und militärische Kontrolle über die Regierun-gen von Japan, Taiwan und Südkorea aus, das jede unabhängige po-litische Maßnahme dieser Länder unmöglich machen würde. Dahermutet es zwar unwahrscheinlich an, dass sich irgendeine vereinteterritoriale Logik der Macht in der Region entwickeln wird, aber dieMacht der kapitalistischen Logik wirkt immer überwältigender undähnelt immer stärker der eines künftigen Hegemons in der Welt-wirtschaft, insbesondere da das Schwergewicht China und, in einemgeringeren Maße, Indien immer mehr Teil der Gleichung werden.Ich werde die wirtschaftlichen Folgen dieser Veränderungen in Ka-pitel 3 aufgreifen, aber eine politische und militärische Frage ergibtsich doch, weil China nicht in derselben Weise wie Japan von denUSA dominiert wird und es die Fähigkeit und, wie es gelegentlichscheint, auch den Willen hat, eine territoriale Führungsrolle inner-halb der gesamten Region einzunehmen. Die politische und militä-rische Eindämmung Chinas wäre ebenso wesentlich für den Erhaltder globalen US-Hegemonie wie die Politik des Teilens und Herr-schens in Europa. Und dabei wäre, wie ich in Kapitel 1 festgestellthabe, die Kontrolle über die Ölvorräte im Mittleren Osten den US-Interessen sehr förderlich, sollten die USA es je für nötig halten, diegeopolitischen Ambitionen Chinas im Zaum zu halten. Bei all demgilt es jedoch das empfindliche Gleichgewicht zu halten zwischen

Page 88: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

87Wie Amerikas Macht wuchs

einer so großen Offenheit der Welt, dass sich die kapitalistische Lo-gik relativ frei von Beschränkungen entfalten kann, und einer so gro-ßen Stabilität und Einschränkung der territorialen Logik, dass sichjegliche groß angelegte Herausforderung der militärischen und poli-tischen Vormacht der USA verhindern lässt.

Doch sind dies nicht die einzig vorstellbaren Formationen terri-torialer Macht. Die relative Festigkeit territorialer Übereinkünftespricht zwar gegen Unbeständigkeit, aber im Wesen von Bündnis-sen sind schnelle Veränderungen möglich und treten auch tatsäch-lich ein. Als beispielsweise Anfang 2003 die US-amerikanische Poli-tik gegenüber dem Irak ein sogar von China unterstütztes Überein-kommen zum Widerstand zwischen Frankreich, Deutschland undRussland schuf, ließen sich die blassen Umrisse eines eurasischenMachtblocks ausmachen, der, Halford Mackinders vor langer Zeitgetätigten Vorhersage zufolge, die Welt mit Leichtigkeit geopolitischdominieren könnte. Dass die USA schon lange vor einem solchenMachtblock Angst hatten, wurde in ihrer heftigen Reaktion auf deGaulles Annäherung an die Sowjetunion in den 1960er Jahren undWilly Brandts Ostpolitik der 1970er Jahre offensichtlich. Henry Kis-singer stellte klar, dass die USA immer noch viel von einer solchenAusrichtung zu befürchten haben, als er bemerkte, diese neue Ori-entierung kündige die Rückkehr zu einem Gleichgewicht der Kräftean, wie es für das 19. Jahrhundert typisch war, und reuevoll hinzu-fügte, es sei in diesem Fall »nicht offensichtlich, dass die USA verlie-ren werden«, womit er die sehr reale Möglichkeit eingestand, dasssie es könnten.50 Die Tatsache, dass die Bush-Regierung ein so furcht-erregendes Gegenbündnis in weniger als einem Jahr provozierenkonnte, illustriert, wie schnell es zu geopolitischen Umorientierun-gen kommen kann und wie leicht katastrophale Fehler Jahre der sorg-fältigen Kultivierung diplomatischen und militärischen Schutzeszunichte machen können. Die US-Invasion im Irak nimmt damiteine noch weitergehende Bedeutung an. Sie stellt nicht nur einenVersuch dar, durch Dominanz im Mittleren Osten den globalen Öl-

50 Zitiert in P. Tyler, »Threats and Responses. News Analysis: A DepeningFissure«, New York Times, 6. März 2003, S. 1.

Page 89: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

88 Kapitel 2

hahn und damit die Weltwirtschaft zu kontrollieren. Sie bildet aucheinen mächtigen Brückenkopf für das US-Militär auf die eurasischeLandmasse, der den USA, gemeinsam mit ihren sich versammeln-den Verbündeten von Polen bis hinunter auf den Balkan, eine mäch-tige geostrategische Position in Eurasien einbringt. Dadurch hättendie USA zumindest das Potenzial, jede Konsolidierung von eurasi-scher Macht zu durchbrechen – denn diese könnte tatsächlich dernächste Schritt jener unendlichen Akkumulation politischer Machtsein, die die ebenso unendliche Kapitalakkumulation stets begleitenmuss.

Das Ende des Kalten Krieges wies eindeutig auf bevorstehendegroße Veränderungen hin. Die territoriale Logik der Macht ist dabeisich zu verändern, aber das Ergebnis ist in keinster Weise sicher. Jetztist auch offensichtlich, dass die territoriale und die kapitalistischeLogik in einem Zustand hoher Spannung existieren. Unter Bush istdie territoriale Logik deutlich geworden, was der Grund dafür ist,dass die Rede von imperialer Macht und neuem Imperialismus der-zeit so stark auf die USA konzentriert ist. Aber das Gleichgewichtder wirkenden Kräfte innerhalb der kapitalistischen Logik weist ineine ganz andere Richtung. Wie sich das alles entwickeln wird, hängtdaher stark von einem besseren Verständnis der Funktionsweise derkapitalistischen Logik der Macht ab. Das ist die Frage, die ich inKapitel 3 aufgreifen werde.

Page 90: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

89

Kapitel 3Die Unterjochung des Kapitals

Dass der Kapitalismus so lange trotz diverser Krisen und Umorga-nisationen und unter beunruhigenden Voraussagen seines bevorste-henden Ablebens von Linken wie von Rechten überlebt hat, ist einRätsel, das der Erläuterung bedarf. Lefebvre zum Beispiel glaubteden Schlüssel in seinem berühmten Kommentar gefunden zu haben,der Kapitalismus überlebe durch die Produktion von Raum, aberleider erklärte er nicht genau, wie oder warum dies der Fall sein könn-te.51 Gewiss hielten sowohl Lenin als auch Luxemburg, wenn auchaus recht verschiedenen Gründen und unter Gebrauch recht verschie-dener Argumentationsformen, den Imperialismus – eine bestimmteForm der Produktion und der Verwendung des globalen Raums –für des Rätsels Lösung, doch war diese Antwort in beiden Fällenbegrenzt und daher voller eigener unüberwindbarer Widersprüche.

In diesem Kontext habe ich in einer Reihe von Publikationen, dievor mehr als zwanzig Jahren begann, eine Theorie der »räumlichenFixierung« (genauer gesagt, der »raum-zeitlichen Fixierung«) zu deninneren Widersprüchen der krisenanfälligen Kapitalakkumulationvorgestellt.52 Der zentrale Punkt dieser Argumentation betrifft einechronische Tendenz des Kapitalismus, Krisen der Überakkumulati-on hervorzubringen, die ich theoretisch aus einer Umformulierungder Marxschen Theorie der Tendenz zum Fall der Profitrate gewon-

51 H. Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus: die Reproduktion der Pro-duktionsverhältnisse (München: List 1974).

52 Die meisten dieser Aufsätze aus den 1970er und 1980er Jahren wurden inD. Harvey, Spaces of Capital: Towards a Critical Geography (New York: Rout-ledge, 2001) wiederveröffentlicht. Die Hauptargumentationslinie findet sich auchin D. Harvey, The Limits to Capital (Oxford: Basil Blackwell, 1982; repr. Lon-don: Verso Press, 1999).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 91: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

90

nen habe.53 Solche Krisen äußern sich typischerweise in Kapitalüber-schüssen (in Waren-, Geld- oder Produktivkapazitätsform) und über-schüssiger Arbeitskraft nebeneinander, ohne dass es allem Anscheinnach die Möglichkeit gäbe, sie auf profitable Weise zusammenzu-bringen oder gesellschaftlich nützliche Aufgaben zu verrichten. Deroffensichtlichste Fall war die weltweite Baisse in den 1930er Jahren,als sich die Ausnutzung der Kapazitäten auf dem tiefsten Stand allerZeiten befand, überschüssige Waren nicht verkauft werden konntenund die Arbeitslosigkeit auf ihrem absoluten Höchststand war. DerEffekt war die Abwertung und in manchen Fällen sogar die Zerstö-rung der Kapitalüberschüsse und das Abrutschen der überschüssi-gen Arbeitskräfte in einen erbärmlichen Zustand. Da der Mangel anprofitablen Verwendungsmöglichkeiten den Kern des Problems aus-macht, liegt das wirtschaftliche (im Gegensatz zum sozialen oderpolitischen) Hauptproblem beim Kapital. Wenn eine Abwertungverhindert werden soll, müssen profitable Wege gefunden werden,die Kapitalüberschüsse zu absorbieren. Geographische Ausdehnungund räumliche Umorganisation bieten eine solche Möglichkeit – diesekann aber nicht von den auftretenden zeitlichen Verschiebungengetrennt werden, wenn überschüssiges Kapital in langfristige Pro-jekte verlagert wird, die viele Jahre brauchen, ehe sie ihren Wert durchdie von ihnen unterstützte produktive Aktivität wieder in die Zir-kulation zurückfließen lassen. Da geographische Ausdehnung oftInvestitionen in langlebige physische und soziale Infrastruktur mitsich bringt (beispielsweise in Transport- und Kommunikationsnetz-werke, Bildung, Ausbildung und Forschung), stellt die Herstellungund Umstrukturierung von räumlichen Beziehungen eine wirksameWeise dar, die Neigung zur Ausbildung von Krisensituationen imKapitalismus abzuschwächen, wenn nicht zu unterdrücken. Die US-Regierung versuchte in den 1930er Jahren auf das Problem der Über-akkumulation zu reagieren, zum Beispiel, indem sie zukunftsorien-tierte Arbeitsprojekte an bis dahin nicht erschlossenen Standorteneinrichtete, in der direkten Absicht, die damals verfügbaren Über-

53 Meine eigene Version dieses theoretischen Arguments ist genauer ausge-führt in Harvey, Limits to Capital, Kap. 6 und 7.

Kapitel 3

Page 92: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

91

schüsse an Kapital und Arbeitskraft aufzusaugen (nebenbei bemerktbauten die Nazis die Autobahnen in diesen Jahren mit demselbenGrundgedanken).

Die kapitalistische (im Gegensatz zur territorialen) Logik desImperialismus ist, so meine ich, vor diesem Hintergrund des Aus-findigmachens »raum-zeitlicher Fixierungen« für das Problem desÜberschusskapitals zu verstehen (und es ist, wie ich wiederholenmuss, ein Überschuss an Kapital statt eines Überschusses an Arbeits-kraft, was primär im Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit ste-hen muss). Um zu verstehen, wie dies geschieht, werde ich zunächstbeschreiben, wenn auch schematisch und sehr allgemein, wie das Ka-pital in Raum und Zeit zirkuliert und dabei seine eigene charakteris-tische historische Geographie hervorbringt. Dabei werde ich versu-chen, die dialektische Beziehung zwischen der Politik des Staats unddes Imperiums auf der einen Seite und den molekularen Bewegun-gen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit auf der anderen festim Zentrum der Argumentation zu halten. Daher beginne ich miteinigen grundlegenden Bemerkungen über die große Bedeutung desStaats als territorialisierter Rahmenstruktur, innerhalb derer diemolekularen Prozesse der Kapitalakkumulation ablaufen.

Staatsmacht und KapitalakkumulationDie Kapitalakkumulation über die Realisierung des Werts durch denAustausch auf dem die Preise fixierenden Markt floriert am bestenim Rahmen bestimmter institutioneller Strukturen des Rechts, desPrivateigentums, der Verträge und der Sicherheit der Geldform. Einstarker Staat mit Polizeimacht und einem Gewaltmonopol kann ei-nen solchen institutionellen Rahmen garantieren und ihn mit ein-deutigen Verfassungsübereinkünften untermauern. Staatsbildung inVerbindung mit der Entstehung einer bürgerlichen Verfassungskon-formität waren daher entscheidende Merkmale innerhalb der langenhistorischen Geographie des Kapitalismus.

Kapitalisten benötigen einen solchen Rahmen nicht unbedingt,um zu funktionieren, aber ohne ihn sehen sie sich größeren Risikenausgesetzt. Sie müssen sich schützen in einer Umgebung, die ihreRegeln und ihre Art Geschäfte zu machen möglicherweise nicht an-

Die Unterjochung des Kapitals

Page 93: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

92

erkennt. Kaufleute und Händler können überleben, indem sie ihreneigenen Ehrenkodex und ihre eigenen Verfahrensregeln aufstellen(wie die Geldwechsler auf den Straßen in großen Teilen des Mittle-ren Ostens es noch immer tun). Sie entwickeln Netzwerke des Ver-trauens untereinander (die manchmal auf Familienbanden – wie beiden Rothschilds im 19. Jahrhundert – oder Verwandtschaft beru-hen) und setzen ihre eigene Gewalt ein (wie kapitalistische Kaufleu-te es oft getan haben) entweder innerhalb der Staatsmacht oder ge-gen diese, um ihr Eigentum und ihre Geschäftsaktivitäten gegen dieBedrohung durch feindliche Mächte oder die Staatsmacht zu schüt-zen. Sie müssen sich möglicherweise gegen das Staatsrecht stellen,wenn die Staatsmacht ihren Aktivitäten entweder feindlich gesinnt(wie in vielen früheren kommunistischen Ländern) oder gleichgül-tig gegenübersteht.54 Diese Gesetzlosigkeit kann selbst im Herzenstarker prokapitalistischer Staaten perverse Formen annehmen, mitMafias, Drogenkartellen und ähnlichem. In anderen Fällen könnenKapitalisten sich geschützte Enklaven sichern. Das Stadtrecht desmittelalterlichen Europas schuf Inseln der Bürgerrechte inmitten feu-daler Beziehungen. Die Handelsposten der Ost-Indien-Gesellschaftund der Hudson Bay Company und die heutigen Förderzonen fürausländische Investitionen, beispielsweise in China, sind weitereBeispiele. Die molekularen Prozesse der Kapitalakkumulation kön-nen ihre eigenen Netzwerke und Grundstrukturen der räumlichenOperation in unzähligen Weisen erschaffen und tun dies auch – mitHilfe von Verwandtschaftsbeziehungen, Diasporen, religiösen undethischen Bindungen und sprachlichen Codes stellen sie komplizierte,von den Grundstrukturen der Staatsmacht unabhängige, räumlicheNetzwerke der kapitalistischen Aktivität her.

Nichtsdestotrotz ist die favorisierte Bedingung für kapitalistischeAktivität ein bürgerlicher Staat, in dem Marktinstitutionen und Ver-tragsregeln (einschließlich derer für Arbeitsverträge) rechtlich abge-sichert sind und wo Grundstrukturen der Regulierung in Kraft sind,

54 Ein faszinierender Fall findet sich in L. Zhang, Strangers in the City: Re-configurations of Space, Power and Social Networks within China’s FloatingPopulation (Stanford: Stanford University Press, 2001).

Kapitel 3

Page 94: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

93

um Klassenkonflikte in Schach zu halten und zwischen den Ansprü-chen verschiedener Fraktionen des Kapitals zu schlichten (zum Bei-spiel zwischen den Interessen von Handel, Finanzsektor, produzie-rendem Sektor und Landwirtschafts- und Rentierinteressen). DiePolitik in Bezug auf die Sicherheit des Geldliquidität, des Auslands-handels und die Außenbeziehungen muss ebenfalls zum Vorteil vonGeschäftsaktivitäten strukturiert sein.

Natürlich handeln nicht alle Staaten angemessen, und selbst wennsie das tun, weisen sie eine Vielzahl institutioneller Einrichtungenauf, die sich ganz verschieden auswirken können. Daher hing stetsviel davon ab, wie der Staat eingerichtet ist und von wem, und wasder Staat zu tun in der Lage oder bereit gewesen ist, die Prozesse derKapitalakkumulation entweder zu unterstützen oder zu behindern.Der Staat spielte, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, eine Schlüssel-rolle bei der ursprünglichen Akkumulation, indem er seine Machtnicht nur dafür einsetzte, die Anpassung an oder Übernahme vonkapitalistischen institutionellen Arrangements zu erzwingen, son-dern auch um sich Vermögenswerte erst anzueignen und sie dann zuprivatisieren, wodurch er die ursprüngliche Grundlage für die Ak-kumulation von Kapital legte (offensichtliche Beispiele hierfür sinddie Beschlagnahme kirchlichen Eigentums in der Reformation unddie Einhegung der Allmende durch den Staat in Großbritannien).Doch der Staat nimmt auch auf alle möglichen anderen Weisen Ein-fluss (eine davon ist die Besteuerung). Unterschiede in der Staatsbil-dung und der staatlichen Politik waren immer wichtig. Der britischeStaat, der viel stärker durch kapitalistische Kaufleute beeinflusst war,spielte im Bezug auf die Akkumulation eine ganz andere Rolle alsFrankreich, wo die Interessen der Großgrundbesitzer vorherrsch-ten. Die beiden Länder brachten sogar ganz verschiedene ökonomi-sche Theorien hervor, um ihre Haltungen zu erklären und zu recht-fertigen. Den Briten lag der Merkantilismus von Munns EnglandsSchatz durch den Außenhandel am Herzen, der sich auf die Akku-mulation von Edelmetallen aus dem Handel konzentrierte, währenddie Franzosen der physiokratischen Ansicht anhingen, aller Reich-tum (Wert) leite sich aus dem Land ab und Handel und Industrieseien daher sekundäre und parasitäre Formen der Reichtumsbildung.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 95: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

94

Eine Staatsmacht, die der privaten Akkumulation von Wohlstandfeindlich gegenübersteht, kann – wie es in China lange, bis in diejüngste Zeit der Fall war – die Entwicklung eines Landes behindern.Sozialdemokratische Staaten versuchen typischerweise, die übermä-ßige Ausbeutung der Arbeitskraft einzuschränken und sich hinterdie Klasseninteressen der Arbeiterschaft zu stellen, ohne das Kapitalabzuschaffen. Andererseits kann auch der Staat selbst zu einem Ak-teur der Kapitalakkumulation werden. Die interventionistischen Staa-ten Ost- und Südostasiens (wie Singapur, Taiwan und Südkorea)haben selbst die Dynamiken der Kapitalakkumulation durch ihrHandeln direkt beeinflusst (oft durch die Unterdrückung der Aspi-rationen der Arbeiterschaft). Doch existiert diese Art von staatli-chem Interventionismus schon viel länger. Bismarcks Deutschlandund das Japan der Meijireformen55 stiegen gerade wegen der sehrunterstützenden, ja fast zwingenden Tätigkeit der Staatsmacht zuKapitalakkumulationsräumen mit einer hohen Bedeutung auf. Unddie Tradition des Dirigismus in Frankreich (veranschaulicht durchdie Politik de Gaulles in den 1960er Jahren) gab der Akkumulationdort eine ganz bestimmte Qualität, die das Land von, beispielsweise,Großbritannien unterschied (wie jeder, der das Bahnsystem benutzt,erkennt). Und was die Kämpfe um Hegemonie, Kolonialismus undimperiale Politik sowie profanere Aspekte der Auslandsbeziehun-gen angeht, ist der Staat natürlich seit langem der wesentliche Ak-teur in der Dynamik des globalen Kapitalismus.

Staaten sind nicht die einzigen relevanten territorialen Akteure.Gruppen von Staaten (regionale Machtblöcke, die entweder aus ei-nem informellen Netzwerk bestehen wie in Ost- und Südostasienoder formaler gebildet sein können wie die Europäische Union) kön-nen ebenso wenig übergangen werden wie subnationale Einheiten,etwa Regionalregierungen (Staaten der USA) und Metropolen samt

55 »Meiji« (aufgeklärte Regierung) ist der Name der Regierungszeit von Kai-ser Mutsuhito (1867/68-1912), der eine Reihe umfassender Reformen durch-führte, u.a. Umwandlung des Feudalstaats in eine Monarchie; Umgestaltungvon Heerwesen, Justiz und Verwaltung nach europäischem Muster; Übernah-me von Technik und kapitalistischen Organisationsformen; Einführung einerVerfassung, die Japan zur konstitutionellen Monarchie machte (Anm. d. Übers.).

Kapitel 3

Page 96: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

95

ihrem Umland (Barcelona plus Katalonien oder das Gebiet in derSan Francisco Bay Area). Politische Macht, territorialisierte Staats-führung und Regierung konstituieren sich auf verschiedenen geo-graphischen Ebenen und bilden eine hierarchisch geordnete Reihevon politisch aufgeladenen räumlichen Umgebungen, innerhalb de-rer die molekularen Prozesse der Kapitalakkumulation stattfinden.

Aber die Entwicklung des Kapitalismus nur als Ausdruck vonStaatsmächten innerhalb eines zwischenstaatlichen, von Konkurrenz-kämpfen um Position und Hegemonie geprägten Systems zu be-schreiben – wie es häufig in der Weltsystemtheorie geschieht – istviel zu eingeschränkt. Das ist genau so irrig wie die Darstellung derhistorisch-geographischen Entwicklung des Kapitalismus als voll-kommen unberührt von der territorialen Logik der Macht. Arrighiwirft aber eine wichtige Frage auf: Wie passt die relative Fixiertheitund charakteristische Logik der territorialen Macht mit den im Flussbefindlichen Dynamiken der Kapitalakkumulation in Raum und Zeitzusammen?56 Um das zu beantworten, muss ich zunächst den tat-sächlichen Ablauf der molekularen Prozesse der Kapitalakkumula-tion in Raum und Zeit näher ausführen. Dabei werde ich der Ein-fachheit halber die Existenz angemessener und beständiger instituti-oneller Einrichtungen voraussetzen, abgesichert und arrangiert durchdie Staatsmacht.

Die Herstellung einer RaumökonomieIch habe in einer Anzahl früherer Publikationen eine detaillierteTheorie zu der Frage dargelegt, wie sich aus den Prozessen der Ka-pitalakkumulation eine Raumökonomie entwickelt.57 An dieser Stellegreife ich zusammenfassend nur die Hauptpunkte dieser Argumen-tation auf.

Der Austausch von Gütern und Dienstleistungen (einschließlichder Arbeitskraft) bringt fast immer auch Ortswechsel mit sich. Die-se definieren von vornherein eine Reihe sich überschneidender räum-

56 Arrighi und Silver, Chaos and Governance, S. 48f.57 Harvey, Limits to Capital; ders., Spaces of Capital; ders., The Urban Expe-

rience (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 97: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

96

licher Bewegungen, die eine charakteristische Geographie dermenschlichen Interaktion bilden. Diese räumlichen Bewegungenwerden durch die Reibung, die aus der Überwindung von Entfer-nungen entsteht, eingeschränkt und die Spuren, die sie auf dem Landhinterlassen, bringen unweigerlich die Auswirkungen dieser Reibungzum Ausdruck, daher ballen sich die räumlichen Aktivitäten mei-stens an bestimmten Orten, so dass diese Reibung minimiert wird.Aus diesen miteinander in Wechselwirkung stehenden räumlichenAustauschprozessen entstehen territoriale und räumliche Arbeits-teilung (eine der offensichtlichsten frühen Formen ist die Unterschei-dung zwischen Stadt und Land). Kapitalistische Aktivität erzeugtdamit eine ungleichmäßige geographische Entwicklung, auch ohnegeographische Differenzierung durch Ressourcen und physikalischeMöglichkeiten, die ihr Gewicht zur Logik der regionalen und räum-lichen Differenzierung und Spezialisierung beisteuern. Vom Kon-kurrenzkampf getrieben streben individuelle Kapitalisten innerhalbdieser räumlichen Struktur Wettbewerbsvorteile an und daher ziehtes oder drängt es sie gewöhnlich an Standorte mit niedrigeren Ko-sten oder höheren Profitraten. Das an einem Standort angehäufteüberschüssige Kapital mag an einem anderen Standort Verwendungfinden, wo die Möglichkeiten der Profitproduktion noch nicht aus-geschöpft sind. Standortvorteile erhalten für die individuellen Kapi-talisten eine Funktion, wie sie aus technologischen Vorsprüngen ent-springt, und in bestimmten Situationen kann die eine Funktion dieandere ersetzen.

In gewisser Hinsicht gleicht diese Argumentationsweise der klas-sischen Standorttheorie (wie sie durch von Thünen, Alfred Weberund Lösch dargelegt und später von Isard synthetisiert worden ist).58

Der Hauptunterschied liegt in der Tatsache, dass diese Werke typi-scherweise ein räumliches Gleichgewicht in der geographischenLandschaft kapitalistischer Aktivitäten festzustellen suchten, wäh-rend hier die Prozesse der Kapitalakkumulation als ständig in Aus-dehnung begriffen werden, weshalb sie jede Annäherung an einen

58 W. Isard, Location and the Space Economy (Cambridge, Mass.: MIT Press,1956).

Kapitel 3

Page 98: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

97

Gleichgewichtszustand permanent zerstören. Darüber hinaus gingdie klassische Standorttheorie von einer ökonomischen Rationalitätaus, die wenig mit dem tatsächlichen Verhalten von Kapitalisten zutun hat. Sie definierte beispielsweise das, was sie »die Reichweitevon Gütern« nannte, in Bezug auf denjenigen Kreis um den Mittel-punkt eines gegebenen Produktionsstandortes, an dem der Markt-preis (gemessen an den Kosten für Produktion und Transport) jen-seits dessen lag, was Konsumenten bereit oder in der Lage waren,dafür aufzubringen. Aber Güter tragen sich nicht selbst zu Markte,das tun Kaufleute. Die historische Rolle von Handelskapitalisten gingeinher mit der ständigen Sondierung und Zurückdrängung räumli-cher Barrieren (oft weit hinter das, was als »rationell« zu bezeichnenwäre) und der Erschließung neuer Transportmittel und neuer Räu-me für den Handel. Konfrontiert mit den Grenzen der lokalen Märkteund hohen Transportkosten wurden mittelalterliche Kaufleute bei-spielsweise zu umherziehenden Hausierern, die ihre Waren unter-wegs über riesige Gebiete hinweg verkauften. So wie das durch dieKonkurrenz angetriebene individuelle kapitalistische Verhalten denkapitalistischen Ökonomien starke Impulse eines permanent umwäl-zenden technologischen Dynamismus aufzwingt (da individuelleKapitalisten sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen suchen,indem sie eine überlegene Technologie anwenden), erzeugt es aucheinen Zustand ständiger Bewegung und chronischer Instabilität inder räumlichen Verteilung kapitalistischer Aktivitäten, da Kapitalistennach überlegenen (kostengünstigeren) Standorten suchen. Die geo-graphische Landschaft einer kapitalistischen Produktionsweise undkapitalistischen Tauschs, der kapitalistischen Distribution und Kon-sumtion, existiert nie im Zustand des Gleichgewichts.

Der Wettbewerb innerhalb eines räumlichen Systems ist jedoch,wie die neoklassischen Theoretiker einer Ordnung des Raumes(Chamberlain, Hotelling und Lösch) richtig erkannten, eine Art vonmonopolistischem Wettbewerb.59 Diese merkwürdige Mischform derKonkurrenz entsteht in der ersten Instanz aus den Ausschlussme-

59 E. Chamberlin, The Theory of Monopolistic Competition (Cambridge,Mass.: Harvard University Press, 1933); A. Lösch, Die räumliche Ordnung derWirtschaft (Düsseldorf: Wirtschaft und Finanzen, 2001; Erstausgabe Jena, 1940).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 99: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

98

chanismen, die sich aus der Einzigartigkeit eines gegebenen Stand-ortes ergeben. Der Standort verleiht immer einen gewissen mono-polistischen Vorteil. Das Privateigentum an Grund und Boden bringtganz grundsätzlich eine gewisse monopolistische Macht mit sich:Niemand kann seine Fabrik dort hinstellen, wo meine bereits steht.Und wenn mit meinem Standort ganz spezielle Vorteile verbundensind, gehören diese Vorteile allein mir. Das lässt der kapitalistischenVorliebe für monopolistische Kontrolle statt offenem Wettbewerbinnerhalb einer Raumökonomie freien Lauf. Obgleich die abstrakteTheorie des Kapitalismus (einschließlich ihrer neoliberalen Varian-te) sich ständig auf die Ideale des Wettbewerbs beruft, sind Kapita-listen begierig auf die Monopolmacht, da sie Sicherheit, Berechen-barkeit und eine allgemein etwas friedlichere Existenz bietet. Dar-über hinaus ist das Endprodukt der Konkurrenz das Monopol oderdas Oligopol, und je heftiger die Konkurrenz, desto schneller nähertsich das System einem solchen Zustand an: Man denke an den un-glaublichen Anstieg von Oligopol- und Monopolsituationen in vie-len Wirtschaftssektoren (von Fluglinien und dem Energiesektor bishin zu den Medien und zur Unterhaltung) während der letzten drei-ßig Jahre der neoliberalen Hegemonie in der Wirtschaftspolitik derkapitalistischen Kernstaaten. Räumliche Strategien können und wer-den von Kapitalisten dazu verwendet, wo und wann immer sie kön-nen, die durch Monopole verliehene Macht zu erlangen und abzusi-chern. Die Kontrolle über strategisch wichtige Schlüsselstandorteoder Ressourcenkomplexe ist eine wichtige Waffe. In manchen Fäl-len wird die Macht des Monopols schließlich stark genug, um dieDynamik der kapitalistischen Geographie zu hemmen, womit siestarke geographische Unbeweglichkeits- und Stagnationstendenzenhervorruft. Der aus dem konkurrierenden Profitstreben resultieren-den Tendenz zu einer erheblichen räumlichen Dynamik wird durchdas räumliche Zusammenrücken von Monopolmächten entgegen-gesteuert. Gerade von solchen Zentren gehen typischerweise impe-rialistische Praktiken und Aufrufe zu einer imperialistischen Prä-senz in der Welt aus. Daher hatten Lenin und Hilferding mit ihrerBetonung des bedeutenden Zusammenhangs zwischen der Mono-polisierung und dem Imperialismus Recht.

Kapitel 3

Page 100: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

99

Die Asymmetrien hinsichtlich der Tauschbeziehungen, die inKapitel 2 als für das Verständnis der ökonomischen Logik des Impe-rialismus entscheidend herausgearbeitet worden sind, entstehen ausder monopolistischen Konkurrenz. Die resultierenden Ungleichhei-ten nehmen eine spezifische räumliche und geographische Gestaltan, gewöhnlich in Form der Konzentration von Privilegien undMacht an ganz bestimmten Orten. In der Vergangenheit bestandendurch hohe Transportkosten und andere Handelsbarrieren (wie Zölle,Straßennutzungsgebühren und Einfuhrkontingente) de facto vielelokale Monopole. Ich aß das einheimische Essen und trank das ein-heimische Bier, weil mir die große aus der Entfernung resultierendeReibung keine andere Wahl ließ. Protektionen dieser Art versagenjedoch, wenn die Transportkosten sich verringern und politischeBarrieren durch Institutionen wie die WTO aufgehoben werden. InParis esse ich nun Gemüse aus Kalifornien, und in Pittsburgh trinkeich importiertes Bier von überall auf der Welt. Sogar die Autoher-steller von Detroit, in den 1960er Jahren als exemplarisch für die Artvon Oligopolbedingungen angesehen, die für den von Baran undSweezy so genannten Monopolkapitalismus60 charakteristisch wa-ren, standen plötzlich vor einer ernsthaften Herausforderung durchImporte aus dem Ausland, insbesondere aus Japan. Daher musstenKapitalisten andere Methoden finden, ihre ersehnte Macht der Mo-nopole aufzubauen und zu erhalten. Die beiden Hauptschritte, diesie seither unternehmen, bestehen in der massiven Zentralisierungdes Kapitals, wobei die Dominanz durch die Finanzmacht, Skalen-erträge und die Marktposition und die energische Absicherung dereigenen technologischen Vorsprünge (die, wie ich bereits angespro-chen habe, immer ein möglicher Ersatz für Standortvorteile sind)durch Patentrechte, Lizenzgesetze und das Recht auf geistiges Ei-gentum angestrebt wird. Es ist kein Zufall, dass Letzteres im Mittel-punkt intensiver WTO-Verhandlungen stand, aus denen das so ge-nannte TRIPS-Abkommen (Abkommen über handelsbezogene As-pekte der Rechte des geistigen Eigentums) hervorging.

60 P. Baran und P. Sweezy, Monopolkapital: ein Essay über die amerikanischeWirtschafts- und Geschäftsordnung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 101: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

100

All das verdeutlicht, wie wichtig es ist, Waren, Produktivkapazi-täten, Menschen und Geld im Raum bewegen zu können. Die inner-halb der Transport- und Kommunikationsindustrie vorherrschen-den Bedingungen spielen dabei eine Schlüsselrolle. In der ganzenkapitalistischen Geschichte haben technologische Innovationen aufdiesem Gebiet die Bedingungen der Räumlichkeit (die Reibung derEntfernung) dramatisch verändert und innerhalb der Raumökono-mie des Kapitalismus alle möglichen Instabilitäten hervorgebracht.Die Gründe für die Tendenz zu dem, was Marx »die Vernichtungvon Raum durch Zeit« genannt hat, sind woanders ausführlichdargelegt worden, und ich sehe keinen Sinn darin, sie hier zu wie-derholen.61 Aber was man theoretisch daraus ableiten kann – unddies stimmt mit der historisch-geographischen Bilanz des Kapitalis-mus überein – ist ein unablässiger Trieb zur Verringerung, wenn nichtgar Eliminierung räumlicher Barrieren, verbunden mit ebenso un-ablässigen Impulsen zur Beschleunigung des Kapitalumschlags. DieVerringerung von Kosten und Zeit für Bewegung durch den Raumhat sich als eine der zwingenden Notwendigkeiten einer kapitalisti-schen Produktionsweise erwiesen. Der Trend zur »Globalisierung«ist ihr immanent, und die Entwicklung der geographischen Land-schaften durch die kapitalistischen Aktivitäten wird durch immerweitertreibende Raum-Zeit-Verdichtungen unbarmherzig vorange-trieben.

Eine der weiteren Auswirkungen dieses Prozesses ist ein ständi-ger Impuls zur Veränderung des geographischen Maßstabs, durchden kapitalistische Aktivität bestimmt wird. So wie das Aufkom-men der Eisenbahn und des Telegraphen im 19. Jahrhundert regio-nale Spezialisierungen in Umfang und Vielfalt, und allgemeiner ge-sagt Urbanisierung und »Regionalität«, vollkommen neu organisierthat, so hat die neuerliche Runde von Innovationen (vom Düsenan-trieb und der Umstellung auf Container bis hin zum Internet) denMaßstab verändert, in dem wirtschaftliche Aktivität sich artikuliert.Ohne diese Impulse wäre der sich verändernde Maßstab der Hege-

61 Siehe Harvey, Limits to Capital; ders., The Condition of Postmodernity(Oxford: Basil Blackwell, 1989), Teil III.

Kapitel 3

Page 102: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

101

monialmacht, der in Kapitel 2 festgestellt wurde, materiell unmög-lich und theoretisch unverständlich. Politische Re-Territorialisierun-gen wie die Europäische Union (erträumt während der Aufklärungund aktiv vorgeschlagen von utopischen Denkern wie Saint-Simonim frühen 19. Jahrhundert) werden nicht nur praktikabler, sondernmehr und mehr zu einer wirtschaftlichen Anforderung. Das soll na-türlich nicht heißen, politischer Wandel sei schlicht eine Funktiondieser materiellen Veränderungen in Raumbeziehungen; die Dingestellen sich viel komplizierter dar. Aber sich verändernde Raumbe-ziehungen wirken als notwendige Bedingungen auf die politischenUmstrukturierungen, die wir um uns her beobachten, ein. Dies ist,wie wir in Kürze sehen werden, einer der entscheidenden Punkte, andenen die territoriale und die kapitalistische Logik der Macht sichkreuzen.

Die besonderen Bedingungen in der Transport- und Kommuni-kationsindustrie illustrieren ein allgemeineres Problem. Flüssige Be-wegung durch den Raum kann nur erzielt werden durch die Errich-tung einer gewissen physischen Infrastruktur im Raum. Eisenbahn-netze, Straßensysteme, Flughäfen, Hafenanlagen, Kabelnetzwerke,faseroptische Systeme, Stromnetze, Wasser- und Abwassersysteme,Rohr- und Kanalanlagen usw. bilden das »im Land verankerte fixier-te Kapital« (im Gegensatz zu den Formen fixen Kapitals, wie Flug-zeuge und Maschinen, die mobil sind und von einem Standort zumandern verschoben werden können). Solch eine physische Infrastruk-tur absorbiert eine Menge Kapital, dessen Zurückgewinnung vonihrer Nutzung an der richtigen Stelle abhängt. Kapital, das in eineHafenanlage investiert wurde, in der nie Schiffe anlegen, ist verlo-ren. Während das in einem bestimmten Ort investierte fixierte Ka-pital die räumliche Mobilität für die anderen Formen von Kapitalund Arbeitskraft erleichtert, erfordert die Realisierung seines Wer-tes allerdings, dass die räumlichen Interaktionen der festen geogra-phischen Strukturierung seiner Investitionen folgen. Daher wirkt dasim Land verankerte fixierte Kapital – und das schließt Fabriken,Büros, Wohnraum, Krankenhäuser und Schulen ebenso ein wie inTransport- und Kommunikationsinfrastruktur investiertes Kapital– als gewichtiger Hemmschuh für den geographischen Wandel und

Die Unterjochung des Kapitals

Page 103: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

102

die räumliche Verlagerung der kapitalistischen Aktivität. Auch hiererkennen wir also Kräfte, die eher die geographische Unbeweglich-keit anstatt eine dynamische Entwicklung begünstigen. Beträchtli-che Mengen Kapital sind in die physische Infrastruktur von NewYork City, London oder Tokyo-Yokohama eingesperrt, und wie diekurze Unterbrechung in New York im Gefolge des 11. Septemberzeigte, kann jede Unterbrechung der Kapitalströme in und durchsolche Standorte katastrophale ökonomische Auswirkungen haben.Darüber hinaus eröffnet die charakteristische Strukturierung dieserInvestitionen individuellen Kapitalisten weitere Möglichkeiten, diestandortbedingten monopolistischen Privilegien zu erringen. DerMakler, der rein zufällig das Land kontrolliert, auf dem eine großeKreuzung von Überlandstraßen geplant ist, kann aus dem Wert desLandes einen riesigen Spekulationsgewinn ziehen, ebenso wie ausden Investitionen darauf (wie Büroblocks und Hotels).

Aus der bisherigen Schilderung sollte ersichtlich geworden sein,dass die geographische Landschaft kapitalistischer Aktivität durch-setzt ist von Widersprüchen und Spannungen und dass sie angesichtsdes vielfältigen auf sie einwirkenden technischen und wirtschaftli-chen Drucks instabil bleibt. Die Spannungen zwischen Konkurrenzund Monopol, Konzentration und Zerstreuung, Zentralisierung undDezentralisierung, Fixiertheit und Bewegung, Dynamik und Unbe-weglichkeit, zwischen verschiedenen Ebenen der Aktivität, entste-hen aus den molekularen Prozessen unendlicher Kapitalakkumula-tion in Raum und Zeit. Diese Spannungen werden in die allgemeineExpansionslogik eines kapitalistischen Systems gezogen, in dem dieunendliche Akkumulation von Kapital und das nie endende Strebennach Profiten beherrschend sind. Als Gesamtresultat, wie ich in derVergangenheit oft Anlass hatte zu formulieren, strebt der Kapitalis-mus in seinem ständigen Durst nach unendlicher Kapitalakkumula-tion stets die Errichtung einer geographischen Landschaft an, dieseine Aktivitäten zu einem gegebenen Zeitpunkt erleichtert, nur umsie zu einem späteren zerstören und eine ganz andere Landschaftaufbauen zu müssen. Solcherart ist die Geschichte der schöpferischenZerstörung eingeschrieben in die Landschaft der tatsächlichen his-torischen Geographie der Kapitalakkumulation.

Kapitel 3

Page 104: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

103

Die politische/territoriale gegendie kapitalistische Logik der MachtDie in Raum und Zeit ablaufenden molekularen Prozesse der Kapi-talakkumulation erzeugen passive Revolutionen in der geographi-schen Strukturierung der Kapitalakkumulation. Aber die von mirherausgearbeiteten Spannungen und Widersprüche können auch geo-graphische Konfigurationen hervorbringen, die, zumindest eine Zeitlang, Stabilität erzielen. Ich werde diese relativ stabilen Formen als»Regionen« bezeichnen, womit ich regionale Ökonomien meine, dieein gewisses Maß an strukturierter Geschlossenheit in Produktion,Distribution, Tausch und Konsum erreichen. Die molekularen Pro-zesse fließen sozusagen in der Produktion von »Regionalität« zu-sammen. Das ist natürlich kein einzigartiger Befund. Es ist ein sehrvertrautes Gebiet für viele Geschichts- und Wirtschaftsgeographensowie für Wirtschaftshistoriker wie Sydney Pollard, die die regiona-le Entwicklung und die Entwicklung von Regionen als grundlegen-den Zug in der britischen ökonomischen Entwicklung betonen. Inder Wirtschaftstheorie besteht eine lange Tradition, angefangen beiAlfred Marshall (der die industriellen – jetzt »marshallsche« genann-ten – Distrikte hervorhebt) über Perroux (mit seiner Betonung vonWachstumspolen) bis hin zu Paul Krugman (mit seinem Interesse an»sich selbst organisierenden« regionalen Ökonomien), die die Ent-stehung einer regionalen Organisation als sowohl unvermeidlicheFolge als auch grundlegende Bedingung für das Verständnis derDynamik der Kapitalakkumulation ansieht.62 Politikwissenschaftlerwie Mittelman haben in letzter Zeit die Bedeutung regionaler Orga-nisation sowohl auf supra- als auch auf subnationaler Ebene für dasVerständnis der komplexen Gegenströmungen innerhalb der Welt-wirtschaft betont.63

Die Grenzen von Regionen dieser Art sind immer verschwom-men und durchlässig, doch die ineinandergreifenden Ströme inner-halb ihrer Territorien bringen ausreichend strukturierte Geschlos-

62 P. Krugman, Development, Geography and Economic Theory (Cambridge,Mass.: MIT Press, 1995).

63 Mittelman, The Globalization Syndrome.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 105: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

104

senheit hervor, um ihr geographisches Gebiet in irgendeiner Weiseals charakteristisch gegen alle anderen Gebiete innerhalb einer nati-onalen Ökonomie oder in einem größeren Rahmen abzugrenzen.Strukturierte Geschlossenheit geht gewöhnlich weit über den reinwirtschaftlichen Austausch hinaus, so grundlegend dieser auch seinmag; so umfasst sie typischerweise Einstellungen, kulturelle Werte,Überzeugungen und sogar religiöse und politische Gemeinsamkei-ten zwischen Kapitalisten und den von ihnen Beschäftigten. DieNotwendigkeit, kollektive Güter zu produzieren und zu erhalten,macht es erforderlich, dass ein System der Steuerung eingerichtetund wenn möglich in Regierungssystemen innerhalb der Region for-malisiert wird. Dominante Klassen und Bündnisse hegemonialerKlassen können sich innerhalb der Region bilden und der politischenund wirtschaftlichen Aktivität einen spezifischen Charakter verlei-hen. Ihnen müssen öffentliche Güter ein Anliegen sein und dahersehen sie sich vielleicht gezwungen, sich an deren Bereitstellung zubeteiligen. Die Bildung einer physischen und sozialen Infrastrukturzur Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivitäten, aber auch zurSicherung und Verbreitung kultureller und bildungsbezogener Wer-te und vieler anderer Aspekte des bürgerlichen Lebens verstärkt ty-pischerweise die Geschlossenheit dessen, was sich innerhalb derWeltwirtschaft als regionale Einheit zu entwickeln beginnt. Bestimm-te Handels- und Konkurrenzmuster sowie Spezialisierung und Kon-zentration auf Schlüsselindustrien oder einen bestimmten Techno-logiemix oder auf spezielle Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen undFertigkeiten verknüpfen regionale Ökonomien lose miteinander zueinem strukturierten Ganzen der ungleichmäßigen geographischenEntwicklung. Was an internen Dynamiken und externen Beziehun-gen genau abläuft, hängt von der entstehenden Klassenstruktur undden Formen der Klassenbündnisse ab, die sich um die Fragen derSteuerung herum und durch sie bilden.64

Was es jedoch grundsätzlich zu erkennen gilt, ist dass eine be-stimmte informelle, durchlässige, aber nichtsdestotrotz identifizier-bare territoriale Logik der Macht – »Regionalität« – notwendig und

64 Harvey, The Urban Experience, Kapitel 5.

Kapitel 3

Page 106: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

105

unvermeidlich aus den molekularen Prozessen der Kapitalakkumu-lation in Raum und Zeit entsteht, und dass interregionale Konkur-renz und Spezialisierung in und unter diesen regionalen Ökonomi-en folglich grundlegende Charakteristika für die Funktionsweise desKapitalismus sind. Dies wirft dann die Schlüsselfrage auf: In wel-cher Beziehung steht diese sich herausbildende Regionalität, zu deres durch die in Raum und Zeit ablaufenden molekularen Prozesseder Kapitalakkumulation kommt, zur territorialen Logik der Macht,wie sie sich in der Politik des Staates und des Imperiums ausdrückt?

Die Antwort lautet zunächst, sie haben nicht notwendig direktmiteinander zu tun. Pollard zum Beispiel schätzt, dass die regiona-len Ökonomien, die im Großbritannien des ausgehenden 18. Jahr-hunderts eine Schlüsselrolle bei der Industriellen Revolution spiel-ten, nicht größer waren als gut dreißig Kilometer im Längsschnitt –effektiv kleine Inseln in einer viel bedeutenderen britischen Politik,deren Grenzen mindestens zweihundert Jahre zuvor festgelegt wor-den waren.65 Aber von diesen kleinen Inseln gingen Impulse aus, dieletztlich die ganze Nation verschlingen sollten. Im Lauf der Zeit undmit der Veränderung der Transport- und Kommunikationssystemewuchsen diese kleinen Inseln, schlossen sich zu viel größeren Regio-nen zusammen und ergriffen die Macht, beispielsweise in Birming-ham und den ganzen Midlands, Manchester und dem ganzen südli-chen Lancashire und dem Ballungsraum von West Yorkshire. DieseRegionen wurden so tonangebend, dass ihre Politik und ihre Inter-essen begannen, einen sehr großen, wenn nicht entscheidenden Ein-fluss darauf zu nehmen, wie die Nation insgesamt regiert wurde. Siebrachten sogar ihre eigenen ganz bestimmten Philosophien hervor.So gab die »Manchester-Partei« der Freihändler, angeführt von Cob-den und Bright, ihre speziellen Interessen kühn als diejenigen dergesamten Nation aus. Birmingham, personifiziert in der Figur des»Radikalen Joe« Chamberlain, vertrat, wie wir noch sehen werden,einen ganz anderen Standpunkt. Nichtsdestotrotz kann man zu Rechtsagen, dass die staatliche Politik Großbritanniens insgesamt von re-

65 S. Pollard, Essays on the Industrial Revolution in Britain, Hrsg. ColinHolmes (Aldershot: Ashgate Variorum, 2000), S. 219-271.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 107: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

106

gionalen Interessen vereinnahmt wurde, die nicht notwendigerwei-se denen des übrigen Landes entsprachen (selbst das arme Schott-land hatte selten eine Chance). Die Achse von London durch Bir-mingham und die Midlands hinauf zu den Ballungsgebieten von Lan-cashire und Yorkshire dominierte die britische Politik den größtenTeil eines Jahrhunderts hindurch und verfügt immer noch über hoch-karätige Beziehungen und enorme Macht. Eine derartige Geschich-te könnte man überall in Europa erzählen, und natürlich waren Re-gionen und Gebietsabschnitte in den USA historisch von sehr gro-ßer Bedeutung bei der Verlagerung der Macht aus dem Nordostenund mittleren Westen in den Süden, den Südwesten und an die Pazi-fikküste.66 Das Perlflussdelta und der untere Jangtsekiang (Shang-hai) umfassen dynamische Machtzentren innerhalb Chinas, die dasübrige Land wirtschaftlich (wenn auch nicht unbedingt politisch)dominieren. Das Behältnis territorialer Staat wird, kurz gesagt, oftvon einem dominanten regionalen Interesse oder einer Koalition vonInteressen in ihm eingenommen, das heißt bis eine andere Regionaufkommt, die den Einfluss der ersten neutralisiert oder sie ablöst.Diese Verlagerungen des Einflusses von einer Region auf die andere,von einer Ebene auf die andere sind genau das, was die aus den mo-lekularen Prozessen der unendlichen Kapitalakkumulation herrüh-renden passiven Revolutionen typischerweise leisten. Das allgemei-ne Prinzip ist klar: Regionalität kristallisiert sich ihrer eigenen Logikentsprechend aus den molekularen Prozessen der Kapitalakkumula-tion in Raum und Zeit heraus. Im Laufe der Zeit beginnen die sogeformten Regionen eine entscheidende Rolle dabei zu spielen, wiedie politische Körperschaft des Staates als Ganzes, allein nach einerterritorialen Logik definiert, sich selbst positioniert.

Aber der Staat ist in diesem Prozess nicht unschuldig und auchnicht notwendigerweise passiv. Sobald er die Bedeutung der Förder-ung und Vereinnahmung regionaler Dynamiken als Quelle seiner

66 A. Markusen, Regions: The Economics and Politics of Territory (Totowa,NJ: Rowman & Littlefield, 1987); ders., Profit Cycles, Oligopoly and RegionalDevelopment (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1985); S.-M. Li und W.-S. Tang,China’s Regions, Polity and Economy: A Study of Spatial Transformation in thePost-Reform Era (Hong Kong: Chinese University Press, 2000).

Kapitel 3

Page 108: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

107

eigenen Macht erkennt, kann er versuchen, diese Dynamiken durchseine Politik und seine Handlungsweise zu beeinflussen. Zunächstgeschieht dies vielleicht unversehens. Im 19. Jahrhundert beispiels-weise bauten Staaten Straßen und Kommunikationssysteme haupt-sächlich zu Zwecken der Verwaltung, der militärischen Kontrolleund des Schutzes des Gesamtgebietes. Doch sobald sie gebaut war,bot diese Infrastruktur Wege, die den Strom von Gütern, Arbeits-kraft und Kapital erleichterten. In vielen Fällen entstanden die Ideenzu Investitionen aus mehreren Gründen. Es wird immer noch dis-kutiert, ob Haussmann die neuen Boulevards von Paris nach 1853hauptsächlich baute, um eine aufrührerische Bevölkerung militärischzu kontrollieren oder um die Zirkulation des Kapitals in einer Stadtzu erleichtern, die in der Zwangsjacke eines mittelalterlichen Ge-wirrs von Straßen und Gassen steckte.67 Und obwohl das System dergroßen Highways in den USA mit Sicherheit hauptsächlich aus öko-nomischen Gründen gebaut wurde, legitimierte man es der Öffent-lichkeit gegenüber interessanterweise durch die nachdrückliche Be-rufung auf die nationale Sicherheit und die Verteidigung.

Doch der Staat kann nicht nur durch seine Entscheidungsbefug-nis über infrastrukturelle Investitionen (insbesondere in den Berei-chen Transport und Kommunikation, Bildung und Forschung) Ein-fluss auf die effektive Abstimmung regionaler Differenzierung undDynamik nehmen, sondern auch dadurch, dass er selbst Planungs-gesetze verabschiedet und Verwaltungsapparate einsetzt. Seine Macht,Reformen der für die Kapitalakkumulation wesentlichen Institutio-nen durchzuführen, kann ebenfalls weitreichende Auswirkungenhaben (sowohl positive als auch negative). Als zum Beispiel das ört-liche Bankwesen im Großbritannien und Frankreich des 19. Jahr-hunderts durch Nationalbanken abgelöst wurde, veränderte der freieStrom von Geldkapital quer durch das Nationalgebiet die regiona-len Dynamiken. Und in jüngerer Zeit veränderte die Aufhebung re-striktiver örtlicher Bankgesetze in den USA, gefolgt von einer Wellevon Übernahmen und Fusionierungen von Regionalbanken, das gan-ze Investitionsklima im Land, weg von örtlichen und hin zu offene-

67 D. Harvey, Paris, the Capital of Modernity (New York: Routledge, 2003).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 109: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

108

ren, stärker im Fluss befindlichen regionalen Strukturen. Und inbestimmten Fällen, für die Singapur das beste Beispiel ist, kann einpolitischer Staat sich tatsächlich daranmachen, eine effektive unddynamische Regionalökonomie innerhalb seiner selbst aufzubauen,indem er die molekularen Prozesse der Kapitalakkumulation in Raumund Zeit innerhalb seiner Grenzen systematisch einbezieht. Wie in-zwischen gut bekannt ist, ist ein attraktives Geschäftsklima höchst-wahrscheinlich ein Magnet für den Kapitalstrom, und so scheuenStaaten keine Mühe, um ihre eigene Macht zu vergrößern, indem sieZufluchtsstätten für Kapitalinvestitionen einrichten. Dabei nutzensie, wie immer, die dem Raum inhärente Monopolmacht für denVersuch, das Privileg des Monopols jedem anzubieten, der einenVorteil daraus ziehen kann.

Damit stehen wir vor dem letzten Problem, nämlich, was geschieht,wenn die molekularen Prozesse der Regionenbildung die Grenzendes politischen Staates überlappen oder aus irgendeinem Grund ei-nen Abfluss außerhalb dieser Grenzen erforderlich machen. Es gibtnatürlich einige faszinierende regionale Ökonomien, die sich aufbeiden Seiten einer Staatsgrenze erstrecken – El Paso und CiudadJuarez oder Detroit und Windsor sind interessante Beispiele. Unddie Bildung supra-staatlicher Verwaltungsstrukturen wie die Euro-päische Union oder auch nur eines gemeinsamen Markts wie dieNordamerikanische Freihandelszone NAFTA oder der Gemeinsa-me Markt des Südens (MERCOSUR), können als Lösungen diesesProblems angesehen werden. Aber die entscheidende Frage ist, wasmit dem innerhalb subnationaler regionaler Ökonomien erzeugtenüberschüssigen Kapital geschieht, wenn es nirgendwo innerhalb desStaates eine profitable Verwendung finden kann. Das ist natürlichder Kern des Problems, dem der Drang nach imperialistischen Prak-tiken im zwischenstaatlichen System entspringt.

Aus alldem folgt offensichtlich, dass die geopolitischen Konfliktefast notwendigerweise aus den molekularen Prozessen der Kapital-akkumulation entstehen, ganz egal, welche Ursache sie in den Au-gen der Staatsmacht haben, dass diese molekularen Bewegungen (ins-besondere des Finanzkapitals) die Staatsmacht leicht unterminierenkönnen und dass der politische Staat im fortgeschrittenen Kapitalis-

Kapitel 3

Page 110: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

109

mus die molekularen Ströme mit viel Mühe und Besonnenheit zuseinem eigenen Vorteil lenken muss, sowohl intern als auch extern.Und was den externen Bereich angeht, wird er typischerweise großeAufmerksamkeit auf die Asymmetrien legen, die immer aus demHandel zwischen Räumen entstehen, und versuchen, die Trümpfeder monopolistischen Kontrolle so stark zu machen, wie er kann. Erwird sich, kurz gesagt, notwendig am geopolitischen Kampf beteili-gen und wo er kann auf imperialistische Praktiken zurückgreifen.Wir werden im Folgenden konkreter sehen, wie dies funktioniert.

Die KapitalkreisläufeDie vorangegangene Analyse der raum-zeitlichen Dynamiken be-rücksichtigt zwar gebührend die allgemeinen Widersprüche und In-stabilitäten, ignoriert aber die allgegenwärtige Tendenz des Kapita-lismus, Überakkumulationskrisen zu erzeugen. Jetzt müssen wirgenauer untersuchen, wie die allgemeinen Prozesse der Produktionvon Raum mit den Prozessen der Krisenbildung und -lösung ver-knüpft sind. Da die Verwendung empirischer Beispiele im Folgen-den nützlich sein wird, berufe ich mich auf den empirischen Nach-weis von Brenner, dem zufolge der gesamte Kapitalismus seit den1970er Jahren von einem chronischen und dauerhaften Problem derÜberakkumulation durchzogen ist.68 Damit lässt sich die Unbestän-digkeit des internationalen Kapitalismus seit dieser Zeit als Serie tem-porärer raum-zeitlicher Fixierungen interpretieren, die nicht einmalauf mittlere Sicht die Probleme der Überakkumulation in den Griffbekamen.

Der grundlegende Gedanke der raum-zeitlichen Fixierung istziemlich einfach. Überakkumulation innerhalb eines gegebenen ter-ritorialen Systems bedeutet, es besteht ein Überschuss an Arbeit (stei-gende Arbeitslosigkeit) und an Kapital (in Form einer Schwemmevon Waren auf dem Markt, die nicht ohne Verlust verkauft werdenkönnen, und in Form von nicht ausgelasteten Produktionskapazitä-ten und/oder Überschüssen an Geldkapital, für die keine Abfluss-möglichkeiten in produktive und profitable Investitionen vorhan-

68 Brenner, Boom & Bubble.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 111: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

110 Kapitel 3

Abbildung 1: Der Kapitalkreislauf

Page 112: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

111

den sind). Solche Überschüsse können potenziell absorbiert werdendurch (a) zeitliche Verschiebung durch Investitionen in langfristigeKapitalprojekte oder soziale Ausgaben (wie für Bildung und For-schung), die den Rückfluss der Kapitalwerte in den Wirtschaftskreis-lauf in die Zukunft verlegen, (b) räumliche Verschiebung durch dieErschließung neuer Märkte, neuer Produktionskapazitäten und Res-sourcen und neuer Chancen und Beschäftigungsmöglichkeiten ananderen Orten oder (c) eine Kombination von (a) und (b).

Letzteres ist der interessanteste Fall, aber ich greife zunächst dieausschließlich zeitliche Version auf, die in Abbildung 1 illustriert wird.Kapitalströme werden dem Bereich der unmittelbaren Produktionund des unmittelbaren Konsums (dem primären Kreislauf) entzo-gen und entweder in einen sekundären Kreislauf des fixierten Kapi-tals und der Bildung von Mitteln für den Konsum umgeleitet oder ineinen tertiären der sozialen Ausgaben und Forschung und Entwick-lung. Der sekundäre und der tertiäre Kreislauf absorbieren überschüs-siges Kapital in langfristigen Investitionen. Innerhalb des sekundä-ren Kreislaufs teilen sich die Ströme in gebundenes Kapital für dieProduktion (Produktionsanlagen und Ausrüstung, Stromerzeu-gungskapazitäten, Schienenverbindungen, Häfen usw.) und die Schaf-fung der Mittel für den Konsum (beispielsweise Wohnungen). Oftist eine gemeinsame Nutzung möglich (Autobahnen können sowohlfür Aktivitäten der Produktion als auch des Konsums genutzt wer-den). Ein Teil des Kapitals, das in den sekundären Kreislauf fließt, istim Land verankert und bildet eine Bank physischer Vermögenswer-te an einem bestimmten Ort – eine gebaute Umgebung für Produk-tion und Konsum (von Industrieparks, Häfen und Flughäfen, Trans-port- und Kommunikationsnetzen bis hin zu Wasser- und Abwas-sersystemen, Wohnungen, Krankenhäusern und Schulen). Diese In-vestitionen bilden typischerweise den physischen Kern dessen, wofüreine Region steht. Sie spielen kurz gesagt eine grundlegende Rollebei der Erzeugung von Regionalität und stellen bei weitem nicht nureinen unbedeutenden Sektor der Ökonomie dar. Sie können enormeMengen Kapital und Arbeitskraft absorbieren und tun dies auch,insbesondere, wie wir sehen werden, unter Bedingungen der geo-graphischen Expansion. Was in den tertiären Kreislauf des Kapitals

Die Unterjochung des Kapitals

Page 113: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

112

einfließt – definiert als langfristige Investitionen in soziale Infrastruk-tur – ist in ähnlicher Weise aufgeteilt in Investitionen, die direkt indie Produktion zurückgeleitet werden, etwa für Forschung und Ent-wicklung oder die Ausbildung von Fertigkeiten, und diejenigen, diean der Verbesserung der sozialen Bedingungen der Bevölkerung ori-entiert sind (zum Beispiel durch Bildung und Gesundheitswesen).In fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern absorbiert diese letzteKategorie (zum Beispiel das Budget für das Gesundheitswesen) oftriesige Summen Kapital. Einen Teil dieser Investitionen kann manebenfalls als geographisch unbeweglich ansehen. Ein Bildungssys-tem beispielsweise lässt sich nur schwer transportieren, wenn seineVerwaltung und Finanzen einmal in einem gegebenen Raum organi-siert sind.

Heute erzeugte Überschüsse können im sekundären und tertiä-ren Kapitalkreislauf absorbiert werden und werden dort absorbiert.Diese Investitionen können langfristig produktiv sein, wenn sie zurkünftigen Produktivität des Kapitals beitragen. Dies tritt ein, wenneine besser ausgebildete Arbeiterschaft, Investitionen in Forschungund Entwicklung oder ein effizienteres Transport- und Kommuni-kationssystem den Weg zu einer erhöhten Kapitalakkumulation eb-nen. Ist das der Fall, fließt das überakkumulierte Kapital letztlich inden primären Kapitalkreislauf zurück, aber das kann viele Jahre dau-ern und bis dahin ist vielleicht eine neue Runde der Investitionen inphysische und soziale Infrastruktur erforderlich. Investitionen die-ser Art sorgen, zumindest eine Zeit lang, für Entlastung beim Pro-blem der Überakkumulation. Doch es kann auch Überinvestition inden sekundären und tertiären Kapitalkreislauf auftreten, und dannkommt es zu einem Überschuss an Wohnraum, gewerblich genutz-ten Räumen und Fabrik- und Hafenanlagen sowie zur überschüssi-gen Kapazität etwa im Bildungssystem. In diesem Fall werden Ver-mögenswerte schließlich innerhalb des sekundären oder tertiärenKreislaufs selbst abgewertet.

Überakkumulation innerhalb des sekundären und tertiären Kreis-laufs löst oft allgemeinere Krisen aus. Die Bedeutung all dessen wirdin allgemeinen Darstellungen der Dynamiken der Kapitalakkumu-lation allzu oft vernachlässigt (Brenner zum Beispiel ignoriert es).

Kapitel 3

Page 114: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

113

So war etwa der Ausgangspunkt der Krise von 1973-75 ein weltwei-ter Zusammenbruch der Immobilienmärkte und der Quasi-KonkursNew York Citys kurz darauf; der Anfang einer zehn Jahre währen-den Stagnation in Japan 1990 war der Zusammenbruch des Spekula-tionsmarkts für Land, Immobilien und andere Vermögenswerte, derdas gesamte Bankwesen gefährdete (interessanterweise versuchte diejapanische Regierung regelmäßig durch enorme Ausgaben für staat-liche Bauvorhaben für Ausgleich zu sorgen); der Beginn des asiati-schen Zusammenbruchs von 1997 war das Platzen der Spekulati-onsblase in Thailand und Indonesien, und der wichtigste Halt derUS-amerikanischen und britischen Wirtschaft nach dem Anbruchder allgemeinen Rezession in allen anderen Sektoren ab Mitte 2001war die anhaltende spekulative Dynamik auf dem Immobilien- undWohnungsmarkt und im Baubereich. In einem merkwürdigen Nach-wirkungseffekt lässt sich feststellen, dass das Wachstums des US-amerikanischen BIPs von 2002 zu etwa 20% darauf zurückzuführenwar, dass die Konsumenten ihre Hypothekenschuld für den über-höhten Wert ihres Hauses oder ihrer Wohnung neu finanzierten unddas zusätzliche Geld, das sie so gewannen, für den direkten Konsumausgaben (wodurch sie effektiv das überakkumulierte Kapital imprimären Kreislauf aufnahmen). Die britischen Konsumenten nah-men im dritten Quartal von 2002 19 Milliarden Dollar allein alsHypotheken auf ihre Häuser auf, um ihren Konsum zu finanzieren.Was geschieht, wenn und falls diese Immobilienblase platzt, gibtAnlass zu echter Sorge.69 Wir müssen auch die mögliche Auswir-kung der gewaltigen staatlichen Bauvorhaben, über die die chinesi-sche Regierung momentan nachdenkt, als einen möglichen zumin-dest partiellen Abfluss für die globale Überakkumulation in naherZukunft bedenken (ganz ähnlich wie das System der großen High-ways und seine Nebenwirkungen, die Entstehung von Vororten unddie Entwicklung des Südens und Westens, in den USA der 1950erund 1960er Jahre zur Absorption überschüssigen Kapitals beitrug).

69 C. de Acule, »Keeping a Wary Eye on the Housing Boom«, InternationalHerald Tribune, 23. Januar 2003, S. 11.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 115: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

114

Doch all dies hängt von der entscheidenden Rolle der Finanz-und/oder staatlichen Institutionen ab, den Kapitalstrom zwischenden drei Kapitalkreisläufen hin- und herzuleiten. ÜberschüssigesKapital in Hemden und Schuhen kann nicht direkt in einen Flugha-fen oder ein Forschungsinstitut umgewandelt werden. Staats- undFinanzinstitutionen haben die ausschlaggebende Macht, Guthabenzu generieren und Kredite zu verteilen. Sie schöpfen effektiv einegewisse Menge von – wie man es nennen könnte – »fiktivem Kapi-tal« (Wertpapiere oder Schuldscheine, die keinen materiellen Gegen-wert haben, aber wie Geld verwendet werden können).70 Angenom-men, sie schaffen fiktives Kapital, das in etwa dem in die Produktionvon Hemden und Schuhen eingebundenen überschüssigen Kapitalentspricht, leiten es in zukunftsorientierte Projekte um, sagen wirAutobahnbau oder Bildung und beleben so die Wirtschaft neu (wasvielleicht auch die Nachfrage nach Hemden und Schuhen durch Leh-rer und Bauarbeiter erhöht). Wenn sich die Ausgaben für die gebau-te Umgebung oder sozialen Verbesserungen als produktiv erweisen(wenn sie also in Zukunft effektivere Formen der Kapitalakkumula-tion ermöglichen), werden die fiktiven Werte eingelöst (entwederdirekt durch Schuldenrückzahlung oder indirekt, etwa in Form vonhöheren Steuereinnahmen, mit denen Staatsschulden abbezahlt wer-den können). Die Theorie der produktiven Staatsausgaben, die sichdurch Wachstum und höhere Steuererträge auszahlen, ist häufig indie Praxis umgesetzt worden, wie im Fall der Umgestaltung von Pariswährend des Zweiten Reiches.71 Aber die Theorie funktioniert nichtimmer und Überinvestitionen in gebaute Umgebungen oder in So-zialausgaben können die Entwertung dieser Vermögen oder Schwie-rigkeiten bei der Tilgung von Staatsschulden nach sich ziehen. Inden 1960er Jahren glaubte man beispielsweise in den USA, enormeInvestitionen in Bildung würden sich langfristig bezahlt machen undeine neue Basis für eine erhöhte Akkumulation schaffen. Dies ge-schah im Allgemeinen nicht, und ein Teil der Ursachen für die Fi-

70 Ich führe Marx’ Kategorie des »fiktiven Kapitals« näher aus in Harvey,Limits to Capital, Kapitel 10. Siehe auch S. Strange, Mad Money: When Mar-kets Outgrow Governments (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1998).

71 Harvey, Paris, the Capital of Modernity.

Kapitel 3

Page 116: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

115

nanzkrise des US-amerikanischen Staats (einschließlich derer NewYork Citys), die in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichte,war die Überinvestition in den Aufbau einer physischen und sozia-len Infrastruktur dieser Art (den anderen Teil des Problems bildetendie Kosten des Vietnamkrieges).

Selbst bei finanziellem Scheitern können sich solche Investitio-nen letztlich als unschätzbar wertvoll erweisen, denn viele von ih-nen bleiben als physische Nutzwerte erhalten. Größtenteils aus denUSA (insbesondere aus Baltimore) stammendes überschüssiges Ka-pital floss zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Bau eines großenTeils des Londoner U-Bahn-Systems, das dabei prompt bankrottging, die Tunnel aber für die Verwendung künftiger Generationenstehen ließ. Die klassische Geschichte ist die ImmobiliengesellschaftOlympia & York, die ein Vermögen machte, indem sie bankrotteImmobilien zu Schleuderpreisen aufkaufte und in ein funktionie-rendes Geschäft umwandelte. Olympia & York scheiterten, als sieihr eigenes Projekt am Canary Wharf starteten, und wurden vonBanken übernommen, weil das Projekt keine angemessene Renditeabwarf. Die Banken nahmen eine Wertberichtigung der Immobilienvor und verkauften sie an Investoren, die seitdem offenbar recht or-dentlich an dem Projekt verdienen (Olympia & York erkannten die-se Möglichkeit und wurden Teil eines Konsortiums, um die Immo-bilie zu einem niedrigeren Preis zurückzukaufen!). Wie Marx vor-ausschauend bemerkte, geht die erste Welle von Investoren bei sol-chen Bestrebungen häufig bankrott und das profitable Geschäft bleibtdenen überlassen, die die entwerteten Vermögenswerte zu Tiefst-preisen aufkaufen. Die Entwertung von Aktiva, insbesondere im se-kundären Kapitalkreislauf, kann daher eine wichtige Rolle bei derSchaffung einer frischen Grundlage für die Kapitalakkumulationspielen.

Die raum-zeitliche FixierungDer Ausdruck »Fixierung« hat in meiner Argumentation eine dop-pelte Bedeutung. Ein bestimmter Teil des Gesamtkapitals ist buch-stäblich in physischer Form für eine relativ lange Zeitspanne (ab-hängig von seiner ökonomischen und physischen Lebenszeit) in und

Die Unterjochung des Kapitals

Page 117: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

116

an das Land fixiert. Manche Sozialausgaben (wie das öffentliche Bil-dungswesen oder das Gesundheitssystem) sind durch staatlichesEngagement ebenfalls territorialisiert und geographisch unbeweg-lich. Andererseits ist die raum-zeitliche »Fixierung« die Metapherfür eine bestimmte Art von Reparierung und der Lösung der kapita-listischen Krisen durch die zeitliche Verschiebung und die geogra-phische Ausdehnung.72 Wo und wann also kommen die materielleund die metaphorische Bedeutung zusammen?

Die Produktion von Raum, die Organisation ganz neuer territo-rialer Arbeitsteilungen, die Erschließung neuer und billigerer Res-sourcenkomplexe und neuer Regionen als dynamische Räume derKapitalakkumulation sowie die Durchdringung bereits bestehendergesellschaftlicher Formationen mit kapitalistischen Sozialbeziehun-gen und institutionellen Übereinkommen (wie Vertragsregeln undPrivateigentumsvereinbarungen) stellen wichtige Arten und Weisender Absorption von Kapital und überschüssiger Arbeitskraft dar.Solche geographischen Ausdehnungen, Umstrukturierungen undNeuorganisierungen bedrohen jedoch die Werte, die bereits an ei-nen bestimmten Ort fixiert (im Land verankert) wurden, aber nochnicht realisiert worden sind. Dieser Widerspruch ist unausweichlichund unendlichen Wiederholungen ausgesetzt, denn neue Regionenbenötigen ebenfalls fixiertes Kapital in physikalischen Infrastruktu-ren und bebauten Umgebungen, wenn sie effektiv funktionieren sol-len. Die enormen Mengen des an einen bestimmten Ort fixiertenKapitals wirken als Hemmschuh auf die Fähigkeit, eine räumlicheFixierung anderswo zu verwirklichen. Die Vermögenswerte, die NewYork City ausmachen, waren und sind nicht belanglos, und die Dro-hung ihrer Entwertung 1975 (und erneut 2003) wurde (und wird) zuRecht als Bedrohung nicht nur der Stadt, sondern der ganzen Zu-kunft des Kapitalismus angesehen. Wenn Kapital tatsächlich abge-

72 Der Begriff »spatio-temporal fix« erklärt sich somit aus der doppeltenBedeutung von »to fix« als »fixieren/binden/immobil machen« (»fix[iert]es Ka-pital«) und »to fix« im Sinne von »reparieren/in Ordnung bringen«, mit ande-ren Worten: durch die »Fixierung« von Überschusskapital und überschüssigerArbeitskraft wird die chronische Überakkumulationsproblematik zeitweilig »re-pariert« bzw. abgewendet. (Anm. d. Red.)

Kapitel 3

Page 118: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

117

zogen wird, hinterlässt es eine Spur der Zerstörung und Entwertung;die Deindustrialisierungen im Kernland des Kapitalismus (wie inPittsburgh, Sheffield und an der Ruhr) sowie in vielen anderen Tei-len der Welt (zum Beispiel in Bombay) in den 1970er und 1980erJahren sind einschlägige Fälle. Andererseits, wenn Kapital sich nichtbewegen kann und nicht bewegt, läuft überakkumuliertes KapitalGefahr, direkt durch das Einsetzen einer deflationären Rezession oderDepression entwertet zu werden.

Innerhalb der Dynamik raum-zeitlicher Transformationen erge-ben sich jedoch Widersprüche. Wenn die Überschüsse an Kapitalund Arbeitskraft innerhalb eines gegebenen Territoriums (etwa ei-nes Nationalstaats oder einer Region) bestehen und nicht intern(durch geographische Anpassungen oder Sozialausgaben) absorbiertwerden können, müssen sie, um nicht abgewertet zu werden, woan-ders hingeschickt werden, um ein neues Gebiet für ihre profitableRealisierung zu finden. Dies kann auf viele Arten und Weisen ge-schehen. Märkte für Warenüberschüsse lassen sich an anderen Or-ten finden. Aber diejenigen Gebiete, in die die Überschüsse verscho-ben werden, müssen über Zahlungsmittel wie Gold oder Devisen-rücklagen (z.B. Dollar) oder über handelbare Waren verfügen. Über-schüssige Waren werden verschickt und Geld oder Waren fließenzurück. Das Problem der Überakkumulation wird nur kurzfristiggelindert (es vertauscht den Überschuss lediglich von einer Ware inGeld- oder in andere Warenformen; handelt es sich bei letzteren al-lerdings, wie es oft der Fall ist, um billigere Rohmaterialien oderandere Produktionsmittel, können sie neue Möglichkeiten für dasErzielen von Profiten eröffnen). Wenn das Gebiet keine Rücklagenoder Waren besitzt, mit denen es handeln kann, muss es sie entwederauftreiben (etwa als Großbritannien Indien im 19. Jahrhundert dazuzwang, den Opiumhandel mit China zu eröffnen, um so über das inIndien angebaute Opium an chinesisches Silber zu kommen) oderKredit oder Hilfsmittel erhalten. In letzterem Fall wird dem ande-ren Land Geld geliehen oder gespendet, mit dem es die heimischenüberschüssigen Erzeugnisse kaufen kann. Das taten die Briten mitArgentinien im 19. Jahrhundert und die japanischen Handelsüber-schüsse in den 1990er Jahren wurden größtenteils dadurch absor-

Die Unterjochung des Kapitals

Page 119: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

118

biert, dass man Geld an die USA verlieh, um den dortigen Konsumauch der japanischen Güter zu unterstützen (obgleich die USA indiesem Fall auch den Vorteil hatten, dass sie den Dollar als Zahlungs-mittel drucken und daher die Rechte der Geldschöpfung besitzen;wenn sie dies wünschen, können sie den internationalen Wert desDollars so regulieren, dass sie die Japaner in abgewerteter Währungausbezahlen). Eine der Taktiken der US-amerikanischen Waffenin-dustrie ist es, die Regierung aus Gründen der »Sicherheit« dazu zubringen, einer fremden Regierung Geld zu leihen (in jüngster ZeitPolen), um in den USA hergestellte militärische Ausrüstung zu kau-fen. Markt- und Kredittransaktionen dieser Art können die Proble-me der Überakkumulation in einem bestimmten Gebiet lindern, zu-mindest kurzfristig. Sie funktionieren gut unter Bedingungen un-gleichmäßiger geographischer Entwicklung, in denen den Überschüs-sen in einem Gebiet Angebotslücken und Marktzugänge anderswoentsprechen.

Aber auf das Kreditsystem zurückzugreifen macht Gebiete gleich-zeitig verwundbar für Ströme spekulativen und fiktiven Kapitals,die die kapitalistische Entwicklung sowohl stimulieren als auch un-terminieren und sogar, wie in den letzten Jahren, dazu verwendetwerden können, ihnen brutale Entwertungen aufzuzwingen. DieStaatsverschuldung wurde ab etwa 1980 mehr und mehr zu einemglobalen Problem und vielen der ärmeren Länder (und sogar einigenGroßmächten wie Russland 1998 und Argentinien nach 2001) wares unmöglich, ihre Schulden zu bezahlen, und es drohte ihr Zah-lungsversäumnis. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, richteteman die als Pariser Klub bekannt gewordene ständige Organisationaus 19 Gläubigerländern ein, um Regeln für neue Tilgungspläne fürLänder aufzustellen, die nicht in der Lage sind, ihre Gläubiger aus-zuzahlen. Seit 2000 waren 37Länder gezwungen, diesen Weg einzu-schlagen, und der Druck auf den Pariser Klub, einigen der ärmstenLänder ihre Schulden ganz zu erlassen, ist gewachsen. Was CherylPayer die »Schuldenfalle« nennt, muss jedoch als Prozess der »Ver-einnahmung« selbst der ärmsten Länder durch das System des Kapi-talkreislaufs gesehen werden, so dass sie als »Abfluss« für überschüs-siges Kapital zur Verfügung stehen, für das man sie dann haftbar

Kapitel 3

Page 120: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

119

macht.73 Es ist das Empfängerland, das jegliche Kapitalabwertungausgleichen muss, und das Gläubigerland, das vor einer Entwertunggeschützt ist. Die Ressourcen der Empfängerländer können dannleicht unter den drakonischen Regeln der Schuldenzurückzahlunggeplündert werden.

Der Kapitalexport, insbesondere wenn er von einem Export vonArbeitskräften begleitet ist, funktioniert ganz anders und hat typi-scherweise längerfristige Auswirkungen. In diesem Fall werdenÜberschüsse an Kapital und Arbeitskraft an einen anderen Ort ver-schoben, um in der neuen Region die Kapitalakkumulation in Gangzu setzen. Überschüsse an Kapital und Arbeitskraft, die im 19. Jahr-hundert in Großbritannien entstanden, fanden ihren Weg in die Ver-einigten Staaten und die Siedlerkolonien wie Südafrika, Australienund Kanada, was in diesen Gebieten neue und dynamische Zentrender Akkumulation schuf, in denen eine Nachfrage nach Gütern ausGroßbritannien entstand. Die Auslandshilfe in den USA war in letzterZeit fast immer an den Kauf US-amerikanischer Güter und Dienst-leistungen geknüpft und wirkte dadurch de facto als Stütze der US-Wirtschaft. Da der Kapitalismus in diesen neuen Gebieten viele Jah-re brauchen kann, um so weit heranzureifen (wenn er das jemalstut), dass es auch hier zur Überakkumulation von Kapital kommt,kann das Ursprungsland hoffen, für eine nicht unbeträchtliche Zeit-spanne von diesem Prozess zu profitieren. Das ist insbesondere dannder Fall, wenn die Güter, die anderswo nachgefragt werden, als fi-xiertes Kapital im Land verankert werden sollen. Portfolioinvesti-tionen können den Bau von Schienenverkehr, Autobahnen, Häfen,Dämmen und anderer Infrastruktur unterstützen, die als Basis füreine stabile künftige Kapitalakkumulation erforderlich ist. Aber dieErtragsrate dieser langfristigen Investitionen in die gebaute Umge-bung hängt letztlich von der Entwicklung einer starken Akkumula-tionsdynamik im Empfängerland ab (es sei denn, die Ertragsrate aufdas verliehene Kapital wird, wie es oft der Fall ist, durch das Emp-

73 C. Payer, The Debt Trap: The IMF and the Third World (New York:Monthly Review Press, 1974).

Die Unterjochung des Kapitals

Page 121: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

120

fängerland garantiert). Großbritannien vergab auf diese Weise Endedes 19. Jahrhunderts Kredite an Argentinien. Die Vereinigten Staa-ten sahen klar, dass ihre eigene wirtschaftliche Sicherheit (wenn manden militärischen Aspekt des Kalten Krieges außer Acht lässt) aufder aktiven Wiederbelebung kapitalistischer Aktivitäten durch denMarshallplan für Europa (insbesondere Deutschland) und Japan be-ruhte.

Widersprüche entstehen, wie dieser letzte Fall überdeutlich illus-triert, dadurch, dass die neuen dynamischen Räume der Kapitalak-kumulation letztlich Überschüsse hervorbringen und Möglichkei-ten suchen werden, diese durch geographische Expansion zu absor-bieren. Japan und Deutschland wurden ab den 1960er Jahren zu ernst-haften Konkurrenten des US-Kapitals, ganz ähnlich, wie die USAzu Beginn des 20. Jahrhunderts das britische Kapital überwältigten(und dazu beitrugen, das britische Empire zu Fall zu bringen). Es istimmer interessant, den Punkt festzustellen, an dem eine starke inter-ne Entwicklung in die Suche nach einer räumlichen Fixierung über-geht. In Japan geschah dies in den 1960er Jahren, zunächst durchden Handel, dann durch den Kapitalexport in Form von Direktin-vestitionen, zuerst in die Europäische Union und die VereinigtenStaaten, in jüngerer Zeit durch riesige (sowohl Direkt- als auch Port-folio-)Investitionen in Süd- und Südostasien im Allgemeinen undChina im Besonderen und schließlich durch Kreditvergabe an dasAusland (insbesondere zur Finanzierung des derzeitigen US-Leis-tungsbilanzdefizits). Südkorea schaltete in den 1980er Jahren plötz-lich um, gefolgt von Taiwan in den späten 1980er Jahren, und beideLänder exportierten nicht nur Finanzkapital, sondern als Subunter-nehmer für das multinationale Kapital überall auf der Welt (in Mit-telamerika und Afrika sowie überall im restlichen Ost- und Südost-asien) auch ein paar der übelsten Praktiken der Arbeitsorganisation,die man sich vorstellen kann. Selbst wer noch in jüngster Zeit erfolg-reich an der kapitalistischen Entwicklung festgehalten hatte, sah sichschnell gezwungen, eine raum-zeitliche Fixierung für sein überak-kumulierendes Kapital zu finden. Die Geschwindigkeit, mit der Län-der wie Südkorea, Singapur und Taiwan sich in jüngster Zeit vonImport- in Exportindustrien verwandelt haben, war im Vergleich zu

Kapitel 3

Page 122: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

121

dem für frühere Zeitabschnitte charakteristischen langsamerenRhythmus erstaunlich. Diese erfolgreichen Gebiete müssen sich aberauch schneller auf die Rückschläge aus ihren eigenen raum-zeitli-chen Fixierungen einstellen. China, das in Form von ausländischenDirektinvestitionen Überschüsse aus Japan, Korea und Taiwan ab-sorbiert, verdrängt diese Länder immer mehr aus vielen Produkti-ons- und Exportzweigen.

Die allgemeine Überkapazität, die Brenner insbesondere seit 1980feststellt, zerfällt auf diese Weise in ein hegemoniales wirtschaftli-ches Zentrum (die Triade aus USA, Japan und Europa) und eine raschanwachsende Flut raum-zeitlicher Fixierungen insbesondere überallin Ost- und Südostasien, aber mit weiteren Elementen in Latein-amerika (insbesondere Brasilien, Mexiko und Chile) und seit demEnde des Kalten Krieges mit schnellen Vorstößen nach Osteuropa.Diese Fluten von raum-zeitlichen Fixierungen mögen zwar unterden Begriff der territorialen zwischenstaatlichen Beziehungen ge-fasst werden, in Wirklichkeit sind sie aber materielle und gesellschaft-liche Beziehungen zwischen Regionen, aufgebaut durch die mole-kularen Prozesse der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit. Dieformalen territorialen Schwierigkeiten zwischen Taiwan und demchinesischen Festland wirken vor dem Hintergrund der wachsen-den Integration der industriellen Regionen von Taipei und Shanghaivollkommen anachronistisch.

Dieser Prozess hat zwei mögliche allgemeine Ergebnisse. Bei demersten öffnen sich immer wieder neue raum-zeitliche Fixierungenund überschüssiges Kapital wird in Episoden absorbiert. Das, wasich »Umschaltkrisen« nenne, hat den Effekt, den Kapitalfluss voneinem Ort an einen anderen umzuleiten. Das kapitalistische Systeminsgesamt bleibt relativ stabil, selbst wenn seine Teile periodischeSchwierigkeiten haben (Deindustrialisierung hier, partielle Entwer-tungen dort). Der Gesamteffekt dieser interregionalen Unbeständig-keit ist, die Gefahren der Überakkumulation und Entwertung in ih-rer Gesamtheit zeitweilig zu verringern, auch wenn die Not an ein-zelnen Orten von Zeit zu Zeit bitter sein mag. In gewissem Sinnescheint die seit etwa 1980 erlebte Unbeständigkeit größtenteils vondiesem Typ zu sein, obgleich sie eindeutig durch den Wall-Street-

Die Unterjochung des Kapitals

Page 123: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

122

US-Finanzministerium-IWF-Komplex zum Vorteil des Finanzka-pitals, der Wall Street und der US-Ökonomie manipuliert, wenn nichtgelenkt wurde. Bei jedem Schritt kommt natürlich die Frage auf, wasdas nächste Gebiet sein wird, in das profitables Kapital fließen kann,und warum.

In der momentanen Situation ist ein offensichtlicher Kandidat fürdie Absorption überschüssigen Kapitals China, und es lohnt sich,hierauf kurz näher einzugehen, denn es illustriert nicht nur die Mög-lichkeiten einer zeitweiligen raum-zeitlichen Fixierung für das Über-akkumulationsproblem, sondern ist auch relevant für die Frage dersich verschiebenden Hegemonie innerhalb des globalen Systems.China ist natürlich einer der Hauptempfänger ausländischer Direkt-investitionen geworden. Die Direktbeteiligungen aus dem Auslandstiegen netto von 5 Milliarden Dollar 1991 auf rund 50 MilliardenDollar 2002. Doch der chinesische Markt wächst auch sehr schnell:In letzter Zeit stiegen die städtischen Einkommen jährlich um 11%,die auf dem Land um 6%. Der interne Markt wächst, ebenso wie derMarkt für ausländische Güter. Nicht wenige multinationale Kon-zerne, wie etwa General Motors, erzielten in den Jahren 2001 und2002 den größten Teil ihres Profits durch Verkäufe nach China. Dasriesige Potenzial des internen Markts in China darf daher nicht ig-noriert werden, und ein Teil der ausländischen Direktinvestitionenin, sagen wir, Mikroelektronik, ist ebenso sehr am internen Verkauforientiert wie am Export in die übrige Welt. Doch noch dramati-scher sind die Aussichten für langfristige Investitionen in die Infra-struktur. Seit 1998 versucht man in China durch schuldenfinanzierteInvestitionen in riesige Megaprojekte, die den bereits riesigen Drei-Schluchten-Damm noch in den Schatten stellen, die enormen Über-schüsse an Arbeitskraft zu absorbieren (und die Drohung sozialerUnruhen im Zaum zu halten). Man beabsichtigt ein viel ehrgeizige-res Projekt (das mindestens 60 Milliarden Dollar kosten wird), umWasser aus dem Jagtsekiang in den Gelben Fluss umzuleiten. In dengroßen Städten werden neue U-Bahn-Systeme und Autobahnen ge-baut und knapp 14.000 Kilometer neuer Schienenwege sind geplant,um das Binnenland mit den wirtschaftlich dynamischen Küstenregi-onen zu verbinden, darunter eine Hochgeschwindigkeitsverbindung

Kapitel 3

Page 124: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

123

zwischen Shanghai und Beijing und eine Verbindung nach Tibet. Diestädtische Infrastruktur wird überall ausgebaut. Die OlympischenSpiele geben zu großen Investitionen in Beijing Anlass. Diese An-strengungen sind im Ganzen viel größer als das, was die USA in den1950er und 1960er Jahren unternommen haben, und bergen das Po-tenzial, über Jahre hinweg überschüssiges Kapital zu absorbieren.Sie sind jedoch schuldenfinanziert und das bringt hohe Risiken mitsich, denn wenn die Investitionen ihren Wert nicht zu gegebener Zeitin den Akkumulationsprozess einbringen, wird eine staatliche Fi-nanzkrise China verschlingen, mit ernsthaften Konsequenzen für diewirtschaftliche Entwicklung und die soziale Stabilität.74 Nichtsdes-totrotz verspricht dies eine bemerkenswerte Version einer raum-zeit-lichen Fixierung zu werden, mit weltweiten Implikationen, nicht nurfür die Absorption überakkumulierten Kapitals, sondern auch fürdie Verschiebung des wirtschaftlichen und politischen Machtgleich-gewichts auf China als dem regionalen Hegemon, was die RegionAsien, unter chinesischer Führung, vielleicht in eine viel konkur-renzfähigere Position gegenüber den Vereinigten Staaten bringt. Umso mehr ein Grund für die USA, die Ölvorräte im Kaspischen Be-cken und dem Mittleren Osten, die China immer stärker braucht,unter ihre Kontrolle zu bringen.

Ein zweites mögliches Ergebnis ist jedoch ein immer heftigererinternationaler Konkurrenzkampf, da angesichts der starken Über-akkumulationsströme mehrere dynamische Zentren der Kapitalak-kumulation auf der Weltbühne miteinander konkurrieren. Da sienicht alle langfristig Erfolg haben können, erliegen entweder dieSchwächsten und geraten in ernsthafte Krisen lokaler Entwertungoder es kommt zu geopolitischen Kämpfen zwischen den Regionen.

74 J. Kahn, »China Gambles on Big Projects for its Stability«, New YorkTimes, 13. Januar 2003, S. A 1 und A 8; »Made in China, Bought in China«,New York Times, 5. Januar 2003, Business section, S. 1 und 10; D. Altman,»China: Partner, Rival or Both«, New York Times, 2. März 2003, Money andBusiness section, S. 1 und 11; T. Crampton, »A Strong China May Give Boostto its Neighbors«, International Herald Tribune, Economic Outlook, 23. Janu-ar 2003, S. 16-17.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 125: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

124

Letztere können sich über die territoriale Logik der Macht in Kon-frontationen zwischen Staaten in Form von Handels- und Währungs-kriegen verwandeln, wobei die stets gegenwärtige Gefahr militäri-scher Konfrontationen (der Sorte, die uns im 20. Jahrhundert zweiWeltkriege zwischen kapitalistischen Mächten beschert hat) im Hin-tergrund lauert. In diesem Fall nimmt die raum-zeitliche Fixierungdurch ihre Verwandlung in den Export örtlicher und regionaler Ent-wertungen und Kapitalzerstörungen (der Sorte, die 1997/98 in gro-ßem Maßstab in Ost- und Südostasien und Russland auftrat) eineviel unheilverkündendere Form an. Wie und wann es dazu kommt,hängt jedoch ebenso sehr von den expliziten Formen politischenHandelns auf Seiten der Staatsmacht ab wie von den molekularenProzessen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit. Die Dialek-tik zwischen der territorialen und der kapitalistischen Logik greiftnun vollständig ineinander. Zu diesem Prozess gibt es jedoch nocheiniges anzumerken, um besser zu verstehen, wie er tatsächlich funk-tioniert.

Innere WidersprücheIn den Grundlinien der Philosophie des Rechts bemerkt Hegel, wiedie inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die auf dereinen Seite Reichtümer im Übermaß anhäuft und auf der anderenSeite eine Masse an Verarmten hervorbringt, diese dazu drängen,Lösungen im Außenhandel und kolonialen bzw. imperialen Prakti-ken zu suchen.75 Damit lehnt er die Vorstellung ab, es könnte dieMöglichkeit bestehen, das Problem der sozialen Ungleichheit undInstabilität durch interne Umverteilungsmechanismen zu lösen. Le-nin zitiert Cecil Rhodes, dem zufolge Kolonialismus und Imperia-lismus im Ausland die einzige Möglichkeit darstellten, einen Bür-gerkrieg im Inneren zu vermeiden.76 Klassenbeziehungen und -kämp-

75 G. W. Hegel, Grundlagen der Philosophie des Rechts (Frankfurt a.M.: Lang,1999).

76 W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: ge-meinverständlicher Abriss (Berlin: Verlag Neuer Weg, 1945).

Kapitel 3

Page 126: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

125

fe innerhalb einer territorial begrenzten Gesellschaftsformation sindeindeutig ein Anstoß für raum-zeitliche Fixierungen.

Die Lage am Ende des 19. Jahrhunderts liefert hier interessanteBelege, etwa wenn man an eine Figur wie Joseph Chamberlain (be-kannt unter dem Namen »Radical Joe«) denkt. Er wurde eng mitden Interessen der liberalen Manufakturbesitzer in Birmingham inVerbindung gebracht, opponierte ursprünglich entschieden gegen denImperialismus (beispielsweise die Afghanistankriege der 1850er Jahre)und widmete einen Großteil seiner Zeit Bildungsreformen und ge-nerell der Verbesserung der sozialen und materiellen Infrastrukturzur Produktion und zum Konsum in seiner Heimatstadt Birming-ham. Er war davon überzeugt, dass hierdurch eine produktive Ab-flussmöglichkeit für Überschüsse entstünde, die sich langfristig aus-zahlen würde. Als wichtige Persönlichkeit innerhalb der liberal-kon-servativen Bewegung sah er das Aufkommen der Klassenkämpfe inGroßbritannien mit eigenen Augen und hielt 1885 eine viel gefeierteRede, in der er die besitzenden Klassen dazu aufrief, ihre Verant-wortung und Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft anzuerken-nen (beispielsweise die Lebensbedingungen der Ärmsten zu verbes-sern und im nationalen Interesse in die soziale und materielle Infra-struktur zu investieren) statt bloß ihre individuellen Interessen alsPrivateigentümer zu verfolgen. Die Aufregung, mit der die besit-zenden Klassen auf diese Rede reagierten, zwang ihn zum Widerrufund von diesem Moment an wurde er zu einem der leidenschaft-lichsten Verfechter des Imperialismus (und endete als Kolonialse-kretär, der Großbritannien in die Katastrophe der Burenkriege inSüdafrika führte). Eine solche Karriere war für diese Zeit nichts un-gewöhnliches. In Frankreich wurde Jules Ferry, in den 1860er Jah-ren ein begeisterter Fürsprecher innerer Reformen (insbesondere imBildungsbereich), nach der Pariser Commune von 1871 zu einemBefürworter des Kolonialismus (der Frankreich in die Sümpfe Süd-ostasiens führte und 1954 in der Niederlage bei Dien Bien-Phu gip-felte), und in den USA begann sogar Theodore Roosevelt, nach derberühmten Erklärung Frederic Jackson Turners, der Vorstoß in denSüden und Westen Amerika sei nun abgeschlossen (wenn diese Ge-biete auch bei weitem nicht für neue Investitionsmöglichkeiten er-

Die Unterjochung des Kapitals

Page 127: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

126

schlossen waren), für imperiale Praktiken statt innerer Reformen ein-zutreten.77

In all diesen Fällen resultierte die Wendung zu einer liberalen Formdes Imperialismus (und einer, die diesen mit einer Fortschrittsideo-logie und einer Zivilisierungsmission verknüpfte) nicht aus absolu-ten ökonomischen Zwängen, sondern aus dem selbst noch angesichtswachsender Ansprüche der Arbeiterbewegungen aufrechterhaltenenpolitischen Unwillen der Bourgeoisie, auf irgendwelche Klassenpri-vilegien zu verzichten und die Überakkumulation intern durch in-nere soziale Reformen zu absorbieren. Hobson beispielsweise er-kannte darin das Schlüsselproblem und strebte eine sozialdemokra-tische Politik an, die dem entgegenwirken würde.78 Daher ist es vonentscheidender Bedeutung, bei der Beurteilung des Anstoßes zu im-perialistischen Bestrebungen und dem Drang, äußere raum-zeitlicheFixierungen zu finden, die interne Rolle der Klassenbeziehungen unddes Klassenkampfes zu berücksichtigen sowie die spezielle Strukturder Klassenbündnisse innerhalb des betreffenden Staates (einschließ-lich eines Bündnisses von Arbeitern und Kapitalisten in kapitalisti-schen Bestrebungen). Innenpolitische Spannungen dieser Art warenes, die viele europäische Mächte von 1884 bis 1945 dazu zwangen,eine Lösung für ihre Probleme im Außenraum zu suchen, und da-durch nahm der europäische Imperialismus in diesen Jahren einespezielle Färbung an. Es ist zum Beispiel überraschend festzustel-len, wie viele liberale und sogar radikale Figuren zu stolzen Imperi-alisten wurden und was für ein großer Teil der Arbeiterbewegungmit dem imperialistischen Projekt kollaborierte. Dafür war es aller-dings vonnöten, dass die Politik des Staates und die militärische Ge-

77 Diese ganze Geschichte einer radikalen Verschiebung von inneren zu äu-ßeren Lösungen politisch-wirtschaftlicher Probleme in Reaktion auf die Dyna-miken der Klassenkämpfe in vielen kapitalistischen Staaten wird in der folgen-den, kaum bekannten, aber recht faszinierenden Sammlung erzählt: C.-A. Juli-en, J. Bruhat, C. Bourgin, M. Crouzet und P. Renouvin, Les Politiqes d’expansionimpérialiste (Paris: Presses Universitaires de France, 1949). Ferry, Chamber-lain, Roosevelt, Crispi und andere werden alle vergleichend im Detail unter-sucht.

78 P. Cain, Hobson and Imperialism: Radicalism, New Liberalism and Fi-nance, 1887-1938 (Oxford: Oxford University Press, 2003).

Kapitel 3

Page 128: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

127

walt vollständig unter der Kontrolle bürgerlicher Interessen stan-den. Wie ich schon in Kapitel 2 vertreten habe, glaube ich daher, dassArendt diesen Imperialismus, der sich am Ende des 19. Jahrhundertsherausbildete, richtig interpretiert als »das erste … Stadium der poli-tischen Herrschaft der Bourgeoisie« und eben nicht als »das letzteStadium des Kapitalismus«, als das er bei Lenin dargestellt wurde.79

Darauf werde ich jedoch in Kapitel 5 zurückkommen.

Die Macht der vermittelnden InstitutionenEs ist wichtig, die entscheidende vermittelnde Rolle finanzieller undinstitutioneller Rahmenvorgaben und Mächte (insbesondere die desStaates) bei den Prozessen der Kapitalakkumulation zur Kenntniszu nehmen. Dazu ist jedoch eine sorgfältige Untersuchung der un-terschiedlichen Formen nötig, die solche vermittelnden Institutio-nen annehmen können, sowie der sich daraus ergebenden Auswir-kungen auf die molekularen Prozesse der Kapitalakkumulation inRaum und Zeit. In seiner Studie zum Verlauf der Krise von 1997/98in Ost- und Südostasien zeigt Henderson beispielsweise, dass derUnterschied zwischen Taiwan und Singapur (die abgesehen von derAbwertung ihrer Währungen beide relativ unbeschadet daraus her-vorgingen) und Thailand und Indonesien (die beinahe einen totalenökonomischen und politischen Kollaps erlitten) aus den Unterschie-den in der Staats- und Finanzpolitik herrührt.80 Taiwan und Singa-pur waren durch starke staatliche Kontrollen und geschützte Finanz-märkte gegen Spekulationsströme abgeschirmt, wohingegen Thai-land und Indonesien das aufgrund ihrer liberalisierten Kapitalmärk-te nicht waren. Unterschiede dieser Art sind offensichtlich von großerBedeutung. In diesem Fall legten sie fest, wer von einer brutalenEntwertung betroffen war und wer nicht.

An diesem Punkt kann ich nicht viel mehr tun, als die politischeBedeutung dieser Frage zur Kenntnis zu nehmen. Das ganze Musterder Turbulenzen in den Beziehungen zwischen Staat, Suprastaat und

79 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 316.80 J. Henderson, »Uneven Crises: Institutional Foundations of East Asian

Economic Turmoil«, Economy and Society, 28/3 (1999) S. 327-68.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 129: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

128

Finanzmächten auf der einen und der allgemeineren Dynamik derKapitalakkumulation (durch Produktion und selektive Entwertun-gen) auf der anderen Seite gehört eindeutig zu den beachtlichstenund komplexesten Elementen der Erzählung von der ungleichmäßi-gen geographischen Entwicklung und der imperialistischen Politikin der Epoche seit 1973. Ich denke, dass Gowan Recht darin hat, dieradikale Umstrukturierung des internationalen Kapitalismus seit 1973als eine Reihe von verzweifelten Spielzügen von Seiten der USA zuverstehen, ihre hegemoniale Position in der Weltwirtschaft gegenüberEuropa und Japan – und später allgemeiner Ost- und Südostasien –zu behaupten. Das begann während der Krise von 1973 mit NixonsDoppelstrategie der hohen Ölpreise und der finanziellen Deregulie-rung. Den US-Banken wurde damals das ausschließliche Recht ein-geräumt, die riesigen Mengen an in der Golfregion akkumuliertenPetrodollars in den Geldkreislauf zurückzuführen.81 Dies ließ dieUSA erneut zum Mittelpunkt der globalen Finanzaktivitäten wer-den und half, im Zusammenhang mit den internen Reformen desFinanzsystems innerhalb der USA, nebenbei New York aus seinereigenen ökonomischen Krise. Aus all dem entstand ein mächtigesFinanzregime aus der Wall Street und dem US-amerikanischen Fi-nanzministerium, das über kontrollierenden Einfluss auf weltweiteFinanzinstitutionen (wie den IWF) verfügte und durch Kreditmani-pulationen und Praktiken der Schuldenverwaltung das Schicksal zahl-reicher schwächerer ausländischer Volkswirtschaften in der Handhielt. Gowan spricht im weiteren davon, dass dieses Währungs- undFinanzregime von nachfolgenden US-Regierungen »als ein gewalti-ges Instrument ökonomischer Staatsmacht« genutzt wurde, »umsowohl den Globalisierungsprozess als auch die damit verbundenenneoliberalen Transformationen im Inneren voranzutreiben.« Krisenhätten das Regime erst zur vollen Entfaltung gebracht: »Der IWFdeckt die Risiken ab und stellt sicher, dass die US-Banken keine Ver-luste erleiden (Länder kommen dafür durch Strukturanpassungenu.ä. auf) und dass die Kapitalflucht vor einer anderswo aufgetrete-

81 Gowan, The Global Gamble, S. 21.

Kapitel 3

Page 130: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

129

nen Krise die Stärke der Wall Street letztlich vergrößert...«82 Im Er-gebnis wurden die ökonomische Macht der USA (wann immer mög-lich in Zusammenarbeit mit anderen) nach außen gerichtet, die Öff-nung der Märkte, insbesondere für Kapital- und Finanzströme (mitt-lerweile eine Bedingung für die Mitgliedschaft im IWF), forciert unddem größten Teil der übrigen Welt andere (in der WTO kulminie-rende) neoliberale Praktiken aufgezwungen.

Zu diesem System sind zwei wichtige Anmerkungen zu machen.Erstens wird der freie Handel von Waren häufig als die Erschlie-ßung der Welt für freien und offenen Wettbewerb dargestellt. Dochhaben wir bereits gesehen, dass er, wenn im Raum gegründet ist,notwendig monopolistischen Wettbewerb verursacht und damitselbst unter den bestmöglichen Bedingungen Asymmetrien des Tau-sches hervorbringt. Das ganze Argument versagt, worauf Lenin vorlanger Zeit hinwies, angesichts monopolistischer oder oligopolisti-scher Macht (entweder in der Produktion oder im Konsum). DieVereinigten Staaten beispielsweise haben wiederholt die Waffe derZugangsverweigerung zum riesigen US-Markt benutzt, um andereNationen dazu zu zwingen, ihren Wünschen nachzukommen. Diesist eine gewaltige Version der Asymmetrie des Tauschs, die immermit Raumbeziehungen einhergeht. Das jüngste (und krasseste) Bei-spiel für diese Argumentation stammt vom US-Handelsbeauftrag-ten Robert Zoellick, der sinngemäß sagte, wenn Lula, der 1998 ge-wählte brasilianische Präsident aus der Arbeiterpartei, mit den US-Plänen für freie Märkte auf dem gesamten amerikanischen Konti-nent nicht einverstanden sei, sich wohl gezwungen sehen würde, »indie Antarktis zu exportieren«.83 Taiwan und Singapur wurden (ebensowie früher Korea als Teil des IWF-Ausstiegs auf Geheiß des US-Finanzministeriums) gegen ihren eigenen Willen dazu gezwungen,ihre Finanzmärkte für spekulatives Kapital zu öffnen, obgleich siefrüher vor Entwertungen geschützt gewesen waren, indem sie ihreMärkte geschlossen gehalten hatten. Sie wurden mit der Drohung,ihnen den Zugang zum US-Markt zu verweigern, gezwungen, der

82 A.a.O., Kapitel 4.83 Leitartikel Buenos Aires Herald, 31. Dezember 2002, S. 4.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 131: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

130

WTO beizutreten. Gegenwärtig planen die USA, das Modell der»Millennium Challenge Grants«, der Auslandshilfe an arme Länder,an die Bedingung des freien Marktzugangs zu knüpfen. Im Gegen-zug für finanzielle Hilfe müssen diese Länder mit denen der USAvereinbare institutionelle Rahmenvorgaben erlassen und sich damitfür alles öffnen, was auch immer die überlegenen Mächte des mono-polisierten Kapitals vorhaben. Was die Produktion betrifft, kontrol-lieren weitgehend in den kapitalistischen Kernzonen angesiedelte Oli-gopole effektiv die Produktion von Saatgut, Düngemitteln, Elektro-geräten, Computersoftware, pharmazeutischen Produkten, Erdöl-produkten usw. Unter diesen Bedingungen erwächst aus der Schaff-ung neuer Marktchancen kein offener Wettbewerb, sondern die starkeVermehrung monopolistischer Macht – mit allen denkbaren sozia-len, ökologischen, ökonomischen und politischen Konsequenzen.Dies gilt ebenso sehr für den Export multinationalen Kapitals zurProduktion von Schuhen und Hemden in Südostasien und Latein-amerika wie für das Marketing von Coca-Cola. Selbst die scheinbarso wohltätige Grüne Revolution hat, wie die meisten Beobachterübereinstimmend berichten, überall in Süd- und Südostasien dazugeführt, dass die gestiegenen landwirtschaftlichen Erträge mit einerbeträchtlichen Reichstumskonzentration im Agrarsektor und einergrößeren Abhängigkeit von monopolistischen Produktionsmittelneinhergehen. Das Eindringen US-amerikanischer Tabakkonzerne inden chinesischen Markt soll deren Verluste auf dem amerikanischenMarkt kompensieren, wird aber in China in den kommenden Jahr-zehnten mit Sicherheit eine öffentliche Gesundheitskrise hervorru-fen.

In all diesen Fällen erweist sich die allgemein vorgebrachte Be-hauptung, es handle sich beim Neoliberalismus um freien Wettbe-werb statt um monopolistische Kontrolle, um fairen und freien Han-del, als Lüge, was wie üblich durch den Marktfetischismus verschleiertwird.

Darüber hinaus besteht ein großer Unterschied zwischen freiemWarenhandel und der Bewegungsfreiheit des Finanzkapitals, wassogar die Befürworter des freien Handels eingestehen. Das wirft un-mittelbar die Frage auf, von welcher Marktfreiheit man spricht.

Kapitel 3

Page 132: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

131

Manche, wie etwa Bhagwati, verteidigen die Freiheit des Warenhan-dels vehement, wehren sich aber gegen die Vorstellung, dies sei not-wendigerweise auch für Finanzströme gut.84 Die Problematik ist fol-gende: Einerseits sind Kreditströme für produktive Investitionen undUmschichtungen von Kapital von einem Produktionszweig oder -ortzum anderen lebensnotwendig. Sie spielen auch eine wichtige Rolledabei, in einer in räumliche Einheiten zerlegten Welt, die von Über-schüssen in dem einen und Mangel in einem anderen Raum gekenn-zeichnet ist, die Konsumbedürfnisse (z.B. nach Wohnraum) in einpotenziell ausgeglichenes Verhältnis mit den Produktionsaktivitä-ten zu bringen. In all diesen Hinsichten ist das Finanzsystem (mitoder ohne staatliche Beteiligung) von entscheidender Bedeutung fürdie Koordinierung der Dynamik der Kapitalakkumulation. Das Fi-nanzkapital ist aber auch an vielen unproduktiven Aktivitäten betei-ligt, bei denen Geld lediglich dazu benutzt wird, es durch Spekulati-onen auf die künftige Entwicklung von Warenmärkten, Währungs-kursen, Schulden usw. zu vermehren. Wenn riesige Kapitalmengenfür solche Zwecke verfügbar werden, verwandeln sich offene Kapi-talmärkte in Vehikel für spekulative Aktivitäten, von denen einige,wie wir es während der 1990er Jahre sowohl bei Internetfirmen alsauch bei Spekulationsblasen gesehen haben, zu sich selbst bewahr-heitenden Voraussagen werden, ebenso wie die mit Milliardenbeträ-gen an ausländischem Kapital ausgerüsteten Hedgefonds in der Lagewaren, Indonesien und sogar Korea trotz der Stärke der diesen Län-dern zugrundeliegenden Ökonomien in den Ruin zu treiben. Vielesvon dem, was an der Wall Street vor sich geht, hat nichts mit derVereinfachung der Investition in produktive Aktivitäten zu tun. Esist rein spekulativ (daher die Beschreibung als »Casino-« oder »Blut-saugerkapitalismus«). Doch diese Aktivitäten haben tiefgehendeAuswirkungen auf die allgemeine Dynamik der Kapitalakkumulati-on und insbesondere darauf, die politisch-ökonomische Macht er-neut in erster Linie in den USA zu zentrieren, aber auch innerhalbder Finanzmärkte anderer Kernländer (Tokio, London, Frankfurt).

84 J. Bhagwati, »The Capital Myth: The Difference between Trade in Wid-gets and Dollars«, Foreign Affairs, 77/3 (1998), S. 7-12.

Die Unterjochung des Kapitals

Page 133: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

132

Der Staat greift wieder einDies ist der Punkt, an dem die territorialisierte Politik von Staat undImperium wieder ins Spiel kommt, um eine Führungsrolle im fort-laufenden Drama der unendlichen Kapitalakkumulation und Über-akkumulation zu beanspruchen. Der Staat ist die politische Einheit,die politische Körperschaft, die am besten in der Lage ist, institutio-nelle Rahmenvorgaben effektiv aufeinander abzustimmen und diemolekularen Kräfte der Kapitalakkumulation so zu manipulieren,dass die Struktur der Asymmetrien des Tauschs erhalten bleibt, diefür die innerhalb seiner Rahmenstruktur wirkenden dominantenkapitalistischen Interessen den größten Vorteil bedeutet. Es sollteuns beispielsweise nicht überraschen festzustellen, dass die WTOden Freihandel proklamiert, in Wirklichkeit aber unfairen Handelfördert, durch den die reicheren Länder ihren kollektiven Vorteil ge-genüber den ärmeren aufrechterhalten. Das ist typisch für imperia-listische Praktiken. Großbritannien bestand im 19. Jahrhundert, alsdies zu seinem eigenen Vorteil war, auf freiem (und unfairem) Han-del und Laissez-faire, gab diese Haltung jedoch auf, sobald es anderewaren, die davon profitierten. Anschließend setzten die USA sichzunächst für eine Politik der »offenen Tür« ein und dann für freienHandel, bis zu dem Punkt, an dem die gegenwärtige Rhetorik derBush-Regierung Freiheit mit freiem Handel gleichsetzt, ohne dieAndeutung jeglicher möglichen Unvereinbarkeit der Freiheit derSelbstbestimmung auf der einen Seite und der aufgezwungenen Dis-ziplin freier Märkte und unfairen Handels auf der anderen. In die-sem Bereich läuft Imperialismus darauf hinaus, anderen institutio-nelle Rahmenvorgaben und Bedingungen aufzudrängen, gewöhn-lich im Namen des allgemeinen Wohlbefindens.

Das ist die zentrale Stoßrichtung der gegenwärtigen Politik derBush-Regierung, wie ich in Kapitel 1 bemerkt habe. »Wir streben«,sagt Präsident Bush, während er einen Krieg beginnt, »einen gerech-ten Frieden an, in dem Unterdrückung, Ressentiments und Armutvon der Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freien Märktenund freiem Handel abgelöst werden.« Diese letzten beiden hätten»ihre Fähigkeit, ganze Gesellschaften aus der Armut zu ziehen«, unterBeweis gestellt. Die Vereinigten Staaten werden der Welt dieses Ge-

Kapitel 3

Page 134: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

133

schenk der Freiheit (des Marktes) machen, ob ihr das gefällt odernicht.

Wie all dies tatsächlich geschieht, hängt entscheidend vom Wesender Regierungsführung und der dominanten Form der Klassenbünd-nisse ab, insbesondere innerhalb der Kernländer, die das überschüs-sige Kapital ursprünglich erzeugen und anschließend seine Ausschüt-tung kontrollieren. Diese Länder haben einen überproportionalenEinfluss auf die Finanzarchitektur, durch die raum-zeitliche Fixie-rungen überwiegend angestrebt werden, und sind daher in der Posi-tion, die unvermeidlichen Asymmetrien, die im räumlichen Tauschexistieren, so auszutarieren, dass der Vorteil bei ihnen selbst liegt.Die Entstehung eines »Wall-Street-Finanzministerium«-Komplexesinnerhalb der Vereinigten Staaten, der mit Hilfe eines Netzwerksaus anderen Finanz- und Regierungsorganisationen in der Lage ist,globale Institutionen wie den IWF zu kontrollieren und eine gewal-tige Finanzmacht auf die ganze Welt auszuüben, hat die Dynamikendes globalen Kapitalismus der letzten Jahre enorm beeinflusst. Die-ses Machtzentrum kann aber nur deshalb so operieren, weil die üb-rige Welt in eine strukturierte Rahmenkonstruktion ineinandergrei-fender Finanz- und Regierungsinstitutionen (einschließlich supra-nationaler Institutionen) eingebunden und erfolgreich mit ihr ver-hakt ist (und effektiv am Angelhaken hängt, zumeist durch Kredit-vorgaben).

Die sich daraus ergebende Gesamtsituation ist die einer miteinan-der verflochtenen raum-zeitlichen Welt der Finanzströme aus über-schüssigem Kapital mit Ansammlungen politischer und wirtschaft-licher Macht an Hauptknotenpunkten (New York, London, Tokio),die entweder versuchen, die Überschüsse in einer produktiven Rich-tung anzulegen und zu absorbieren, meistens in langfristige Projek-te an einer ganzen Reihe von Orten (von Bangladesh bis Brasilienoder China), oder ihre spekulative Macht dazu zu verwenden, dasSystem durch Entwertungskrisen in verwundbaren Gebieten von derÜberakkumulation zu befreien. Dann ist es natürlich die Bevölke-rung dieser verwundbaren Gebiete, die den unvermeidlichen Preisbezahlen muss, durch Verlust von Vermögen, Arbeitsstellen undwirtschaftlicher Sicherheit, ganz zu schweigen von verlorener Wür-

Die Unterjochung des Kapitals

Page 135: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

134

de und Hoffnung. Und nach derselben Logik, die dazu führt, dassdie verwundbaren Territorien zuerst getroffen werden, ist es typi-scherweise die verwundbarste Bevölkerung innerhalb dieser Gebie-te, die die Hauptlast trägt. Es war die arme Landbevölkerung vonMexiko, Thailand und Brasilien, die am stärksten unter den Verwüs-tungen nach den finanziellen Krisen der 1980er und 1990er Jahrelitt. Der Kapitalismus überlebt also nicht nur durch eine Reihe vonraum-zeitlichen Bindungen, die die Kapitalüberschüsse auf produk-tive und konstruktive Weise absorbieren, sondern auch durch dieEntwertung und Zerstörung, die dem als korrigierende Medizin zu-gefügt wird, was üblicherweise als finanzpolitische Verschwendungs-sucht der Kreditnehmer dargestellt wird. Schon die Vorstellung, dassdiejenigen, die unverantwortlich Geld verleihen, möglicherweise auchzur Verantwortung gezogen werden, wird natürlich von den herr-schenden Eliten leichtfertig abgetan. Dazu wäre es erforderlich, diewohlhabenden, besitzenden Klassen überall zur Rechenschaft zuziehen und darauf zu bestehen, dass sie ihre Verantwortung über-nehmen, statt sich auf ihr unveräußerliches Recht auf Privateigen-tum zu berufen und sich nur für eine zufriedenstellende Profitratezu interessieren. Doch, wie Joseph Chamberlain feststellte, es istpolitisch viel leichter, eine weit entfernt lebende Bevölkerung (ins-besondere wenn sie einer anderen Rasse, Ethnie oder Kultur ange-hört) auszuplündern und zu erniedrigen, als sich der überwältigen-den Macht der kapitalistischen Klasse vor der eigenen Tür zu stel-len. Die finstere und destruktive Seite raum-zeitlicher Fixierungenzur Lösung des Überakkumulationsproblems wird zu einem ebensoentscheidenden Element innerhalb der historischen Geographie desKapitalismus wie ihre konstruktive Gegenspielerin beim Aufbauneuer Landschaften im Dienste sowohl der unendlichen Akkumula-tion von Kapital als auch der unendlichen Akkumulation politischerMacht.

Wenn man der offiziellen Rhetorik glauben darf, sollte der Kom-plex institutioneller Rahmenvorgaben, die jetzt Kapitalströme umdie Welt herum vermitteln, auf den Erhalt und die Unterstützungerweiterter Reproduktion (Wachstum) ausgerichtet sein, um jedeNeigung zur Krise abzuwehren und das Problem der Armutsbe-

Kapitel 3

Page 136: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

135

kämpfung ernsthaft anzugehen. Doch wenn das Projekt scheitert,kann es mit anderen Mitteln Akkumulation anstreben. Wie der Kriegim Verhältnis zur Diplomatie kann eine staatlich gestützte Interven-tion des Finanzkapitals sich häufig in eine Akkumulation mit ande-ren Mitteln verwandeln. Eine unheilige Allianz zwischen staatlichenMächten und den raubtierhaften Aspekten des Finanzkapitals bildetden Übergang zu einem »Blutsaugerkapitalismus«, dem es ebensosehr um kannibalistische Praktiken und erzwungene Entwertungengeht wie um das Erreichen einer harmonischen weltweiten Entwick-lung. Aber wie sind diese »anderen Mittel« der Akkumulation zuinterpretieren?

Die Unterjochung des Kapitals

Page 137: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

136

Kapitel 4Akkumulation durch Enteignung

Nach Rosa Luxemburg ist die Kapitalakkumulation durch einenDoppelcharakter gekennzeichnet: »Die kapitalistische Akkumulati-on hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozess, zweiverschiedene Seiten. Die eine vollzieht sich in der Produktionsstättedes Mehrwerts – in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem landwirtschaft-lichen Gut – und auf dem Warenmarkt. Die Akkumulation ist, vondieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozess, dessenwichtigste Phase zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeitersich abspielt …. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier alsForm, und es bedurfte der scharfen Dialektik einer wissenschaftli-chen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der Akkumulation Eigen-tumsrecht in Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch inAusbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft umschlagen. Die an-dere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen demKapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatzist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, in-ternationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege.Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung,Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der po-litischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des öko-nomischen Prozesses aufzufinden.«

Diese beiden Aspekte der Akkumulation sind, so Luxemburg,»organisch miteinander verknüpft« und »erst zusammen ergeben siedie geschichtliche Laufbahn des Kapitals«.85

85 R. Luxemburg (1913), Die Akkumulation des Kapitals. Neuauflage imArchiv sozialistischer Literatur, Band 1 (Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik,1970), S. 366f.

Kapitel 4

Page 138: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

137

Unterkonsumtion oder Überakkumulation?Luxemburg baut ihre Analyse auf einem bestimmten Verständnisder Krisentendenzen des Kapitalismus auf. Das Problem, so meintsie, sei die Unterkonsumtion, ein allgemeiner Mangel an ausreichen-der effektiver Nachfrage, um das Wachstum der kapitalistischen Pro-duktion aufzunehmen. Zu dieser Schwierigkeit kommt es, weil Ar-beiter ausgebeutet werden und per definitionem viel weniger Wert,den sie ausgeben könnten, erhalten, als sie produzieren, und Kapita-listen zumindest teilweise verpflichtet sind zu reinvestieren statt zukonsumieren. Nach reiflicher Abwägung diverser Möglichkeiten, wiedie angenommene Lücke zwischen Angebot und effektiver Nach-frage überbrückt werden könnte, kommt sie zu dem Schluss, dassder Handel mit nichtkapitalistischen Gesellschaften die einzige sys-tematische Weise bietet, das System zu stabilisieren. Wenn dieseGesellschaften oder Staaten sich dem Handel verweigern, müssensie durch Waffengewalt dazu gezwungen werden (wie China imOpiumkrieg). Dies ist in ihren Augen der Kern der Funktionsweisedes Imperialismus. Eine mögliche Folgerung aus dieser Argumenta-tion (auch wenn Luxemburg sie nicht direkt ausspricht) ist, dass dienichtkapitalistischen Staaten, wenn das System eine gewisse Zeitbestehen soll, in einem nichtkapitalistischen Zustand gehalten wer-den müssen (wenn nötig mit Gewalt). Das könnte den stark repres-siven Charakter vieler Kolonialregime erklären, die sich in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten.

Heute würden nur wenige Luxemburgs Unterkonsumtionstheo-rie als Krisenerklärung akzeptieren.86 Im Gegensatz zu ihr erkenntdie Theorie der Überakkumulation den Mangel an profitablen In-vestitionsmöglichkeiten als das grundlegende Problem. Gelegentlichmag ein Mangel an ausreichender effektiver Konsumentennachfrageein Teil des Problems sein – daher das starke Angewiesensein heut-zutage auf das sogenannte »Kundenvertrauen« (ansonsten bekanntals die Unfähigkeit zwanghafter Käufer, ihre Kreditkarte im Porte-

86 Siehe z.B. M. Bleaney, Underconsumption Theories (London: Methuen,1976); A. Brewer, Marxist Theories of Imperialism (London: Routledge & Ke-gan Paul, 1980).

Akkumulation durch Enteignung

Page 139: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

138

monnaie zu behalten) als Indikator für die Stärke und Stabilität derWirtschaft. Die Lücke, die Luxemburg zu sehen glaubte, kann leichtmit Reinvestitionen geschlossen werden, die ihre eigene Nachfragenach Kapitalgütern und anderen Produktionsmitteln hervorbringen.Und die geographische Expansion des Kapitalismus, die vielen im-perialistischen Aktivitäten zugrunde liegt, trägt, wie wir im Fall derraum-zeitlichen Fixierungen gesehen haben, gerade weil sie an an-deren Orten Nachfrage nach Investitions- und Konsumgüternschafft, sehr zur Stabilisierung des Systems bei. Unausgewogenhei-ten zwischen Sektoren und Regionen können natürlich entstehenund daraus können Konjunkturschwankungen und lokal begrenzteRezessionen resultieren. Aber es ist ebenfalls möglich, bei stagnie-render effektiver Nachfrage zu akkumulieren, wenn die Kosten fürProduktionsmittel (Land, Rohstoffe, Betriebsmittel, Arbeitskraft) si-gnifikant zurückgehen. Um sich profitable Möglichkeiten offen zuhalten, ist der Zugang zu billigeren Produktionsmitteln daher eben-so wichtig wie der Zugang zu erweiterten Märkten. Dies impliziert,dass nichtkapitalistische Gebiete durch Zwang nicht nur für denHandel geöffnet werden sollten (was Abhilfe schaffen könnte), son-dern auch für die Investition von Kapital in profitable Unterneh-mungen, indem man billigere Arbeitskraft und Rohmaterialien, kos-tengünstiges Land und ähnliches ausnutzt. Die allgemeine Stoßrich-tung jeder kapitalistischen Machtlogik ist nicht, die kapitalistischeEntwicklung bestimmter Gebiete möglichst zu verhindern, sonderndiese kontinuierlich für jene zu öffnen. Von diesem Standpunkt ausmüssen koloniale Repressionen der Art, wie sie im späten 19. Jahr-hundert ohne Zweifel vorkamen, als unsinnig interpretiert werden,ein Beispiel für die Behinderung der kapitalistischen Logik durchdie territoriale. Die Angst vor einer Nacheiferung brachte Großbri-tannien beispielsweise dazu, Indien an der Entwicklung einer kraft-vollen kapitalistischen Dynamik, zu hindern, und machte so die Mög-lichkeiten raum-zeitlicher Fixierungen in dieser Region zunichte. Dieoffene Dynamik der transatlantischen Wirtschaft brachte Großbri-tannien viel mehr als das unterdrückte Kolonialreich in Indien, ausdem Großbritannien natürlich Überschüsse extrahieren konnte, dasaber nie als großes Feld für den Einsatz britischen Überschusskapi-

Kapitel 4

Page 140: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

139

tals fungierte. Doch es war auch die offene Dynamik des Transatlan-tikhandels, die die Möglichkeit für Großbritanniens Ablösung durchdie Vereinigten Staaten als globale Hegemonialmacht eröffnete. WennArendt Recht hat und unendliche Kapitalakkumulation die unendli-che Akkumulation politischer Macht erfordert, ist die Vermeidungsolcher Verlagerungen unmöglich, und jeder Versuch dazu wird ineiner Katastrophe enden. Die Bildung geschlossener Imperien nachdem Ersten Weltkrieg trug fast mit Sicherheit zu dem Unvermögenbei, das Überakkumulationsproblem der 1930er Jahre zu lösen undleistete die wirtschaftliche Vorarbeit für die territorialen Konfliktedes Zweiten Weltkriegs. Die territoriale Logik dominierte und machtedie kapitalistische Logik zunichte, wodurch sie letztere durch terri-toriale Konflikte in eine fast unheilbare Krise zwang.

Der Großteil der historisch-geographischen Belege aus dem 20.Jahrhundert steht weitgehend mit dem Überakkumulationsargumentim Einklang. Dennoch ist an Luxemburgs Formulierung vieles in-teressant. Zunächst ist der Gedanke, der Kapitalismus müsse ständigetwas »außerhalb seiner selbst« haben, um sich zu stabilisieren, wertüberprüft zu werden, insbesondere, da darin Hegels in Kapitel 3angesprochene Vorstellung von einer inneren Dialektik des Kapita-lismus anklingt, die ihn zwingt, ihm äußere Lösungen zu suchen.Nehmen wir zum Beispiel Marx’ Argumentation zur Schaffung ei-ner industriellen Reservearmee.87 Kapitalakkumulation ohne einenstarken Trend zu arbeitssparenden technologischen Neuerungen er-fordert eine Vergrößerung der Arbeiterschaft. Diese kann auf meh-rere Weisen erzielt werden. Die Vergrößerung der Bevölkerung istwichtig (und die meisten Kommentatoren vergessen bequemerwei-se Marx’ eigene scharfe Kritik zu diesem Thema). Ebenso kann dasKapital »latente Reserven« aus der Bauernschaft plündern oder durchExpansion billige Arbeitskräfte aus Kolonien oder anderen externenOrten mobilisieren. Sollte dies scheitern, kann der Kapitalismus sei-ne Kräfte der technologischen Neuerungen und Investitionen dazunutzen, Arbeitslosigkeit (Entlassungen) herbeizuführen und so di-

87 K. Marx, Das Kapital, 1. Buch, 23. Kapitel, Marx-Engels-Werke Band 23(Berlin: Dietz Verlag, 1972).

Akkumulation durch Enteignung

Page 141: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

140

rekt eine industrielle Reservearmee aus Arbeitslosen schaffen. DieseArbeitslosigkeit drückt normalerweise das Lohnniveau herab underöffnet damit neue Möglichkeiten für den profitablen Einsatz vonKapital. Nun benötigt in all diesen Fällen der Kapitalismus tatsäch-lich etwas »außerhalb seiner selbst«, um zu akkumulieren, aber imletzten Fall wirft er Arbeiter zu einem bestimmten Zeitpunkt kur-zerhand aus dem System heraus, um sie zu Zwecken der Akkumula-tion zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung zu haben. In dieSprache zeitgenössischer postmoderner politischer Theorie übersetzt,könnten wir sagen, dass der Kapitalismus sich notwendigerweise undstets sein eigenes »Anderes« schafft. Der Gedanke, dass eine Formdes »Außen« zur Stabilisierung des Kapitalismus notwendig ist, istalso relevant. Doch der Kapitalismus kann entweder ein bereits be-stehendes Außen nutzen (nichtkapitalistische Gesellschaften oder einbestimmtes Gebiet innerhalb des Kapitalismus – wie etwa die Bil-dung –, das noch nicht proletarisiert worden ist) oder ein solchesaktiv herstellen. Diese »Innen-Außen-Dialektik« möchte ich im Fol-genden im Blick behalten. Ich werde untersuchen, wie die »organi-sche Beziehung« zwischen der erweiterten Reproduktion einerseitsund den oft gewaltsamen Prozessen der Enteignung andererseits diehistorische Geographie des Kapitalismus geformt haben. Das hilftuns, besser zu verstehen, worum es bei der kapitalistischen Formdes Imperialismus geht.

Arendt argumentiert interessanterweise in einer ähnlichen Rich-tung. Die Depressionen der 1860er und 1870er Jahre in Großbritan-nien, so erklärt sie, gaben den Anstoß zu einer neuen Form von Im-perialismus: »Der imperialistischen Expansion war eine merkwür-dige Art wirtschaftlicher Krise vorangegangen, die in der Überpro-duktion von Kapital bestanden hatte, das, da es produktiv innerhalbder nationalen Grenzen nicht zu investieren war, einfach überflüssi-ges Geld darstellte. Dieses Geld musste exportiert werden, und sokam es, dass zum ersten Mal die politischen Machtmittel des Staatesden Weg gingen, der ihnen vom exportierten Geld vorgewiesen war,anstatt dass umgekehrt Gewalt und Eroberung den Weg freilegten,auf dem finanzielle Investierungen folgten. Die Machtmittel des Staa-tes waren beansprucht worden, weil Investitionen in fernen Län-

Kapitel 4

Page 142: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

141

dern völlig unkontrollierbar waren, und so große Schichten der Ge-sellschaft sehr gegen ihren Willen in Spekulanten und Spieler ver-wandelt hatten, was wiederum drohte, die einheimische Wirtschaftaus einem System kapitalistischer Produktion in einen Schwindel fi-nanzieller Spekulation zu verwandeln und Produktionsprofite durchKommissionsgewinne zu ersetzen. Das Jahrzehnt, das dem imperia-listischen unmittelbar vorangeht, die siebziger Jahre des vorigen Jahr-hunderts, sah mehr Finanzskandale, Börsen- und Gründungsschwin-del, als man je zuvor gekannt hatte.«88

Dieses Szenario klingt nur allzu bekannt angesichts der Erfah-rungen der 1980er und 1990er Jahre. Aber Arendts Beschreibungder Reaktionen der Bourgeoisie ist sogar noch bemerkenswerter. Manerkannte »zum ersten Mal …, dass jene ›ursprüngliche Akkumulati-on des Kapitals‹ (Karl Marx), deren einfache und von keinerlei ›ei-sernen Gesetzen‹ der Ökonomie selbst noch gehinderte Räubereiden Akkumulationsprozess allererst ermöglicht hatte, nicht für im-mer genügen würde, um den Akkumulationsmotor weiterlaufen zulassen.« Ja, ohne eine »Wiederholung dieses ›Sündenfalls‹ ... waroffenbar ein Zusammenbruch dieser Wirtschaft unvermeidlich«.89

Die Prozesse, die Marx Adam Smith folgend die »primitive« oder»ursprüngliche« Akkumulation nannte, machen in Arendts Sicht einewichtige und anhaltende Kraft in der historischen Geographie derKapitalakkumulation durch Imperialismus aus. Wie im Fall der Ver-sorgung mit Arbeitskräften benötigt der Kapitalismus stets einenVorrat an Vermögenswerten außerhalb seiner selbst, um dem Druckder Überakkumulation zu begegnen und ihn zu umgehen. Stehendiese Vermögenswerte, wie unbebautes oder ungenutztes Land oderneue Quellen für Rohstoffe, nicht zur Verfügung, muss der Kapita-lismus sie auf irgendeine Art und Weise produzieren. Marx ziehtdiese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht, außer im Fall der Schaf-fung einer industriellen Reservearmee durch technologisch herbei-geführte Arbeitslosigkeit. Es ist interessant, sich darüber Gedankenzu machen, warum er das nicht tat.

88 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 308.89 A.a.O., S. 335.

Akkumulation durch Enteignung

Page 143: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

142

Marx’ ZurückhaltungMarx’ allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation fußt auf einigenmaßgeblichen Grundannahmen, die sich im Großen und Ganzen mitdenen der klassischen politischen Ökonomie decken. Diese Annah-men sind: ungehindert funktionierende Wettbewerbsmärkte mit ei-ner institutionellen Garantie des Privateigentums, individuelle Rech-te, Vertragsfreiheit und zweckdienliche Strukturen des Rechts undder Staatsführung, garantiert durch einen »nicht-interventionisti-schen« Staat, der auch die Funktion des Geldes als Wertmaßstab undZirkulationsmittel sicherstellt. Die Rolle des Kapitalisten als Waren-produzent und Händler ist bereits gefestigt, und die Arbeitskrafthat sich in eine Ware verwandelt, die im Allgemeinen zu ihrem ange-messenen Wert getauscht wird. Die »primitive« oder »ursprüngli-che« Akkumulation ist bereits vollzogen und die Akkumulation fin-det nun als erweiterte Reproduktion (wenn auch durch die Ausbeu-tung lebendiger Arbeitskraft in der Produktion) unter den Bedin-gungen von »Frieden, Eigentum und Gleichheit« statt. Diese An-nahmen gestatten uns einen Einblick in das, was passieren wird, wenndas liberale Projekt der klassischen politischen Ökonomen oder heutedas neoliberale Projekt der Wirtschaftswissenschaftler realisiert ist.Die Brillanz der Marxschen dialektischen Methode, wie beispiels-weise Luxemburg klar erkennt, liegt in der Beweisführung, dass dieLiberalisierung des Marktes – das Credo der Liberalen und Neoli-beralen – keinen harmonischen Zustand hervorbringt, in dem es al-len besser geht. Statt dessen erzeugt sie soziale Ungleichheit in im-mer größerem Ausmaße (wie es in der Tat seit dreißig Jahren Neoli-beralismus der globale Trend ist, insbesondere in Ländern wie Groß-britannien und den USA, die sich besonders dieser politischen Rich-tung verschrieben haben). Marx prophezeite auch, dass die Liberali-sierung des Marktes zu ernsten und wachsenden Instabilitäten führenund schließlich (wie es heute zu beobachten ist) in chronischen Über-akkumulationskrisen enden wird.

Der Nachteil dieser Annahmen ist, dass sie die auf Raub basieren-de Akkumulation, den Betrug und die Gewalt auf eine »ursprüngli-che Stufe« verlegen, die als nicht mehr relevant betrachtet wird, oder,um es mit Luxemburg zu sagen, als quasi »außerhalb« des geschlosse-

Kapitel 4

Page 144: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

143

nen Systems Kapitalismus liegend. Daher ist, wie mehrere Kommen-tatoren kürzlich bemerkten, eine grundsätzliche Neubewertung derfortdauernden Bedeutung und Beständigkeit der räuberischen Prak-tiken der »primitiven« oder »ursprünglichen« Akkumulation inner-halb der langen historischen Geographie der Kapitalakkumulationunbedingt notwendig.90 Da es etwas merkwürdig klingt, einen an-haltenden Prozess »primitiv« oder »ursprünglich« zu nennen, wer-de ich diese Bezeichnungen im Folgenden durch den Begriff »Ak-kumulation durch Enteignung« ersetzen.

Akkumulation durch EnteignungEine genauere Betrachtung von Marx’ Beschreibung der primitivenAkkumulation lässt eine große Spannbreite von Prozessen erken-nen.91 Darunter die Kommodifizierung und Privatisierung des Bo-dens und die gewaltsame Vertreibung der bäuerlichen Landbevölke-rung; die Umwandlung verschiedener Formen von Eigentumsrech-ten (öffentlich, kollektiv, staatlich usw.) in exklusive Privateigentums-rechte; die Unterdrückung des Rechtes auf Nutzung des Gemeinde-landes; die Kommodifizierung der Arbeitskraft und die Unterdrü-ckung alternativer (traditioneller) Formen der Produktion und desKonsums; koloniale, neokoloniale und imperialistische Prozesse derAneignung von Vermögenswerten (einschließlich natürlicher Res-sourcen); die Monetarisierung des Tausches und der Besteuerung,insbesondere von Land; der Sklavenhandel; Wucher, die Staatsver-schuldung und schließlich das Kreditwesen als radikales Mittel derprimitiven Akkumulation. Der Staat mit seinem Gewaltmonopol undseiner Definitionsmacht über die Legalität spielt eine entscheidendeRolle sowohl bei der Absicherung als auch bei der Förderung dieser

90 M. Perelman, The Invention of Capitalism: Classical Political Economyand the Secret History of Primitive Accumulation (Durham, NC: Duke Univer-sity Press, 2000). Darüber hinaus findet sich in The Commoner (www.thecommoner.org) eine ausführliche Diskussion über die neuen Gesichtspunk-te und darüber, ob primitive Akkumulation als rein historischer oder als fort-dauernder Prozess verstanden werden sollte. DeAngelis http://homepages.uel.ac.uk/M.DeAngelis gibt eine gute Zusammenfassung.

91 Marx, Das Kapital, 1. Buch, 24. Kapitel; MEW Bd. 23.

Akkumulation durch Enteignung

Page 145: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

144

Prozesse, und wie ich in Kapitel 3 vertreten habe, gibt es schlüssigeBelege dafür, dass der Übergang zur kapitalistischen Entwicklungsehr stark von der Haltung des Staates abhängig war und ist. Dieinterventionistische Rolle des Staates hat eine lange Geschichte.Durch ihn bleiben die territoriale und kapitalistische Logik der Machtimmer verwoben, wenn sie auch nicht zwangsläufig in Übereinstim-mung verlaufen.

Alle von Marx erwähnten Merkmale der ursprünglichen Akku-mulation sind in der historischen Geographie des Kapitalismus bisheute stark präsent. Die Vertreibung der bäuerlichen Landbevölke-rung und die Herausbildung eines landlosen Proletariats hat sich inLändern wie Mexiko und Indien in den letzten dreißig Jahren be-schleunigt, viele ehemals im Gemeinschaftsbesitz befindliche Res-sourcen wie Wasser sind privatisiert (oft auf Drängen der Weltbank)und in die kapitalistische Logik der Akkumulation einverleibt wor-den, alternative (traditionelle und im Fall der USA sogar die klein-bürgerlichen Waren-)Produktions- und Konsumformen werdenunterdrückt. Staatliche Industrien sind privatisiert, landwirtschaftli-che Familienbetriebe vom Agribusiness übernommen worden. UndSklaverei gibt es immer noch (insbesondere im Sexgeschäft).

Die jahrelange kritische Auseinandersetzung mit Marx’ Darstel-lung der ursprünglichen Akkumulation – die ohnehin eher eine Skizzeist als eine systematische Untersuchung – zeigt einige Lücken auf,die es auszufüllen gilt. Der Prozess der Proletarisierung beispiels-weise ist für diejenigen, die proletarisiert werden, verbunden mit ei-ner Mischung aus Zwängen und der Vereinnahmung von vorkapita-listischen Fähigkeiten, sozialen Beziehungen, Kenntnissen, Denk-gewohnheiten und Überzeugungen. Verwandtschaftsstrukturen, fa-miliäre und häusliche Arrangements, Geschlechter- und Autoritäts-beziehungen (einschließlich derer innerhalb der Religion und ihrerInstitutionen) haben alle ihre Rolle zu spielen. In einigen Fällen müs-sen die zuvor bestehenden Strukturen gewaltsam unterdrückt wer-den, da sie zur Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen im Wider-spruch stehen, doch inzwischen existieren vielerlei Darstellungen,nach denen ebenso wahrscheinlich ist, dass sie kooptiert werden, ummöglichst eine konsensorientierte statt einer durch Zwang bestehen-

Kapitel 4

Page 146: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

145

den Basis für die Bildung der Arbeiterklasse zu schaffen. Kurz ge-sagt, die ursprüngliche Akkumulation bringt die Vereinnahmung undKooptation bestehender kultureller und sozialer Errungenschaftenebenso mit sich wie deren Konfrontation und Verdrängung. DieBedingungen des Kampfes und der Herausbildung der Arbeiterklassevariieren stark und so lässt sich in gewisser Hinsicht sagen, wieThompson unter anderen betonte, dass eine Arbeiterklasse »sichselbst macht«, wenn auch natürlich nie unter selbstgewählten Be-dingungen.92 Das Resultat ist oft das Weiterbestehen einer Spur dervorkapitalistischen sozialen Beziehungen bei der Bildung der Ar-beiterklasse und die Herausbildung charakteristischer geographischer,historischer und anthropologischer Unterscheidungen in der Defi-nition einer Arbeiterklasse. Wie universell der Prozess der Proletari-sierung auch sein mag, das Ergebnis ist nicht die Schaffung eineshomogenen Proletariats.93

Einige der von Marx betonten Mechanismen der ursprünglichenAkkumulation wurden verfeinert und spielen heute eine noch be-deutendere Rolle als in der Vergangenheit. Wie Lenin, Hilferdingund Luxemburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkten, wurdendas Kreditwesen und das Finanzkapital zu Hauptdruckmitteln fürden Raub, den Betrug und den Diebstahl. Die seit 1973 bestehendestarke Welle der Finanzialisierung ist aufgrund ihres spekulativenund räuberischen Stils ganz genau so spektakulär. Börsengänge, Pon-zi-Systeme,94 gezielte Entwertung durch Inflation, Neuaufteilung derUnternehmenswerte durch Fusionen und Aufkäufe, die zunehmen-

92 E. P. Thompson, The Making of the English Working Class (Harmonds-worth: Penguin, 1968).

93 Heutige Ethnographien der Proletarisierung, von denen viele die Bedeu-tung von Geschlechterfragen betonen, illustrieren diese Vielfalt sehr gut. Siehez.B. A. Ong, Spirits of Resistance and Capitalist Discipline: Factory Women inMalaysia (Albany: State University of New York Press, 1987); C. Freeman,High Tech and High Heels in the Global Economy (Durham, NC: Duke Uni-versity Press, 2000); C. K. Lee, Gender and the South China Miracle: Two Worldsof Factory Women (Berkeley: University of California Press, 1998).

94 Das Ponzi-System ist ein Investmentschema, bei dem eine unendliche Zahlvon Investoren angegangen wird und die vorhergehenden Anleger durch dieneu eintretenden Investitionen ausbezahlt werden. Es ist ein Schneeballsystemund läuft so lange, wie die versprochenen Gewinne der Anleger durch immer

Akkumulation durch Enteignung

Page 147: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

146

de Schuldenbelastung, die ganze Bevölkerungen, sogar in den fort-geschrittenen kapitalistischen Ländern in die Schuldknechtschaft trei-ben, von Betrügereien der Konzerne und der Enteignung von Ver-mögenswerten (Plünderung der Rentenfonds und ihre Dezimierungdurch Börsen- und Konzernzusammenbrüche) durch Kredit- undAktienmanipulation ganz zu schweigen – all dies sind zentrale Merk-male des heutigen Kapitalismus. Der Enron-Zusammenbruch ent-eignete viele Menschen ihres Lebensunterhaltes und ihrer Renten-ansprüche. Aber vor allem müssen wir die spekulative Plünderungdurch Hedgefonds und andere wichtige Institutionen des Finanzka-pitals als neueste Errungenschaften der heutigen Akkumulation durchEnteignung betrachten.

Darüber hinaus haben sich ganz neue Mechanismen der Akku-mulation durch Enteignung ergeben. Die Bedeutung der geistigenEigentumsrechte in den Verhandlungen der WTO (das so genannteTRIPS-Abkommen) ist ein Hinweis auf Methoden, mit denen diePatentierung und Lizenzierung genetischen Materials, verändertenSaatgutes und aller möglichen anderen Produkte jetzt gegen ganzeBevölkerungen eingesetzt werden können, deren Praktiken eine ent-scheidende Rolle bei der Entwicklung dieser Materialien gespielthatten. Die Biopiraterie greift um sich und das Ausrauben des Welt-vorrats an genetischen Ressourcen zum Nutzen weniger pharma-zeutischer Großkonzerne ist in vollem Gange. Weitere Resultate derumfassenden Kommodifizierung der Natur in all ihren Formen sindder eskalierende Raubbau an der im Allgemeinbesitz befindlichenUmwelt (Land, Luft und Wasser) und die um sich greifende Zerstö-rung von Lebensräumen, die alles außer kapitalintensiven landwirt-

mehr neue »Dumme« aufgefangen werden können. Als Ponzi-Spiel bezeichnetman die Finanzierung von Auszahlungen über die Aufnahme von Krediten,deren Rückzahlung man wieder durch die Aufnahme neuer Kredite leistet. EinePonzi-Finanzierung hat Hyman Minsky wie folgt definiert: »Eine Verbindlich-keitenstruktur mit Ponzi-Charakter liegt vor, wenn die erwarteten Erträge nichteinmal mehr die laufenden Zinsausgaben decken und fällig werdende Kreditedurch teurere Kredite ersetzt werden müssen. Im Falle von Ponzi Finance istmithin eine steigende Verschuldung zu verzeichnen und längerfristig mit derZahlungsunfähigkeit des Schuldners zu rechnen.« (Anm. d. Übers.)

Kapitel 4

Page 148: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

147

schaftlichen Produktionsweisen ausschließt. Wenn kulturelle Aus-drucksformen, Geschichte und intellektuelle Kreativität zu Warenwerden, bringt dies Massenenteignungen mit sich (die Musikindus-trie ist berüchtigt für die Aneignung und Ausbeutung der grassroots-Kultur und ihrer Kreativität). Die Umwandlung in Unternehmenund Privatisierung bisher öffentlicher Einrichtungen (wie etwa Uni-versitäten) – von der Privatisierungswelle (des Trinkwassers und an-derer öffentlicher Versorgungsbetriebe), die die Welt überschwemmthat, ganz zu schweigen – sind Anzeichen für eine neue Welle der»Einhegung der Allgemeingüter«. Wie bereits in der Vergangenheitwird die Macht des Staates häufig instrumentalisiert, um solche Pro-zesse auch gegen den Willen der Allgemeinheit durchzusetzen. DasZurückschrauben der regulierenden Rahmenstruktur, die Arbeitneh-mer und Umwelt vor zu großer Ausbeutung schützen sollte, brach-te den Verlust von Rechten mit sich. Die Privatisierung von einst inharten Klassenkämpfen erzielten allgemeinen Eigentumsrechten (dasRecht auf staatliche Rente, Sozialhilfe und staatliche Gesundheits-fürsorge) ist eine der schockierendsten Enteignungspolitiken, die imNamen der neoliberalen Orthodoxie verfolgt wird.

Der Kapitalismus vereinigt in sich sowohl kannibalistische als auchräuberische und betrügerische Praktiken. Doch es ist, wie Luxem-burg stichhaltig bemerkte, oft schwer, »unter diesem Wust der poli-tischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des öko-nomischen Prozesses aufzufinden.« Die Akkumulation durch Ent-eignung kann auf vielfältige Weise ablaufen und vieles an ihrem Modusoperandi ist zufällig und geschieht aufs Geratewohl.

Wie also trägt die Akkumulation durch Enteignung zur Lösungdes Problems der Überakkumulation bei? Die Überakkumulationist, wie wir uns erinnern, ein Zustand, in dem die Kapitalüberschüs-se (möglicherweise verbunden mit überschüssiger Arbeitskraft) un-genutzt herumliegen, ohne dass profitable Abflussmöglichkeiten inSicht wären. Der entscheidende Begriff ist hier jedoch der Kapital-überschuss. Was die Akkumulation durch Enteignung tut, ist eineReihe von Vermögenswerten (darunter auch die Arbeitskraft) zu sehrniedrigen (und in manchen Fällen ganz ohne) Kosten freizusetzen.Das überakkumulierte Kapital kann sich solcher Vermögenswerte

Akkumulation durch Enteignung

Page 149: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

148

bemächtigen und sie unmittelbar in einen profitbringenden Nutzenverwandeln. Im Fall der ursprünglichen Akkumulation, wie Marxsie beschrieb, war dies verbunden mit der Landnahme, etwa durchseine Einhegung, und der Vertreibung der dort angesiedelten Bevöl-kerung zur Schaffung eines landlosen Proletariats sowie der anschlie-ßenden Eröffnung des Landes für die private Kapitalakkumulation.Die Privatisierung (von Sozialwohnungen, dem Telekommunikati-ons- und Transportnetzwerk, der Wasserversorgung usw. beispiels-weise in Großbritannien) hat in den letzten Jahren riesige Felder er-öffnet, auf die das überakkumulierte Kapital sich stürzen kann. DerZusammenbruch der Sowjetunion und später die Öffnung Chinasbrachte eine gewaltige Eröffnung bis dato unzugänglicher Vermö-genswerte für die Kapitalakkumulation mit sich. Was wäre in denletzten 30 Jahren mit dem überakkumulierten Kapital geschehen, hät-ten sich diese neuen Gebiete der Akkumulation nicht eröffnet? An-ders gesagt, da der Kapitalismus seit 1973 chronisch unter dem Pro-blem der Überakkumulation leidet, ergibt das neoliberale Projektder allumfassenden Privatisierung Sinn als eine Möglichkeit, das Pro-blem zu lösen. Eine andere Möglichkeit wäre, billige Rohstoffe (wieetwa Öl) in das System abzugeben. Das würde die Investitionskos-ten senken und dadurch die Profite erhöhen. Wie der Zeitungsmag-nat Rupert Murdoch bemerkte, wäre die Lösung für unsere momen-tane wirtschaftliche Not ein Ölpreis von 20 statt 30 oder mehr Dol-lar pro Barrel. Kein Wunder, dass Murdochs Zeitungen den Krieggegen den Irak allesamt so begeistert befürwortet haben.95 DasselbeZiel kann jedoch durch die Entwertung von existierenden Kapital-vermögen und Arbeitskraft erreicht werden. Entwertete Kapitalver-mögen können zu Schleuderpreisen aufgekauft und mit Hilfe vonüberakkumuliertem Kapital in profitabler Weise in den Geldkreis-lauf zurückgeführt werden. Doch dies erfordert eine vorangegange-ne Welle der Entwertung, also eine Krise. Zur Rationalisierung desSystems kann man Krisen effektiv abstimmen, lenken und kontrol-lieren. Genau dazu werden staatlich verordnete Austeritätsprogram-

95 D. Kirkpatrick, »Mr Murdoch’s War«, New York Times, 7.4.2003, S. C1.

Kapitel 4

Page 150: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

149

me, die sich dabei die Hauptdruckmittel Zinsraten und Kreditsys-tem zunutze machen, häufig eingesetzt. Begrenzte Krisen könnendurch externe Gewalt einem Sektor, einem Gebiet oder einem gan-zen Komplex von Gebieten der kapitalistischen Aktivität aufgedrängtwerden. Genau darauf versteht sich das internationale Finanzsys-tem (unter Führung des IWF), gestützt durch die Macht eines über-mächtigen Staates (etwa der USA), so meisterhaft. Resultat ist dieregelmäßige Schaffung eines Bestandes an entwertetem – und in vie-len Fällen unterbewertetem – Vermögen irgendwo auf der Welt, dasdurch die Kapitalüberschüsse, für die es woanders keine Anlagemög-lichkeiten gibt, profitabel genutzt werden kann. Wade und Venero-so erfassen das Wesentliche an diesen Vorgängen, wenn sie über dieAsienkrise von 1997/98 schreiben: »Finanzkrisen bewirken seit je-her den Übergang von Eigentum und Macht auf diejenigen, die ihreeigenen Vermögenswerte schützen können und in der Position sindein Guthaben aufzubauen, und die Asienkrise ist keine Ausnahme …zweifellos sind die westlichen und japanischen Unternehmen diegroßen Gewinner. … Die Kombination aus gewaltigen Entwertun-gen, der vom IWF vorangetriebenen finanziellen Liberalisierung undder durch den IWF ermöglichten Erholung könnte den weltweitgrößten in Friedenszeiten aufgetretenen Vermögenstransfer der letz-ten 50 Jahre von heimischen auf ausländische Eigentümer, der denTransfer von heimischen auf US-amerikanische Eigentümer in La-teinamerika in den 1980er Jahren oder in Mexiko nach 1994 noch inden Schatten stellt, sogar beschleunigen. Man fühlt sich an die An-drew Mellon zugeschriebene Feststellung erinnert: ›In einer Depres-sion kehren Vermögenswerte zu ihren rechtmäßigen Eigentümernzurück.‹«96

Regionale Krisen und stark lokal begrenzte Entwertungen ent-stehen als Hauptmittel des Kapitalismus, selbst sein »anderes« zuschaffen, um sich daran gütlich zu tun. Die finanziellen Krisen Ost-

96 R. Wade und F. Veneroso, »The Asian Crisis: The High Debt Model versusthe Wall Street-Treasury-IMF Complex«, New Left Review, (1998) S. 3-23.

Akkumulation durch Enteignung

Page 151: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

150

und Südostasiens von 1997/98 waren ein klassischer Fall.97 Die Ana-logie zur Schaffung einer industriellen Reservearmee durch den Aus-schluss von Menschen aus dem Arbeitsprozess ist exakt. ErheblicheVermögenswerte werden aus der Zirkulation herausgeworfen undentwertet. Sie liegen brach und schlummern, bis das überschüssigeKapital sich auf sie stürzt und der Kapitalakkumulation neues Le-ben einhaucht. Es besteht jedoch die Gefahr, dass solche Krisen au-ßer Kontrolle geraten und zu allgemeinen Krisen werden oder dassdie Schaffung des »anderen« eine Revolte gegen das System provo-ziert, das dieses hervorbringt. Eine der Hauptfunktionen staatlicherInterventionen und internationaler Institutionen ist die effektiveAbstimmung der Entwertungen, so dass die Akkumulation durchEnteignung stattfinden kann, ohne einen allgemeinen Zusammen-bruch auszulösen. Das ist der Kern dessen, worum es bei einem vomIWF auferlegten Strukturanpassungsprogramm geht. Für die kapi-talistischen Hauptmächte wie die USA bedeutet dies, dass sie dieseProzesse speziell zu ihrem Vorteil abstimmen und sich dabei selbstzum edelmütigen Anführer erklären, der »Rettungsaktionen« orga-nisiert (wie 1994 in Mexiko), um die globale Kapitalakkumulationauf Kurs zu halten. Aber wie bei jedem spekulativen Glücksspielbesteht die Gefahr, dass man verliert: Die plötzliche offensichtlichePanik der US-Finanzbehörden und des IWF im Dezember 1998, alsRussland, das nichts mehr zu verlieren hatte, schlicht Konkurs an-meldete und die südkoreanische Wirtschaft (nach mehreren Mona-ten harter Verhandlungen) anscheinend kurz vor dem Zusammen-bruch stand, der möglicherweise eine weltweite Kettenreaktion aus-lösen würde, veranschaulicht, wie leicht diese Formen der Kalkula-tion ins Kippen geraten können.98

97 A.a.O. Andere Darstellungen dieser Krise finden sich in Henderson, »Un-even Crises«; Johnson, Blowback, Kapitel 9; und der Sonderausgabe von Histo-rical Materialism, 8 (2001), »Focus on East Asia after the Crisis«, insbesondereP. Burkett und M. Mart-Landsberg, »Crisis and Recovery in East Asia: TheLimits of Capitalist Development«, S. 3-48.

98 Gowan, The Global Gamble, liefert eine überzeugende Darstellung.

Kapitel 4

Page 152: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

151

Die Anteile von Zwang und Konsens in solchen Verhandlungsak-tivitäten variieren beträchtlich, aber wir können jetzt klarer sehen,wie Hegemonie durch finanzielle Mechanismen konstruiert wird,so dass der Hegemon profitiert und die untergeordneten Staaten aufden angeblich goldenen Weg der kapitalistischen Entwicklung ge-führt werden. Die Nabelschnur, die die Akkumulation durch Ent-eignung mit der erweiterten Reproduktion verbindet, besteht ausdem Finanzkapital und den Kreditinstitutionen, wie immer gestütztdurch die staatlichen Mächte.

Die Kontingenz all dessenWie können wir nun die ehernen Gesetze innerhalb der Zufälligkei-ten der Akkumulation durch Enteignung erkennen? Wir wissen na-türlich, dass sie bis zu einem gewissen Grad die ganze Zeit stattfin-det, und dass sie viele Formen annehmen kann, legale wie illegale.Betrachten wir beispielsweise einen Vorgang auf dem US-amerika-nischen Wohnungsmarkt, den man das »Flipping« nennt. Man kauftein Haus in schlechtem Zustand für wenig Geld, nimmt ein paarkosmetische Verbesserungen vor und verkauft es mit Hilfe eines vomVerkäufer arrangierten Hypothekenpakets zu einem exorbitantenPreis an eine einkommensschwache Familie, die glaubt, damit ihrenTraum vom Eigenheim zu verwirklichen. Wenn die Familie Schwie-rigkeiten mit den Zahlungen oder den ernsthaften Instandhaltungs-problemen hat, die sich fast mit Sicherheit ergeben, wird das Hauswieder in Besitz genommen. Das ist nicht direkt illegal (Vorsicht,Käufer!), aber dabei sucht man sich effektiv Familien mit niedrigemEinkommen als Opfer aus und bringt sie um die geringen Ersparnis-se, die sie haben. Das ist Akkumulation durch Enteignung. Es gibtunzählige (legale und illegale) Aktivitäten dieser Art, die mit derKontrolle der Vermögenswerte durch eine Klasse statt durch eineandere zu tun haben.

Aber wie, wo und warum tritt Akkumulation durch Enteignungaus diesem Hintergrunddasein hervor, um gegenüber der erweiter-ten Reproduktion die vorherrschende Form der Akkumulation zuwerden? Teilweise hat dies damit zu tun, wie und wann es in dererweiterten Reproduktion zu Krisen kommt. Aber es kann auch die

Akkumulation durch Enteignung

Page 153: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

152

Versuche von entschlossenen Unternehmern und interventionisti-schen Staaten widerspiegeln, »Teil des Systems zu werden« und dieNutzen der Kapitalakkumulation direkt anzustreben.

Jeder gesellschaftliche Verband und jedes Land, die unter die Lo-gik der kapitalistischen Entwicklung gebracht werden oder sich selbstin sie einfügen, müssen weitreichende strukturelle, institutionelle undrechtliche Veränderungen der Art durchmachen, die Marx unter derRubrik ursprüngliche Akkumulation beschreibt. Der Zusammen-bruch der Sowjetunion warf genau dieses Problem auf. Resultat wareine brutale Episode der ursprünglichen Akkumulation unter derÜberschrift »Schocktherapie«, wie von den kapitalistischen Mäch-ten und internationalen Institutionen geraten. Die soziale Not warimmens, aber die Verteilung der Vermögenswerte, die aus Privatisie-rung und Marktreform resultierte, war einseitig und den Investiti-onsaktivitäten, die typischerweise mit der erweiterten Reprodukti-on entstehen, auch nicht sehr förderlich. In noch jüngerer Zeit brachtedie Wende zum staatlich gelenkten Kapitalismus in China eine Welleder ursprünglichen Akkumulation nach der anderen mit sich. Bisdahin erfolgreiche staatliche oder städtische bzw. dörfliche Unter-nehmen rund um Shanghai (die Bauteile an große Industrien im Stadt-gebiet lieferten) waren in letzter Zeit entweder gezwungen zu schlie-ßen oder sie wurden privatisiert, was sie ihrer Sozialversicherungs-und Rentenverpflichtungen entband, und so entstand eine riesige Re-serve an beschäftigungs- und besitzlosen Arbeitern. Infolgedessenwurden die verbleibenden chinesischen Unternehmen auf dem Welt-markt extrem wettbewerbsfähig, allerdings auf Kosten der Entwer-tung und Zerstörung ehemals brauchbarer Lebensgrundlagen. DieBerichte bleiben skizzenhaft, doch das Ergebnis ist anscheinend einhohes Maß an lokal ausgebrochener Not und Episoden heftiger,manchmal sogar gewalttätiger Klassenkämpfe in Gegenden, die durchdiesen Prozess verwüstet wurden.99

99 E. Eckholm, »Where Workers, Too, Rust, Bitterness Boils Over«, NewYork Times, 20. März 2002, S. A4; E. Rosenthal, »Workers’ Plight Brings NewMilitancy to China«, New York Times, 10. März 2003, S. A8.

Kapitel 4

Page 154: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

153

Akkumulation durch Enteignung kann hier als der notwendigePreis für einen erfolgreichen Durchbruch in die kapitalistische Ent-wicklung mit der starken Unterstützung der Staatsmacht interpre-tiert werden. Dabei kann die Motivation aus einem internen Antriebbestehen (wie im Fall Chinas) oder im extern ausgeübten Zwang (wieim Fall der neokolonialistischen Entwicklung in den exportorien-tierten Regionen in Südostasien oder den Strukturanpassungsmaß-nahmen, die nach den Vorstellungen der Bush-Regierung jetzt zurBedingung für Auslandshilfen an die armen Nationen werden sol-len). In den meisten Fällen steht eine Kombination interner Motiva-tion und externen Drucks hinter einem solchen Wandel. Mexikobeispielsweise gab seinen bereits schwächer gewordenen Schutz derbäuerlichen und einheimischen Bevölkerung in den 1980er Jahrenteilweise unter dem Druck seines nördlichen Nachbarn auf und führteim Gegenzug für finanzielle Hilfen und die Öffnung des US-Mark-tes für den Handel im Rahmen des NAFTA-Abkommens Privati-sierungen durch und die neoliberale Praxis bei sich ein. Und selbstwenn die Motivation allem Anschein nach überwiegend intern ist,spielen die externen Bedingungen eine Rolle. Die Gründung derWTO macht es China heute leichter, in das globale kapitalistischeSystem einzudringen, als es in den 1930er Jahren der Fall gewesenwäre, als Autarkie innerhalb geschlossener Reiche vorherrschte, oderselbst noch als in den 1960er Jahren, als das staatliche dominierteBretton-Woods-System die Kapitalströme stärker kontrollierte. DieBedingungen nach 1973 – und das ist das Gegenteil dessen, was derDruck der USA, die Märkte zu öffnen, bewirken sollte – waren vielgünstiger für jedes Land oder für jeden regionalen Komplex, der Teildes weltweiten kapitalistischen Systems werden wollte; daher derrapide Aufstieg von Ländern wie Singapur, Taiwan und Südkoreasowie mehreren anderen sich nachholend industrialisierenden Regi-onen und Staaten. Diese offenstehenden Möglichkeiten lösten in ei-nem großen Teil der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt (und sogardarüber hinaus, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben) Deindustriali-sierungswellen aus und machten die sich nachholend industrialisie-renden Länder, wie in der Krise von 1997/98, gleichzeitig verwund-barer für die Bewegungen des spekulativen Kapitals, die raum-zeit-

Akkumulation durch Enteignung

Page 155: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

154

liche Konkurrenz und weitere Wellen der Akkumulation durch Ent-eignung. So hat sich die konstruierte Volatilität des internationalenKapitalismus ausgedrückt.

Die im Laufe von Krisen auferlegten Entwertungen sind oft zer-störerisch für das gesellschaftliche Wohlergehen und, allgemeiner,die sozialen Institutionen. Das ist typischerweise der Fall, wenn dasKreditsystem die Daumenschrauben ansetzt, wenn die Liquiditätversiegt und Unternehmen in den Konkurs gezwungen werden. Dannkönnen Eigentümer ihre Vermögenswerte nicht mehr erhalten undmüssen sie zu einem sehr niedrigen Preis Kapitalisten mit der nöti-gen Liquidität zu ihrer Übernahme überlassen. Doch variieren diegenauen Umstände vielfach. Die Vertreibung, zu der es in der »DustBowl«100 in den 1930er Jahren kam, und die Massenabwanderungder »Okies«, der Menschen aus Oklahoma, nach Kalifornien (dra-matisch beschrieben in Steinbecks Früchte des Zorns), waren krasseVorboten eines langen Prozesses der graduellen Verdrängung land-wirtschaftlicher Familienbetriebe in den USA durch das Agribusi-ness. Das zentrale Druckmittel für diesen Wandel war stets das Kre-ditsystem, aber der interessanteste Aspekt daran ist vielleicht, wieeine ganze Reihe staatlicher Institutionen, die angeblich als Hilfe fürden Erhalt landwirtschaftlicher Familienbetriebe eingerichtet wor-den waren, eine subversive Rolle dabei spielten, den Wandel, den sieeigentlich verhindern sollten, erst zu ermöglichen.

Die Akkumulation durch Enteignung erhielt nach 1973 eine im-mer herausragendere Bedeutung, teilweise als Kompensation für diein der erweiterten Reproduktion entstehenden chronischen Proble-me der Überakkumulation. Hauptvehikel dieser Entwicklung wardie Finanzialisierung und die effektive Abstimmung eines internati-

100 In der flachgewellten Grassteppe der Great Plains herrschte in den drei-ßiger Jahren für längere Zeit extreme Trockenheit, die zu Bodenerosion undgroßen Ernteverlusten führte. Weite Landstriche wurden immer wieder vonverheerenden Sandstürmen heimgesucht, so dass für das Sandsturm- und Dür-regebiet in Oklahoma schnell der Begriff der Dust Bowl geprägt wurde. VieleLandarbeiter und Farmer mussten ihre Farmen aufgeben, verloren ihren Besitzund mussten zwangsläufig diese Region verlassen. Viele zogen weiter nachWesten, größtenteils nach Kalifornien. (Anm. d. Übers.)

Kapitel 4

Page 156: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

155

onalen Finanzsystems – größtenteils auf Geheiß der USA –, das be-stimmten Gebieten oder auch ganzen Ländern von Zeit zu Zeit allesvon leichten bis hin zu brutalen Entwertungsrunden und der Akku-mulation durch Enteignung auferlegen konnte. Doch auch die Öff-nung neuer Länder für die kapitalistische Entwicklung und kapitali-stische Formen des Marktverhaltens spielte eine Rolle, ebenso wiedie ursprüngliche Akkumulation in den Ländern, die sich anschick-ten, aktiv im globalen Kapitalismus mitzuspielen (Südkorea, Taiwanund jetzt, noch dramatischer, China). All das erforderte nicht nurdie Finanzialisierung und einen freizügigeren Handel, sondern aucheine radikal neue Herangehensweise beim Einsatz der Staatsmacht,die ja immer ein zentraler Akteur bei der Akkumulation durch Ent-eignung ist. Das Aufkommen der neoliberalen Theorie und der mitihr verbundenen Politik der Privatisierung symbolisierte einen gro-ßen Teil dieser Verlagerung.

Privatisierung: Die Waffeder Akkumulation durch EnteignungDer Neoliberalismus als wirtschaftspolitische Doktrin reicht zurückbis in die späten 1930er Jahre. In seiner radikalen Einstellung gegenden Kommunismus, den Sozialismus und jegliche Form einer akti-ven Regierungsintervention, die über das hinausgeht, was nötig ist,um die privaten Eigentumsrechte, die Institutionen des Marktes unddie unternehmerischen Aktivitäten zu gewährleisten, war dieses inden 1940er Jahren von Denkern wie Friedrich August von Hayek,Ludwig von Mises, Milton Friedman und – zumindest zeitweilig –Karl Popper entwickelte Denksystem zunächst isoliert und weitge-hend ignoriert. Es sollte, wie von Hayek richtig vorhergesagt hatte,mindestens eine Generation dauern, bis neoliberale Ansichten mehr-heitsfähig werden konnten. Mit Hilfe der Finanzierung durch sym-pathisierende Unternehmen und der Gründung exklusiver Think-Tanks produzierte die Bewegung während der 1960er und 1970erJahre einen kontinuierlichen und stetig anschwellenden Strom vonAnalysen, Schriften, Polemiken und politischen Positionspapieren.Doch vom Mainstream wurden sie immer noch als größtenteils irre-levant abgetan und sogar mit verächtlichen Äußerungen bedacht. Erst

Akkumulation durch Enteignung

Page 157: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

156

nachdem die allgemeine Krise der Überakkumulation in den 1970erJahren so offensichtlich geworden war, wurde die Bewegung als Al-ternative zum Keynesianismus und anderen mehr auf den Staat kon-zentrierten Rahmenrichtlinien der Politik ernst genommen. Und eswar Margaret Thatcher, die auf der Suche nach einem besseren Rah-men für den Umgang mit den ökonomischen Problemen ihrer Zeitdie Bewegung politisch entdeckte und sich nach ihrer Wahl 1979 fürInspiration und Rat an deren Think-Tanks wandte.101 Zusammen mitReagan transformierte sie die Grundrichtung der staatlichen Maß-nahmen weg vom Wohlfahrtsstaat und hin zur aktiven Unterstüt-zung für die Bedingungen auf der »Angebotsseite« der Kapitalak-kumulation. Der IWF und die Weltbank veränderten ihre Rahmen-richtlinien fast über Nacht und innerhalb weniger Jahre war der neo-liberalen Doktrin ein sehr kurzer und siegreicher Marsch durch dieInstitutionen zur Beherrschung der Politik gelungen, zuerst in derangloamerikanischen Welt, aber anschließend auch in großen Teilendes übrigen Europas und der Welt. Da die Privatisierung und dieLiberalisierung des Marktes das Mantra der neoliberalen Bewegungwar, konnte dies nur zur Folge haben, dass ein Ziel der staatlichenPolitik gerade in einer neuen Runde der »Einhegung des Allgemein-besitzes« bestand. In Staats- oder Kollektiveigentum befindlicheVermögenswerte wurden auf den Markt freigesetzt, wo überakku-mulierendes Kapital in sie investieren, sie aufwerten und mit ihnenspekulieren konnte. Neue Gebiete profitabler Aktivität wurden er-öffnet, und dies trug zur Linderung des Überakkumulationsproblemsbei, zumindest für eine Weile. Einmal in Gang gebracht, erzeugtediese Bewegung jedoch ungeheuren Druck, im In- oder Ausland mehrund mehr Arenen für mögliche Privatisierungen zu finden.

In Thatchers Fall war der große Bestand an Sozialwohnungenunter den ersten Vermögenswerten, die privatisiert wurden. Auf denersten Blick wirkte dies wie ein Geschenk an die unteren Schichten,die nun zu relativ niedrigen Preisen von Mietern zu Eigentümernwerden, die Kontrolle über einen großen Vermögenswert erlangen

101 D. Yergin und J. Stanislaw, Staat oder Markt: die Schlüsselfrage unseresJahrhunderts (Frankfurt a.M.: Campus, 1999).

Kapitel 4

Page 158: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

157

und ihren Wohlstand vergrößern konnten. Doch sobald die Umwand-lung vollzogen war, machte sich Immobilienspekulation breit, ins-besondere in erstklassigen zentralen Lagen, was letztlich zur Folgehatte, dass in Städten wie London Bevölkerungsschichten mit nied-rigem Einkommen zum Auszug in die Peripherie bestochen, be-schwatzt oder gezwungen wurden und ehemalige Arbeiterwohnsied-lungen sich in Zentren intensiver Gentrifizierung verwandelten. DerVerlust von bezahlbarem Wohnraum verursachte Obdachlosigkeitund soziale Anomie in vielen Stadtvierteln. In Großbritannien be-deutete die anschließende Privatisierung der Versorgungsbetriebe(Wasserwerke, Telekommunikation, Strom- und Energielieferanten,Transport), der Verkauf aller Firmen in öffentlichem Besitz und dieeiner unternehmerischen Logik entsprechende Umformung vieleranderer öffentlicher Einrichtungen (etwa der Universitäten) einenradikalen Wandel des vorherrschenden Musters sozialer Beziehun-gen und eine Umverteilung der Vermögenswerte, die immer stärkerdie oberen statt die unteren Schichten begünstigte.

Dasselbe Muster der Vermögensumverteilung lässt sich fast über-all feststellen, wo es zu Privatisierungen kam. Für die Weltbank stelltedas Post-Apartheids-Südafrika das Vorzeigemodell für eine größereEffizienz durch Privatisierung und Marktliberalisierung dar. Sie warbbeispielsweise dafür, die Wasserversorgung entweder zu privatisie-ren oder städtische bzw. kommunale Versorgungsbetriebe nach demPrinzip der »totalen Kostendeckung« zu führen. Die Konsumentensollten für das von ihnen verbrauchte Wasser bezahlen, statt es alsfreies Gut zu erhalten. Durch höhere Einnahmen würden die Ver-sorgungsbetriebe, so die Theorie, Profite erzielen und ihren Serviceerweitern. Aber da sie sich die Gebühren nicht leisten konnten, wur-den mehr und mehr Menschen die Leistungen eingestellt und auf-grund geringerer Einnahmen erhöhten die Firmen die Preise undmachten Wasser für die Bevölkerungsschichten mit niedrigem Ein-kommen noch weniger bezahlbar. Viele Menschen waren gezwun-gen, sich ihr Wasser woanders zu besorgen, was zu einer Cholera-epidemie führte, an der viele Menschen starben. Das erklärte Ziel(fließendes Wasser für alle) konnte mit den Mitteln, auf die man be-stand, nicht erreicht werden. So zeigen McDonald et al. in umfang-

Akkumulation durch Enteignung

Page 159: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

158

reichen Untersuchungen über Südafrika, dass »Kostendeckung instädtischen Betrieben Familien mit niedrigem Einkommen in enor-mes Elend stürzt, eine riesige Zahl von Menschen von der Versor-gung abschneidet und vertreibt und die Chance auf ein gesundes undproduktives Leben für Millionen von Familien mit niedrigem Ein-kommen gefährdet«.102

Dieselbe Logik brachte Argentinien eine außerordentliche Welleder Privatisierung (der Wasser- und Energieversorgung, der Tele-kommunikations- und Transportdienste) ein, die einen enormenZustrom überakkumulierten Kapitals und eine solide Hochkonjunk-tur der Vermögenswerte bewirkte, gefolgt von einem Rückfall ingewaltige Verarmung (jetzt ausgedehnt auf mehr als die Hälfte derBevölkerung), als das Kapital abzog und woanders hinwanderte. Einweiteres Beispiel sind die mexikanischen Landrechte. Die mexikani-sche Revolutionsverfassung von 1917 schützte die Rechte der ein-heimischen Völker und bewahrte diese Rechte im Ejido-System, dasden kollektiven Besitz und die kollektive Nutzung des Bodens zu-ließ. 1991 verabschiedete die Salinas-Regierung ein Reformgesetz,das die Privatisierung von Ejido-Land nicht nur gestattete, sondernnoch förderte. Da das Ejido die Basis für die kollektive Sicherheitder einheimischen Bevölkerungsgruppen bildete, entledigte die Re-gierung sich damit letztlich ihrer Verantwortung für den Erhalt die-ser Sicherheitsgrundlage. Darüber hinaus war dies nur ein Punkt ineinem allgemeineren Paket von Privatisierungsmaßnahmen unterSalinas, die den Schutz der Sozialsysteme im Allgemeinen demon-tierten und vorhersehbare und dramatische Auswirkungen auf dieEinkommens- und Reichtumsverteilung hatten.103 Der Widerstandgegen die Ejido-Reform war weit verbreitet und die lautstärkstender Campesino-Gruppen unterstützten letztlich den Aufstand derZapatisten, der in Chiapas genau an dem Tag im Januar 1994 aus-brach, an dem die NAFTA-Vereinbarung in Kraft trat. Die anschlie-ßende Herabsetzung der Importbarrieren war ein weiterer Schlag,

102 D. McDonald und J. Pape, Cost Recovery and the Crisis of Service Deli-very in South Africa (London: Zed Books, 2002) S. 162.

103 J. Nash, Mayan Visions: The Quest for Autonomy in an Age of Globaliza-tion (New York: Routledge, 2001) S. 81-84.

Kapitel 4

Page 160: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

159

da nun billige Importe des effizienten, aber auch (mit bis zu 20% derKosten) stark subventionierten Agribusiness in den USA den Preisfür Mais und andere Produkte so stark senkten, dass kleine land-wirtschaftliche Produzenten nicht mithalten konnten. Seitdem wer-den viele dieser Produzenten dem Verhungern nahe von ihrem Landvertrieben und vergrößern die Reserve der Arbeitslosen in den über-füllten Städten. Ähnliche Auswirkungen auf die ländliche Bevölke-rung sind weltweit zu spüren. Billigimporte von Gemüse aus Kali-fornien und Reis aus Louisiana, die nach den Spielregeln der WTOerzielt wurden, vertreiben zum Beispiel jetzt die ländliche Bevölke-rung in Japan und Taiwan. Unter der Herrschaft der WTO vernich-tet ausländische Konkurrenz das ländliche Leben in Indien. Faktischwird, wie Roy berichtet, »Indiens ländliche Ökonomie, von dersiebenhundert Millionen Menschen leben, stranguliert. Bauern, diezuviel produzieren, sind in Not, Bauern, die zu wenig produzieren,sind in Not, und landlose Landarbeiter sind arbeitslos, weil großeGüter und Höfe ihre Arbeiter entlassen. Sie alle drängen in die Städ-te auf der Suche nach Arbeit.«104 In China gehen Schätzungen davonaus, dass eine halbe Milliarde Menschen im Lauf der nächsten zehnJahre von der wachsenden Verstädterung aufgenommen werdenmüssen, wenn Chaos und Revolte auf dem Lande vermieden wer-den sollen. Was sie in den Städten tun werden, bleibt unklar, allerdingswerden, wie wir gesehen haben, die gewaltigen materiellen Infrastruk-turpläne ein wenig zur Abfederung der sozialen Not beitragen.

Roy kommt zu dem Schluss, Privatisierung sei im Grunde ge-nommen »der Transfer produktiver öffentlicher Vermögenswertevom Staat auf private Firmen. Produktive Vermögenswerte schlie-ßen natürliche Ressourcen ein: Erde, Wald, Wasser, Luft. Das sinddie Vermögenswerte, die der Staat für die Menschen, die er reprä-sentiert, treuhänderisch verwaltet. … Diese dem Volk zu entreißenund als Aktienkapital an Privatfirmen zu verkaufen, ist ein Prozessder barbarischen Enteignung in einem historisch nie gekannten Aus-maß.«105

104 A. Roy, Power Politics (Cambridge, Mass.: South End Press, 2001), S. 16.105 A.a.O., S. 43.

Akkumulation durch Enteignung

Page 161: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

160

Dass der Aufstand der Zapatisten im mexikanischen Chiapas vielmit dem Schutz der Rechte einheimischer Völker zu tun hatte, waroffensichtlich. Ebenso offensichtlich war der Auslöser für diese Be-wegung die Verbindung von Initiativen zur Privatisierung des All-gemeinbesitzes und der Eröffnung des freien Handels durch dieNAFTA. Dies wirft jedoch die allgemeine Frage nach dem Wider-stand gegen die Akkumulation durch Enteignung auf.

Kämpfe um die Akkumulation durch EnteignungDie ursprüngliche Akkumulation, wie Marx sie darstellt, brachte eineganze Reihe gewaltsamer und episodischer Kämpfe mit sich. DieGeburt des Kapitals war keine friedliche Angelegenheit. Sie wurdein die Annalen der Welt eingeschrieben, wie Marx es formuliert, »mitZügen von Blut und Feuer«. Christopher Hill berichtet in The WorldTurned Upside Down detailliert, wie sich diese Kämpfe im Großbri-tannien des 17. Jahrhunderts entspannen, als die Kräfte der privatenMacht und des Grundbesitzes wiederholt mit diversen unterschied-lichen Volksbewegungen zusammenprallten, die vom Kapitalismusund der Privatisierung weg auf radikal andere Formen der sozialenund kommunalen Organisation abzielten.106 In unserer Zeit hat dieAkkumulation durch Enteignung in ähnlicher Weise politische undsoziale Kämpfe ausgelöst und Scharen von Widerstandsgruppen er-zeugt. Viele davon bilden jetzt den Kern einer vielfältigen und schein-bar formlosen, aber weit verbreiteten Anti- oder alternativen Glo-balisierungsbewegung. Der Gärstoff an alternativen Ideen innerhalbdieser Bewegungen kann es mit der Fruchtbarkeit der Ideen aus an-deren historischen Phasen vergleichbarer Störungen von Lebenswei-sen und sozialen Beziehungen aufnehmen (etwa 1640 bis 80 in Groß-britannien und 1830 bis 48 in Frankreich). Die Betonung des The-mas »Zurückforderung des Allgemeinbesitzes« innerhalb dieser Be-wegungen zeigt jedoch die weitreichenden Kontinuitäten mit denKämpfen von vor langer Zeit.

106 C. Hill, The World Turned Upside Down (Harmondsworth: Penguin,1984).

Kapitel 4

Page 162: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

161

Der Interpretation und Analyse bereiten diese Kämpfe jedochernsthafte Schwierigkeiten. Man kann kein Omelette machen, ohneEier zu zerbrechen, lautet ein altes Sprichwort, und die Geburt desKapitalismus brachte heftige und oft gewaltsame Episoden der schöp-ferischen Zerstörung mit sich. Die Klassengewalt war zwar abscheu-lich, doch auf der positiven Seite wurden die feudalen Verhältnisseabgeschafft, kreative Energien freigesetzt, die Gesellschaft für star-ke Strömungen technologischer und organisatorischer Veränderun-gen geöffnet und eine auf Aberglauben und Unwissenheit gegrün-dete Welt überwunden und ersetzt durch eine Welt der wissenschaft-lichen Aufklärung mit dem Potenzial, die Menschen von materiel-lem Mangel und materieller Not zu befreien. Aus dieser Perspektive,könnte man sagen, war die ursprüngliche Akkumulation ein not-wendiges, wenn auch hässliches Stadium, durch das die soziale Ord-nung hindurchgehen musste, um in einen Zustand zu gelangen, indem sowohl der Kapitalismus als auch eine sozialistische Alternati-ve möglich sein könnten. Marx maß (im Gegensatz zu Anarchistenwie Reclus und Kropotkin und den Anhängern der William-Morris-schen Strömung des Sozialismus) den durch die ursprüngliche Ak-kumulation zerstörten Gesellschaftsformen, wenn überhaupt, we-nig Wert bei. Und er trat auch nicht für die Aufrechterhaltung desStatus quo ein und ganz gewiss nicht für eine Rückkehr zu den vor-kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Produktions-weisen. In seinen Augen beinhaltete die kapitalistische Entwicklung,und sogar der britische Imperialismus in Indien, durchaus auch pro-gressive Elemente (eine Position, die den antiimperialistischen Be-wegungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel Respektabnötigte, wie die eisige Rezeption von Bill Warrens Werk über denImperialismus als dem Wegbereiter des Kapitalismus zeigte).107

Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung in jeder politi-schen Evaluation von gegenwärtigen imperialistischen Praktiken.

107 Zu Marx’ Haltung zu Indien siehe K. Marx, »Die britische Herrschaft inIndien« (MEW Bd. 6), und »Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaftin Indien« (MEW Bd. 9); B. Warren, Imperialism: Pioneer of Capitalism (Lon-don: Verso, 1981).

Akkumulation durch Enteignung

Page 163: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

162

Zwar ist der Ausbeutungsgrad von Arbeitskraft in Entwicklungs-ländern zweifellos hoch und es können zahlreiche Fälle von Miss-brauch ausgemacht werden, doch die ethnographischen Berichte überden sozialen Wandel, der in vielen Teilen der Welt durch die auslän-dischen Direktinvestitionen, die industrielle Entwicklung und dieOffshore-Produktionssysteme ausgelöst wird, erzählen eine kom-pliziertere Geschichte. In manchen Fällen hat sich die Position vonFrauen, die das Gros der Arbeitskraft stellen, signifikant verändert,wenn nicht verbessert. Vor die Wahl gestellt, bei der industriellenArbeit zu bleiben oder in die ländliche Verarmung zurückzukehren,ziehen offenbar viele Menschen innerhalb des neuen Proletariats daserstere vor. In anderen Fällen konnte die neue Klasse ausreichendeMacht erringen, um echte materielle Gewinne und einen den ernied-rigenden Umständen einer früheren ländlichen Existenz weit über-legenen Lebensstandard zu erreichen. Demnach ist es fraglich, obbeispielsweise das indonesische Problem in der Auswirkung der ra-piden kapitalistischen Industrialisierung zwischen den 1980er undden 1990er Jahren auf die Lebenschancen bestand oder in der Ent-wertung und Deindustrialisierung durch die finanzielle Krise von1997/98, die vieles von dem, was durch die Industrialisierung erreichtworden war, wieder zerstörte. Was also war das schwerwiegendereProblem: der Import und Einlass der Kapitalakkumulation durchdie erweiterte Reproduktion in die indonesische Wirtschaft oder dervöllige Abbruch dieser Aktivität durch die Akkumulation durch Ent-eignung? Zwar war die letztere ganz offensichtlich eine logische Folgeder ersteren und die wahre Tragödie besteht natürlich darin, dassganze Bevölkerungen (manchmal zwangsweise) zu einem Teil desProletariats gemacht wurden, nur um sie unmittelbar darauf als über-flüssige Arbeitskraft wieder fallen zu lassen, aber ich halte es den-noch für plausibel, dass der zweite Schritt den langfristigen Hoff-nungen, Zielen und Möglichkeiten der Masse der verarmten Bevöl-kerung sehr viel größeren Schaden zufügte als der erste. Das impli-ziert, dass die ursprüngliche Akkumulation, die einen Weg in dieerweiterte Reproduktion eröffnet, die eine Sache ist, die Akkumula-tion durch Enteignung, die einen bereits eröffneten Weg abschnei-det und zerstört, eine andere.

Kapitel 4

Page 164: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

163

Die Erkenntnis, dass die ursprüngliche Akkumulation ein not-wendiger Vorläufer positiverer Veränderungen sein mag, führt zuder umfassenden Fragestellung der Enteignungspolitik im Sozialis-mus. Sie wurde innerhalb der marxistisch-kommunistischen revolu-tionären Tradition oft für notwendig gehalten, um das Äquivalenteiner ursprünglichen Akkumulation zu organisieren, damit in denLändern, in denen die kapitalistische Entwicklung noch nicht einge-setzt hatte, Modernisierungsprogramme durchgeführt werden konn-ten. Dies bedeutete manchmal entsetzliche Gewalt in einem ähnli-chen Ausmaß wie bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaftin der Sowjetunion (der Liquidierung der Kulaken), in China und inOsteuropa. Diese Politik war wohl kaum eine große Erfolgsstoryund führte zu politischem Widerstand, der in manchen Fällen scho-nungslos niedergeschlagen wurde. Diese Methode schuf, wo immersie angewandt wurde, ihre eigenen Schwierigkeiten. Die Schwierig-keiten, die die Sandinisten in Nicaragua mit den Mesquito-Indiosvon der Atlantikküste hatten, als sie eine sozialistische Entwicklungder Region planten, schufen ein trojanisches Pferd, durch das dieCIA ihre erfolgreiche Contra-Offensive gegen die Revolution ins-zenieren konnte.

Während also die Kämpfe gegen die ursprüngliche Akkumulati-on den Boden für aufständische Bewegungen, einschließlich der bäu-erlichen Bevölkerung, bereiten konnte, lag der springende Punkt inder sozialistischen Politik nicht in der Bewahrung der alten Ord-nung, sondern darin, die Klassenverhältnisse und die Formen derStaatsmacht, denen es um eine Umgestaltung dieser Ordnung ging,direkt anzugreifen und so eine völlig andere Struktur der Klassenbe-ziehungen und Staatsmacht zu erzielen. Dieser Gedanke war für vieleder revolutionären Bewegungen, die in der Zeit unmittelbar nachdem Zweiten Weltkrieg die Entwicklungsländer überschwemmten,zentral. Sie bekämpften den kapitalistischen Imperialismus, taten diesjedoch im Namen einer alternativen Modernität statt in der Vertei-digung der Tradition. Dabei stellten sie oft fest, dass ihre Gegnerdiejenigen waren, die die Bewahrung, wenn nicht die Wiederbele-bung traditioneller Produktions-, kultureller Normen- und sozialerBeziehungssysteme anstrebten.

Akkumulation durch Enteignung

Page 165: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

164

Aufständische Bewegungen gegen die Akkumulation durch Ent-eignung schätzten es nicht unbedingt, vom sozialistischen Interven-tionismus vereinnahmt zu werden. Die gemischte Erfolgsbilanz dersozialistischen Alternative (anfangs waren die frühen Errungenschaf-ten Kubas eine Quelle der Gesundheitsfürsorge, der Bildung undder Agronomie Inspiration, ehe sie ins Stocken gerieten) und dasgrößtenteils durch die Politik des Kalten Krieges bestimmte repres-sive politische Klima machten es zunehmend schwierig für die tradi-tionelle Linke, im Verhältnis zu diesen sozialen Bewegungen eineFührungsposition zu behaupten statt eine auf Zwang basierende Vor-herrschaft.

Die aufständischen Bewegungen gegen die Akkumulation durchEnteignung nahmen im Allgemeinen einen anderen politischen Wegund standen der sozialistischen Politik unter manchen Umständenrecht feindselig gegenüber. Dies hatte manchmal ideologische, inanderen Fällen auch schlicht pragmatische und organisatorischeGründe, die sich aus dem ergaben, worum es in diesen Kämpfengenau ging und geht. Zunächst einmal war und ist die Vielfältigkeitsolcher Kämpfe schlicht überwältigend. Es ist sogar schwierig, siemiteinander in Verbindung zu bringen. Die Kämpfe des Volkes derOgoni gegen die Verwüstung ihres Landes durch Shell, die langenKämpfe gegen die von der Weltbank unterstützten Dammbaupro-jekte in Indien und Lateinamerika, Bauernbewegungen gegen dieBiopiraterie, Kämpfe gegen genetisch veränderte Nahrungsmittel undfür die Bewahrung örtlicher Produktionssysteme, das Eintreten fürden Erhalt des Zugangs einheimischer Völker zu Waldreservaten unddie gleichzeitige Behinderung der Aktivitäten der Holzfirmen, poli-tische Kämpfe gegen Privatisierungsmaßnahmen, Bewegungen fürArbeiter- oder Frauenrechte in Entwicklungsländern, Kampagnenzum Schutz der Artenvielfalt und zur Verhinderung der Zerstörungvon Lebensräumen, Bauernbewegungen für Bodennutzungsrechte,Proteste gegen den Bau von Überlandstraßen und Flughäfen, buch-stäblich Hunderte von Protesten gegen vom IWF auferlegte Auste-ritätsprogramme – all das ist Teil einer unbeständigen Mischung vonProtestbewegungen, die sich in der Welt ausbreitete und in den 1980erJahren und danach zunehmend die Schlagzeilen für sich beanspruch-

Kapitel 4

Page 166: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

165

te.108 Diese Bewegungen und Revolten wurden regelmäßig mit im-menser Gewalt niedergeschlagen, größtenteils durch die Staatsmacht,die im Namen von »Ordnung und Stabilität« agierte. Satellitenstaa-ten, unterstützt durch das Militär oder in manchen Fällen durch vongroßen Militärapparaten ausgebildete Spezialeinheiten (angeführtdurch die USA, in Nebenrollen Großbritannien und Frankreich),taten sich in einem System der Repressionen und Liquidierungenbesonders darin hervor, Aktivistenbewegungen, die die Akkumula-tion durch Enteignung ablehnen, rücksichtslos zu unterdrücken.

Diesem komplizierten Bild muss die, insbesondere nach etwa 1970,außerordentliche Vermehrung internationaler Nichtregierungsorga-nisationen (NGOs) hinzugefügt werden, von denen die meisten sichpolitischen Einzelfragen widmen (der Umwelt, der Stellung von Frau-en, den Bürgerrechten, den Arbeitsrechten, der Armutsbekämpfungu.ä.). Einige dieser NGOs sind aus religiösen und humanistischenTraditionen des Westens hervorgegangen, andere wurden im Namender Armutsbekämpfung gegründet, aber finanziert von Gruppen,die beharrlich das Ziel der Ausbreitung des Markthandels verfolgen.Es ist schwer, sich nicht überwältigen zu lassen durch die Mengeund Vielfalt der Themen oder die Spannbreite der Ziele. Eine Akti-vistin wie Roy formuliert es so: »Was mit unserer Welt geschieht, istfast zu gewaltig, als dass der menschliche Verstand es fassen könnte.Aber es ist etwas sehr, sehr Schreckliches. Es in seiner Gesamtheit zureflektieren, zu versuchen, es zu definieren, alles gleichzeitig bekämp-fen zu wollen, ist unmöglich. Der einzige Weg, dagegen zu kämpfenist, spezielle Kriege in spezieller Weise zu führen.«109

Aber die Bewegungen sind nicht nur formlos. Sie weisen oft in-terne Widersprüche auf, beispielsweise wenn einheimische Volks-gruppen das Recht auf Gebiete zurückfordern, deren EinzäunungUmweltschützer zum Schutz der Artenvielfalt und dem Erhalt vonLebensräumen für entscheidend halten. Und teilweise weicht, auf-

108 B. Gills (Hrsg.), Globalization and the Politics of Resistance (Basingsto-ke, Hampshire: Macmillan, 2000) ist eine hervorragende Sammlung, die einenTeil dieser Vielfalt widerspiegelt.

109 Roy, Power Politics, S. 86.

Akkumulation durch Enteignung

Page 167: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

166

grund der ganz eigenen Umstände, die solche Bewegungen entste-hen lassen, ihre politische Orientierung und Organisationsweise auchmerklich von denen ab, die sich typischerweise im Umfeld der er-weiterten Reproduktion bildeten. Der Zapatistenaufstand beispiels-weise strebte nicht die Übernahme der Staatsmacht oder eine politi-sche Revolution an. Vielmehr ging es ihm darum, dass eine Politikder stärkeren Inklusion die gesamte Zivilgesellschaft durchwirkensollte, in einer offeneren und mehr im Fluss befindlichen Suche nachAlternativen, die die spezifischen Bedürfnisse verschiedener Gesell-schaftsgruppen berücksichtigen und ihnen gestatten würden, ihr Loszu verbessern. Organisatorisch neigten sie dazu, Avantgardismus zuvermeiden, und sie weigerten sich, die Form einer politischen Parteianzunehmen. Statt dessen zogen sie es vor, eine soziale Bewegunginnerhalb des Staates zu bleiben, in dem Versuch, einen politischenMachtblock zu bilden, in dem einheimische Kulturen zentral wärenstatt peripher. So strebten sie so etwas wie eine passive Revolutioninnerhalb der territorialen Logik der Macht an, über die der mexika-nische Staatsapparat gebietet.110

Die Auswirkung all dieser Bewegungen insgesamt war, das Ter-rain der politischen Organisation weg von traditionellen politischenParteien und Arbeiterorganisationen auf etwas zu verlagern, was inseiner Gesamtheit eine weniger konzentrierte politische Dynamikgesellschaftlichen Agierens quer durch das ganze Spektrum der Zi-vilgesellschaft sein musste. Was diese Bewegung an Konzentrationverlor, gewann sie in Bezug auf die Relevanz für und Verankerung indie Politik des Alltagslebens. Aus dieser Verankerung zog sie ihreStärke, hatte jedoch gerade dadurch häufig Schwierigkeiten, sich vomLokalen und Besonderen freizumachen, um die Makropolitik derAkkumulation durch Enteignung zu verstehen.

Es ist jedoch eine Gefahr, all diese Kämpfe gegen Enteignung alsper definitionem »progressiv« zu betrachten oder, noch schlimmer,sie unter eine homogenisierende Überschrift zu fassen wie der von

110 Nash, Mayan Visions; A. Morton, »Mexico, Neoliberal Restructuring andthe EZLN: A Neo-Gramscian Analysis«, in: Gills (Hrsg.), Globalization, S.255-79.

Kapitel 4

Page 168: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

167

Hardt und Negris »Multitude«, die sich auf eine wunderbare Weiseerheben wird, um die Erde zu erben.111 Das ist in meinen Augen derPunkt, an dem die echten politischen Schwierigkeiten liegen. Dennwenn Marx auch nur teilweise Recht hat mit der Behauptung, dieursprüngliche Akkumulation könne manchmal etwas Progressivesbeinhalten, dass man, um ein Omelette zu machen, ein paar Eier zer-brechen müsse, dann müssen wir schwierige Entscheidungen direktangehen. Und zwar die Entscheidungen, vor denen die Anti- oderalternativen Globalisierungsbewegungen jetzt stehen und die dro-hen, eine Bewegung zu zersprengen, die für den antikapitalistischenund antiimperialistischen Kampf so vielversprechend zu sein scheint.Das möchte ich gern näher ausführen.

Der doppelte Raum des antikapitalistischenund antiimperialistischen KampfesEs war die klassische Haltung der marxistisch-sozialistischen Lin-ken, dass das Proletariat, definiert als Lohnarbeiter ohne Zugang zuoder Eigentum an den Produktionsmitteln, der Schlüsselakteur inhistorischen Veränderungen sei. Der zentrale Widerspruch bestandzwischen Kapital und Arbeit, und zwar innerhalb und rund um dieProduktion. Das Hauptinstrument der Organisation der Arbeiter-klasse waren die Gewerkschaften und politische Parteien, deren Zieldarin bestand, die Staatsmacht zu übernehmen, um die Vorherrschaftder kapitalistischen Klasse entweder zu regulieren oder abzulösen.Im Mittelpunkt standen daher die Klassenverhältnisse und die Klas-senkämpfe auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation, verstanden alserweiterte Reproduktion. Alle anderen Formen von Kämpfen wur-den als nebensächlich und sekundär angesehen oder sogar als peri-pher oder irrelevant abgetan. Dieses Thema existierte natürlich invielen Nuancen und Variationen, doch in ihrem gemeinsamen Kernherrschte die Ansicht vor, das Proletariat sei der einzige Akteur deshistorischen Wandels. Die diesem Rezept entsprechend geführtenKämpfe trugen einen großen Teil des 20. Jahrhunderts hindurch be-

111 Hardt und Negri, Empire.

Akkumulation durch Enteignung

Page 169: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

168

merkenswerte Früchte, insbesondere in den fortgeschrittenen kapi-talistischen Ländern. Zwar kam es nicht zu revolutionären Verände-rungen, aber die wachsende Macht der Organisationen und politi-schen Parteien der Arbeiterklasse errang ansehnliche Verbesserun-gen des materiellen Lebensstandards, verbunden mit der Institu-tionalisierung einer breiten Spanne sozialer Absicherungen. Die so-zialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten, die insbesondere in West-europa und Skandinavien entstanden, konnten trotz der ihneninnewohnenden Probleme und Schwierigkeiten als Modell einer pro-gressiven Entwicklung angesehen werden. Und ohne die sehr ziel-strebigen proletarischen Organisationen im Rahmen der erweiter-ten Reproduktion, wie man sie im Nationalstaat kannte, wären sienicht zustande gekommen. Ich halte es für wichtig, die Bedeutungdieser Leistung anzuerkennen.

Während diese einseitige Orientierung nun aber produktive Er-gebnisse vorzuweisen hat, wurden diese jedoch um den Preis zahllo-ser Ausschlüsse erkauft. So scheiterte etwa die versuchte Integrationvon städtischen sozialen Bewegungen in das Programm der Linkenzumeist, außer natürlich in den Teilen der Welt, in denen eine komm-unitaristische Politik vorherrschte. Die vom Arbeitsplatz und demProduktionsort abgeleitete Politik dominierte die Politik des Lebens-raums. Soziale Bewegungen wie der Feminismus und die Umwelt-bewegung gehörten nicht in das Ressort der traditionellen Linken.Und das Verhältnis zwischen den internen Kämpfen für soziale Ver-besserungen und den für den Imperialismus charakteristischen ex-ternen Verdrängungen wurde gewöhnlich ignoriert (mit dem Resul-tat, dass ein großer Teil der Arbeiterbewegung in den fortgeschritte-nen kapitalistischen Ländern in die Falle ging, als Arbeiteraristokra-tie nur am Erhalt ihrer eigenen Privilegien interessiert zu sein, wennnötig auch durch den Imperialismus). Kämpfe gegen die Akkumula-tion durch Enteignung galten als irrelevant. Diese zielgerichteteKonzentration eines großen Teils der marxistisch und kommunis-tisch inspirierten Linken auf proletarische Kämpfe unter Ausschlussaller anderen war ein verhängnisvoller Fehler. Denn aufgrund derorganischen Verbindung dieser beiden Formen des Kampfes inner-halb der historischen Geographie des Kapitalismus entmachtete die

Kapitel 4

Page 170: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

169

Linke sich damit nicht nur selbst, sondern lähmte auch ihre analyti-schen und programmatischen Kräfte, indem sie die eine Seite dieserDualität vollkommen ignorierte.

In der gebremsten Dynamik des Klassenkampfes nach der Krisevon 1973 gerieten die Bewegungen der Arbeiterklasse überall in dieDefensive. Diese Kämpfe entwickelten sich zwar sehr ungleichmä-ßig (abhängig von der Stärke des Widerstands), sie bewirkten jedocheine allgemeine Schwächung der Macht dieser Bewegungen, dieMarschroute der globalen kapitalistischen Entwicklung zu beeinflus-sen. Die rapide Erweiterung der Produktion in Ost- und Südostasi-en fand in einer Welt statt, in der, mit der einzigen Ausnahme Süd-koreas, unabhängige (im Gegensatz zu unternehmerischen) Gewerk-schaftsbewegungen entweder nicht existierten oder massiv unter-drückt wurden und Kommunismus und Sozialismus als politischeBewegungen gewaltsam niedergeschlagen wurden (das indonesischeBlutbad von 1965, als Suharto Sukarno stürzte und bis zu einer Mil-lion Menschen getötet wurden, war der brutalste Fall). Woanders,in Lateinamerika, in Europa und Nordamerika, waren die traditio-nellen Formen der Arbeiterorganisation durch die Zunahme des Fi-nanzkapitals, den freieren Handel und die Disziplinierung des Staatsdurch grenzüberschreitende Geldströme, die in liberalisierte Kapi-talmärkte flossen, nicht mehr so angemessen und infolgedessen we-niger erfolgreich. Revolutionäre und sogar reformistische Bewegun-gen (wie in Chile unter Allende) wurden gewaltsam durch militäri-sche Macht unterdrückt.

Doch die immense Schwierigkeit, die erweiterte Reproduktionaufrechtzuerhalten, führte auch zu einer viel nachdrücklicheren Po-litik der Akkumulation durch Enteignung. Die für die Bekämpfungder ersteren entwickelten Organisationsformen ließen sich nicht gutübertragen, als es darum ging, sich der letzteren zu stellen. Grobverallgemeinert lässt sich sagen, die während des Aufstiegs der er-weiterten Reproduktion in der Zeit von 1945 bis 73 etablierten For-men der linken politischen Organisation wurden in der Welt nach1973, als Akkumulation durch Enteignung innerhalb der imperialis-tischen Organisation der Kapitalakkumulation als Hauptwiderspruchzutage trat, unangemessen. Resultat war das Aufkommen einer neu-

Akkumulation durch Enteignung

Page 171: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

170

artigen Politik des Widerstands, die sich schließlich mit einer alter-nativen Vision, die vom Sozialismus und Kommunismus abwich, aus-rüstete. Dieser Unterschied wurde früh erkannt, beispielsweise vonSamir Amin, speziell im Hinblick auf die Kämpfe in den Gebieten,die er die peripheren Zonen des Kapitalismus nannte: »Die der kapi-talistischen Expansion innewohnende ungleiche Entwicklung hat eineandere Art von Revolution auf die Tagesordnung der Geschichtegesetzt, die der Völker (d. h. nicht spezieller Klassen) der Peripherie.Diese Revolution ist antikapitalistisch in dem Sinne, dass sie sichgegen kapitalistische Entwicklung in ihrer tatsächlichen Existenz-form wendet, denn diese ist für die Völker unerträglich. Aber dasbedeutet nicht, dass diese antikapitalistischen Revolutionen sozia-listisch sind. … Aufgrund des Zwangs der Verhältnisse haben sie einekomplexe Natur. Der Ausdruck ihrer spezifischen und neuen Wi-dersprüche, der in der klassischen Perspektive des sozialistischenWandels, wie Marx ihn sich vorstellte, nicht berücksichtigt wurde,gibt postkapitalistischen Regimes ihren wahren Gehalt, nämlich deneiner populären nationalen Konstruktion, in der sich die drei Ten-denzen von Sozialismus, Kapitalismus und Staatsverbundenheit ver-binden und einander widersprechen.« Leider, so argumentiert Aminweiter, leben heute viele Bewegungen »von der spontanen Revoltedes Volks gegen die inakzeptablen Zustände, die der periphere Kapi-talismus hervorbringt; es ist ihnen jedoch bislang nicht gelungen,Forderungen nach derjenigen doppelten Revolution zu stellen, inder Modernisierung und Demokratie zusammenkommen müssen;infolgedessen drückt sich ihre fundamentale Dimension, die sich vomrückwärtsgerichteten Mythos nährt, weiterhin in einer Sprache aus,in der die ganze soziale Vision ausschließlich unter metaphysischemEinfluss steht.«112

Ich glaube zwar nicht, dass die Akkumulation durch Enteignungausschließlich der Peripherie vorbehalten ist, doch sicherlich stimmtes, dass einige ihrer brutalsten und unmenschlichsten Manifestatio-

112 S. Amin, »Social Movements at the Periphery«, in P. Wignaraja (Hrsg.),New Social Movements in the South: Empowering the People (London: ZedBooks, 1993), S. 95.

Kapitel 4

Page 172: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

171

nen durch die ungleiche geographische Entwicklung in den verwund-barsten und am stärksten verwüsteten Regionen liegen.

Kämpfe um die Enteignung finden jedoch auf diversen Ebenenstatt. Viele sind lokal, andere regional und wieder andere global, sodass die Relevanz der Beherrschung des Staatsapparats – das vorran-gige Ziel traditioneller sozialistischer und kommunistischer Bewe-gungen – offenbar immer weiter abnimmt. Wenn diese Verlagerungmit einer wachsenden Desillusion über das, was der sozialistischeInterventionismus bisher erreichen konnte, einhergeht, treten dieGründe für die Suche nach einer alternativen Politik noch stärkerhervor. Die Ziele und Zielvorstellungen solcher Kämpfe sind, wieAmin bemerkt, ebenfalls diffus und hängen in hohem Maße von denunstrukturierten, fragmentarischen und kontingenten Formen ab,die die Akkumulation durch Enteignung annimmt. Zerstörung desLebensraums hier, Privatisierung von Versorgungsdiensten dort, wo-anders Vertreibung aus dem Land und in wiederum einem anderenGebiet Biopiraterie – jede Form schafft ihre eigene Dynamik. DieTendenz geht daher dahin, sich auf die ad hoc gebildeten, aber fle-xibleren Organisationsformen zu verlassen, die man innerhalb derZivilgesellschaft aufbauen kann, um auf solche Angriffe zu reagie-ren. Der ganze Bereich der antikapitalistischen, antiimperialistischenund Antiglobalisierungskämpfe ist infolgedessen umstrukturiert undeine sehr andere politische Dynamik in Gang gebracht worden.

Für viele Kommentatoren verdienen diese neuen Bewegungen mitihren speziellen Qualitäten die Bezeichnung »postmodern«. DerAufstand der Zapatisten wurde häufig so bezeichnet. Nun war dieBeschreibung solcher Bewegungen zweifellos treffend, doch die Be-zeichnung »postmodern« ist unglücklich gewählt. Es mag albernerscheinen, sich um ein Wort zu streiten, aber die starken Konnota-tionen sind wichtig. Zunächst besteht eine gewisse Schwierigkeit inder der Vorsilbe »post« unvermeidlich zugeschriebenen und inne-wohnenden Periodisierung und Historisierung. Es hat, wie ich be-reits angedeutet habe, bis heute viele Episoden der ursprünglichenAkkumulation und der Akkumulation durch Enteignung innerhalbder historischen Geographie des Kapitalismus gegeben. Eric WolfsStudie Peasant Wars of the Twentieth Century betrachtet eine Di-

Akkumulation durch Enteignung

Page 173: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

172

mension solcher Kämpfe in vergleichender Perspektive, ohne auf ir-gendeine Weise auf die Idee der Postmodernität zurückzugreifen.Daher ist es ein wenig überraschend festzustellen, dass June Nash,deren Darstellung der sich wandelnden Verhältnisse in Chiapas sichin so vorbildlicher Weise auf Beweise stützt, der Bezeichnung »post-modern« als Beschreibung für die Zapatisten zustimmt, obgleich essicherlich mehr Sinn ergibt, diesen Kampf vor dem Hintergrund ei-ner langen Geschichte solcher Kämpfe seitens der einheimischen undbäuerlichen Bevölkerungen gegen die Übergriffe des kapitalistischenImperialismus und die ständige Drohung der Enteignung dessen, wassie an Vermögenswerten kontrollieren, durch Eingriffe der Staats-macht zu sehen. Im Fall der Zapatisten ist es meiner Meinung nachvon ganz besonderer Bedeutung, dass der Kampf zuerst in den Wäl-dern des Flachlands ausbrach, wo versprengte vertriebene Einhei-mische ein Bündnis mit Mestizen schlossen, und zwar auf der Grund-lage ihrer vergleichbaren Verarmung und der systematischen Ver-weigerung jeglicher Profite aus dem Abbau von Ressourcen (haupt-sächlich Öl und Bauholz) aus der von ihnen bewohnten Region. Dieanschließende Darstellung dieser Bewegung als eine, in der es aus-schließlich um »einheimische Völker« ging, mag mehr mit dem An-spruch auf Legitimität unter Berufung auf die mexikanische Verfas-sung, die die Rechte der einheimischen Völker schützt, zu tun ge-habt haben als mit einer tatsächlichen Beschreibung der Ursprün-ge.113

Doch so wie die Absage an eine »organische Verknüpfung« zwi-schen Akkumulation durch Enteignung und erweiterter Reproduk-tion die Vision der traditionellen Linken ihrer Macht beraubte undsie beschränkte, hat der Rückgriff auf die Vorstellung des postmo-dernen Kampfes dieselbe Auswirkung auf die neu entstehenden Be-wegungen gegen die Akkumulation durch Enteignung. Zwischen denbeiden Denkweisen und Organisationsstilen innerhalb der Antiglo-balisierungsbewegung ist bereits deutlich eine Form von Feindselig-

113 E. Wolf, Peasant Wars of the Twentieth Century (New York: HarperCollins, 1969); Nash, Mayan Visions; Morton, »Mexico«.

Kapitel 4

Page 174: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

173

keit in Erscheinung getreten. Ein ganzer Flügel der Bewegung be-trachtet den Kampf um die Kontrolle des Staatsapparats nicht nurals irrelevant, sondern als einen illusorischen Irrweg. Die Antwortliegt, sagen sie, in der Lokalisierung von allem.114 Dieser Flügel tutauch die Gewerkschaftsbewegung zumeist als geschlossen moder-nistische, reaktionäre und repressive Organisationsform ab, die ab-gelöst werden müsse durch die mehr im Fluss befindlichen und offe-neren postmodernen Formen der sozialen Bewegung. So sehen sichdie aufkommenden Gewerkschaftsbewegungen, etwa in Indonesienund Thailand, die genau dieselben neoliberalen Kräfte der Unter-drückung bekämpfen wie die Zapatisten, wenn auch unter ganz an-deren Umständen und auf einer ganz anderen sozialen und kulturel-len Grundlage, ausgeschlossen. Andererseits betrachten viele tradi-tionelle Sozialisten die neuen Bewegungen als naiv und selbstzerstö-rerisch, als könne man absolut nichts Interessantes von ihnen lernen.Abgründe dieser Art schaffen Uneinigkeit, wie einige der Debattenbei den letzten Weltsozialforen in Porto Alegre erkennen ließen. DieÜbernahme der Staatsmacht durch die brasilianische Arbeiterpartei,die offensichtlich eine »Arbeiter-Basis« hat und sich teilweise mitHilfe der Mittel der traditionellen Linken um Unterstützung bemüht,macht die Diskussion sowohl schärfer als auch dringlicher.

Aber die Unterschiede können auch nicht unter dem nebulösenBegriff der sich in ständiger Bewegung befindlichen »Multitude«begraben werden. Sie müssen sowohl politisch als auch analytischangegangen werden. Auf der letzteren Ebene erweist sich Luxem-burgs Formulierung als extrem hilfreich. Die kapitalistische Akku-mulation hat tatsächlich einen Doppelcharakter. Doch die beidenAspekte der erweiterten Reproduktion und der Akkumulation durchEnteignung sind ursprünglich verbunden und dialektisch verwoben.Daraus folgt, dass die Kämpfe auf dem Gebiet der erweiterten Re-produktion (die die traditionelle Linke so stark betonte) in einer di-alektischen Beziehung zu den Kämpfen gegen die Akkumulation

114 Eine besonders starke Version dieser Argumentationsweise findet sich inC. Hines, Localization, A Global Manifesto (London: Earthscan, 2000). Sieheauch Wignaraja (Hrsg.), New Social Movements.

Akkumulation durch Enteignung

Page 175: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

174

durch Enteignung gesehen werden müssen, auf die sich die sozialenBewegungen der Anti- und alternativen Globalisierungsbewegunghauptsächlich konzentrieren. Wenn in der heutigen Zeit eine Ge-wichtsverlagerung von der Akkumulation durch erweiterte Repro-duktion zur Akkumulation durch Enteignung stattgefunden hat, undwenn letztere den Kern imperialistischer Praktiken ausmacht, folgtdaraus, dass das Gleichgewicht der Interessen innerhalb der Anti-und alternativen Globalisierungsbewegung die Akkumulation durchEnteignung als den in erster Linie anzugehenden Widerspruch aner-kennen muss. Doch sollte sie dies nie tun, indem sie das dialektischeVerhältnis zu den Kämpfen auf dem Gebiet der erweiterten Repro-duktion ignoriert.

Dies wirft nun erneut das Problem auf, dass nicht alle Kämpfegegen die Enteignung gleichermaßen progressiv sind. Man denke nuran die Bürgerwehrbewegung in den USA oder Ressentiments gegenImmigranten in ethnischen Enklaven, die »ausländisches« Eindrin-gen in ein Land bekämpfen, auf das sie uralte und ehrwürdige Rech-te zu haben glauben. Es besteht die Gefahr, dass eine Politik der nos-talgischen Sehnsucht nach dem Verlorengegangenen an die Stelle derSuche nach einem Weg zur besseren Erfüllung der materiellen Be-dürfnisse der verarmten und unterdrückten Bevölkerungen tretenkönnte; dass die ausschließende Lokalpolitik das Bedürfnis, eine al-ternative Globalisierung auf einer Vielzahl geographischer Ebenenaufzubauen, dominieren wird; dass der Rückfall in ältere Muster dersozialen Verhältnisse und Produktionssysteme als Lösung postuliertwird in einer Welt, die sich längst weiterentwickelt hat. Anschei-nend gibt es auf solche Fragen keine leichten Antworten.

Und doch ist es oft relativ leicht, ein gewisses Maß der Aussöh-nung zu erreichen. Beispielsweise wenn man an Roys Argumentegegen die enormen Investitionen in den Dammbau im indischenNarmada-Tal denkt. Roy begrüßt die Versorgung der verarmtenStadtbevölkerung mit billigem Strom. Sie ist nicht antimodern. IhreArgumente gegen die Dämme sind: (a) der Strom ist teuer im Ver-gleich zu anderen Formen seiner Erzeugung, und der (selten unter-suchte) landwirtschaftliche Nutzen durch Bewässerung ist allemAnschein nach minimal; (b) der Preis der Umweltschäden scheint

Kapitel 4

Page 176: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

175

riesig zu sein (auch hier gab es keine ernsthaften Versuche, diese zuschätzen, von Untersuchungen ganz zu schweigen); (c) von der enor-men Geldsumme, die in das Projekt fließt, profitiert eine kleine Elitevon Beratern, Ingenieuren, Baugesellschaften, Turbinenproduzen-ten etc. (von denen viele aus dem Ausland kommen, darunter auchdas berüchtigte Enron), und dieses Geld könnte woanders viel bes-ser angelegt werden; (d) das gesamte Risiko trägt der Staat, denn diebeteiligten Firmen erhalten eine garantierte Ertragsrate; (e) Hundert-tausende von Menschen, die von ihrem Land, ihrer Geschichte undihrer Lebensgrundlage vertrieben wurden, sind größtenteils entwe-der einheimische Völker oder marginalisierte Bevölkerungsgruppen(Dalits), die absolut keine Kompensation und keinen Nutzen ausdem Projekt erhalten. Sie wurden nicht einmal gefragt oder infor-miert und standen schließlich in ihren Dörfern bis zur Hüfte imWasser, als die Regierung den Damm während eines Monsuns plötz-lich füllte. Dies ist eindeutig ein spezieller Krieg an einem bestimm-ten Ort, der auf spezielle Weise geführt werden muss, doch tretensein allgemeines Wesen als Klassenkonflikt sowie der »barbarische«Prozess der Enteignung hier recht deutlich hervor.115 Dass 30 Milli-onen Menschen durch Dammprojekte in Indien allein während derletzten 50 Jahre vertrieben wurden, bezeugt sowohl das Ausmaß alsauch die Brutalität des Prozesses. Doch die Aussöhnung hängt we-sentlich von der Anerkennung der fundamentalen politischen Rolleder Akkumulation durch Enteignung als Dreh- und Angelpunktdessen ab, worum es im Klassenkampf geht bzw. wie man das, wor-um es darin geht, auffassen sollte.

Meine eigene bescheidene Meinung ist, dass die politischen Be-wegungen, wenn sie irgendeine größere und langfristige Wirkunghaben wollen, über die nostalgische Sehnsucht nach dem Verloren-gegangenen hinauswachsen und ebenso bereit sein müssen, die posi-tiven Gewinne anzuerkennen, die sich aus dem Vermögenstransferdurch begrenzte Formen der Enteignung (beispielsweise durch Bo-denreform oder neue Strukturen der Entscheidungsfindung wie ge-meinschaftliches Waldmanagement) ziehen lassen. Außerdem müs-

115 Roy, Power Politics.

Akkumulation durch Enteignung

Page 177: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

176

sen sie bestrebt sein, zwischen progressiven und regressiven Aspek-ten der Akkumulation durch Enteignung zu unterscheiden und zuversuchen, erstere einem allgemeineren politischen Ziel zuzuleiten,das mehr universelles Gewicht hat als die vielen lokalen Bewegun-gen, die sich oft weigern, ihre speziellen Eigenheiten abzulegen. Dabeimüssen jedoch Möglichkeiten gefunden werden, die Signifikanz dervielerlei innerhalb der Bevölkerungen existierenden Identifikationen(aufgrund von Klasse, Geschlecht, Lokalität, Kultur etc.), ebensoanzuerkennen wie die Spuren von Geschichte und Tradition, die ausihrer speziellen Art der Reaktion auf das Eindringen des Kapitalis-mus entstanden sind und aus ihrem Selbstbildnis als soziale Wesenmit charakteristischen und oft widersprüchlichen Eigenschaften undZielen. Sonst besteht die Gefahr, die Leerstellen in Marx’ Darstel-lung der ursprünglichen Akkumulation wiederzubeleben und dasschöpferische Potenzial dessen zu übersehen, was zum Teil wegwer-fend als »traditionelle« und nichtkapitalistische gesellschaftliche Ver-hältnisse und Produktionssysteme betrachtet wird. Es muss eineMöglichkeit gefunden werden, sowohl theoretisch als auch politischüber den amorphen Begriff der »Multitude« hinauszugelangen, ohnein die Falle der Einstellung zu gehen: »meine Gemeinschaft, Gegendoder gesellschaftliche Gruppe, ob sie im Recht ist oder nicht«. Vorallem muss das Bewusstsein der Verbundenheit der Kämpfe inner-halb der erweiterten Reproduktion mit denen gegen die Akkumula-tion durch Enteignung gewissenhaft kultiviert werden. Glücklicher-weise ist dabei die Nabelschnur zwischen den beiden Kampfformen,die von den Staatsmächten unterstützten Rahmenvorgaben der Fi-nanzinstitutionen (verankert in und symbolisiert durch den IWF unddie WTO), klar erkannt worden. Sie stehen ganz zu Recht im Haupt-fokus der Protestbewegungen. Dadurch, dass der Kern des politi-schen Problems so klar erkannt wurde, sollte es möglich sein, über-greifend in eine breite Politik der schöpferischen Zerstörung gegengegen das vorherrschende Regime des neoliberalen Imperialismus,das der Welt durch die hegemonialen kapitalistischen Mächte aufge-drängt wurde, überzugehen.

Kapitel 4

Page 178: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

177

Der Imperialismus als Akkumulation durch EnteignungAls Joseph Chamberlain Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhun-derts durch die Annexion von Witwatersrand in den Burenkrieg führ-te, waren die dortigen Gold- und Diamantenvorkommen eindeutigdie Hauptmotivation. Doch wie wir bereits gesehen haben, ergabsich seine Bekehrung zur imperialistischen Logik aus dem Unver-mögen, interne Lösungen für das chronische Problem der Überak-kumulation des Kapitals innerhalb Großbritanniens zu finden. Die-ses Unvermögen hatte ausschließlich mit der internen Klassenstruk-tur zu tun, die jegliche Verwertung überschüssigen Kapitals für so-ziale Reformen und Investitionen in die Infrastruktur im Land blo-ckierte. Genauso hat der Impuls der Bush-Regierung, im MittlerenOsten militärisch zu intervenieren, viel mit der Herbeiführung einerstärkeren Kontrolle über die dortigen Ölvorkommen zu tun. DasBedürfnis nach derAusübung dieser Kontrolle hat sich stetig her-aufgeschraubt, seit Präsident Carter zum ersten Mal die Doktrin ar-tikulierte, die USA seien bereit, militärische Mittel zur Sicherungdes ununterbrochenen Ölzuflusses aus dem Mittleren Osten in dieWeltwirtschaft einzusetzen. Da Rezessionen der Weltwirtschaft Öl-preiserhöhungen entsprechen, kann die allgemeine Senkung der Öl-preise als eine Taktik angesehen werden, zu versuchen, den im Laufeder letzten 30 Jahre entstandenen chronischen Problemen der Über-akkumulation zu begegnen. Wie in Großbritannien am Ende des 19.Jahrhunderts spielte auch bei der Bekehrung der US-Politik zu einerimmer offeneren Hinwendung zum Imperialismus die Blockade voninternen Reformen und Investitionen in die Infrastruktur durch dieFormation der Klasseninteressen in diesen Jahren eine entscheiden-de Rolle. Daher ist es verlockend, die US-Invasion im Irak als Äqui-valent der britischen Gefechte im Burenkrieg zu sehen, beide amAnfang vom Ende der Hegemonie.

Doch militärische Interventionen sind die Spitze des imperialisti-schen Eisberges. Hegemoniale Staatsmacht wird typischerweise ein-gesetzt, um die externen und internen institutionellen Rahmenvor-gaben zu sichern und zu fördern, durch die die Asymmetrie derTauschbeziehungen sich zum Nutzen der Hegemonialmacht auswir-ken kann. Das sind die Mittel, mit denen faktisch Tribut aus der Welt

Akkumulation durch Enteignung

Page 179: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

178

extrahiert wird. Freier Handel und offene Kapitalmärkte sind zu denHauptmitteln geworden, mit denen die Monopolmächte in den fort-geschrittenen Ländern, die bereits Handel, Produktion, Dienstleis-tungen und Finanzen innerhalb der kapitalistischen Welt dominie-ren, sich Vorteile verschaffen. Das Hauptvehikel der Akkumulationdurch Enteignung ist daher die erzwungene Öffnung der Märkteüberall auf der Welt durch den institutionellen Druck von IWF undWTO, unterstützt durch die Macht der USA (und in geringeremMaße Europas), den Ländern, die sich weigern, ihren Schutz abzu-bauen, den Zugang zu ihren eigenen riesigen Märkten zu verwei-gern.

Nichts von alldem hätte jedoch seine heutige Bedeutung erlangt,wären nicht durch die erweiterte Reproduktion in Verbindung miteiner politischen Weigerung, eine Lösung dieser Probleme durch in-terne Reformen anzustreben, chronische Probleme der Überakku-mulation von Kapital entstanden. Die größere Bedeutung der Ak-kumulation durch Enteignung als Antwort, symbolisiert durch dasAufkommen einer internationalistischen Politik des Neoliberalismusund der Privatisierung, korreliert mit Runden der räuberischen Ent-wertung von Vermögen, die periodisch über den einen oder anderenTeil der Welt verhängt werden. Und das ist anscheinend der Kernder heutigen imperialistischen Praktiken. Die amerikanische Bour-geoisie hat, kurz gesagt, wiederentdeckt, was die britische Bourgeoisiein den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass,wie Arendt sagt, »der ursprüngliche ›Sündenfall‹«, der die ursprüng-liche Kapitalakkumulation möglich machte, letztlich wiederholtwerden müsse, »um den Akkumulationsmotor weiterlaufen zu las-sen«.116 Wenn dem so ist, scheint der »neue Imperialismus« nichtsweiter zu sein als eine Rückkehr des alten, wenn auch an einem an-deren Ort und zu einer anderen Zeit. Ob dies eine angemesseneAuffassung der Dinge ist oder nicht, bleibt noch zu untersuchen.

116 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 335.

Kapitel 4

Page 180: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

179

Kapitel 5Vom Konsens zum Zwang

Der Imperialismus kapitalistischer Prägung entsteht aus einer dia-lektischen Beziehung zwischen der territorialen und der kapitalisti-schen Logik der Macht. Diese Logiken sind unverwechselbar und inkeinster Weise aufeinander reduzierbar, aber eng miteinander ver-woben. Sie lassen sich als interne Beziehungen voneinander ana-lysieren, doch die Ergebnisse können in Raum und Zeit stark variie-ren. Jede Logik bringt Widersprüche hervor, die von der andereneingedämmt werden müssen. Die unendliche Kapitalakkumulationbeispielsweise erzeugt aufgrund der Notwendigkeit einer parallelenAkkumulation politischer/militärischer Macht periodische Kriseninnerhalb der territorialen Logik. Wenn die politische Kontrolle sichinnerhalb der territorialen Logik verlagert, müssen Kapitalströmesich anpassen und sich ebenfalls verlagern. Staaten ordnen ihre An-gelegenheiten entsprechend ihrer eigenen charakteristischen Regelnund Traditionen und entwickeln so unverwechselbare Führungssti-le. Hier wird eine Basis geschaffen für die ungleiche geographischeEntwicklung, geopolitische Kämpfe und verschiedene Formen derimperialistischen Politik. Der Imperialismus lässt sich daher nichtverstehen, ohne dass man zunächst die Theorie des kapitalistischenStaates in all ihren vielfältigen Formen durchgeht. Verschiedene Staa-ten bringen verschiedene Imperialismen hervor, wie sich an den bri-tischen, französischen, niederländischen, belgischen etc. Imperialis-men von 1870 bis 1945 klar ablesen lässt. Imperialismen können,wie Imperien, viele verschiedene Gestalten und Formen annehmen.Vieles mag kontingent und zufällig sein – ja, es könnte gar nicht an-ders sein, angesichts der politischen Kämpfe innerhalb der territo-rialen Logik der Macht –, aber ich glaube, wir können mit dem Er-stellen eines soliden Interpretationsrahmens für die charakteristischkapitalistischen Formen des Imperialismus ein gutes Stück voran-kommen, indem wir uns auf eine doppelte Dialektik berufen – er-

Vom Konsens zum Zwang

Page 181: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

180

stens der territorialen und der kapitalistischen Logik der Macht undzweitens den inneren und äußeren Beziehungen des kapitalistischenStaats.

Betrachten wir in diesem Licht den Fall des in jüngerer Zeit auf-getretenen Formenwandels vom neoliberalen zum neokonservati-ven Imperialismus in den USA. Die globale Ökonomie des Kapita-lismus durchlief in Reaktion auf die Überakkumulationskrise von1973 bis 75 eine radikale Umstrukturierung. Finanzströme wurdenzum Hauptartikulationsmittel der kapitalistischen Logik der Macht.Doch sobald die Büchse der Pandora des Finanzkapitals geöffnetwar, nahm auch der Druck zur adaptiven Umgestaltung des Staats-apparats zu. Schritt für Schritt begannen viele Staaten, unter derFührung der USA und Großbritanniens, die neoliberale Politik zuübernehmen. Andere eiferten den führenden kapitalistischen Mäch-ten entweder von selbst nach oder sie wurden mit Hilfe einer durchden IWF auferlegten Strukturanpassungspolitik dazu gezwungen.Der neoliberale Staat war typischerweise bestrebt, den Allgemein-besitz zu erschließen, zu privatisieren und einen Rahmen für offeneWaren- und Kapitalmärkte zu schaffen. Er musste die Arbeitsdiszi-plin aufrechterhalten und »ein gutes Geschäftsklima« fördern. Wennein einzelner Staat dies versäumte oder sich weigerte, dies zu tun,riskierte er seine Klassifizierung als »Schurkenstaat« oder von »Staats-zerfall« betroffener Staat. Resultat war das Aufkommen der charak-teristischen neoliberalen Formen des Imperialismus. Die Akkumu-lation durch Enteignung trat wieder aus ihrem vor 1970 geführtenSchattendasein heraus und wurde zu einem der Hauptphänomeneinnerhalb der kapitalistischen Logik. Damit erfüllte sie eine doppel-te Aufgabe. Einerseits bot die Freisetzung kostengünstiger Vermö-genswerte riesige Felder für die Absorption von überschüssigem Ka-pital. Andererseits gab sie ein Mittel an die Hand, um die Kosten derEntwertung von überschüssigem Kapital den schwächsten und amstärksten verwundbaren Ländern und Bevölkerungen aufzuerlegen.Wenn Volatilität und unzählige Kredit- und Liquiditätskrisen Zügeder Weltwirtschaft sein sollten, musste es dem Imperialismus darumgehen, diese durch Institutionen wie den IWF effektiv abzustim-men, um die Hauptzentren der Kapitalakkumulation vor Entwer-

Kapitel 5

Page 182: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

181

tung zu schützen. Und das ist genau das, worin sich der Wall-Street-US-Finanzministerium-IWF-Komplex im Bündnis mit den europä-ischen und japanischen Behörden über 20 Jahre lang so erfolgreichbetätigt hat.

Doch die Wende zur Finanzialisierung hatte intern einen hohenPreis, der z.B. in der Deindustrialisierung, Phasen der rapiden Infla-tion gefolgt von Vertrauenskrisen und der chronischen strukturellenArbeitslosigkeit bestand. Die USA beispielsweise verloren ihre Vor-herrschaft in der Produktion, mit Ausnahme von Sektoren wie derVerteidigung, der Energie und dem Agribusiness. Die Öffnung derglobalen Märkte sowohl für Waren als auch für Kapital gab anderenStaaten die Möglichkeit, zu einem Teil der Weltwirtschaft zu wer-den, zuerst als Kapitalschwamm, doch dann auch als Produzentenvon überschüssigem Kapital. Damit wurden sie zu Konkurrentenauf der Weltbühne. Es entstand etwas, das man »Subimperialismen«nennen könnte, nicht nur in Europa, sondern auch in Ost- und Süd-ostasien, da jedes sich entwickelnde Zentrum der Kapitalakkumula-tion durch die Festlegung territorialer Einflusssphären systematischraum-zeitliche Fixierungen für sein eigenes Überschusskapital aus-findig machte. Doch diese Einflusssphären waren nicht exklusiv, son-dern überschnitten und durchdrangen einander, was die Leichtig-keit und Fluidität der Mobilität des Kapitals im Raum und durch dieNetzwerke räumlicher Interdependenz widerspiegelte, die Staats-grenzen immer mehr ignorierte.

Der Nutzen aus diesem System war jedoch stark konzentriert aufeine begrenzte Klasse multinationaler Generaldirektoren, Finanziersund Rentiers. Eine Art transnationale kapitalistische Klasse entstand,die sich nichtsdestotrotz auf die Wall Street und andere Zentren wieLondon und Frankfurt als sichere Orte der Kapitalanlageplätze kon-zentrierte. Diese Klasse verließ sich zum Schutz ihrer Vermögens-werte und des Rechts auf Besitz und Eigentum überall auf dem Glo-bus, wie immer, auf die Vereinigten Staaten. Während die wirtschaft-liche Macht offenbar stark in den USA konzentriert war, konntenandere territoriale Konzentrationen finanzieller Macht entstehen. Dasauf europäischen und japanischen Märkten konzentrierte Kapitalkonnte sich seinen Teil sichern, ebenso wie fast jede Klasse von Ren-

Vom Konsens zum Zwang

Page 183: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

182

tiers, die sich innerhalb der Matrix der kapitalistischen Institutionenrichtig positionierte. Schuldenkrisen mochten Brasilien und Mexikoerschüttern, Liquiditätskrisen mochten die Ökonomien von Thai-land und Indonesien zerstören, doch die Rentiers innerhalb all die-ser Länder konnten ihr Kapital nicht nur erhalten, sondern ihre ei-gene interne Klassenposition sogar verbessern. Die privilegiertenKlassen konnten sich in vergoldete abgeriegelte Paläste in Bombay,São Paulo und Kuwait zurückziehen und die Früchte ihrer Investiti-onen an der Wall Street genießen. Nur weil die Wall Street von Geldüberschwemmt war, gehörte dieses Geld also noch lange nicht denUS-Amerikanern. Das Problem der Wall Street war, profitable Ver-wendung für all das überschüssige Geld zu finden, über das sie ver-fügte, ob in der Hand von US-Amerikanern oder von Ausländern.

Diese geographische Verteilung der Macht der kapitalistischenKlasse galt nicht nur für Rentiers und Vertreter finanzieller Interes-sen; das Produktionskapital zog einen Vorteil aus der räumlichenVolatilität und der sich verlagernden territorialen Logik. Die großenmultinationalen Konzerne in der Elektro-, Schuh- und Hemdenbran-che verzeichneten bemerkenswerte Gewinne durch die geographi-sche Mobilität. Doch andererseits taten das auch bestimmte anderesoziale Gruppen. Die chinesische Businessdiaspora beispielsweiseverbesserte ihre Position gerade weil sie über die Mittel und denWillen verfügte, mit der Mobilität Gewinn zu machen. Taiwanesi-sche und südkoreanische Subunternehmer gingen nach Lateiname-rika und Südafrika und standen sich damit außerordentlich gut, wäh-rend ihre Beschäftigten entsetzlich litten.117

Doch es war ein dieser Welt eigentümlicher Zug, dass eine immerstärker transnationale kapitalistische Klasse von Finanziers, Gene-raldirektoren und Rentiers sich auf den territorialen Hegemon ver-ließ, um ihre Interessen zu schützen und die Art von institutionellerArchitektur aufzubauen, innerhalb derer sie den Wohlstand der Weltauf sich vereinigen konnte. Diese Klasse schenkte ortsgebundenenoder nationalen Loyalitäten oder Traditionen sehr wenig Beachtung.

117 G. Hart, Disabling Globalization: Places of Power in Post-Apartheid SouthAfrica (Berkeley: University of California Press, 2002).

Kapitel 5

Page 184: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

183

Sie konnte multirassisch, multiethnisch, multikulturell und kosmo-politisch sein. Wenn finanzielle Erfordernisse und das Profitstrebendie Schließung von Fabriken und die Verringerung der Produkti-onskapazitäten in ihrem eigenen Hinterhof nötig machten, gab sieihnen statt. Vertreter US-amerikanischer Finanzinteressen untermi-nierten beispielsweise seelenruhig die US-amerikanische Hegemo-nie in der Produktion. Dieses System erreichte seinen Höhepunktwährend der Clinton-Jahre, als das Rubin-Summers-Finanzminis-terium die internationalen Angelegenheiten sehr zum Vorteil derRentiersinteressen an der Wall Street abstimmte, auch wenn sie da-bei oft enorme Risiken eingingen. Die Kulminationspunkt war 1997/98 die Disziplinierung der Konkurrenz aus Ost- und Südostasien ineiner Weise, die es den Finanzzentren von Japan und Europa, abervor allem der USA, ermöglichte, Vermögenswerte praktisch zumNulltarif zu ergattern und damit ihre eigenen Gewinne auf Kostenmassiver Entwertungen und der Zerstörung von Lebensgrundlagenwoanders zu erhöhen. Das war jedoch nur ein Beispiel für die un-zähligen Schulden- und Finanzkrisen, die viele Entwicklungsländernach etwa 1980 heimsuchten.

Der neoliberale Imperialismus im Ausland erzeugte im Inlandzumeist chronische Unsicherheit. Viele Mitglieder der Mittelschichtflüchteten sich in die Verteidigung von Territorium, Nation und Tra-dition als Methode, sich gegen einen räuberischen neoliberalen Ka-pitalismus zu wappnen. Sie waren bestrebt, die territoriale Logik derMacht zu mobilisieren, um sich vor den Auswirkungen des räuberi-schen Kapitals abzuschirmen. Rassismus und Nationalismus, einstdas Band zwischen Nationalstaat und Imperium, tauchten als Waffeim Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse wieder auf, um sich ge-gen das kosmopolitische Finanzkapital zu organisieren. Da es fürdie Interessen der Eliten eine bequeme Ablenkung war, wenn dieSchuld an den Problemen Immigranten zugewiesen wurde, florierteeine Politik des Ausschlusses auf der Grundlage von Rasse, Ethnizi-tät und Religion, insbesondere in Europa, wo es zu beträchtlicherUnterstützung neofaschistischer Bewegungen aus dem Volk kam.Die Unternehmens- und Finanzeliten, die sich 1996 in Davos ver-sammelten, sorgten sich damals, dass eine »sich organisierende Ge-

Vom Konsens zum Zwang

Page 185: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

184

genreaktion« auf die Globalisierung in den industriellen Demokra-tien eine »störende Auswirkung auf die wirtschaftliche Aktivität undsoziale Stabilität in vielen Ländern« haben könnte. Die vorherrschen-de Stimmung der »Hilflosigkeit und Besorgnis« sei dem »Aufstiegeiner neuen Sorte von populistischem Politiker« förderlich und dieskönne »sich leicht in eine Revolte verwandeln«.118

Doch inzwischen begann die globalisierungskritische Bewegungzu entstehen, die die Mächte des Finanzkapitals und ihre Hauptin-stitutionen (den IWF und die Weltbank) angriff, die neuerliche An-eignung des Allgemeinbesitzes anstrebte und Raum für nationale,regionale und lokale Unterschiede forderte. Da der Staat sich dabeieindeutig auf die Seite der Finanziers stellte und jedenfalls als Haupt-agent einer Politik der Akkumulation durch Enteignung auftrat, zähl-te diese Bewegung auf die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaftfür die Umwandlung der territorialen Logik der Macht auf einerVielzahl von Ebenen, von stark lokal begrenzten bis hin zu globalen(wie im Fall der Umweltbewegung). Das Vorherrschen von Betrug,Plünderung und Gewalt rief viele gewalttätige Reaktionen hervor.Von der angeblich mit gut funktionierenden Märkten verbundenenoberflächlichen Höflichkeit war wenig zu sehen. Die Protestbewe-gungen, die sich überall auf der Welt formierten, wurden von denStaatsmächten zum größten Teil schonungslos niedergeschlagen. EinKrieg niedriger Intensität tobte überall auf der Welt, oft mit ver-deckter Beteiligung und militärischer Hilfe der USA.

Diese oppositionellen Bewegungen mieden traditionelle Formender Arbeiterorganisation wie Gewerkschaften, politische Parteienund sogar das Anstreben der Staatsmacht (die sie jetzt als hoffnungsloskompromittiert betrachteten), verließen sich auf ihre eigenen auto-nomen Formen der sozialen Organisation und entwickelten häufig(wie die Zapatisten) ihre eigene inoffizielle territoriale Logik derMacht, die daran orientiert war, ihr Los zu verbessern oder sie gegeneinen räuberischen Kapitalismus zu verteidigen. Eine aufkeimendeBewegung von (teilweise durch Regierungen finanzierten) Nichtre-

118 Klaus Schwab und Claude Smadja, zitiert in D. Harvey, Spaces of Hope(Edinburgh: Edinburgh University Press, 2000), S. 70.

Kapitel 5

Page 186: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

185

gierungsorganisationen suchte, diese sozialen Bewegungen zu kon-trollieren und sie in bestimmte Richtungen zu kanalisieren, teils inrevolutionäre, teils aber auch in auf ein Übereinkommen mit demneoliberalen Machtregime abzielende. Doch das Ergebnis war einGärstoff aus lokalen, zersplitterten und hochgradig differenziertensozialen Bewegungen, die sich entweder frontal gegen die von Fi-nanzkapital und neoliberalen Staaten abgestimmten neoliberalenPraktiken des Imperialismus stellten oder darum rangen, diese ab-zuwehren.

Die dem Neoliberalismus eigene Unbeständigkeit fiel letztlich aufdas Kernland der USA selbst zurück. Der ökonomische Zusammen-bruch, der 1999 in der High-Tech-Internetbranche begann, breitetesich schon bald aus und enthüllte, dass vieles von dem, was als Fi-nanzkapital durchging, in Wirklichkeit uneinlösbares fiktives Kapi-tal war, gestützt durch skandalöse Buchhaltungspraktiken und voll-kommen leere Vermögenswerte. Auch schon vor den Ereignissendes 11. Septembers war klar, dass der neoliberale Imperialismus in-nerlich erlahmte, selbst die Vermögenswerte an der Wall Street nichtgeschützt werden konnten und die Tage des Neoliberalismus undseiner speziellen Form des Imperialismus gezählt waren. Die großeFrage war, welche Art von Verhältnis zwischen der territorialen undder kapitalistischen Logik der Macht jetzt entstehen und welche Artvon Imperialismus es hervorbringen würde.

Die 2000 per Zufallsentscheid erfolgte Wahl George W. Bushs,eines »wiedergeborenen Christen«, zum US-Präsidenten rückte eineneokonservative Gruppe von Denkern in die Nähe der Macht. DieNeokonservativen, wie die Neoliberalen vor ihnen gut ausgestattetund in diversen Think-Tanks organisiert, hatten lange versucht, derRegierung ihr Programm aufzudrängen. Und dieses unterscheidetsich vom Programm des Neoliberalismus. Hauptziele darin sind dieErrichtung von und der Respekt vor einer Ordnung, sowohl innen-politisch als auch auf der Weltbühne. Das impliziert eine starke Füh-rung an der Spitze und unerschütterliche Loyalität an der Basis, ver-bunden mit dem Aufbau einer ebenso sicheren wie eindeutigenMachthierarchie. Außerdem ist das Festhalten an moralischen Prin-zipien für die neokonservative Bewegung äußerst wichtig. Darauf

Vom Konsens zum Zwang

Page 187: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

186

gründet sich ihr Rückgrat und die Basis ihrer Wählerschaft der fun-damentalistischen Christen mit ihren ganz besonderen Überzeugun-gen. Im Gefolge des 11. Septembers äußerten beispielsweise JerryFalwell und Pat Robertson (zwei der Hauptanführer der Bewegung)die Ansicht, das Ereignis sei ein Zeichen für den Zorn Gottes überdie Nachsichtigkeit einer Gesellschaft, die Abtreibung und Homo-sexualität toleriere. Später erklärte Falwell in einer der am meistengesehenen tagespolitischen Sendungen im US-Fernsehen, Moham-med sei der erste große Terrorist gewesen, während andere ihre Un-terstützung für den Zionismus und Scharons Gewalt gegen die Pa-lästinenser ausdrückten, da diese zu Armageddon und der Wieder-ankunft des Herrn führen würden. Der Glaube an die biblische Of-fenbarungsgeschichte und Armageddon (Götterdämmerung) ist weitverbreitet (Reagan beispielsweise trat dafür ein). Besonders für Eu-ropäer ist schwer zu verstehen, dass etwa ein Drittel der US-Bevöl-kerung strikt an solchen Überzeugungen festhält (darunter eine aufder wörtlichen Interpretation der Bibel basierende Weltentstehungs-lehre anstelle der Evolutionstheorie), die die Akzeptanz von Kriegs-schrecken (insbesondere im Mittleren Osten) als Auftakt zur Durch-setzung von Gottes Willen auf Erden implizieren. Ein großer Teildes US-Militärs wird inzwischen aus dem Süden rekrutiert, wo die-se Ansichten weit verbreitet sind.

Die Neokonservativen wissen, dass sie nicht an der Macht blei-ben können, wenn sie an einer solchen Plattform festhalten, dochman darf den Einfluss der christlichen Rechten nicht unterschätzen.Das Versäumnis, Scharons gewaltsamer Unterdrückung der Palästi-nenser (von Fundamentalisten als positiver Schritt in Richtung Ar-mageddon interpretiert) Schranken aufzuerlegen, ist ein einschlägi-ger Fall. Und im Konflikt mit der arabischen Welt ist es schwer, die-se Haltungen nicht zur Rhetorik eines christlichen Kreuzzuges ge-gen einen islamischen Djihad werden zu lassen und damit Hunting-tons wenig überzeugende These von einem bevorstehenden Kampfder Kulturen zu einer geopolitischen Tatsache zu machen.119

119 S. Huntington, Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpoli-tik im 21. Jahrhundert (München: Europa-Verlag, 1997).

Kapitel 5

Page 188: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

187

Das neokonservative außenpolitische Programm ist in dem 1997gegründeten »Projekt für das Neue Amerikanische Jahrhundert«dargelegt.120 Der Titel spricht, wie Luce schon 1941, von einem Jahr-hundert statt von territorialer Kontrolle. Damit wiederholt er be-wusst all die Ausflüchte, die Smith in Luces Darlegung aufdeckt.121

Das Projekt ist »ein paar grundlegenden Aussagen gewidmet: dassamerikanische Führung sowohl für Amerika als auch für die Weltgut ist, dass diese Führung militärische Stärke, diplomatische Ener-gie und die Verpflichtung zu moralischen Prinzipien erfordert unddass zu wenige der heutigen politischen Köpfe für eine weltweiteFührung eintreten«. Um welche Prinzipien es dabei geht, wurde inBushs Stellungnahme zum Jahrestag des 11. Septembers klar darge-legt (zitiert in Kapitel 1). Obgleich man in ihnen charakteristischamerikanische Werte erkennt, werden diese Prinzipien als universel-le präsentiert, und Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Respektfür Privateigentum, Individuum und Gesetz zu einem Verhaltens-kodex für die ganze Welt verschnürt. Das Projekt versucht auch,»Unterstützung für eine energische und prinzipientreue Politik desinternationalen Engagements Amerikas zu gewinnen«. Das bedeu-tet Export, wenn nötig per Zwang, eines angemessenen Verhaltens-kodexes in die übrige Welt. Der innere Kern der Mitglieder des Pro-jekts kam jedoch größtenteils aus den Verteidigungsinstitutionen derfrüheren Regierungen Reagan und Bush. Sie sind die Hauptvertreterdes »militärisch-industriellen Komplexes«, vor dessen Macht Ei-senhower vor langer Zeit so deutlich gewarnt hatte und der in denJahren der Reagan-Regierung so viel mächtiger geworden war. Diemeisten von ihnen wurden Teil der neuen Bush-Regierung. Wäh-rend die Schlüsselpositionen der Clinton-Regierung im Finanzmi-nisterium lagen (wo Rubin und Summers unangefochten herrsch-ten), überlässt die Bush-Regierung die Gestaltung ihrer internatio-nalen Politik ihren Verteidigungsexperten – Cheney, Rumsfeld,Wolfowitz und Powell – und zählt darauf, dass ein christlicher Kon-servativer – Ashcroft – als Justizminister im Land für Ordnung sorgt.

120 Die Webseite ist: www.newamericancentury.org.121 Siehe Smith, American Empire.

Vom Konsens zum Zwang

Page 189: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

188

Damit wird die Bush-Regierung von Neokonservativen dominiert,steht in der Schuld des militärisch-industriellen Komplexes (und ei-niger anderer Hauptsektoren der amerikanischen Industrie, wie En-ergie und Agribusiness) und wird in ihren moralischen Urteilen vonfundamentalen Christen unterstützt. Ihre Aufgabe war es, die Machthinter einem von einer Minderheit vertretenen politischen Programminnerhalb der territorialen Logik der Macht zu konsolidieren. Darinverstanden sie sehr gut die Verbindung zwischen innerer und äuße-rer Ordnung. Sie akzeptierten intuitiv Arendts Ansicht, ein Imperi-um im Ausland mache im eigenen Land Tyrannei erforderlich, drü-cken dies jedoch anders aus: Militärische Aktivität im Ausland er-fordert paramilitärische Disziplin im Land.

Der Irak war den Neokonservativen lange ein zentrales Anliegengewesen, doch sie hatten das Problem, dass sich öffentliche Unter-stützung für einen Militäreinsatz ohne ein katastrophales Ereignis»vom Ausmaß Pearl Harbors« kaum gewinnen ließe , wie sie es for-mulierten. Der 11. September bot in einem Moment der Solidaritätund des Patriotismus der ganzen Gesellschaft eine erstklassige Gele-genheit. Diese wurde beim Schopf gepackt, um einen amerikanischenNationalismus zu konstruieren, der die Basis für eine andere Formimperialistischen Strebens und interner Kontrolle bilden konnte.Auch wenn sie den imperialistischen Praktiken der USA früher kri-tisch gegenübergestanden hatten, unterstützten die meisten Libera-len die Regierung darin, ihren Krieg gegen den Terror zu starten undwaren bereit, für die Sache der nationalen Sicherheit einen Teil derbürgerlichen Freiheiten zu opfern. Der Vorwurf, unpatriotisch zusein, wurde benutzt, um kritisches Engagement und sinnvollen Dis-sens zu unterdrücken. Die Medien und die politischen Parteien gin-gen damit konform. So konnte die politische Führung praktisch ohneOpposition repressive Gesetze verabschieden – am bemerkenswer-testen der Patriot Act und der Homeland Security Act. DrakonischeEinschnitte in die Bürgerrechte wurden vorgenommen. Gefangenewurden illegal und ohne rechtliche Vertretung in Guantanamo Bayfestgehalten, es kam mehrfach zu wahllosen Massenfestnahmen von»Verdächtigen« und viele wurden ohne Zugang zu Rechtsbeistandmonatelang festgehalten, von einem Prozess ganz zu schweigen. Die

Kapitel 5

Page 190: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

189

Polizei konnte willkürlich jeden des »Terrorismus« Verdächtigenverhaften, was, wie sich bald herausstellte, sogar Globalisierungs-gegner einschloss. Drakonische Überwachungstechniken wurdeneingeführt (das FBI sollte Einblick nehmen können in die Aufzeich-nungen zum Verleih aus Bibliotheken, Buchverkäufen und Internet-verbindungen, in Immatrikulationsunterlagen von Studierenden,Mitgliedschaften in Tauchklubs etc.). Die Regierung nahm auch dieGelegenheit wahr, alle möglichen Programme für Arme zu kürzen(unter Berufung auf das Opfer für die nationale Sache). Sie verhäng-te ein Steuersenkungsprogramm, das das reichste Hundertstel derBevölkerung extrem begünstigte (unter Berufung auf die Stimulie-rung der Wirtschaft), und schlug sogar vor, die Besteuerung vonDividenden abzuschaffen, in der vergeblichen Hoffnung, dadurchdie Vermögenswerte an der Wall Street zu stützen. Doch diese Poli-tik, verbunden mit eklatanten Verstößen gegen die Bill of Rights unddie US-amerikanische Verfassung, konnte, wie Washington, Madi-son und viele andere schon vor langer Zeit erkannt und befürchtethatten, nur durch ausländische Verwicklungen imperialistischer Artaufrechterhalten werden. Angesichts der in den Ereignissen vom 11.September enthaltenen Drohung und des Klimas der Unterdrückungvon Dissens schlug sogar die liberale Meinung in die Befürwortungeiner Invasion in Afghanistan, der Vertreibung der Taliban und derweltweiten Jagd auf Al-Qaida um.

Um den Impuls aufrechtzuerhalten und ihre ehrgeizigen Pläne zuverwirklichen, mussten die Neokonservativen den paranoiden Stilin der amerikanischen Politik kultivieren. Sie hatten sich lange mitder Drohung befasst, die Irak, Iran, Nordkorea und diverse andereso genannte Schurkenstaaten für die Weltordnung darstellten. Da-hinter lauerte jedoch stets die Gestalt Chinas, lange gefürchtet alsebenso unberechenbarer wie potenziell mächtiger Konkurrent aufder Weltbühne. Das Bündnis zwischen den Neokonservativen unddem militärisch-industriellen Komplex hatte Clinton in den 1990erJahren unter Druck gesetzt, die Militärausgaben zu erhöhen und Vor-bereitungen für zwei regionale Kriege zur gleichen Zeit zu treffen –z.B. gegen »Schurkenstaaten« wie den Irak und Nordkorea. Der Irakspielte eine zentrale Rolle, teils aufgrund seiner geopolitischen Lage

Vom Konsens zum Zwang

Page 191: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

190

und seines diktatorischen Regimes, das durch seinen Ölreichtumgegen finanzielle Disziplinarmaßnahmen immun war, aber auch weiler drohte, eine weltliche panarabische Bewegung anzuführen, diemöglicherweise die gesamte Region des Mittleren Ostens dominie-ren und in der Lage sein könnte, die Weltwirtschaft durch ihre Machtüber den Ölfluss zu erpressen. Präsident Carter hatte, man erinneresich, beharrt, ein Versuch, das Öl zu diesem Zweck zu benutzen,könnte nicht toleriert werden, und das direkte militärische Engage-ment der USA in der Region besteht mindestens seit 1980. Der ersteGolfkrieg führte nicht zu einem Regierungswechsel in Bagdad, teil-weise weil es damals kein UN-Mandat dafür gab. Das Übereinkom-men, das dem Irak aufgezwungen wurde, war für beide Seiten nichtbefriedigend. Die Iraker stellten sich stur und man verhängte Sank-tionen, schickte Waffeninspektoren ins Land, die dann ausgewiesenwurden, schützte die Kurden unter militärischen Drohungen in ei-ner autonomen Zone im Norden und setzte in den gemeinsamenPatrouillen der USA und Großbritanniens in den Flugverbotszonenim Norden und im Süden des Landes den Krieg am Himmel überdem Irak auf kleiner Flamme fort. Clinton bezeichnete den Irak als»Schurkenstaat« und übernahm das politische Ziel eines Regierungs-wechsels in Bagdad, beschränkte sich aber auf verdeckte Aktionenund offene Wirtschaftssanktionen, was, wie die Neokonservativenlautstark einwandten, nicht funktionieren würde.

Mit dem 11. September bekamen die Neokonservativen ihr »PearlHarbor«. Schwierigkeiten bereitete aber, dass es schlicht keine Ver-bindung zwischen dem Irak und Al-Qaida gab und der Kampf ge-gen den Terrorismus Vorrang haben musste. Bei der Invasion Af-ghanistans testete das Militär viele seiner neuen Waffen im Feld, fastwie bei einer Generalprobe für das, was sie im Irak und woanderstun könnten. Dabei sicherten sie sich eine militärische Präsenz inUsbekistan und Kirgisien, in auffälliger Nähe zu den Ölfeldern imKaspischen Becken (wo das Ausmaß der Vorkommen immer nochein Rätsel ist und wo China verbissen um einen guten Stand kämpft,um seine eigene Versorgung und die Deckung seines schnell steigen-den internen Bedarfes sicherzustellen). Innerhalb von sechs Mona-ten und nach der Niederlage der Taliban in Afghanistan begann die

Kapitel 5

Page 192: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

191

US-Regierung, ihre Aufmerksamkeit auf den Irak zu richten. ImSommer 2002 waren die Vereinigten Staaten unverkennbar entschlos-sen, ohne Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen einen Regime-wechsel in Bagdad zu erzwingen. Die einzig interessante Frage war,wie man dies vor der US-amerikanischen Öffentlichkeit und inter-national rechtfertigen würde. Von diesem Zeitpunkt an griff die Re-gierung auf alle möglichen Vorwände zurück, änderte täglich dieRhetorik und äußerte unbelegte Behauptungen, als seien es erwiese-ne Tatsachen (wie in Kapitel 1 beschrieben). Sie versuchte eine Koa-lition der Willigen aufzubauen, in der Großbritannien, da es bereitsstark in die alltäglichen Militäraktionen im Irak eingebunden war(aus denen es sich auch nur unter größten Schwierigkeiten hätte he-rausziehen können), eine Führungsrolle übernehmen sollte. Zunächstverweigerten die USA der UN jede Mitwirkung und behauptetensogar, sie bräuchten nicht die Zustimmung des Kongresses. In die-sen Punkten mussten sie dem internen und internationalen politi-schen Druck nachgeben. Doch sie kultivierten den nach dem 11. Sep-tember neu entstandenen Nationalismus und machten ihn für dasimperialistische Projekt des – angeblich für die innere Sicherheit ent-scheidenden – Regimewechsels im Irak nutzbar, ebenso wie sie dasimperialistische Projekt dazu benutzten, noch engere interne Kon-trollen zu etablieren (wobei Terroralarm und andere Ängste um dieSicherheit an der Heimatfront nachhalfen). Leider kann, wie Arendtwiederum scharfsinnig bemerkt, eine Verbindung von Nationalis-mus und Imperialismus nur durch den Rückgriff auf Rassismus er-reicht werden, und das verbreitete Zerrbild von Arabern und demIslam sowie die offizielle Politik gegenüber Besuchern und Einwan-derern aus arabischen Ländern sind bezeichnend für eine wachsendeFlut des Rassismus in den USA, die sowohl intern als auch interna-tional in Zukunft unermesslichen Schaden anrichten könnte.

Momentan kommt es zu rapiden Veränderungen, begleitet vonder üblichen Undurchsichtigkeit öffentlicher Erklärungen, doch istes nichtsdestotrotz möglich, ungefähr auszumachen, worauf das neo-konservative imperialistische Projekt zusteuert. Daher schließe ichmit einer Zusammenfassung dieser Richtung und einer Einschätzungder Kräfte, die sich dem entgegenstellen.

Vom Konsens zum Zwang

Page 193: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

192

Die Neokonservativen zählen auf den Wiederaufbau des Iraks nachdem Vorbild Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.Der Irak wird für eine offene kapitalistische Entwicklung liberali-siert, mit dem Ziel, letztlich als Modell für den übrigen MittlerenOsten eine dem Westen ähnliche wohlhabende Konsumgesellschaftzu schaffen. Die notwendige soziale, institutionelle und politischeInfrastruktur wird unter US-Verwaltung aufgebaut, doch allmäh-lich durch eine irakische Regierung von Schützlingen abgelöst wer-den (vorzugsweise so schwach wie die japanische liberale Partei).Der Irak wird weiterhin entmilitarisiert sein, aber von US-Truppengeschützt, die in der Golfregion bleiben werden.122 Das irakische Ölwird zur Finanzierung des Wiederaufbaus und zur Bezahlung eini-ger Kriegskosten verwendet und, wie man hoffen darf, dem Welt-markt zu einem so niedrigen Preis zugeführt werden (günstigerwei-se in Dollars statt in Euros notiert), dass sich eine gewisse Erholungder Weltwirtschaft einstellt.

Damit sind die imperialistischen Ambitionen der Neokonservati-ven jedoch noch nicht zuende. Man spricht bereits vom Iran (dernach der Besetzung des Iraks völlig von US-Militär eingeschlossenund eindeutig bedroht ist) und hat Vorwürfe gegen Syrien erhoben,in denen von »Konsequenzen« die Rede war. Diese Bemerkungensind so offensichtlich geworden, dass es dem britischen Außenmi-nister wichtig schien zu erklären, Großbritannien lehne jegliche Be-teiligung an Militäraktionen gegen Syrien oder den Iran kategorischab. Doch die neokonservative Position, wie von Verteidigungsmi-nister Rumsfeld schon vor langer Zeit dargelegt, ist, dass die USAGroßbritannien nicht brauchen, um ihre Ziele zu erreichen, und dasssie, wenn nötig, alleine handeln werden. Der Druck auf Syrien undden Iran nimmt zu, während die USA auch auf interne Reformen inSaudi-Arabien zählen, sowohl zur Vereitelung jedes Versuchs einerÜbernahme durch Islamisten (dies war schließlich bin Ladens Haupt-ziel) als auch aufgrund der Tatsache, dass die fundamentalistischenLehren, die die Opposition gegen die USA vorantreiben, zum gro-ßen Teil von den Saudis unterstützt werden. Inzwischen haben die

122 Diese Formel ist gut beschrieben in Johnson, Blowback.

Kapitel 5

Page 194: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

193

USA eine »Shock and Awe« (»Schock und Lähmung«) genanntemilitärische Kapazität ausgefeilt und im Irak mit ihr experimentiert,durch die es möglich wäre, gleichzeitig die Hunderte von Nordko-rea auf Seoul gerichteten Langstreckenraketen zu zerstören. Wennsie wollen, können sie die gesamte militärische Macht und nukleareKapazität Nordkoreas in einem Zwölf-Stunden-Schlag vernichten.

Hinter all dem liegt offenbar eine bestimmte geopolitische Visi-on. Mit der Besetzung des Iraks, einer möglichen Reform Saudi-Ara-biens und einer Art von Unterwerfung Syriens und des Irans unterdie überlegene US-amerikanische Militärmacht und -präsenz, wer-den die USA sich, wie in Kapitel 2 dargelegt, einen äußerst wichti-gen strategischen Brückenkopf auf die eurasische Landmasse gesi-chert haben, der rein zufällig das Zentrum der Ölgewinnung ist, alsodes heutigen (und noch mindestens 50 Jahre vorhaltenden) Brenn-stoffs nicht nur der Weltwirtschaft, sondern auch jeder großen Mili-tärmaschinerie, die es wagt, sich der US-amerikanischen entgegen-zustellen. Das sollte die anhaltende globale Vorherrschaft der USAfür die nächsten fünfzig Jahre sichern. Wenn die USA ihre Bündnis-se mit osteuropäischen Ländern wie Polen und Bulgarien und auch(was sehr problematisch ist) mit der Türkei konsolidieren können,bis hinunter zum Irak und in einen befriedeten Mittleren Osten,werden sie eine wirkungsvolle Präsenz haben, die die eurasischeLandmasse durchschneidet und Westeuropa von Russland und Chi-na trennt. Dann wären die USA militärisch und geostrategisch inder Position, den ganzen Globus militärisch und, durch das Öl, wirt-schaftlich zu kontrollieren. Dies erschiene besonders bedeutsam imBezug auf eine potenzielle Herausforderung durch die EuropäischeUnion oder, noch wichtiger, China, dessen Wiederaufleben als wirt-schaftliche und militärische Macht und Potenzial für die Führung inAsien den Neokonservativen eine ernsthafte Bedrohung zu seinscheint. Die Neokonservativen sind offenbar zu nichts geringerementschlossen als zu einem Plan für die totale Beherrschung des Glo-bus.123 In einer so geordneten Welt der Pax Americana hofft man,dass alle Segmente unter dem Schirm des Kapitalismus des freien

123 Armstrong, «Dick Cheney’s Song of America«.

Vom Konsens zum Zwang

Page 195: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

194

Markts florieren können. Nach Ansicht der Neokonservativen soll-te und wird die übrige Welt (oder zumindest alle besitzenden Klas-sen) dankbar sein für den Raum, den der Kapitalismus des freienMarktes der wirtschaftlichen Entwicklung überall einräumt.

Die große und offene Frage ist natürlich, kann oder wird ein sol-ches Projekt funktionieren? Zweifellos gibt es sogar in der Bush-Regierung und dem US-Militär Menschen, die nicht nur nicht vonseiner Durchführbarkeit überzeugt sind, sondern ihm auch durch-aus aktiven Widerstand entgegensetzen könnten. Momentan hat derneokonservative Block im Kräfteverhältnis innerhalb der Regierungdie Nase vorn, doch bleibt dies möglicherweise nicht so. Vieles wirdbeispielsweise davon abhängen, ob das Ansehen der Neokonserva-tiven nach der Militäraktion im Irak vergrößert oder besudelt seinwird. Eine in die Länge gezogene und unschöne Besetzung Bagdadswird beispielsweise ernsthafte Konsequenzen für die Doktrin ha-ben, bei dieser Schlacht gehe es um die Befreiung des Iraks und nichtetwa um seine Besetzung. Doch die externen Kräfte, die dem neo-konservativen Imperialismus entgegenstehen, sind gewaltig. Erstenswird dieses Projekt, wenn es deutlicher zutage tritt, fast mit Sicher-heit ein immer stärkeres Bündnis zwischen Deutschland, Frankreich,Russland, China und anderen schmieden, das keineswegs machtlosist. Ein relativ vereinter eurasischer Block wird, wie beispielsweiseKissinger befürchtet (siehe oben), einen Kampf gegen die USA nichtnotwendigerweise verlieren. Außerdem werden die Briten, solltendie USA tatsächlich in den Iran oder nach Syrien vordringen, fastsicher ihre Unterstützung für das aufgeben müssen, was dann ein-deutig als selbstsüchtiger US-Imperialismus zu erkennen sein wird.Europäische Regierungen, die wie Spanien und Italien die USA ein-deutig entgegen den Wünschen ihrer Bevölkerung unterstützt ha-ben, werden fast mit Sicherheit fallen und Europa damit zu einemviel geeinteren, den US-Plänen entgegenstehenden Machtblock ma-chen, als es momentan der Fall ist. Und der weltweite Widerstandinnerhalb der Vereinten Nationen wird ebenfalls stark zunehmen,während die USA immer isolierter sein werden.

Die Neokonservativen haben von der Befähigung der USA zurmoralischen Führungsinstanz viel vergeudet, und ihre Fähigkeit,

Kapitel 5

Page 196: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

195

durch echten Konsens zu führen, ist bereits stark vermindert. Selbstihr kultureller Einfluss scheint nachzulassen. Die USA mussten fak-tisch versuchen, sich in den Vereinten Nationen Konsens zu erkau-fen (wobei sie die UN fast behandelten, als seien diese eine Art ma-fiöser Vereinigung). Doch dass sich die Türkei, ein Mitgliedsstaatder NATO, nicht bestechen ließ, nicht einmal angesichts schlimmerwirtschaftlicher Not und der Drohung von Vergeltungsmaßnahmen,verdeutlicht ein tiefer liegendes Problem. Nirgends in der Welt istsehr viel echter Konsens zu finden, am nächsten kommt dem nochdie Haltung der Briten, die in den Augen ihrer eigenen Öffentlich-keit sehr wackelig ist. Die USA haben die Hegemonie durch Kon-sens aufgegeben und greifen mehr und mehr auf Vorherrschaft durchZwang zurück. Sie hatten lange den Ehrgeiz, wie Colin Powell esformulierte, der große »Schikanierer um den Block« zu sein (sieheoben), aber seiner Behauptung, dies sei akzeptabel, weil man daraufvertraue, dass die USA das Richtige täten, mangelt es inzwischen anGlaubwürdigkeit. Die wachsende Flut allgemein verbreiteten, glo-balen Widerstands, symbolisiert durch das bemerkenswerte massen-hafte Erscheinen bei den weltweiten Antikriegsdemonstrationen am15. Februar 2003, ist eine Kraft, mit der man rechnen muss.

Die Neokonservativen hoffen inständig, der Widerstand gegenihren Militarismus in den Bevölkerungen sowie auf Regierungsebe-ne werde sich weltweit größtenteils auflösen, sobald sie überall aufder Welt Ordnung geschaffen und seinen Nutzen demonstriert hät-ten. Diese Vision enthält mehr als nur ein bisschen Utopismus, dochselbst ihre teilweise Erfüllung hängt entscheidend von der Natur derentstehenden Nutzen sowie deren Verteilung ab. Der Neokonser-vatismus überschneidet sich jedoch in dem Glauben mit dem Neoli-beralismus, dass freie Märkte für Waren sowie für Kapital alles Not-wendige enthalten, um allen und jedem Freiheit und Wohlbefindenzu bringen. Obwohl sich dies bereits als völlig falsch erwiesen hat,haben die Neokonservativen nichts weiter getan, als den vom Neo-liberalismus begonnenen Krieg niedriger Intensität zu einer drama-tischen Konfrontation zu steigern, die angeblich die Probleme einfür alle mal lösen wird. Sie werden eine politische Ökonomie wei-terführen, die auf der Akkumulation durch Enteignung beruht (und

Vom Konsens zum Zwang

Page 197: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

196

die Enteignung des irakischen Öls wird der eklatanteste möglicheAusgangspunkt dafür sein), und absolut nichts tun, um den wach-senden Ungleichheiten, die die zeitgenössischen Formen des Kapi-talismus hervorbringen, entgegenzuwirken. Ja, nach ihrer Steuerpo-litik zu urteilen, werden die Neokonservativen tun, was sie können,um diese Ungleichheiten auszubauen, vermutlich mit der Begrün-dung, eine solche Belohnung für Initiative und Talent werde lang-fristig das Leben aller verbessern. Daher können wir eher eine Zu-nahme als ein Nachlassen der weltweiten Kämpfe gegen die Enteig-nung erwarten und eher eine Zunahme als ein Nachlassen des Gär-stoffs, der die Anti- und alternativen Globalisierungsbewegungensogar bis hin zur Wahl von Regierungen wie Lula in Brasilien ange-trieben hat, die versuchen, die Handlungsräume für den Neolibera-lismus zu begrenzen, wenn nicht gar zu verringern. Darüber hinausgibt es hier nichts, was das Abrutschen in Nationalismus und aus-schließende Politik als Mittel zur Verteidigung gegen den voranschrei-tenden Neoliberalismus aufhalten könnte. Je stärker die USA selbstmehr und mehr auf Rassismus als Mittel zum Brückenschlag zwi-schen Nationalismus und Imperialismus zurückgreifen, desto schwe-rer wird diese Art von Zerfall zu beherrschen sein.

Darüber hinaus besteht die entscheidende Frage, wie das neokon-servative imperialistische Projekt innerhalb der arabischen und nochweiter innerhalb der islamischen Welt aufgenommen werden wird.In dieser Hinsicht betreten die Neokonservativen besonders dünnesEis. Erstens wird jede Annäherung an die arabische Welt auf einerakzeptablen Lösung des arabisch-israelischen Konflikts beruhenmüssen, zu dem die Bush-Regierung – mit Ausnahme von gelegent-lichen Willensbekundungen in Reaktion auf externen Druck (insbe-sondere von Großbritannien) – praktisch völlig geschwiegen hat. DerGrund für diese scheinbare Gleichgültigkeit und die Ablehnung je-des Versuchs, Scharons Politik in Israel in die Schranken zu weisen,liegt in der unheiligen Allianz zionistischer Einflüsse innerhalb derUSA, kräftig unterstützt von den fundamentalistischen Christen, dieihre eigenen eschatologischen Gründe dafür haben. Wenn es trotzdes Einsatzes US-amerikanischer imperialistischer Macht nicht ge-lingt, ein Palästinenserabkommen in der Region hervorzuzaubern,

Kapitel 5

Page 198: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

197

wird dies ein dauerhafter Schlag gegen die USA innerhalb der arabi-schen Welt und sogar jenseits davon sein. Zweifellos läge darin eineQuelle des Widerstands, die sich in sporadischer Gewalt gegen Isra-el und die USA äußerten und vielleicht interne Revolutionen inner-halb der moslemischen Welt auslösen könnte. Zweitens beruht dieVorstellung, der Irak könne als Vorzeigeprojekt dienen, um die isla-mische Welt von ihren eigenen Spielarten des Fundamentalismus undihren undemokratischen Staatsformen abzubringen, auf der weit her-geholten, wenn nicht absurden Annahme, der Irak könne über Nachtin einen florierenden, kapitalistischen und demokratischen Staat unterUS-amerikanischer Vormundschaft verwandelt werden. Zu diesemZweck ergibt die Wahl des Iraks tatsächlich einen gewissen Sinn, daer nicht nur Reichtum besitzt, sondern auch eine Menge wissenschaft-liche Talente und technisches Know-how; bevor die USA und Sad-dam es gemeinsam zerstörten, hatte das Land auch eine signifikanteBasis in der Produktion und der Landwirtschaft. ÜberschüssigesKapital würde wahrscheinlich eine Abflussmöglichkeit darin finden,vieles davon wieder aufzubauen, doch angesichts der neoliberalenRegeln, die die Handels- und Finanzströme immer noch größten-teils regulieren, und des allgemeinen Zustands der Überakkumulati-on kann man sich schwerlich vorstellen, dass der Irak in den kom-menden Jahren zum Äquivalent Südkoreas wird. Und selbst wenner anfinge, dazu zu werden, ist angesichts der vielen Fehlschläge derEntwicklung von Staaten, die, wie Pakistan und Ägypten, im Laufder vergangenen 20 Jahre mit einem Gutteil Unterstützung durchdie USA einen Weg in die wirtschaftliche Entwicklung im kapitalis-tischen Stil gesucht haben, überhaupt nicht gesagt, dass irgendwel-che Vorzeigewirkungen eintreten würden. Der einzige Umstand, aufdem eine gewisse Hoffnung für die irakische wirtschaftliche Ent-wicklung unter der Besatzung beruhen könnte, wäre eine Erholungder Weltwirtschaft in einem noch größeren Ausmaß als in den Jah-ren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das bringt uns zu der entscheidenderen Frage nach den heutevorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen und danach, inwie-weit die skizzierten Prozesse auf eine kapitalistische Logik der Machthindeuten, die mit der spezifischen durch den neokonservativen

Vom Konsens zum Zwang

Page 199: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

198

Imperialismus angestrebten territorialen Logik irgendwie vereinbaroder an diese anzupassen ist. Das ist zwar wie immer schwer mitSicherheit vorherzusagen, doch offenbar besteht eine weitreichendeInkonsistenz, wenn nicht ein ausgemachter Widerspruch zwischenden beiden Logiken. Wenn das so ist, wird entweder die territorialeoder die kapitalistische Logik nachgeben oder mit katastrophalenFolgen rechnen müssen. Was also sind die Hauptmerkmale dieserUnvereinbarkeit?

Erstens einmal sind da die Kosten des Krieges selbst. Sie könnennicht weniger als 200 Milliarden Dollar betragen und werden mögli-cherweise viel höher liegen. Sicherlich existiert reichlich überschüs-siges Kapital, um ihn zu finanzieren, aber dieses wird seine Renditefordern: entweder Profite der Auftragnehmer von Abwehrmaßnah-men oder dem Wiederaufbau und/oder Zinszahlungen auf Staats-schulden. Bomben abzuwerfen ist keine produktive Investition undbringt keinen Wert in den Kreislauf und Akkumulationsprozess ein,es sei denn, wir betrachteten die Senkung des Ölpreises auf 20 Dol-lar/Barrel als Teil einer Ertragsrate der Militäraktion im Irak. Iraki-sches Öl könnte natürlich beschlagnahmt werden, um den Krieg zubezahlen, doch das würde seinen Gebrauch für die internationaleNeuentwicklung weitgehend ausschließen und dadurch die Möglich-keit zunichte machen, dass der Irak die Rolle eines Vorzeigeprojektsfür die kapitalistische Entwicklung spielt. Es wird nach allem, wasman hört, mehrere Jahre brauchen, die irakische Ölproduktion aufein Niveau zu heben, auf dem denkbar ist, dass sie beides finanziert.Und in jedem Fall hat der Irak aus der Vergangenheit Schulden vonetwa 200 Mrd. US-Dollar (64 Mrd. Dollar allein bei Russland) so-wie außerordentliche Obligationen aufgrund von Entschädigungs-zahlungen für den Einmarsch nach Kuwait, die sich auf über 100Mrd. Dollar belaufen. Sollte der Irak unter der US-Vormundschaftdiese Schulden nicht begleichen, käme es zu einem beträchtlicheninternationalen Aufruhr (mit Russland allen voran).

Daher haben die USA praktisch keine andere Wahl, als sich hochzu verschulden, um den Krieg zu finanzieren. Die allgemeinen Aus-wirkungen eines in die Höhe schnellenden Haushaltdefizites der USAwären selbst unter den bestmöglichen Bedingungen nicht milde.

Kapitel 5

Page 200: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

199

Unter den momentanen Bedingungen der wirtschaftlichen Stagnati-on, der sich verringernden Vermögenswerte und des schwindendenSteueraufkommens werden solche Defizitausgaben für militärischeZwecke die Wirtschaft vermutlich eher noch tiefer in die Rezessiondrängen als zu ihrer Wiederbelebung von innen beizutragen. Mili-tärausgaben werden manchmal (zum Beispiel von Luxemburg) alsökonomischer Ansporn analysiert (was auch »militärischer Keyne-sianimus« genannt wird), doch sie können bestenfalls sehr kurzfris-tig wirken (etwa so lange, wie man braucht, um abgenutzte Ausrüs-tung und verbrauchtes Material zu ersetzen). Und in der momenta-nen Situation wird jede kurzfristige Anregung aus dieser Richtungvollkommen durch sinkendes Kundenvertrauen und ein (von derRegierung unmittelbar für ihre eigenen Zwecke genutztes) Klimader Angst wettgemacht, das die Menschen vom Reisen oder irgend-welchen riskant erscheinenden Aktivitäten abhält. Daher stehen Flug-linien entweder kurz vor dem Konkurs oder mussten ihn bereitsanmelden und Tourismus und Freizeitaktivitäten stecken tief in wirt-schaftlichen Schwierigkeiten. Der Verlust von Arbeitsplätzen undSozialversicherungen (wie Krankenversicherung und sogar Renten-fonds) hallt überall in der US-Ökonomie wider. Die Wirtschaft NewYork Citys beispielsweise befindet sich heute in einem sogar nochprekäreren Zustand als in der Krise von 1973/75 und das Haushalts-defizit der Stadt scheint dazu eingerichtet zu sein, sie innerhalb we-niger Jahre in den technischen Konkurs zu drängen.

Dieses Problem wird durch die prekäre internationale Lage derUS-Ökonomie verschärft. Ausländer halten inzwischen über einDrittel der US-amerikanischen Staatsschulden und 18% der Unter-nehmensschulden (womit die Anteile sich seit etwa 1980 mehr alsverdoppelt haben), und die USA sind inzwischen von netto mehr als2 Milliarden US-Dollar an täglichen Investitionsströmen aus demAusland abhängig, um ihr ständig wachsendes derzeitiges Defizitgegenüber dem Rest der Welt zu decken.124 Wie bereits dargelegt,

124 A. Krueger, »Economic Scene«, New York Times, 3. April 2003, S. C2; J.Madrick, »The Iraqi Time Bomb«, New York Times, 6. April 2003, Sonntags-magazin, S. 48.

Vom Konsens zum Zwang

Page 201: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

200

macht dies die US-Ökonomie außerordentlich verwundbar für Ka-pitalflucht, für die mit dem Fall des relativen Dollarwertes auf denWeltmärkten bereits erste Zeichen sichtbar sind. Es besteht die Ge-fahr, dass der Spieß umgedreht wird im Hinblick auf die Macht desFinanzkapitals, die USA selbst zu stützen statt ihnen ernsthaft zuschaden. Die kapitalistische Logik deutet ohne das wirksame Ein-greifen des Staates, zu dem die Bush-Regierung anscheinend nichtin der Lage ist, eher auf ein Abfließen der wirtschaftlichen Machtaus den USA hin als auf die mächtige Bewegung nach innen, die manwährend des Wirtschaftsbooms der 1990er Jahre so effektiv lenkte.Ebenso wie das spekulative Kapital nach Thailand, Indonesien undArgentinien floss, um eine Hochkonjunktur zu finanzieren, die plötz-lich in Kapitalflucht und wirtschaftliche Katastrophen kollabierte,erzeugte die Flucht des spekulativen Kapitals an die Wall Street inden 1990er Jahren einen Boom, der genauso leicht umgekehrt wer-den kann (und bis zu einem gewissen Grad bereits umgekehrt wird).Die Umstände sind natürlich ein wenig andere, weil der Dollar im-mer der sichere Hafen für das weltweite Kapital gewesen ist und dieMacht zur Geldschöpfung immer noch bei den USA liegt. Doch vielhängt von dem Vertrauen in die US-Regierung ab, und je mehr er-kannt wird, dass sie momentan von einer Koalition aus dem militä-risch-industriellen Komplex, Neokonservativen und, noch besorg-niserregender, fundamentalistischen Christen dominiert wird, destostärker wird die Logik des Kapitals auf einen Regierungswechsel inWashington als Notwendigkeit für ihr eigenes Überleben hinarbei-ten. Das hätte den Effekt, die neokonservative Version des Imperia-lismus mit einem Knall zum Stillstand zu bringen. Sollte dies nichtgeschehen, könnte die enorme Belastung durch eine noch stärkereHinwendung zu einer ständigen Kriegswirtschaft auf eine Art wirt-schaftlichen Selbstmord der Vereinigten Staaten hinauslaufen. DerDrang zum Militarismus würde dann als ein letzter verzweifelterZug der USA erscheinen, ihre globale Vorherrschaft um jeden Preiszu erhalten.

Aber der potenziell durch das neokonservative imperialistischeProjekt angerichtete Schaden hat noch einen anderen Aspekt. Beider unilateralen Behauptung der US-amerikanischen Imperialmacht

Kapitel 5

Page 202: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

201

erkennt man überhaupt nicht das hohe Maß an Integration über Län-dergrenzen hinweg, das heute innerhalb der kapitalistischen Orga-nisation des Kreislaufs und der Akkumulation von Kapital besteht.Die US-amerikanischen Drohungen, Produkte aus Frankreich undDeutschland zu boykottieren, und andersherum Boykottandrohun-gen durch die Europäer ergeben schwerlich einen Sinn, wenn derAnteil ausländischer Güter in jeder Ökonomie typischerweise zwi-schen einem Drittel und der Hälfte ihres Wertes liegt. Doch der wach-sende Nationalismus, heute so sehr durch den Krieg gefördert wiedurch die Widerstandsbewegungen gegen den Neoliberalismus, kanndem internationalen Kapitalstrom und den Dynamiken der Akku-mulation tatsächlich Beschränkungen auferlegen. Der Rückzug inregionale Strukturen des Kapitalkreislaufs und der -akkumulation,für den die Zeichen sich bereits häufen, kann durch jeden wachsen-den Trend des Nationalismus und Rassismus verschlimmert werden,ganz zu schweigen davon, wie der Gedanke eines Kampfs der Kul-turen an Boden gewinnt. Doch der Rückzug in regionale Machtblö-cke, die ausschließende Praktiken ausüben, während sie am Wettbe-werb zwischen den Blöcken teilnehmen, ist genau die Struktur, diedie Krisen des globalen Kapitalismus in den 1930er und 1940er Jah-ren hervorbrachte. Lenin wird Recht behalten. Und vermutlich willniemand das noch einmal erleben, was die langsame, aber wahrnehm-bare Tendenz zu einer solchen Lösung noch beunruhigender macht.

Die Fortführung der neoliberalen Politik auf wirtschaftlicherEbene bringt, wie ich bereits angedeutet habe, eine Fortführung, wennnicht Eskalation, der Akkumulation mit anderen Mitteln mit sich,d. h. die Akkumulation durch Enteignung. Die äußere logische Fol-ge muss sicherlich eine stetig wachsende Flut des weltweiten Wider-stands sein, auf den die einzige Antwort die Unterdrückung popula-rer Bewegungen durch die Staatsmacht sein kann. Das impliziert dieFortsetzung des Krieges niedriger Intensität, der die Weltwirtschaftseit 20 Jahren oder mehr kennzeichnet, es sei denn, es gelänge, dasglobale Überakkumulationsproblem zu mildern. Die einzige Mög-lichkeit hierfür ist, wie ich vertreten habe, das hemmende, gewaltsa-me und riesige Programm dessen, was im Wesentlichen eine wahr-haft primitive Form der Akkumulation in China ist. Sie wird ein

Vom Konsens zum Zwang

Page 203: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

202

Wirtschaftswachstum und eine Entwicklung der öffentlichen Infra-struktur nach sich ziehen, die künftig einen großen Teil des weltwei-ten Kapitalüberschusses absorbieren könnten. Vorausgesetzt, dieserProzess führt nicht zu einer Konterrevolution innerhalb Chinas.Doch wenn er Erfolg hat, wird das Abfließen des Überschusskapi-tals nach China katastrophal für die US-Ökonomie sein, die mo-mentan von Kapitalzuströmen unterhalten wird, um ihren eigenenunproduktiven Konsum im militärischen wie im privaten Sektor zustützen. Das Ergebnis wäre das Äquivalent einer »strukturellen An-passung« in der US-Ökonomie und damit verbunden ein bislangungekanntes Maß an Entbehrungen, wie man sie seit der GroßenDepression der 1930er Jahre nicht mehr erlebt hat. In solch einerSituation wären die USA sehr in Versuchung, ihre Macht über dasÖl als Bremsklotz China in den Weg zu stellen, was zumindest zueinem geopolitischen Konflikt in Zentralasien führen und sich mög-licherweise zu einem globaleren Konflikt auswachsen würde.

Die einzig mögliche, wenn auch befristete Antwort auf diesesProblem innerhalb der Regeln einer kapitalistischen Produktions-weise ist eine Art von neuem »New Deal« mit weltweitem Einfluss-bereich. Das würde bedeuten, die Logik der Kapitalzirkulation und-akkumulation von ihren neoliberalen Ketten zu befreien, die Staats-macht in die Richtung erweiterter Eingriffs- und Umverteilungs-möglichkeiten umzuformulieren, die Spekulationsmacht des Finanz-kapitals einzuschränken und die überwältigende Macht von Oligo-polen und Monopolen (insbesondere den ruchlosen Einfluss desmilitärisch-industriellen Komplexes), alles von den Bedingungen desinternationalen Handels bis hin zu dem, was wir in den Medien se-hen, lesen und hören, zu diktieren, zu dezentralisieren oder demo-kratisch zu kontrollieren. Der Effekt wäre die Rückkehr zu einemabgemilderten »New Deal«-Imperialismus, die zustande kommenwürde durch die Art von Koalition kapitalistischer Mächte, die Kau-tsky sich vor langer Zeit vorstellte.

Ein Ultraimperialismus der Sorte, die man jetzt in Europa vor-zieht, hat jedoch seine eigenen negativen Konnotationen und Kon-sequenzen. Wenn man dem Blair-Berater Robert Cooper glaubendarf, favorisiert dieser Imperialismus die Wiedereinführung der aus

Kapitel 5

Page 204: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

203

dem 19. Jahrhundert stammenden Unterscheidungen zwischen zivi-lisierten, barbarischen und wilden Staaten unter den Bezeichnungenpostmoderner, moderner und prämoderner Staaten, wobei die post-modernen als Hüter von Zivilisation und Zusammenarbeit durchdirekte oder indirekte Mittel die Huldigung universeller (sprich:»westlicher« und »bürgerlicher«) Normen und humanistischer(sprich: »kapitalistischer«) Praktiken rund um den Globus herbei-führen sollen. Die postmodernen, hauptsächlich europäischen Staa-ten sind, aus dieser Perspektive, nicht im Geringsten ein »altes Eu-ropa«, sondern den USA weit voraus, die ihrerseits offenbar gewisseSchwierigkeiten haben, ihre modernistische Art abzulegen. Das Pro-blem ist, dass es Klassifikationen dieser Art waren, die es Liberalendes 19. Jahrhunderts wie John Stuart Mill gestatteten, die Vormund-schaft über Indien und die Extraktion von Tributen aus dem Aus-land zu rechtfertigen und gleichzeitig die Prinzipien der repräsenta-tiven Regierung in »zivilisierten« Ländern wie dem eigenen zu rüh-men. In Abwesenheit einer starken Wiederbelebung anhaltenderAkkumulation durch erweiterte Reproduktion kann diese europäi-sche Version des liberalen Imperialismus sich nur immer tiefer inden neoliberalen Morast einer weltweiten Politik der Akkumulationdurch Enteignung bewegen, um den Motor der Akkumulation wei-terlaufen zu lassen. Eine solche alternative Form des kollektivenImperialismus wird für weite Teile der Weltbevölkerung schwerlichakzeptabel sein, die die Akkumulation durch Enteignung und diemit ihr verbundenen räuberischen Formen des Kapitalismus durch-gemacht und in manchen Fällen zu bekämpfen begonnen haben. Dieliberale List, die jemand wie Cooper vorschlägt, ist jedenfalls denpostkolonialen Autoren zu vertraut, um Zugkraft zu haben.125

125 R. Cooper, »The New Liberal Imperialism«, Observer, 7. 4. 2002. Diein U. Mehta, Liberalism and Empire (Chicago: University of Chicago Press,1999), ausgeführte Kritik ist schlicht vernichtend, wenn man sie gegen CoopersFormulierungen vorbringt. Ich konnte in diesem Punkt, wie woanders auch,großen Nutzen ziehen aus der Analyse in J. Anderson, »American Hegemonyafter September 11: Allies, Rivals and Contradictions«, unveröffentl. Manus-kript, Centre for International Borders Research, Queen’s University, Belfast,2002.

Vom Konsens zum Zwang

Page 205: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

204

Natürlich warten noch viel radikalere Lösungen hinter den Ku-lissen, aber die Entwicklung eines neuen »New Deal«, innenpoli-tisch wie international angeführt von den USA und Europa, ist an-gesichts der dagegen in Anschlag gebrachten überwältigenden Kräf-te der Klassen und speziellen Interessen in der momentanen Situati-on sicherlich ein ausreichend harter Brocken. Und der Gedanke, erkönnte durch das angemessene Anstreben einer langfristigen raum-zeitlichen Fixierung tatsächlich die Probleme der Überakkumulati-on zumindest für einige Jahre lindern und die Notwendigkeit derAkkumulation durch Enteignung verringern, könnte demokratische,progressive und humane Kräfte dazu ermutigen, sich hinter ihn zustellen und ihn zu einer Art von praktischer Realität zu machen. Diesscheint tatsächlich auf eine viel weniger gewaltsame und mildereimperialistische Marschroute abzuzielen als der rohe militaristischeImperialismus, für den die neokonservative Bewegung in den Verei-nigten Staaten momentan steht.

Das wirkliche Schlachtfeld, auf dem dies ausgefochten werdenmuss, liegt natürlich innerhalb der USA. In dem Punkt gibt es eini-gen Anlass für schwache Hoffnung, da die schweren Einschnitte inbürgerliche Freiheiten und die schon lange bestehende Erkenntnis,dass Imperialismus im Ausland um den Preis von Tyrannei zu Hau-se erkauft wird, eine echte Grundlage für politischen Widerstandbilden, zumindest unter denjenigen, die wirklich an die Bill of Rightsglauben und deren Vorstellung von Verfassungskonformität eineandere ist als die der heutzutage den Obersten Gerichtshof domi-nierenden neokonservativen Mehrheit. Diese Menschen sind mind-estens so zahlreich wie die christlichen Fundamentalisten, die jetztso einen unheilverkündenden Einfluss in der Regierung ausüben. Undes gibt innerhalb der christlichen Mehrheit, insbesondere in ihrerFührung (die größtenteils eine Antikriegshaltung zum Ausdruckgebracht hat), Anzeichen für einen moralischen Imperativ, die christ-lichen Fundamentalisten zu isolieren und eine andere Art von Chris-tentum durchzusetzen, das für religiöse Toleranz und die friedlicheKoexistenz mit anderen eintritt. Es gibt eine Antikriegs- und Anti-imperialismusbewegung, die bemüht ist, sich zu artikulieren, dochdas Klima des Nationalismus, Patriotismus und der Unterdrückung

Kapitel 5

Page 206: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

205

von Dissens auf allen Ebenen, insbesondere in den Medien, bedeu-tet, dass intern ein unerbitterlicher Kampf gegen die neokonservati-ve Version des Imperialismus sowie gegen die Fortführung des Neo-liberalismus auf wirtschaftlicher Ebene geführt werden muss. DieKlassenmacht hinter dem Neoliberalismus beispielsweise ist furcht-erregend, aber je problematischer die neokonservative Form derStaatsführung innenpolitisch wie international erscheint, desto wahr-scheinlicher wird es selbst innerhalb der elitären Klassen zu Unei-nigkeit und Meinungsverschiedenheiten über die von der territoria-len Logik der Macht einzuschlagende Richtung kommen. Die mo-mentanen Schwierigkeiten innerhalb des neoliberalen Modells unddie Bedrohung, die es jetzt für die Vereinigten Staaten selbst dar-stellt, könnten sogar Forderungen nach der Entwicklung einer alter-nativen Logik der territorialen Macht herbeiführen. Ob dies geschiehtoder nicht, hängt entscheidend von den politischen Kräfteverhält-nissen innerhalb der USA ab. Dies ist zwar vielleicht nicht ausschlag-gebend, wird aber eine große Rolle für unsere individuelle und kol-lektive Zukunft spielen. Im Hinblick darauf kann die übrige Weltnur zusehen, warten und hoffen. Aber eines kann mit Sicherheit fest-gestellt werden. Ein pauschaler Antiamerikanismus der übrigen Weltwird und kann nicht helfen. Diejenigen in den USA, die sich um dieEntwicklung einer Alternative bemühen, sowohl intern als auch imHinblick auf ausländische Verpflichtungen, brauchen alle Sympa-thien und Unterstützung, die sie bekommen können. Ebenso wiedie Dialektik von innen und außen solch eine entscheidende Rollebei der Entwicklung des neokonservativen Imperialismus spielt,kommt einer Umkehr dieser Dialektik eine entscheidende Rolle inder antiimperialistischen Politik zu.

Vom Konsens zum Zwang

Page 207: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

206

Nachwort

Um zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte, nämlich zu er-klären, warum es den Irak getroffen hatte und warum zu diesemZeitpunkt, musste ich vorläufig beschreiben, wie es zu dem Kriegkam, auch wenn vieles noch unklar war. Manches hat sich inzwi-schen geklärt. Die Massenvernichtungswaffen (angeblich der Haupt-grund für einen Präventivschlag) waren keine Bedrohung und eswurden keine nennenswerten gefunden. Die angenommene Verbin-dung von Saddam zu Al Qaida und dem 11. September existiertenicht. Es gab ernsthafte Probleme mit den Geheimdiensten. DieAnhörungen und Berichte der Kommission zum 11. September so-wie der Geheimdienstbericht des US-Senats zusammen mit denHutton- und Butler-Untersuchungen in Großbritannien dokumen-tieren, wie unaufbereitete, dürftige und oft nicht bestätigte Informa-tionen verwendet wurden, um die Entscheidung für einen Krieg zurechtfertigen. Der von Regierungen ausgeübte politische Druck spiel-te offensichtlich eine Rolle, aber die politische Entscheidungsfindungwurde nicht so eingehend überprüft wie Fehler in der Informations-weitergabe. Die systematischen Ausflüchte zu diesem Punkt sowohlin Großbritannien als auch in den USA lassen vermuten, dass es eineMenge zu verbergen gibt.

Auf alle Fälle schickten nicht die Geheimdienste ihre Länder inden Krieg – sondern die Politiker. Und die Neokonservativen in denUSA hatten schon lange in den Irak einmarschieren wollen. Dieweitergehenden Behauptungen – das Ziel sei, die ganze Region zudemokratisieren, Gefälligkeiten für undemokratische Regime wie inder Vergangenheit würden aufhören, und man sei zutiefst um dieMenschenrechte besorgt – stehen im Widerspruch zur anhaltenden(und durch Militärpräsenz verstärkten) US-amerikanischen Unter-stützung gewaltsam repressiver Regime in anderen Teilen der Weltsowie der bedingungslosen Unterstützung einer brutalen israelischenMilitärpolitik gegenüber den Palästinensern.

Nachwort

Page 208: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

207

Mit der Zeit griffen Bush und Blair auf das Argument zurück, dieWelt gewaltsam von einem brutalen Diktator zu befreien, sei mora-lisch korrekt und »die Geschichte« würde ihnen letztlich Recht ge-ben. Insbesondere Bush betonte, das Geschenk der Freiheit an denIrak sei Rechtfertigung genug. »Freiheit«, so beteuerte er, »ist dasGeschenk des Allmächtigen an jeden Mann und jede Frau auf dieserWelt«, und »als die größte Macht der Erde sind wir verpflichtet, zurAusbreitung der Freiheit beizutragen«.126 Nähme man ihn beim Wort,würde das eine Reihe von präventiven Befreiungskriegen erforder-lich machen, von Saudi-Arabien über Zimbabwe und Pakistan bisnach China.

Aber, wie Matthew Arnold vor langer Zeit bemerkte, »Freiheitist ein sehr gutes Pferd zum Reiten, aber um es irgendwohin zu rei-ten«.127 Wohin also sollten die Iraker ihr Pferd der Freiheit reiten?Die US-amerikanische Antwort auf diese Frage wurde am 19. Sep-tember 2003 gegeben, als Paul Bremer, Chef der zivilen Übergangs-verwaltung, eine Reihe von Verfügungen erließ, darunter die »völli-ge Privatisierung staatlicher Unternehmen, volle Besitzrechte aus-ländischer Firmen an irakischen Betrieben, völlige Repatriierungausländischer Profite …, die Öffnung irakischer Banken für ausländi-sche Kontrollen, die Behandlung ausländischer Firmen wie inländi-sche und … der Abbau praktisch aller Handelsbarrieren.«128 DieseAnordnungen sollten auf alle wirtschaftlichen Bereiche angewendetwerden. Nur Öl war davon befreit (vermutlich aufgrund seines Son-derstatus und seiner geopolitischen Bedeutung). Ein Einheitssteu-ersatz wurde verhängt (ein regressives Besteuerungssystem, das beibestimmten Neokonservativen in den USA sehr beliebt ist). Streikswurden verboten und das Recht auf gewerkschaftliche Organisa-tion stark eingeschränkt.

126 G. W. Bush, »President Addresses the Nation in Prime Time Press Con-ference«, 13. April 2004; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2004/0420040413-20.html.

127 Matthew Arnold wird zitiert in: R. Williams, Culture and Society, 1780-1850 (London: Chatto & Windus, 1958), S. 118.

128 A. Juhasz, »Ambitions of Empire: The Bush Administration EconomicPlan for Iraq (and Beyond)«, Left Turn Magazine, 12 (Feb./März 2004).

Nachwort

Page 209: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

208

Diese Auferlegung eines Systems, das der Londoner Economistden »Traum jedes Kapitalisten« nannte, rief durchaus Kritik hervor.Der irakische Übergangshandelsminister attackierte die Verhängungeines »Fundamentalismus des freien Marktes« und bezeichnete ihnals »fehlerhafte Logik, die die Geschichte ignoriert«. Die Einschät-zung, die USA seien darauf aus, »den Irak zu plündern« (ein bruta-ler Fall von Akkumulation durch Enteignung, wenn es je einen ge-geben hat), gewann an Glaubwürdigkeit, während die »GoldgrubeWiederaufbau Irak« ins Rollen kam und US-amerikanischen Unter-nehmen erhebliche Vorteile einbrachte. Nationale Vermögenswertedes Irak wurden faktisch zum Schleuderpreis an Ausländer verstei-gert. Bremers Verfügungen verstießen gegen die Genfer und DenHaager Konventionen zur Rolle einer Besatzungsmacht.129 Einer derGründe für die US-amerikanische Ablehnung direkter Wahlen imIrak war der Wunsch der USA nach einer ernannten Übergangsre-gierung, die diese Reformen des freien Marktes in das Rechtssystemeinbinden würde, ehe eine direkte Demokratie (die sie wahrschein-lich ablehnen würde) errichtet werden könnte. Während der hand-verlesenen Übergangsregierung, die Ende Juni 2004 die Macht über-nahm, als Preis für eine unterstützende UN-Resolution nominell die»volle Souveränität« gewährt wurde, geht aus der Übergangsverein-barung hervor, dass sie keine wesentlichen neuen Gesetze verabschie-den, nur bestehende Verordnungen bestätigen kann. Dass die neueFührung mit ihren langjährigen Verbindungen zur CIA den von denUSA verhängten Fundamentalismus des freien Marktes in Frage stel-len wird, ist unwahrscheinlich.130

Bremers Verordnungen waren faktisch der Auftrag, einen perfek-tionierten »neoliberalen Staat« im Irak aufzubauen. Man erinneresich, das erste große Experiment im Aufbau eines neoliberalen Staatswar Chile nach Pinochets gewaltsamem, von den USA unterstütz-

129 N. Klein, »Of Course the White House Fears Free Elections in Iraq«,Guardian, 24. Januar 2004, S. 18; Editorial, »The Iraq Reconstruction Bonan-za«, New York Times, 1. Oktober 2003, S. A22.

130 A. Juhasz, »The Handover That Wasn’t: How the Occupation of IraqContinues«, Foreign Policy in Focus Policy Report, www.fpif.org.

Nachwort

Page 210: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

209

ten Putsch des »kleinen 11. September« 1973 gegen den demokra-tisch gewählten Salvador Allende. Neoliberale Wirtschaftsexpertenaus den USA halfen dabei, die chilenische Wirtschaft in Richtungeines vollkommen privatisierten und unregulierten freien Markts undfreien Handels wieder aufzubauen. In den dreißig Jahren zwischender gewaltsamen Verhängung des Neoliberalismus in Chile und imIrak wandten sich alle möglichen Staaten, angefangen bei Thatcherin Großbritannien und Reagan in den USA, von dem Streben nachVollbeschäftigung und Wohlergehen aller Bürger ab und schlugenden Weg des Neoliberalismus ein, der sich allein darauf konzentriert,die Inflation in Grenzen zu halten, ein gutes Geschäftsklima zu schaf-fen und die Freiheiten des Markts zu befördern. Bremers Anord-nungen tun faktisch durch rohe Gewalt das, was die USA (mit Hilfedes IWF und seiner strukturellen Anpassungsprogramme sowiedurch die WTO) weltweit versuchen, und decken sich genau mitden Anforderungen, die die Bush-Regierung mit ihren Zahlungender Auslandshilfe aus den »Millennium Challenge Grants« verknüpfthat.131

Eines der großen Fragezeichen zur Zeit der Invasion war, ob mandarin eine Befreiung oder eine Besetzung sehen würde. Es wurdeschnell klar, dass sie hauptsächlich als Besetzung begriffen wurde. Inden Augen ernsthafter Historiker war der Einmarsch durch die ele-mentare Kenntnis der ganzen Kolonialgeschichte und ihrer Nach-wirkungen im Mittleren Osten von vornherein dazu verurteilt, soangesehen zu werden. Jede ausländische Macht, die in die Regionvorstieß, erklärte Befreiung zu ihrem Ziel und trat dann als brutaleBesatzungsmacht auf.132 Viel mehr US-Soldaten sind gestorben, seit

131 N. Klein, »White House Fears Elections«; T. Crampton, »Iraqi OfficialUrges Caution on Imposing Free Market«, New York Times, 14. Oktober 2003,S. C5; S. Soederberg, »American Empire and ›Excluded States‹: The Millenni-um Challenge Account and the Shift to Pre-emptive Development«, unveröf-fentlichtes Manuskript, Department of Political Science, University of Alberta,2003.

132 D. Gregory, The Colonial Present (Oxford: Basil Blackwell, 2004); R.Khalidi, Resurrecting Empire: Western Footprints and America’s Perilous Pathin the Middle East (Boston: Beacon Press, 2004).

Nachwort

Page 211: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

210

Bush am 1. Mai 2003 unter dem Spruchband »mission accomplis-hed« – Mission vollendet – auf einem Flugzeugträger landete. DieHinwendung der USA zu brutaleren repressiven Taktiken im Irak(Taktiken, in denen sich die der Israelis gegen die Palästinenser wi-derspiegeln) erzeugten immer größere Wellen des Widerstands. »Ichglaube, mit einer kräftigen Dosis Angst und Gewalt und viel Geldfür Projekte«, sagte ein US-Kommandeur der Bodentruppen wäh-rend dieser Phase der Besetzung, »können wir diese Menschen über-zeugen, dass wir hier sind, um ihnen zu helfen.« Solche Taktikenschlugen offensichtlich fehl und der Mythos einer wohlwollendenMilitärbesatzung wurde durch die skandalösen Übergriffe gegenKriegsgefangene in Abu Ghraib unwiederbringlich zerstört.133

Innerhalb der USA zog dies eine stetig wachsende Bereitschaftnach sich, die Motive für die Invasion sowie den folgenschwerenMangel an Plänen für den Nachkriegs-Wiederaufbau des Irak zu hin-terfragen. Erstaunlicherweise waren sogar einige Mea culpas in derMainstream-Presse zu lesen, die eingestand, im Vorfeld des Kriegesihre Pflicht, für eine kritische Analyse zu sorgen, nicht erfüllt zuhaben.134 Und mit Michael Moores Fahrenheit 9/11 entstand einevernichtende Polemik nicht nur gegen die Bush-Regierung, sondernauch gegen die Klassen- und Unternehmensinteressen, die sie in ih-rem Engagement für den Krieg unterstützten.

Doch mittlerweile stehen die USA intern und extern unter Druck,im Irak eine Strategie für einen schnellen Abgang zu finden. Dochbefindet man sich in mehreren schwierigen Dilemmata. Ein zu schnel-ler Rückzug der US-Streitkräfte könnte den Irak durchaus in einenblutigen Bürgerkrieg stürzen. Das ist genau das, was die (diskredi-

133 D. Filkins, »Tough New Tactics by U.S. Tighten Grip on Iraq’s Towns«,New York Times, 7. Dezember 2003, S. A18.

134 D. Rieff, »Blueprint for a Mess: How the Bush Administration’s Pre-warPlanners Bungled Postwar Iraq«, New York Times, 2. November 2003, Sonn-tagsmagazin, S. 28–78; M. Ignatieff, »Why Are We In Iraq? (and Liberia? AndAfghanistan?)«, New York Times, 7. September 2003, Sonntagsmagazin, S. 38–85; C. Mooney, »The Editorial Pages and the Case for War: Did Our LeadingNewspapers Set Too Low a Bar for a Preemptive Attack?«, Columbia Journa-lism Review, 1. März 2004; Editorial, »A Pause for Hindsight«, New York Ti-mes, 16. Juli 2004, S. A22.

Nachwort

Page 212: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

211

tierte) CIA vorhersagt. So lässt sich, sogar von denen, die einer US-geführten Invasion möglicherweise kritisch gegenüberstanden, all-zu leicht fordern, dass die US-Streitkräfte bleiben, bis die Aufgabe,den Irak zu stabilisieren, erledigt ist (falls dies jemals zutrifft). Poli-tisch wirkten die USA größtenteils durch die Trennlinien zwischenden verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen und för-derten diese somit aktiv (und vielleicht unbewusst) als politische Blö-cke. Die Klüfte zwischen religiösen und ethnischen Gruppen sindnatürlich signifikant und Konflikte zwischen ihnen sind durchausmöglich. Ein Resultat könnte die Aufteilung des Irak in einen sunni-tischen, einen kurdischen und einen schiitischen Staat sein. Gerüch-teweise war von solchen Plänen die Rede, doch ist unwahrschein-lich, dass die umliegenden Staaten (insbesondere die Türkei) demtatenlos zusehen würden. Unwahrscheinlich ist auch, dass die USAdie Ölfelder ungeschützt lassen würden, selbst wenn sie sich aus demübrigen Land zurückzögen. Die einzigen anderen Möglichkeiten sind,dass entweder die USA langfristig im Irak bleiben (eine Möglich-keit, die innerhalb der USA zunehmend unpopulär wird) oder dieBesetzung unter der Schirmherrschaft der UN internationalisiertwird. Die anfängliche Abneigung der Bush-Regierung, letzteres inErwägung zu ziehen (selbst unter der Annahme, die UN könntendem zustimmen) erwuchs wahrscheinlich aus einer Mischung ausfalschem Stolz, der Unfähigkeit der US-amerikanischen Machtinsti-tutionen zum Kurswechsel und der Sorge um das Öl. Man bewegtesich zögerlich in Richtung einer Internationalisierung der Besetzungund des Wiederaufbaus. Doch damit wäre ein viel größeres Mitspra-cherecht für die Länder verbunden, die wie Frankreich, Deutsch-land und Russland aus den Wiederaufbauverträgen sowie den Ölfel-dern ausgeschlossen wurden. Andererseits ist es wahrscheinlicher,dass die Schulden des Irak (jetzt auf 100 Milliarden Dollar fixiert,plus 100 Milliarden Forderungen für Reparationen von Kuwait),deren Großteil von Russland und anderen einflussreichen Spielerngehalten wird, vergeben werden, wenn die USA mehr Kontrollrech-te an die UN abtreten. Doch dass die USA die ultimative Kontrolleüber das Öl abtreten werden, halte ich für unwahrscheinlich, egalwer in Washington regiert.

Nachwort

Page 213: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

212

Der genaue Stand der globalen Ölvorkommen und -reserven istso unklar wie eh und je. Beispielsweise habe ich eingangs festgestellt,die Ölvorräte in Kanada gingen allmählich zur Neige. Berücksich-tigt man jedoch das schwer zu gewinnende Erdöl im Teersand, dannsind Kanadas Ölvorräte umfangreich. Russland ist etwa innerhalbdes letzten Jahres in sehr großem Stil in den weltweiten Erdölmarkteingetreten (und beginnt den Status eines erdölexportierenden Lan-des anzunehmen, mit allen damit verbundenen Gefahren und Schwie-rigkeiten). Und das plötzliche Interesse der Bush-Regierung an Mi-litärstützpunkten in Afrika (insbesondere Westafrika und Angola)hat fast mit Sicherheit mit den beträchtlichen Ölvorkommen dortzu tun.135 Wie wir jetzt, nebenbei bemerkt, aus kürzlich veröffent-lichten Berichten britischer Geheimdienste erfahren haben, standendie USA in der Krise von 1973 bereit, die Ölfelder von Saudi-Arabi-en und Abu Dhabi zu besetzen.136 Die Schlussfolgerung, der Grunddafür, dass die Saudis damals zustimmten, die Petrodollars durch US-Banken in die Weltwirtschaft zurückzuführen, sei die Abwehr einersolchen Bedrohung gewesen, wirkt vollkommen plausibel. Was dasBild von der Ölsituation angeht, so muss man sich eingestehen, dasses unbeständig ist, aber auch akzeptieren, dass der Mittlere Osten,egal was geschieht, für die Weltwirtschaft von entscheidender Be-deutung ist und die seit 1945 stets zunehmende Präsenz der USA inder Region sich in naher Zukunft nicht verringern wird. Ich halte esdaher für unwahrscheinlich, dass ein Regierungswechsel in Washing-ton am US-amerikanischen Drängen auf Kontrolle der Region undihrer Ölreserven etwas ändern oder dieses gar in sein Gegenteil ver-kehren würde.

Dies wirft die interessante Frage auf, wie die USA ihre fortwäh-rende militärische Präsenz in der Region rechtfertigen können. DieHauptrechtfertigung ist die chronisch unsichere Situation. EineUnterbrechung der Öllieferungen hätte aufgrund hoher oder über-

135 E. Schmitt, »Pentagon Seeking New Access Pacts for Africa Bases«, NewYork Times, 5. Juli 2003, S. A1 und A7.

136 L. Alvarez, »Britain Says U.S. Planned to Seize Oil in ‘73 Crisis«, NewYork Times, 4. Januar 2004, S. A6.

Nachwort

Page 214: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

213

mäßig unbeständiger Erdölpreise negative Folgen für den globalenKapitalismus. Nach diesem Maßstab muss die US-amerikanischeIntervention im Irak als totaler Fehlschlag bezeichnet werden, dadie Ölpreise sich als sowohl unbeständig als auch durchschnittlichviel höher als vor dem Krieg erwiesen haben. Rupert MurdochsTraum vom Erdöl für 20 US-Dollar das Barrel ist zu einem Alb-traum für etwa 40 Dollar pro Barrel geworden. Doch gelegentlichscheint es tatsächlich, als begrüßten die USA die Unsicherheit oderkultivierten sie sogar bewusst, um ihre fortgesetzte Präsenz zu recht-fertigen. Bushs einseitiges Engagement in der Israel-Palästina-Fragemag innenpolitisch Schlüsselinteressen in den USA gedient haben,es förderte jedoch ebenso Terrorismus, Militanz und Aufstände in-nerhalb der Region und darüber hinaus. Ein Zustand anhaltenderUnsicherheit (dazu gehört auch ein drohender Bürgerkrieg im Irak)und die Aufrechterhaltung eines Klimas der Angst müssen Bush undseinen Ratgebern als der leichteste Weg zur Wiederwahl und Kon-solidierung globaler politischer Macht rings um einen mächtigenMilitärapparat und eine permanente Kriegswirtschaft erscheinen.Ebenso wie die USA von der finanziellen Unbeständigkeit profitier-ten, zu deren Entstehung sie in den 1980er und 1990er Jahren bei-trugen, profitieren sie möglicherweise von der brisanten Sicherheits-lage, die ihre Politik schürt.

Mein vielleicht umstrittenstes Argument war jedoch, die USAoperierten eher aus einer Haltung ökonomischer und politischerSchwäche heraus als aus einer der Stärke, und das Irak-Abenteuerkönne leicht das Ende der Hegemonie anzeigen statt den Anfangeiner Phase globaler Vorherrschaft der USA. Ob ich damit Rechthabe, wird sich erst im Lauf der Zeit erweisen. Aber man muss sichder Möglichkeit und den potenziellen Folgen eines bevorstehendenNiedergangs der USA als Hegemonialmacht stellen. Ich stehe im-mer noch zu der allgemeinen Stoßrichtung meiner Argumentation,doch sie bedarf der weiteren Ausführung.

Ich beginne mit der Tatsache, dass ein Großteil der weltweitenForschung und Entwicklung in den USA durchgeführt wird. Diesbedeutet für sie einen anhaltenden technologischen Vorteil und rich-tet die globalen Wege technologischer Veränderungen nach ihren ei-

Nachwort

Page 215: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

214

genen Interessen aus (insbesondere die auf den militärisch-industri-ellen Komplex konzentrierten). So strömen Nutzungsgebühren fürTechnologie aus der übrigen Welt in die US-Wirtschaft. Das Behar-ren der USA auf dem internationalen Schutz des Rechts auf geistigesEigentum (beispielsweise Markenmedikamente) soll der Aufrecht-erhaltung dieses »Rentier«-Status dienen. Die relative Stärke der asia-tischen Ökonomien beruhte in der Vergangenheit nicht auf ihrerFähigkeit zu Innovationen (Japan, Taiwan, und in geringerem MaßeKorea bilden hier partielle Ausnahmen). Diese Ökonomien spezia-lisierten sich darauf, aus den USA stammende Innovationen zu über-nehmen und die Produktion dieser neuen Systeme mit Hilfe ihrerRessourcen an Arbeitskräften und organisatorischen Fähigkeiten vielkostengünstiger und effizienter aufzunehmen. Ein großer Teil derWelt ist so in ihren technologischen Innovationen von den USA ab-hängig. Dadurch sind die USA in der Lage, große innovative Verän-derungen zu definieren (wie mit den High-tech-Industrien der hoch-gelobten »New Economy« der 1980er und 1990er Jahre) und dieWelt so erneut in einen Freudentanz neuer technologischer Zauber-künste zu führen. Doch ist unklar, woher eine neue Welle der Inno-vation kommen wird (Bio- und Medizintechnologie sind die füh-renden Kandidaten). Und die Führungsrolle der USA in technologi-schen Innovationen ist zwar weiterhin solide, doch viele Anzeichendeuten darauf hin, dass sie zurückgeht. Der Anteil der in den USAan Ausländer vergebenen Patente stieg zwischen 1980 und 2003 von40 auf fast 50%, und eine große Bandbreite von Indikatoren wieausländische Autoren von Artikeln in Naturwissenschaften und In-genieurwesen, an Nicht-US-Bürger verliehene Nobelpreise und aus-ländische Forschungsstudenten (insbesondere aus Indien, Taiwan undChina), die sich entscheiden nach Hause zurückzukehren statt inden USA zu bleiben, legen einen Trend zur schwindenden US-Vor-herrschaft nahe. In bestimmten Bereichen (insbesondere nichtmili-tärischen) ziehen Europa und Asien an den USA vorbei. In den letz-ten Jahren haben über 400 Firmen wie General Electric und BritishPetroleum (aus vielen verschiedenen Ländern, darunter die USA,Japan, Deutschland, Großbritannien, Korea und Taiwan) große For-schungsinstitute in China eingerichtet und machen sich so eine hoch-

Nachwort

Page 216: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

215

gebildete Arbeiterschaft sowie einen riesigen Markt zunutze, in demdas Experimentieren mit neuen Produkten relativ leicht und poten-ziell sehr profitabel ist. Die USA sind zwar immer noch ein respekt-einflößender Spieler, aber nicht mehr so vorherrschend in Forschungund Entwicklung wie früher.137

Außerdem stellte sich die Frage, wie ernst der Jobverlust in derProduktion für die US-amerikanische Wirtschaftskraft ist. Was, wennein großer Teil der weltweiten Herstellung von im Ausland operie-renden US-amerikanischen Unternehmen kontrolliert wird? In vie-len Schlüsselindustrien sind heute tatsächlich Nicht-US-amerikani-sche Firmen vorherrschend, die »neun der zehn größten Elektro-nik- und Elektrogerätehersteller stellen, acht der zehn größten Mo-torfahrzeugproduzenten und Strom- und Gasversorgungeinrichtun-gen, sieben der zehn größten Ölraffineriebetriebe, sechs von zehnTelekommunikationsfirmen, fünf von zehn Pharmaunternehmen,vier von sechs Herstellern chemischer Produkte …«138 In den USAansässige Produktionsunternehmen sind schlicht nicht mehr so sehrHerr im Haus wie früher. Tatsächlich senden sie jedoch beträchtli-che Profite aus ihren Auslandsniederlassungen ins Ursprungslandzurück. Die Profitrate ist bei Auslandsinvestitionen viel höher alsheimische Renditen. Wie Duménil und Lévy zeigen, sind US-Un-ternehmen sehr effektiv darin, überschüssige Profite aus dem Restder Welt zurück in die US-Wirtschaft zu pumpen.139

Kompensiert dieser Rückfluss die Jobverluste in den VereinigtenStaaten? Unglücklicherweise kommt der größte Teil davon durchDividendenzahlungen und Wertsteigerungen von Aktien den Wohl-habenden zugute. Dies verschärft die bereits in die Gesellschafts-struktur der USA eingebauten unglaublichen Klassenunterschiede.Ein großer Teil der US-amerikanischen Bevölkerung ist daher heut-

137 W. Broad, »U.S. is Losing its Dominance in the Sciences«, New YorkTimes, 3. Mai 2004, S. A1 und 19; D. Henwood, After the New Economy (NewYork: New Press, 2003).

138 R. du Boff, »U.S. Empire: Continuing Decline, Enduring Danger«, Month-ly Review, 55/2 (2003), S. 1–15.

139 G. Duménil und D. Lévy, »The Economics of US Imperialism at theTurn of the 21st Century«, unveröffentlichtes Manuskript, 2004.

Nachwort

Page 217: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

216

zutage abhängig von den Konsumgewohnheiten der einkommens-stärkeren Schichten.

Dies wirkt sich in der Entstehung vieler schlecht bezahlter Jobsim Dienstleistungsbereich aus, einer Art Bedienstetenklasse für dieOberschichten, die wirtschaftlich herrschen und die Regierung durchihre Wahlkampfspenden dominieren. In den etwa 2 Millionen Ar-beitsplätzen, die in den letzten drei Jahren in den USA verloren gin-gen, betrug der Verdienst über 17 Dollar die Stunde (häufig mit So-zialleistungen wie einer Krankenversicherung), während der Ver-dienst in Jobs im Dienstleistungsbereich, die diesen Verlust teilweisekompensierten, nur 14 Dollar pro Stunde beträgt (normalerweiseohne Sozialleistungen). Einige Dienstleistungsjobs wandern jetztsogar ins Ausland ab: Indien übernimmt Jobs im Angestelltenbe-reich in allen Branchen von der Softwareproduktion und Compu-terdiensten bis hin zum Verkauf von Flugtickets und dem Ausstel-len von Rechnungen für staatliche Stellen.140

Es ist viel über den Jobtransfer ins Ausland und seine Auswir-kungen auf die Beschäftigungszahlen in den USA geredet worden.Aber nur 30% der 2 Millionen zwischen 2000 und 2003 verlorengegangenen Arbeitsplätze im hiesigen Produktionssektor sind aufdas Outsourcing ins Ausland zurückzuführen. Etwa 40% sind dersteigenden Produktivität im Land zuzuschreiben und die übrigen30% der einsetzenden Rezession geschuldet.141 Überlegene und stän-dig zunehmende Produktivität in allen Bereichen vom Einzelhandelund Dienstleistungen bis hin zur Landwirtschaft und der Herstel-lung von Erdbaumaschinen erhalten die Wettbewerbsfähigkeit derUSA dort, wo sie sie sonst möglicherweise verloren hätten. Aberihre Schattenseite ist, dass durch Technologie herbeigeführte Arbeits-losigkeit und Jobunsicherheit für die Arbeiter- und Mittelschicht zumchronischen Problem werden (dies galt sogar während der »blühen-

140 Yasheng Huang und Tarun Khanna, »Can India Overtake China?«, Chi-na Now, 3. April 2004, http://www.chinanowmag.com/business/business.htm.

141 E. L. Andrews, »Imports Don’t Deserve All That Blame«, New YorkTimes, 7. Dezember 2003, Wirtschaftsteil, S. 4.

Nachwort

Page 218: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

217

den« 1990er Jahre, als die Produktivität rapide anstieg142). Überlege-ne Produktivität mag die Kosten pro Einheit senken, aber sie ver-bessert nicht unbedingt die Qualität des Alltagslebens (wir müssenalle bei Wal-Mart einkaufen).

Diese Kräfte wirken weiterhin und erklären den geringen Zuwachsan Arbeitsstellen und Verdienstmöglichkeiten im Lohnarbeitsbereichinnerhalb der USA. Meine Schlussfolgerung ist, dass der relativeVerlust von Produktionskapazitäten das Wohl der Masse der US-Bevölkerung ernsthaft gefährdet und die USA für Konkurrenz ausdem Ausland verwundbar macht, während die höheren Einkommens-schichten gerade von ihren Auslandsinvestitionen stark profitieren.

Die Rolle des nicht nachlassenden US-amerikanischen Konsumsist eine ähnlich knifflige Frage. Er verleiht den USA einen beträcht-lichen Vorteil beim Abschluss bilateraler Abkommen, denn ein pri-vilegierter Zugang zum riesigen US-Markt hat, insbesondere für klei-nere Staaten (wie Chile oder Taiwan), große Bedeutung. Die USAwaren sorgfältig darauf bedacht, diese Macht statt der WHO zurDurchsetzung ihrer Ziele einzusetzen (ich wette, einige weitere Ur-teile wie das zu den Stahlzöllen oder den Baumwollsubventionenkönnten die USA durchaus dazu bringen, die WHO fallen zu lassen,ebenso wie sie das Kyoto-Abkommen zum Klimawechsel fallen ge-lassen hatten).

Die Abhängigkeit der übrigen Welt vom US-amerikanischen Ver-brauchermarkt ist sicherlich ein wichtiger Zug der globalen Macht-beziehungen. Doch die neueste Runde des US-amerikanischen Kon-sumverhaltens ist fast vollkommen durch Schulden finanziert. Siehat die interne Rate der Nettoersparnisse nahezu auf Null gesenkt(vielleicht ist sie sogar negativ, wenn wir berücksichtigen, dass derKonsum in jüngster Zeit durch die Refinanzierung von Hypothe-kenschulden auf überhöhte Immobilienpreise gestützt wurde). Au-ßerdem ist sie von Klassenunterschieden geprägt, denn der US-ame-rikanische Konsum beruht mehr und mehr auf den Konsumgewohn-heiten der obersten 10% der US-Bevölkerung, also der Schicht, inder Reichtum und Einkommen stark konzentriert sind. Die Gewohn-

Nachwort

142 R. Pollin, Contours of Descent (London: Verso, 2003).

Page 219: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

218

heit, mehr auszugeben als man hat, spielte eine Schlüsselrolle dabei,die US-Ökonomie während der jüngsten Rezession über Wasser zuhalten.143 Zwar kann ein großer Teil dieses Konsums einem unstill-baren Appetit nach Konsumgütern zugeschrieben werden, doch mehrund mehr davon ist von der Notwendigkeit getrieben. Viele von de-nen, die ihre Hypotheken zu Geld machten, um ihr Einkommenaufzubessern, taten dies in Reaktion auf die steigenden Kosten derGesundheitsfürsorge, den Verlust der Krankenversicherung oder dieNotwendigkeit, für Bildung und Ausbildung zu bezahlen.

Den Kern des US-amerikanischen Problems bildet der freie Fallin die Verschuldung. Das finanzielle Bild dort verschlechtert sichweiterhin rapide. Sogar Robert Rubin, der frühere Finanzministerin der Clinton-Regierung, hat ebenso wie IWF-Wirtschaftsexper-ten, was höchst ungewöhnlich ist, offen die US-amerikanische Fi-nanzpolitik als ernsthafte Bedrohung der globalen Stabilität kriti-siert.144 Die private Verschuldung eskaliert und die Staatsbudgets aufallen Ebenen leiden so stark, dass das Versorgungsnetz und öffentli-che Ausgaben unter Beschuss stehen. Die Bundesregierung ergehtsich in nie da gewesenem Maße in finanzieller Unverantwortlichkeitund selbst bei einer gewissen ökonomischen Erholung sind die Aus-sichten, den finanziellen Schiffbruch innerhalb der nächsten zehnJahre zu vermeiden, angesichts der derzeitigen Politik gering. Einesolche Politik weckt Unverständnis, es sei denn, man sieht darin einewohlüberlegte Offensive der neokonservativen Ideologen, die gan-ze Struktur öffentlicher Finanzierung in einen solchen Schlamasselzu treiben, dass der Staat gezwungen sein wird, seine sämtlichen so-zialen Verpflichtungen (wie Sozialhilfe und staatliche Gesundheits-fürsorge für Bedürftige) aufzukündigen. Damit schließen sie ihr seitlangem bestehendes Projekt ab (David Stockman, Budget-Direktorin den frühen 1980er Jahren, berichtet genau, wie dies in den frühen

143 L. Uchitelle, »Why Americans Must Keep Spending«, New York Times,1. Dezember 2003, S. C1–C2.

144 M. Muhleisen und C. Towe (Hrsg.), U.S. Fiscal Policies and Priorities forLong-Run Sustainability, Occasional Paper 227 (Washington, DC: Internatio-nal Monetary Fund, 2004); P. Krugman, »Rubin Gets Shrill«, New York Times,6. Januar 2004, S. A23.

Nachwort

Page 220: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

219

Jahren der Reagan-Regierung funktionierte), staatliche Macht (au-ßer Militärpolitik) so stark einzuschrumpfen, dass sie »in einer Ba-dewanne versenkt werden kann«.145

Das sich in die Höhe schraubende Defizit der USA kann nichtunterhalten werden, ohne dass man entweder seinen Zahlungsver-pflichtungen nicht nachkommt oder in einen chronischen Zustandder Abhängigkeit von ausländischer Großzügigkeit gerät. Bereits jetztsind etwa 40% der US-amerikanischen Staatskasse und ein Fünftelder Vermögenswerte der Wall Street in ausländischem Besitz. Ichsetzte den täglichen Kapitalzufluss zur Deckung des momentanenLeistungsbilanzdefizits irrtümlich auf 2 Milliarden US-Dollar fest:In Wirklichkeit sind es bloß 1,5 Milliarden Dollar täglich, Tendenzsteigend! Die Zentralbanken von Japan, Taiwan und China tun eineMenge, um das Defizit zu decken. Die einzige alternative Lösungwäre, das US-amerikanische Recht zur Geldschöpfung (Drucken vonDollars) dazu zu nutzen, die Schulden in entwerteten Dollars zu-rückzubezahlen: Doch das würde eine radikale Inflationsrunde imLand bedeuten und einen Zusammenbruch des Dollars auf interna-tionalen Märkten weit über seinen momentanen Wertverlust gegen-über dem Euro hinaus. In dieser Arena scheint der Zusammenbruchder US-amerikanischen Macht nahe bevorzustehen, es sei denn, eskäme zu einem radikalen Kurswechsel weg von dem selbstmörderi-schen Weg, den die US-Regierung eingeschlagen hat.

Die einzige Möglichkeit des Kapitalismus, sich ohne große Krisewieder zu stabilisieren, wäre, wie ich im Hauptteil dieses Buchesvertrete, die Schaffung einer Art von »neuem« New Deal. Darin seheich keineswegs eine dauerhafte Lösung für die Schwierigkeiten desweltweiten Kapitalismus. Doch es könnte eine Atempause schaffen,die allmählich andere Möglichkeiten eröffnen könnte. Die Schwie-rigkeiten, denen sich eine solche Politik in den USA gegenübersieht,sind gewaltig. Sie würde die Umkehrung von 20 Jahren Neolibera-lismus erforderlich machen, die die Klassenmacht im Wesentlichen

145 D. Stockman, The Triumph of Politics: Why the Reagan Revolution Fai-led (New York: Harper Collins, 1986); P. Krugman, »The Tax-Cut Con«, NewYork Times, 14. September 2003, Sonntagsmagazin, S. 54–62.

Nachwort

Page 221: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

220

wieder auf eine kleine Elite konzentriert haben. Die ein ProzentTopverdiener in den USA konnten 1980 weniger als acht Prozentdes nationalen Einkommens für sich beanspruchen, 2000 war dieserAnteil auf 15% gestiegen und mit Bushs Steuersenkungen wird erbis 2005 vermutlich die 20-%-Marke erreichen. Die 0,1 ProzentHöchstverdienenden erhöhten ihren Anteil am nationalen Einkom-men zwischen 1979 und 1998 von zwei Prozent auf über sechs Pro-zent. Diese reiche Elite von Generaldirektoren und Financiers übteinen absolut unverhältnismäßigen Einfluss auf den politischen Pro-zess aus.146 Beide politischen Parteien sind ihr verpflichtet, und dasses zu der Umverteilungspolitik kommen wird, die nötig wäre, umvernünftigen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, sozialerSicherheit und gut bezahlten Jobs für alle zu erzielen, ist wenig wahr-scheinlich. Der einzige bedeutende Unterschied zwischen den poli-tischen Parteien in diesem Punkt ist, dass die Republikaner einerkulturell nationalistischen und christlich fundamentalistischen wei-ßen Arbeiterklasse verpflichtet sind, die ständig überzeugt wird, auskulturellen Gründen gegen ihre eigenen materiellen Interessen ab-zustimmen, während die Demokraten gezwungen sein würden, ei-ner eher links-orientierten Wählerschaft Aufmerksamkeit zu zollen,die sich ihrer materiellen Interessen sehr bewusst ist. Wie weit dieDemokraten sich möglicherweise bewegen, ist abhängig von derLeidenschaft, mit der soziale Bewegungen ihre Ziele verfolgen wer-den. Umverteilungen in Form von bereitwilligen Spenden wird esnicht geben, sie werden Zentimeter um Zentimeter erkämpft wer-den müssen.

Schließlich gibt es die gefährlich selbstgefällige Ansicht, die Welt-wirtschaft werde aufgrund der Erholung des Konsums in den USAneu belebt. Doch so unterschiedliche Ökonomien wie Chile, Japan,Australien, Deutschland und sogar Indien sind infolge der enormenNachfrage durch die Investitionen in die Infrastruktur in China (In-

146 G. Duménil und D. Lévy, »Neo-Liberal Dynamics: A New Phase?«, un-veröffentlichtes Manuskript, 2004, S. 4; Task Force on Inequality and Ameri-can Democracy, American Democracy in an Age of Rising Inequality, Ameri-can Political Science Association, 2004, www.apsanet.org.

Nachwort

Page 222: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

221

vestitionen von Anlagekapital stiegen 2003 um 25% an) wieder starkaufgeblüht. Selbst die US-amerikanische Herstellung hat von der chi-nesischen Nachfrage nach Erdbaumaschinen profitiert. Chinas er-staunliche wirtschaftliche Wachstumsrate (2003 offiziellen, den mei-sten privaten Analysten zufolge zu niedrigen, Schätzungen zufolge9,1%) und sein schneller Wandel ist, begleitet von außergewöhnli-chen internen Belastungen und Beanspruchungen, bereits seit min-destens zehn Jahren wesentlich für das weltweite Wachstum. Heutedominiert China den gesamten Osten und Südosten Asiens als re-gionaler Hegemon mit enormem weltweiten Einfluss. AsiatischeExporte nach China sind mit verblüffender Geschwindigkeit gestie-gen und viele asiatische Ökonomien haben den nach China gehen-den Anteil ihres Gesamtexports in den letzten zwei Jahren verdop-pelt. Inzwischen ist China wichtigster Bestimmungsort für den Ex-port aus Südkorea und Taiwan und konkurriert auf Japans Export-markt mit den USA.147 Auch Chinas Konsumgütermarkt expandiertin einem erstaunlichen Tempo (er ist bereits weltweit der größteMarkt für Mobiltelefone sowie für Mercedes-Benz-Autos). Sein gi-gantischer Erdölbedarf liegt ebenfalls auf der Hand. China ist nachden USA bereits der zweitgrößte Ölimporteur und wird bei dermomentanen Wachstumsrate den US-amerikanischen Konsum 2020übertreffen. Die Folgen für die globalen Klimaveränderungen (so-

147 Es ist schwer, mit den rasanten Veränderungen in China Schritt zu halten.Berichte der Asian Development Bank und des Asian Monitor, in Verbindungmit Berichten in der Finanzpresse, gestatten einige grobe Einschätzungen. Sie-he Si-ming Li und Wing-shing Tang, China’s Regions, Polity, and Economy: AStudy of Spatial Transformation in the Post-Reform Era (Hong Kong: ChineseUniversity Press, 2000); Wang Hui, China’s New Order: Society, Politics andEconomy in Transition, Hrsg. v. T. Huters (Cambridge, Mass.: Harvard Univer-sity Press, 2003); und D. Hale und L. Hale, »China Takes Off«, Foreign Affairs,82/6 (2003), S. 36–53. Siehe auch H. McRae, »Working for the Yangtze Dollar«,Independent, 18. November 2003, Review S. 2–3; K. Bradsher, »Is China theNext Bubble?«, New York Times, 18. Januar 2004, Sektion 3, S. 1 und 9; K.Bradsher, »Like Japan in the 1980s, China Poses Big Economic Challenge«,New York Times, 2. März 2004, S. A1, C2; T. Fishman, »The Chinese Century«,New York Times, 4. Juli 2004, Sonntagsmagazin, S. 24–51; M. Hart-Landsbergund P. Burkett, »China and Socialism: Market Reforms and Class Struggle«,Monthly Review, 56/3, Sonderausgabe zu China (2004).

Nachwort

Page 223: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

222

wie für die Erdölpreise) sind möglicherweise katastrophal. Damitspielt der geopolitische Kampf um die Kontrolle über die Ölfelderim Mittleren Osten und im Kaspischen Becken (der die Abneigungder USA, die Kontrolle über den Irak-Schlamassel an die UN zuübergeben, erklärt) eine große Rolle. Über wessen langfristige Ener-giesicherheit sprechen wir? Die der USA oder die Chinas? Zumin-dest über die geopolitische Tragweite dieses letzten Punkts solltensich alle klar sein.

Die Situation in China steckt jedoch voller Gefahren. Dort kames tatsächlich seit 1995 zu einem Nettoverlust an Arbeitsplätzen imHerstellungsbereich – neuesten Schätzungen zufolge von mehr als15 Millionen (oder 15% der Gesamtmenge) – aufgrund von Kon-kursen vieler kleinstädtischer und dörflicher Unternehmen im »Rost-gürtel« um Beijing und Schanghai.148 Die neu eingeführten Produk-tionssysteme sind weniger arbeitsintensiv. Energieknappheit ist je-doch häufig und die Beziehungen zwischen Unternehmern und Ar-beitern sind höchst instabil. Die Ungleichheiten zwischen Regionenund Klassen nehmen offenbar zu, obwohl es offizielle Politik ist,ihnen entgegenzuwirken. Die Auswirkungen im Ausland sind nichtweniger widersprüchlich. China hat mehr Produktionsjobs aus Ja-pan, Südkorea, Mexiko und anderswo ins eigene Land verlagert alsaus den USA. Fast 200.000 Jobs sind in den letzten zwei Jahren imMaquila-Produktionsgürtel149 entlang der nördlichen Grenze vonMexiko verloren gegangen, und sie sind allesamt nach China abge-wandert. Doch die enormen Investitionen in die chinesische Infra-

148 A. Cassell, »The Economy: Study Undermines Charge China is StealingU.S. Factory Jobs«, Philadelphia Inquirer, 22. October 2003 (posted).

149 Maquilas: freie Produktionszonen oder Weltmarktfabriken, in denen vorallem Frauen, unter oft extrem repressiven Bedingungen tätig sind. Auf Grundseiner Nähe zu den USA und seiner Wirtschaftspolitik war Mexiko seit den1960er Jahren federführend bei der Entwicklung der freien Produktionszonen,die man dort auch als Maquiladora-Industrie bezeichnet. Maquila hieß in derKolonialzeit das Mahlgeld, das der Müller für seine Arbeit einsteckte, also eineTeilarbeit auf dem Weg von der bäuerlichen Aussaat zum Brot. Als Maquilado-ra wurde in Mexiko jene Montageindustrie getauft, die integriert ist in einenandernorts – zumeist in den USA – gesteuerten Produktionsprozess, der billigeArbeitskräfte benötigt, um hohe Gewinne abzuwerfen. (Anm. d. Red.).

Nachwort

Page 224: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

223

struktur ziehen mit Sicherheit einen großen Teil der Weltwirtschaftmit, und da einem gut belegten Lehrsatz von Wirtschaftswissenschaft-lern zufolge Investitionen dieser Art viel mehr für eine Stimulierungdes allgemeinen Wachstums bewirken als Konsum,150 sollte so, wiees nun mal ist, klar sein, wer die globale Erholung momentan an-führt. Und die Antwort ist: nicht die USA. Die Machtverschiebunghin zu China und allgemeiner Asien (wobei Indien jetzt viel stärkerhervortritt) beschleunigt sich eher, als dass sie sich verlangsamt unddie einzige Frage ist, ob und wie die Geschwindigkeit des chinesi-schen Wachstums aufrechterhalten werden kann.

Auf diese letzte Frage gibt es keine leichte Antwort. Ein großerTeil der Entwicklung in China, sowohl der privaten als auch der staat-lichen, ist höchst spekulativer Natur, und sie könnte leicht Boomund Spekulationsblase der 1990er Jahre in den USA übertreffen, mitähnlich katastrophalen Folgen, wenn und falls die Blase platzt. Daskürzliche bewusste »Abkühlen« der chinesischen Wirtschaft führtebei Kommentatoren zu Spekulationen über die Möglichkeit einer»sanften Landung« statt eines Crashs, doch schon die Verringerungder Nachfrage macht sich global in niedrigeren Wachstumsraten inanderen Teilen der Welt bemerkbar. Chinas Bankensystem ist weit-hin für seine Instabilität bekannt.151 Und China ist für äußere Verän-derungen ebenso verwundbar wie die USA. Eine Welle des Protek-tionismus aus den USA oder der Zusammenbruch des US-amerika-nischen Konsums würden die chinesische Ökonomie eindeutig ge-fährden. Chinas Bezeichnung als aufstrebende Macht zu akzeptieren,ist nicht gleichzusetzen mit der Behauptung, es sei in Bezug auf dieUSA autonom: Die Verbindung zwischen den beiden Ökonomienist zunehmend eine der gegenseitigen, aber angespannten Abhän-gigkeit.

Währenddessen ist das geopolitische Bild extrem unbeständig.Schnelllebige Allianzen müssen sich noch (wenn sie das je tun wer-

150 Siehe die Zusammenfassung der Belege für dieses Argument in J. Mad-rick, »Economic Scene«, New York Times, 10. Juli 2003, S. C2.

151 K. Bradsher, »China Announces New Bailout of Big Banks«, New YorkTimes, 7. Januar 2004, S. C1; K. Bradsher, »China’s Strange Hybrid Economy«,New York Times, 21. November 2003, S. C4.

Nachwort

Page 225: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

224

den) in eine beständige, stabile Konfiguration der Zeit nach demKalten Krieg verwandeln. Die lose Netzwerk-Struktur in Ost- undSüdostasien konsolidiert sich offenbar (wenn auch in manchen Fäl-len widerstrebend) um China herum.152 Europa wird noch von Tren-nungslinien belastet, obwohl es dort einige Anzeichen für Überein-stimmungen zur Wirtschafts- und sogar zur Militärpolitik gibt. DieHöherbewertung des Euros und Pfunds Sterling gegenüber demDollar (jetzt mehr als 25%) deutet auf eine aufkommende Bedro-hung der Rolle des Dollars als einzige globale Leitwährung hin. DieHerausbildung einer taktischen Koalition, angeführt von China, In-dien, Südafrika und Brasilien bei der Cancún-Konferenz, die sichEuropa, den USA und Japan beim Thema landwirtschaftliche Sub-ventionen entgegenstellte, eröffnet eine neue Front in geopolitischenVerhandlungen. Die vorsichtige Annäherung zwischen China undIndien signalisiert eine große Verschiebung im Machtgleichgewichtder Welt. Die USA verfügen zwar noch über beträchtlichen Ein-fluss, können aber nicht mehr den Anspruch auf die überwältigendeMacht erheben, die sie einst hatten, um ihren eigenen Zwecken ent-sprechend globale Allianzen zu formen. Unvorhersagbare Störun-gen in instabilen Staaten – wie Pakistan oder Saudi-Arabien – könn-ten sich leicht zu einem riesigen globalen Durcheinander auswach-sen. Wo die USA einst lässig herrschen konnten, müssen sie jetzthart daran arbeiten, ihren dahinschwindenden Einfluss zu erhalten.Besonders offensichtlich ist das in Lateinamerika. Und während Lulafür seine Gefolgsleute zu Hause in Brasilien eine Enttäuschung seinmag, ist sein internationaler Aktivismus spürbar. Als er im Namender lateinamerikanischen Handelsgruppe Mercosur ein bedeutsamesbilaterales Handelsabkommen mit Indien unterzeichnete, beteuerteer selbstsicher, Indien, Brasilien, Russland und China könnten zu-sammen die ökonomische Geographie der Welt im 21. Jahrhundertin viel fairerer Weise neu schreiben.153 Dies könnte durchaus die Her-

152 J. Perlez, »China Is Romping with the Neighbors (US Is Distracted)«,New York Times, 3. Dezember 2003, S. A1–A4.

153 Lulas Rede ist zusammengefasst unter: http://www.bahraintribune.com/ArticleDetail.asp?CategoryId=5&ArticleId=20676.

Nachwort

Page 226: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

225

ausbildung eines »antineoliberalen« Machtblocks in der Welt signa-lisieren.

Aber es ist sehr wichtig, die Unbeständigkeit zu betonen. Histo-risch haben wir Phasen der relativen Stabilität erlebt (zum Beispielin einem großen Teil des Kalten Krieges), aber auch Phasen großerUnsicherheit, in denen es zu allen möglichen schnellen Umstruktu-rierungen und Umorientierungen kommen kann. In solchen Phasenist es sehr schwierig, Ergebnisse vorherzusagen. Wer hätte 1928 ei-nen Krieg zwischen kapitalistischen Mächten voraussagen können?Wer hätte das plötzliche (und, im Moment des Geschehens, größ-tenteils friedliche) Auseinanderbrechen der Sowjetunion 1985 vor-hergesehen? Wer hätte vor vier Jahren vorhergesagt, dass ein Kriegmit dem Irak nahe bevorstand? Und die USA sind höchst verwund-bar. Selbst ihre gerühmte militärische Macht ist fraglich. Die USAdominieren vielleicht in ferngesteuerter Zerstörungsmacht, aber siehaben schlicht nicht den Willen oder die Ressourcen, eine langfristi-ge militärische Besatzung auf dem Boden aufrechtzuerhalten.

Doch an diesem Punkt tritt die permanente Unsicherheit auf denPlan. Wenn überall Frieden ausbräche, wären die USA nicht in derLage, irgendwen, im In- oder Ausland, davon zu überzeugen, dassihre militärische Präsenz irgendwo notwendig wäre. Natürlich gibtes in der Welt genügend Spannungen, bittere Rivalitäten und Kon-flikte, um einen solchen Ausbruch von Frieden unwahrscheinlichzu machen. Aber die große Frage, die wir stellen müssen, ist, ob dieEinmischung der USA ein Teil der Lösung ist oder der Kern desProblems.

Nachwort

Page 227: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

226

Zum Weiterlesen

Amin, S., Imperialism and Unequal Development (New York: MonthlyReview Press, 1977).

Atlas, J., A Classicist’s Legacy: New Empire Builders, New York Times,Week in Review, Sunday, 4. Mai 2003, S. 1 und 4.

Bello, W., Deglobalization: Ideas for a New World Economy (London: ZedBooks, 2002).

Boot, M., The Savage Wars of Peace: Small Wars and the Rise of AmericanPower (New York: Basic Books, 2002).

Boulding, K./T. Mukerjee (Hrsg.), Economic Imperialism: A Book of Rea-dings (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1972).

Cavanaugh, J./J. Mander u.a., Alternatives to Globalization (San Francisco:Bennett-Koehler, 2002).

Comaroff, J./J. Comaroff (Hrsg.), Millennial Capitalism and the Culture ofNeoliberalism (Durham, NC: Duke University Press, 2001).

Falk, R., Predatory Globalization: A Critique (Cambridge: Polity Press,1999).

Ferguson, N., Empire: The Rise and Demise of the British World Orderand the Lessons of Global Power (New York: Basic Books, 2003).

Finnegan, W., The Economics of Empire: Notes an the Washington Con-sensus, Harper’s Magazine, Bd. 306, Nr. 1836 (Mai 2003), S. 41-54.

George, S./E. Sabelli, Faith and Credit (Harmondsworth: Penguin, 1995).Hersh, S., Annals of National Security: How the Pentagon Outwitted the

C.I.A., The New Yorker (12. Mai 2003), S. 44-51.Hirst, P./G. Thompson, Globalization in Question: The International Eco-

nomy and the Possibility of Global Governance (Cambridge: Polity Press,rev. Aufl. 1999).

Hobsbawm, E., The Age of Empire, 1875-1914 (London: Weidenfeld &Nicolson, 1987), deutsch: Das imperiale Zeitalter: 1875-1914 (Frankfurta.M.: Fischer, 1996).

Hobson, J.A., Imperialism (Ann Arbor: University of Michigan Press,Neuaufl. m. Einl. v. P. Siegelman, 1965).

Judd, D., Radical Joe: A Life of Joseph Chamberlain (London: HamishHamilton, 1977).

Kagan, R., Of Paradise and Power: America and Europe in the New WorldOrder (New York: Knopf, 2003).

Kiernan, V., America: The New Imperialism (London: Zed Books, 1978).

Page 228: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

227

Klein, N., No Logo (New York: Picador, 2000), deutsch: No Logo (Mün-chen: Riemann, 2002).

Korton, D., When Corporations Rule the World (Bloomfield, CT: Kum-marian Press, 2001).

Kupchan, C., The End of the American Era in US Foreign Policy and theGeopolitics of the 21st Century (New York: Knopf, 2002).

Lewis, B., What Went Wrong: Western Impact and Middle Eastern Response(Oxford: Oxford University Press, 2001).

Mackinder, H., Democratic Ideals and Reality (New York: Norton, A.J.Pearce [Hrsg.], 1962).

Magdoff, H., The Age of Imperialism: The Economics of U.S. Foreign Po-licy (New York: Monthly Review Press, 1969).

Meyer, K. E., The Dust of Empire: The Race for Mastery in the Asian Heart-land (New York: Public Affairs, 2003).

Mies, M., Patriarchy and Accumulation an a World Scale: Women in theInternational Division of Labor (London: Zed Books, 1999), deutsch:Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung(Zürich: Rotpunkt, 3. Aufl 1990).

Nordhaus, W., Iraq: The Economic Consequences of War, The New YorkReview of Books, Bd. xlix, Nr. 19 (5. Dezember 2002), S. 9-12.

Owen, R./B. Sutcliffe (Hrsg.), Studies in the Theory of Imperialism (Lon-don: Longman, 1972).

Oxfam International, Rigged Rules and Double Standards (London: Ox-fam International, 2002).

Radice, H., International Firms and Modern Imperialism (Harmondsworth:Penguin, 1975).

Sassen, S., Globalization and Its Discontents (New York: New Press, 1998).Schlesinger, A., The Cycles of American History (Boston: Houghton Miff-

lin, 1980).Shiva, V., Biopiracy: The Plunder of Nature and Knowledge (Boston: South

End Press, 1997)Shiva, V., Protect or Plunder? Understanding Intellectual Property Rights

(London: Zed Books, 2001).Shiva, V., Water Wars: Privatization, Pollution and Profit (London: Zed

Books, 2002). deutsch: Der Kampf um das blaue Gold: Ursachen undFolgen der Wasserverknappung (Zürich: Rotpunkt, 2003)

Singh, K., The Globalisation of Finance: A Citizen’s Guide (London: ZedBooks, 1999).

Soros, G., George Soros on Globalization (New York: Public Affairs, 2002),deutsch: Der Globalisierungsreport (Berlin: Fest 2002).

Steven, R., Japan’s New Imperialism (Armonk, NY: M. E. Sharpe, 1990).Stiglitz, J., Globalization and Its Discontents (New York: Norton, 2002),

Page 229: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

228

deutsch: Die Schatten der Globalisierung (Berlin: Siedler 2002).Thornton, A., Doctrines of Imperialism (New York: Wiley, 1965).Weinberg, A.K., Manifest Destiny (Baltimore: Johns Hopkins University

Press, 1935).Yergin, D., The Prize: The Epic Quest for Oil, Money and Power (New

York: Simon and Schuster, 1991).

Page 230: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

229

Literatur

ZeitungsartikelAltman, D., China: Partner, Rival or Both, New York Times, 2. März 2003,

in: Money and Business section, S. 1 und 11.Andrews, E. L., Imports Don’t Deserve All That Blame, New York Times,

7. Dezember 2003, Wirtschaftsteil, S. 4.Alvarez, L., Britain Says U.S. Planned to Seize Oil in ‘73 Crisis, New York

Times, 4. Januar 2004, S. A6.Banerjee, N., Energy Companies Weigh their Possible Future in Iraq, in:

New York Times, 26. Oktober 2002, S. C3.Bush, G. W., Securing Freedom’s Triumph, in: New York Times, 11. Sep-

tember 2002, S. A33.Cooper, R., The New Liberal Imperialism, in: Observer, 7. April 2002.Bradsher, K., China Announces New Bailout of Big Banks, New York Ti-

mes, 7. Januar 2004, S. C1.Bradsher, K. China’s Strange Hybrid Economy, New York Times, 21. No-

vember 2003, S. C4.Bradsher, K., Is China the Next Bubble?, New York Times, 18. Januar 2004,

Sektion 3, S. 1 und 9.Bradsher, K., Like Japan in the 1980s, China Poses Big Economic Challen-

ge, New York Times, 2. März 2004, S. A1, C2.Broad, W., U.S. is Losing its Dominance in the Sciences, New York Times,

3. Mai 2004, S. A1 und 19.Cassell, A., The Economy: Study Undermines Charge China is Stealing

U.S. Factory Jobs, Philadelphia Inquirer, 22. Oktober 2003 (posted).Crampton, T., A Strong China May Give Boost to its Neighbors, in: Inter-

national Herald Tribune, Economic Outlook, 23.Januar.2003, S. 16-17.Crampton, T., Iraqi Official Urges Caution on Imposing Free Market, New

York Times, 14. Oktober 2003, S. C5de Acule, C., Keeping a Wary Eye an the Housing Boom, International

Herald Tribune, 23. Januar 2003, S. 11.Eckholm, E., Where Workers, Too, Rust, Bitterness Boils Over, New York

Times, 20. März 2002, S. A4.Editorial, A Pause for Hindsight, New York Times, 16. Juli 2004, S. A22.Editorial, Buenos Aires Herald, 31. Dezember 2002, S. 4.Editorial, The Iraq Reconstruction Bonanza, New York Times, 1. Oktober

2003, S. A22.

Page 231: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

230

Fishman, T., The Chinese Century, New York Times, 4. Juli 2004, Sonn-tagsmagazin, S. 24-51.

Fisk, R., The Case Against War: A Conflict Driven by the Self-Interest ofAmerica, Independent, 15. Februar 2003, S. 20.

Fisk, R., This Looming War isn’t about Chemical Warheads or HumanRights: It’s about Oil, Independent, 18 Januar 2003, S. 18.

Friedman, T., A War for Oil?, in: New York Times, 5. Januar 2003, Week inReview section, S. 11.

Hilterman, J., Halabja: America Didn’t Seem to Mind Poison Gas, in: In-ternational Herald Tribune, 17. Januar 2003, S. 8.

Huang, Y./T. Khanna, Can India Overtake China?, China Now, 3. April2004, http://www.chinanowmag.com/business/business.htm.

Ignatieff, M., The Burden, in: New York Times, 5. Januar 2003, SundayMagazine, S. 22-54, Nachdruck: Empire Lite, in: Prospect (Feb. 2003),S. 36-43.

Ignatieff, M., How to Keep Afghanistan from Falling Apart: The Case for aCommitted American Imperialism, in: New York Times, 26. Juli 2002,Sunday Magazine, S. 26-58.

Ignatieff, M., Why Are We In Iraq? (and Liberia? And Afghanistan?), NewYork Times, 7. September 2003, Sonntagsmagazin, S. 38-85.

Kahn, J., China Gambles an Big Projects for its Stability, New York Times,13. Januar 2003, S. Al und A8.

Kahn, J., Made in China, Bought in China, New York Times, 5. Januar2003, Business section, S. 1 und 10.

Kirkpatrick, D., Mr Murdoch’s War, New York Times, 7. April 2003, S. Cl.Klein, N., Of Course the White House Fears Free Elections in Iraq, Guar-

dian, 24. Januar 2004, S. 18.Krueger, A., Economic Scene, New York Times, 3. April 2003, S. C2.Krugman, P., Rubin Gets Shrill, New York Times, 6. Januar 2004, S. A23.Krugman, P., The Tax-Cut Con, New York Times, 14. September 2003,

Sonntagsmagazin, S. 54-62.Madrick, J., Economic Scene, New York Times, 10. Juli 2003, S. C2.Madrick, J., The Iraqi Time Bomb, New York Times, 6. April 2003, Sunday

Magazine, S. 48.McRae, H., Working for the Yangtze Dollar, Independent, 18. November

2003, Review S. 2-3.Mooney, C., The Editorial Pages and the Case for War: Did Our Leading

Newspapers Set Too Low a Bar for a Preemptive Attack?, ColumbiaJournalism Review, 1. März 2004.

Perlez, J., China Is Romping with the Neighbors (US Is Distracted), NewYork Times, 3. Dezember 2003, S. A1-A4.

Rieff, D., Blueprint for a Mess: How the Bush Administration’s Pre-war

Page 232: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

231

Planners Bungled Postwar Iraq, New York Times, 2. November 2003,Sonntagsmagazin, S. 28-78.

Rosenthal, E., Workers’ Plight Brings New Militancy to China, New YorkTimes, 10. März 2003, S. A8.

Schmitt, E., Pentagon Seeking New Access Pacts for Africa Bases, NewYork Times, 5. Juli 2003, S. A1 und A7.

Tyler, P., Threats and Responses. News Analysis: A Deepening Fissure, NewYork Times, 6. März 2003, S. 1.

Uchitelle, L., Why Americans Must Keep Spending, New York Times, 1.Dezember 2003, S. C1-C2.

Bücher und ZeitschriftenartikelAmin, S., Imperialism and Globalization, Monthly Review (Juni 2001), S. 1-

10.Amin, S., Social Movements at the Periphery, in: P. Wignaraja (Hrsg.), New

Social Movements in the South: Empowering the People (London: ZedBooks, 1993), S. 76-100.

Anderson, J., American Hegemony after September 11: Allies, Rivals andContradictions, unveröffentlichtes Manuskript, Centre for Internatio-nal Borders Research, Queen’s University, Belfast, 2002.

Anderson, P., Internationalism: A Breviary, New Left Review, 14. März2002.

Arendt, H., Elemente, und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus,Imperialismus, totale Herrschaft (München: Piper, 2005).

Armstrong, D., Dick Cheney’s Song of America: Drafting a Plan for Glo-bal Dominance, in: Harper’s Magazine, 305, (Okt. 2002), S. 76-83.

Armstrong, P./A. Glyn/J. Harrison, Capitalism since World War II: TheMaking and Break Up of the Great Boom, (Oxford: Basil Blackwell,1991).

Arnold, M., in: R. Williams, Culture and Society, 1780-1850 (London: Chatto& Windus, 1958).

Arrighi, G., The Long Twentieth Century: Money, Power, and the Originsof our Times, (London: Verso, 1994).

Arrighi, G./B. Silver, Chaos and Governance in the Modern World System(Minneapolis: University of Minnesota Press, 1999).

Baran, P./P. Sweezy, Monopolkapital: ein Essay über die amerikanischeWirtschafts- und Geschäftsordnung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967).

Berman, M., Justice/Just Us: Rap and Social Justice in America, in: A. Mer-rifield/E. Swyngedouw (Hrsg.), The Urbanization of Injustice (NewYork: New York University Press, 1997), S. 161-79.

Bhagwati, J., The Capital Myth: The Difference between Trade, in: Widgetsand Dollars, Foreign Affairs, 77/3 (1998), S. 7-12.

Page 233: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

232

Bleaney, M., Underconsumption Theories (London: Methuen, 1976).Blum, W., Rogue State: A Guide to the World’s Only Superpower (Lon-

don: Zed Books, 2002).Bowden, B., Reinventing Imperialism in the Wake of September 11, Alter-

natives: Turkish Journal of lnternational Relations, 1/2 (Summer 2002);http://alternatives.journal.fatih.edu.tr/Bowden.htm.

Brenner, R., The Boom and the Bubble: Die USA in der Weltwirtschaft(Hamburg: VSA, 2003)

Brewer, A., Marxist Theories of Imperialism (London: Routledge & KeganPaul, 1980).

Burkett, P./M. Hart-Landsberg, Crisis and Recovery in East Asia: The Li-mits of Capitalist Development, Historical Materialism, 8 (2001), 3-48.

Bush, G. W., President Addresses the Nation in Prime Time Press Confe-rence, 13. April 2004; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2004/0420040413-20.html.

Cain, P., Hobson and Imperialism: Radicalism, New Liberalism and Fi-nance, 1887-1938 (Oxford: Oxford University Press, 2003).

Carchedi, G., Imperialism, Dollarization and the Euro, in: Leo Panitch undColin Leys (Hrsg.), Socialist Register 2002 (London: Merlin Press, 2001),153-74.

Chamberlain, E., The Theory of Monopolistic Competition (Cambridge,Mass.: Harvard University Press, 1933).

Chomsky, N., 9-11 (New York: Seven Stories Press, 2001).Doyle, M. W., Empires (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1986).du Boff, R., U.S. Empire: Continuing Decline, Enduring Danger, Monthly

Review, 55/2 (2003), S. 1-15.Duménil, G./D. Lévy, Neo-Liberal Dynamics: A New Phase?, unveröf-

fentlichtes Manuskript, 2004.Duménil, G./ D. Lévy, The Economics of US Imperialism at the Turn of the

21st Century, unveröffentlichtes Manuskript, 2004.Filkins, D., Tough New Tactics by U.S. Tighten Grip on Iraq’s Towns, New

York Times, 7. Dezember 2003, S. A18.Freeman, C., High Tech and High Heels in the Global Economy (Durham,

NC: Duke University Press, 2000).Gills, B. (Hrsg.), Globalization and the Politics of Resistance (New York:

Palgrave, 2001).Gowan, P., The Global Gamble: Washington’s Faustian Bid for World Do-

minance (London: Verso, 1999).Gowan, P./L. Panitch/M. Shaw, The State, Globalization and the New Im-

perialism: A Round Table Discussion, Historical Materialism, 9 (2001),S. 3-38.

Gregory, D., The Colonial Present (Oxford: Basil Blackwell, 2004).

Page 234: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

233

Guilbaut, S., How New York Stole the Idea of Modern Art (Chicago: Uni-versity of Chicago Press, 1985).

Hale, D./L. Hale, China Takes Off, Foreign Affairs, 82/6 (2003), S. 36-53.Hardt, M./A. Negri, Empire (Cambridge, Mass.: Harvard University Press,

2000), deutsch: Empire. Die neue Weltordnung (Frankfurt a.M.: Cam-pus 2002)

Hart, G., Disabling Globalization: Places of Power in Post-Apartheid SouthAfrica (Berkeley: University of California Press, 2002).

Hart-Landsberg, M./P. Burkett, China and Socialism: Market Reforms andClass Struggle, Monthly Review, 56/3, Sonderausgabe zu China (2004).

Harvey, D., The Condition of Postmodernity (Oxford: Basil Blackwell,1989).

Harvey, D., The Limits to Capital (Oxford: Basil Blackwell, 1982; Nach-druck London: Verso Press, 1999).

Harvey, D., Paris, the Capital of Modernity (New York: Routledge, 2003).Harvey, D., Spaces of Capital: Towards a Critical Geography (New York:

Routledge, 2001).Harvey, D., Spaces of Hope (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2000).Harvey, D., The Urban Experience (Baltimore: Johns Hopkins University

Press, 1989).Hegel, G. W., Grundlagen der Philosophie des Rechts (Frankfurt a.M.: Lang,

1999).Henderson, J., Uneven Crises: Institutional Foundations of East Asian Eco-

nomic Turmoll, Economy and Society, 28/3 (1999), S. 327-68.Henwood, D., After the New Economy (New York: New Press, 2003).Hill, C., The World Turned Upside Down (Harmondsworth: Penguin,

1984).Hines, C., Localization: A Global Manifesto (London: Earthscan, 2000).Historical Materialism, 8 (2001), special issue: Focus an East Asia after the

Crisis.Hofstadter, R., The Paranoid Style in American Politics and Other Essays

(Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1996).Hui, W., China’s New Order: Society, Politics and Economy in Transition,

Hrsg. v. T. Huters (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2003).Huntington, S., Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpoli-

tik im 21. Jahrhundert (München: Europa, 1997).Isard, W., Location and the Space Economy (Cambridge, Mass.: MIT Press,

1956).Johnson, C., Ein Imperium verfällt. Wann endet das Amerikanische Jahr-

hundert? (München: Blessing, 2000)Juhasz, A., Ambitions of Empire: The Bush Administration Economic Plan

for Iraq (and Beyond), Left Turn Magazine, 12 (Feb./März 2004).

Page 235: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

234

Juhasz, A., The Handover That Wasn’t: How the Occupation of Iraq Con-tinues, Foreign Policy in Focus Policy Report, www.fpif.org.

Julien, C.-A./J. Bruhat/C. Bourgin/M. Crouzet/P. Renouvin, Les Politiquesd’expansion impérialiste (Paris: Presses Universitaires de France, 1949).

Kennedy, P., Aufstieg und Fall der großen Mächte: ökonomischer Wandelund militärischer Konflikt von 1500 bis 2000 (Frankfurt a.M.: Fischer,1989).

Khalidi, R., Resurrecting Empire: Western Footprints and America’s Peri-lous Path in the Middle East (Boston: Beacon Press, 2004).

Klare, M., Resource Wars: The New Landscape of Global Conflict (NewYork: Henry Holt, 2001).

Krugman, P., Development, Geography and Economic Theory (Cambridge,Mass.: MIT Press, 1995).

Lee, C. K., Gender and the South China Miracle: Two Worlds of FactoryWomen (Berkeley: University of California Press, 1998).

Lefebvre, H., Die Zukunft des Kapitalismus: die Reproduktion der Pro-duktionsverhältnisse (München: List 1974).

Lenin, V.I., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: ge-meinverständlicher Abriss (Berlin: Verlag Neuer Weg, 1945).

Li, S./W. Tang, China’s Regions, Polity and Economy: A Study of SpatialTransformation in the Post-Reform Era (Hong Kong: Chinese Univer-sity Press, 2000).

Lösch, A., Die räumliche Ordnung der Wirtschaft (Düsseldorf: Verlag Wirt-schaft und Finanzen, 2001; Erstausgabe Jena, 1940).

Luxemburg, R., Die Akkumulation des Kapitals. Neuauflage im Archivsozialistischer Literatur Band 1 (Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik,1970).

McDonald, D., und J. Pape, Cost Recovery and the Crisis of Service Deli-very in South Africa (London: Zed Books, 2002).

Markusen, A., Profit Cycles, Oligopoly and Regional Development (Cam-bridge, Mass.: MIT Press, 1985).

Markusen, A., Regions: The Economics and Politics of Territory (Totowa,NJ: Rowman & Littlefield, 1987).

Marx, K., Das Kapital, 1. Buch, 23. Kapitel, Marx-Engels-Werke Band 23(Berlin: Dietz, 1972).

Mehta, U., Liberalism and Empire (Chicago: University of Chicago Press,1999).

Mittelman, J., The Globalization Syndrome: Transformation and Resistance(Princeton: Princeton University Press, 2000).

Morton, A., Mexico, Neoliberal Restructuring and the EZLN: A Neo-Gramscian Analysis, in: B. Gills (Hrsg.), Globalization and the Politicsof Resistance (New York: Palgrave, 2001), S. 255-79.

Page 236: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

235

Muhleisen, M./C. Towe (Hrsg.), U.S. Fiscal Policies and Priorities for Long-Run Sustainability, Occasional Paper 227 (Washington, DC: Internatio-nal Monetary Fund, 2004).

Nash, J., Mayan Visions: The Quest for Autonomy in an Age of Globaliza-tion (New York: Routledge, 2001).

National Security Strategy of the United State of America at www.white-house.gov/nsc/nss

Nye, J., Das Paradox der amerikanischen Macht: warum die einzige Super-macht der Welt Verbündete braucht (Hamburg: Europäische Verlags-anstalt 2003).

Ong, A., Spirits of Resistance and Capitalist Discipline: Factory Women inMalaysia (Albany: State University of New York Press, 1987).

Panitch, L., The New Imperial State, New Left Review, 11 / 1 (2000), S. 5-20.

Payer, C., The Debt Trap: The IMF and the Third World (New York: Month-ly Review Press, 1974).

Perelman, M., The Invention of Capitalism: Classical Political Economyand the Secret History of Primitive Accumulation (Durham, NC: DukeUniversity Press, 2000).

Petras, J., und H. Veltmeyer, Globalization Unmasked: Imperialism in the21st Century (London: Zed Books, 2001).

Pilger, J., The New Rulers of the World (London: Verso, 2002).Pollard, S., Essays an the Industrial Revolution in Britain, Colin Holmes

(Hrsg.) (Aldershot: Ashgate Variorum, 2000).Pollin, R., Contours of Descent (London: Verso, 2003).Rostow, W. W, The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Ma-

nifesto (Cambridge: Cambridge University Press, 1966 edn.).Roy, A., Power Politics (Cambridge, Mass.: South End Press, 2001).Servan-Schreiber, J. J., Die amerikanische Herausforderung (Hamburg:

Hoffmann und Campe, 1968).Smith, N., American Empire: Roosevelt’s Geographer and the Prelude to

Globalization (Berkeley: University of California Press, 2003).Soederberg, S., American Empire and »Excluded States«: The Millennium

Challenge Account and the Shift to Pre-emptive Development, unveröf-fentlichtes Manuskript, Department of Political Science, University ofAlberta, 2003.

Soederberg, S., The New International Financial Architecture: ImposedLeadership and »Emerging Markets«, in: Leo Panitch und Colin Leys(Hrsg.), Socialist Register 2002 (London: Merlin Press, 2001), S. 175-92.

Stockman, D., The Triumph of Politics: Why the Reagan Revolution Failed(New York: Harper Collins, 1986)

Strange, S., Mad Money: When Markets Outgrow Governments (Ann Ar-

Page 237: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

236

bor: University of Michigan Press, 1998).Thompson, E. P., The Making of the English Working Class (Harmonds-

worth: Penguin, 1968).U.S. Imperial Ambitions and Iraq [editorial], Monthly Review, 54/7 (2002),

S. 1-13.Wade, R./E. Veneroso, The Asian Crisis: The High Debt Model versus the

Wall Street-Treasury-IMF Complex, New Left Review, 228 (1998), S. 3-23.

Warren, B., Imperialism: Pioneer of Capitalism (London: Verso, 1981).Went, R., Globalization in the Perspective of Imperialism, Science and So-

ciety, 66/4 (2002-3), 473-97.Williams, W. A., Empire as a Way of Life (New York: Oxford University

Press, 1980), deutsch: Der Welt Gesetz und Freiheit geben. AmerikasSendungsglaube und imperiale Politik (Hamburg: Junius, 1984).

Wolf, E., Peasant Wars of the Twentieth Century (New York: HarperCol-lins, 1969).

Yergin, D./J. Stanislaw/D. Tergin, Staat oder Markt: die Schlüsselfrage un-seres Jahrhunderts (Frankfurt a.M.: Campus, 1999).

Zhang, L., Strangers in the City: Reconfigurations of Space, Power andSocial Networks within China’s Floating Population (Stanford: Stan-ford University Press, 2001).

Page 238: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

237

Page 239: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag
Page 240: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

VSA-VerlagSt. Georgs Kirchhof 620099 HamburgTel. 040/28 05 05 67Fax 040/28 05 05 68mail: [email protected]

V

Prospekte anfordern!

www.vsa-verlag.de

Aus dem Amerikanischenvon Britta Dutke276 Seiten; € 24.80ISBN 3-89965-057-3

Jörg Huffschmid (Koordination)Die Privatisierung der WeltHintergründe, Folgen, GegenstrategienReader des wissenschaftlichen Beiratsvon Attac220 Seiten; € 14.80ISBN 3-89965-109-X

200 Seiten; € 15.50ISBN 3-89965-115-4

Joachim HirschMaterialistische StaatstheorieTransformationsprozesse deskapitalistischen Staatensystems240 Seiten; € 16.80ISBN 3-89965-144-8

Burak Copur/Ann-Kathrin SchneiderIWF & Weltbank:Dirigenten der GlobalisierungAttacBasisTexte 1296 Seiten; € 6.50ISBN 3-89965-072-7

VSA: Neuer Imperialismus

VS

V

SS

Alexander Badziura/Bea Müller/Guido Speckmann/Conny Weißbach (Hrsg.)

Hegemonie –Krise – Krieg

Widersprüche der Globalisierungin verschiedenen Weltregionen

Hans-Jürgen BielingMario CandeiasAlex DemirovicStephan HeidbrinkJoachim HirschAnne JungIngo MalcherNorman PaechDavid SalomonStefan Schmalz/Dieter BorisStefan ThimmelMelanie WehrheimMoshe Zuckermann

VS

V

SS

Immanuel WallersteinWW

Absturz oder Sinkflugdes Adlers?

Der Niedergang deramerikanischen Macht

Page 241: David Harvey Der neue Imperialismus - VSA Verlag

VSA: Globalisierungskritik

www.vsa-verlag.de

224 Seiten; € 13.80ISBN 3-89965-116-2

Karl Heinz RothDer Zustand der WeltGegen-Perspektiven96 Seiten; € 8.80ISBN 3-89965-138-3

Prospekte anfordern!

VSA-VerlagSt. Georgs Kirchhof 620099 HamburgTel. 040/28 05 05 67Fax 040/28 05 05 68mail: [email protected]

S

V

Herausgegeben von Oliver Nachtweyund Peter Strotmann168 Seiten; €14.80ISBN 3-89965-091-3

Alex CallinicosEin Anti-Kapitalistisches ManifestAus dem Englischen von David Paenson160 Seiten; € 14.80ISBN 3-89965-066-2

Wissenschaftlicher Beiratvon Attac (Hrsg.)ABC der GlobalisierungVon »Alterssicherung«bis »Zivilgesellschaft«250 Seiten; € 10.00ISBN 3-89965-139-1

Ulrich BrandGegen-HegemoniePerspektivenglobalisierungskritischerStrategien

VS

V

WaldenWW BelloDe-GlobalisierungWiderstand gegendie neue Weltordnung

VS

V