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Gerhard Hirschfeld Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung Anfang August 2004 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum neunzigsten Mal. Das historische Interesse an der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) ist unver- ändert groß. Neue oder wieder aufgelegte Bü- cher, Zeitungsartikel und Magazinserien, Ausstel- lungen und Fernsehdokumentationen sowie eine steigende Zahl von Internetadressen deuten darauf hin, dass für Historiker, Journalis- ten, Ausstellungs- und Medienmacher die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg noch lange nicht abgeschlossen ist. Dass das sogar wachsende Interesse keineswegs nur medial aufbereiteten „Erinnerungsjahren“ geschuldet ist, darauf weisen steigende Besucher- zahlen der einschlägigen Museen hin, so etwa das 1992 im nordfranzösischen Péronne an der Somme eröffnete, vorbildlich international konzipierte „Historial de la Grande Guerre“ oder die mit modernster musealer Technik inszenierte Dauer- ausstellung des Weltkriegsmuseums von Ypern (Belgien) „In Flanders Fields“. Für Belgier, Briten und Franzosen bleibt der Erste Weltkrieg im kol- lektiven Gedächtnis dieser Länder schon aufgrund der immens hohen Zahlen ihrer gefallenen, ver- missten und verwundeten Soldaten stets der „Große Krieg“ („De Groote Oorlog“, „The Great War“, „La Grande Guerre“). Demgegenüber scheint in der Erinnerung der meisten Deutschen der Zweite Weltkrieg die Ereignisse des Ersten inzwischen überlagert zu haben – ähnlich wie das in Russland und anderen Ländern Ost- und Ost- mitteleuropas der Fall ist, wo der „Große Vater- ländische Krieg“ schon durch die unermessliche Zahl der Opfer die Erinnerung an den Ersten weit- hin verdrängt hat. Inzwischen allerdings beginnt sich in Deutschland das „historische Gedächtnis“ beider Weltkriege zu verändern: Mit der zuneh- menden Historisierung der Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden beide Welt- kriege stärker aufeinander bezogen und gemein- sam „erinnert“. Das von General Charles de Gaulle in seinem Londoner Exil geprägte, in den 1950er Jahren von Raymond Aron verwandte und jüngst von Hans-Ulrich Wehler aufgegriffene Schlagwort vom „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ 1914 bis 1945 macht die Runde. 1 Für die deutschen Historiker hatte der Erste Welt- krieg nie seine zentrale Rolle in der modernen deutschen und europäischen Geschichte verloren. Natürlich gab es Phasen unterschiedlicher Intensi- tät bei der Beschäftigung der „Zunft“ mit diesem Krieg. Der Düsseldorfer Weltkriegsforscher Gerd Krumeich hat von einem historiographischen Paradigma gesprochen, das sich in der Regel etwa alle zehn Jahre verändert habe. 2 Man sollte hinzu- fügen, dass einige dieser Paradigmen entschieden länger bestanden haben, bevor sie durch andere ersetzt wurden, und bei anderen wiederum stellt sich der Eindruck ein, dass sie ihre historische Wir- kungsmächtigkeit nach wie vor entfalten. Die Weltkriegshistoriographie 1919 bis 1945 Die Geschichtsschreibung nach dem Ersten Welt- krieg war wie die historisch-politische Debatte in der Weimarer Republik vor allem durch die so genannte „Kriegsschuldfrage“ geprägt: Welches Land trug die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges? Zur berüchtigten „Dolchstoßle- gende“ von Rechts gesellte sich bereits unmittel- bar nach dem Ende des Krieges eine verhängnis- volle „Kriegsunschuldlegende“, an deren Zustan- dekommen auch Repräsentanten der linken und liberalen Parteien beteiligt waren. Die „Kriegsun- schuldlegende“ sollte nach dem Willen zahlreicher Weimarer Demokraten als gleichsam emotionale Klammer für die auseinander strebenden politi- schen und gesellschaftlichen Kräfte der jungen Republik wirken. Damit erwies sich die Ableh- 1 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949, München 2003 2 , S. XIX, 985. 2 Gerd Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel, in: Gerhard Hirschfeld/ders./Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch . . .“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt/M. 1996, S. 11. 3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 29 – 30 / 2004

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Page 1: Der Erste Weltkrieg in der deutschen und … · Der Erste Weltkrieg in der deutschen ... Da das Verhalten der deutschen Regierung in der Julikrise 1914 im Nachhinein auch von den

Gerhard Hirschfeld

Der Erste Weltkrieg in der deutschenund internationalen Geschichtsschreibung

Anfang August 2004 jährt sich der Beginn desErsten Weltkriegs zum neunzigsten Mal. Dashistorische Interesse an der „Urkatastrophe des20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) ist unver-ändert groß. Neue oder wieder aufgelegte Bü-cher, Zeitungsartikel und Magazinserien, Ausstel-lungen und Fernsehdokumentationen sowieeine steigende Zahl von Internetadressendeuten darauf hin, dass für Historiker, Journalis-ten, Ausstellungs- und Medienmacher dieBeschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg nochlange nicht abgeschlossen ist.

Dass das sogar wachsende Interesse keineswegsnur medial aufbereiteten „Erinnerungsjahren“geschuldet ist, darauf weisen steigende Besucher-zahlen der einschlägigen Museen hin, so etwa das1992 im nordfranzösischen Péronne an der Sommeeröffnete, vorbildlich international konzipierte„Historial de la Grande Guerre“ oder die mitmodernster musealer Technik inszenierte Dauer-ausstellung des Weltkriegsmuseums von Ypern(Belgien) „In Flanders Fields“. Für Belgier, Britenund Franzosen bleibt der Erste Weltkrieg im kol-lektiven Gedächtnis dieser Länder schon aufgrundder immens hohen Zahlen ihrer gefallenen, ver-missten und verwundeten Soldaten stets der„Große Krieg“ („De Groote Oorlog“, „The GreatWar“, „La Grande Guerre“). Demgegenüberscheint in der Erinnerung der meisten Deutschender Zweite Weltkrieg die Ereignisse des Ersteninzwischen überlagert zu haben – ähnlich wie dasin Russland und anderen Ländern Ost- und Ost-mitteleuropas der Fall ist, wo der „Große Vater-ländische Krieg“ schon durch die unermesslicheZahl der Opfer die Erinnerung an den Ersten weit-hin verdrängt hat. Inzwischen allerdings beginntsich in Deutschland das „historische Gedächtnis“beider Weltkriege zu verändern: Mit der zuneh-menden Historisierung der Ereignisse in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts werden beide Welt-kriege stärker aufeinander bezogen und gemein-sam „erinnert“. Das von General Charles deGaulle in seinem Londoner Exil geprägte, in den1950er Jahren von Raymond Aron verwandte undjüngst von Hans-Ulrich Wehler aufgegriffene

Schlagwort vom „zweiten Dreißigjährigen Krieg“1914 bis 1945 macht die Runde.1

Für die deutschen Historiker hatte der Erste Welt-krieg nie seine zentrale Rolle in der modernendeutschen und europäischen Geschichte verloren.Natürlich gab es Phasen unterschiedlicher Intensi-tät bei der Beschäftigung der „Zunft“ mit diesemKrieg. Der Düsseldorfer Weltkriegsforscher GerdKrumeich hat von einem historiographischenParadigma gesprochen, das sich in der Regel etwaalle zehn Jahre verändert habe.2 Man sollte hinzu-fügen, dass einige dieser Paradigmen entschiedenlänger bestanden haben, bevor sie durch andereersetzt wurden, und bei anderen wiederum stelltsich der Eindruck ein, dass sie ihre historische Wir-kungsmächtigkeit nach wie vor entfalten.

Die Weltkriegshistoriographie1919 bis 1945

Die Geschichtsschreibung nach dem Ersten Welt-krieg war wie die historisch-politische Debatte inder Weimarer Republik vor allem durch die sogenannte „Kriegsschuldfrage“ geprägt: WelchesLand trug die Verantwortung für den Ausbruchdes Krieges? Zur berüchtigten „Dolchstoßle-gende“ von Rechts gesellte sich bereits unmittel-bar nach dem Ende des Krieges eine verhängnis-volle „Kriegsunschuldlegende“, an deren Zustan-dekommen auch Repräsentanten der linken undliberalen Parteien beteiligt waren. Die „Kriegsun-schuldlegende“ sollte nach dem Willen zahlreicherWeimarer Demokraten als gleichsam emotionaleKlammer für die auseinander strebenden politi-schen und gesellschaftlichen Kräfte der jungenRepublik wirken. Damit erwies sich die Ableh-

1 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte,Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründungder beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 20032,S. XIX, 985.2 Gerd Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel, in: GerhardHirschfeld/ders./Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hiermehr als Mensch . . .“ Erlebnis und Wirkung des ErstenWeltkriegs, Frankfurt/M. 1996, S. 11.

3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 29–30 / 2004

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nung des Friedensvertrages von Versailles (insbe-sondere die in Artikel 231 festgelegte Verantwor-tung für den Weltkrieg) einmal mehr als das ein-zige „emotional wirksame Integrationsmittel“(Hagen Schulze), über das die Republik gebot.Der Kampf gegen die alliierte „Kriegsschuldlüge“verhinderte aber zugleich den notwendigen histori-schen Bruch mit der Vergangenheit und trug ent-scheidend zur politischen wie zur „moralischenKontinuität“ (Heinrich-August Winkler) zwischendem wilhelminischen Kaiserreich und der Weima-rer Republik bei.3

Die von Seiten der Regierungen geforderte oderverantwortete Widerlegung der Versailler „Kriegs-schuldlüge“ überschattete alle anderen historio-graphischen Fragen. Vor allem dem eigens einge-richteten Kriegsschuldreferat des AuswärtigenAmtes oblag die Aufgabe, wenn schon nicht dievollständige, so doch die relative UnschuldDeutschlands nachzuweisen. Überraschenderweisespielten Universitätshistoriker bei dieser „wissen-schaftlichen“ Aufarbeitung der Kriegsschuldfragenur eine untergeordnete Rolle. Zu der professora-len Minderheit, welche die Kampagne mittrug,gehörten die Tübinger bzw. Stuttgarter HistorikerDietrich Schäfer und Johannes Haller. Wenngleichdie meisten Historiker, die fast ausnahmslos einenso genannten „nationalen“ Standpunkt einnah-men, sich nach 1919 tagespolitisch abseits hielten,blieben doch die politischen Erfahrungen und der„Interpretationsrahmen“ (Christoph Cornelißen)des Ersten Weltkriegs prägend. Als engagierteBefürworter der Idee eines historischen deutschenSonderwegs – selbst der „Vernunftrepublikaner“Friedrich Meinecke sprach von der „Singularitätdes deutschen Problems“ – lehnte die Mehrheitder Historiker die Weimarer Republik als Aus-druck westlichen Staatsdenkens und aufgezwunge-ner politischer Ideen ab. So wurde in vielerlei Hin-sicht die 1914 begonnene Kriegsdebatte über„Kultur und Zivilisation“ fortgeführt. Was denAusgang des Ersten Weltkriegs anging, so galt die-ser als nicht abgeschlossene Vergangenheit.4

Weder in Deutschland noch in Frankreich oderGroßbritannien fand der Erste Weltkrieg in den1920er und 1930er Jahren eine historiographischeDarstellung, die jenseits eng gefasster militärge-schichtlicher Fragestellungen wissenschaftlichenAnsprüchen genügt hätte. Das lange Zeit – eigent-lich bis in die 1960er Jahre – vorherrschendeThema blieb die unmittelbare Vorgeschichte desKrieges und die alles dominierende Frage nachden politischen Ursachen und Verantwortlichkei-ten. Da das Verhalten der deutschen Regierung inder Julikrise 1914 im Nachhinein auch von denengagiertesten Verfechtern deutscher Unschuld alszumindest ungeschickt angesehen wurde, wardie deutsche Geschichtswissenschaft bemüht, diegesamte Zeit „von Bismarck zum Weltkrieg“(Erich Brandenburg) als „Vorgeschichte“ desKrieges darzustellen. Dabei suchte sie nachzuwei-sen, dass sich im Zeitalter des europäischen Impe-rialismus eine Mächtekonstellation herausgebildethabe, in der das spät erwachte, dann aber gleich-sam riesenhaft wachsende Deutschland an dernatürlichen Entfaltung seiner Kräfte gehindertworden sei. Deutschland habe sich vor 1914 – sodie überwiegende Auffassung der deutschenHistoriker – in einem Zustand notwendiger „Ver-teidigung“ nicht allein seiner Interessen, sonderngeradezu seiner Existenz befunden. Immer wiederverwiesen sie darauf, dass diese gegen Deutsch-land gerichtete Konstellation auch in der Julikrisewirksam gewesen sei, symbolisiert etwa in demBemühen der späteren Kriegsgegner, die deut-schen Anstrengungen zur „Lokalisierung“ desKonflikts auf einen „Kleinkrieg“ Österreich-Ungarns gegen Serbien zu hintertreiben.5

Die vom Reichsarchiv zwischen 1925 und 1944erarbeitete kriegsgeschichtliche Bilanz „Der Welt-krieg 1914–1918“ stand ganz in der Traditionpreußischer Generalstabswerke des 19. Jahrhun-derts. Sie war geprägt vom Bemühen, die „Ehredes deutschen Heeres“ (bzw. seiner Generalität)zu wahren und sie gegen jegliche „zivilistische“Kritik abzuschirmen. Die letzten beiden Bändewurden elf Jahre nach dem Ende des Zweiten

3 Vgl. Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Poli-tische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der WeimarerRepublik, Göttingen 1987; Hagen Schulze, Weimar.Deutschland 1917–1933, Berlin 1994; Heinrich-AugustWinkler, Weimar 1918–1933, München 1993; Gerd Krumeich(Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung,Essen 2001.4 Vgl. Christoph Cornelißen, Politische Historiker unddeutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg vonBelow, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im ErstenWeltkrieg, in: Wolfgang. J. Mommsen (Hrsg.), Kultur undKrieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schrift-steller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 119–142; ders.,Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20.

Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Ernst Schulin, Weltkriegser-fahrung und Historikerreaktion, in: ders./Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsdiskurs Bd. 4: Krisenbewusst-sein, Katastrophenerfahrung und Innovation 1880–1945,Frankfurt/M. 1997, S. 165–188, vgl. jetzt auch Klaus GroßeKracht, Kriegsschuldfrage und zeithistorische Forschung inDeutschland, in: Internetportal Erster Weltkrieg, www.erster-weltkrieg.clio-online.de.5 Vgl. Erich Brandenburg, Von Bismarck zum Weltkrieg,Leipzig 1939; vgl. hierzu auch Gerd Krumeich/GerhardHirschfeld, Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg, in:dies./Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg,Paderborn 20042, S. 304–315; K. Große Kracht (Anm. 4).

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Weltkriegs, nun vom westdeutschen Bundesarchiv,veröffentlicht. Allerdings lassen sich beim militär-geschichtlichen „Weltkriegswerk“ durchaus inno-vative methodische Ansätze feststellen, etwa mitder Befragung von Zeitzeugen bei fehlenden Pri-märquellen.6

Auch die Historiker der „Siegermächte“ unternah-men zunächst keinen Versuch, eine Gesamtdarstel-lung zu schreiben. Auch bei ihnen dominiertedie „Generalstabshistoriographie“ (Markus Pöhl-mann) sowie eine grundsätzliche Trennung vonmilitärischer und politischer Geschichte. Dies giltetwa für das große offizielle Werk des französi-schen Kriegsministeriums „Les armées françaisesdans la Grande Guerre“, das von Aufbau undStruktur her verblüffende Ähnlichkeiten mit dem14-bändigen „Weltkriegswerk“ des Reichsarchivsaufweist. Allerdings war die der französischenDarstellung zugrunde liegende Argumentationnicht annähernd so defensiv-militaristisch wie dieder deutschen.7

Die auffällige Zurückhaltung hing mit der weitverbreiteten Scheu vieler Historiker vor der „Zeit-geschichte“ zusammen, die quellenmäßig nochweithin als ungesichert galt. Für die deutschenHistoriker mag auch die Überzeugung ausschlag-gebend gewesen sein, dass der Krieg mit dem Frie-den von Versailles nicht aufgehört hatte. Ange-sichts der fortdauernden Auseinandersetzungenum die neuen nationalen Grenzen in Europa,unter dem Eindruck der Freikorpskämpfe im Bal-tikum und in Oberschlesien, der Rheinlandbeset-zung und des „Kampfes um die Ruhr“ sowiegeprägt von der in der Gesellschaft der WeimarerRepublik vorhandenen allgemeinen Gewaltbereit-schaft setzte sich „der Krieg in den Köpfen“ (JostDülffer) gleichsam als „Krieg nach dem Krieg“fort.8 In den 1920er Jahren wurden die weit ver-breiteten Studien französischer und angelsäch-sischer Historiker und Publizisten, welche diedeutsche Kampagne gegen die Kriegsschuld unter-mauern sollten, von deutschen Regierungsstellen,vor allem vom Kriegsschuldreferat des Auswärti-gen Amtes, finanziell unterstützt.9

Einen bemerkenswerten Kontrapunkt bildeten diebis heute von der Weltkriegsforschung weithinübersehenen Länderstudien der amerikanischenStiftung Carnegie Endowment for InternationalPeace. Auch wenn der wissenschaftliche Ertragder in 18 nationalen Serien (von 1911 bis 1941)versammelten Studien sehr unterschiedlich aus-fällt, so enthalten doch etliche der Forschungsar-beiten interessantes Material. Dies gilt für dieUntersuchungen sowohl zu den ökonomischenEntwicklungen und staatlichen Maßnahmen wäh-rend des Krieges wie zu den sozialen und mentalenKriegsfolgen, beispielsweise Moritz Liepmannswichtige Studie über „Krieg und Kriminalität inDeutschland“ von 1930.10

In den ersten Jahren der nationalsozialistischenDiktatur änderten viele deutsche Historiker nurihre Fragestellung. Statt „Wer war für den Aus-bruch verantwortlich?“ lautete nun das verbreiteteLeitmotiv: „Was ging schief, und wie können wirverhindern, dass sich ähnliche Fehler künftig wie-derholen?“ Auf der Basis historischer Stereotypenund gleichsam mythischer Beschwörungen vonSchlachtenorten wie Tannenberg, Langemarckund Verdun vollzog sich die „Wehrhaftmachung“der deutschen Geschichtsschreibung.11 Die militä-rischen Siege über Belgien und Frankreich imFrühsommer 1940 wurden vom NS-Regime als daswahre Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert, wobeisich die Führung der Zustimmung der meistenDeutschen sicher sein konnte. Selbst liberale undkonservative Gegner des Regimes, so der Histori-ker Friedrich Meinecke, empfanden diese Siegeals persönliche Genugtuung. In einem Brief an sei-nen Kollegen Siegfried Kaehler von Anfang Juli1940 bekannte Meinecke: „Freude, Bewunderungund Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auchfür mich dominieren. Und Straßburgs Wiederge-winnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schla-gen.“12

Im Herbst 1940 fanden in Verdun und auf demSoldatenfriedhof von Langemarck militärischeGedenkfeiern statt, die das Ende des Ersten Welt-kriegs symbolisieren sollten. Bereits am 12. Juni1940 war im „Völkischen Beobachter“ ein Bild

6 Vgl. Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Ge-schichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutscheMilitärgeschichtsschreibung 1914–1956, Paderborn 2002.7 Vgl. G. Krumeich/G. Hirschfeld (Anm. 5), S. 307.8 Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hrsg.), Der verlorene Frie-den. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002.9 Vgl. Harry Elmer Barnes, The Genesis of the World War,New York 1926; Sidney B. Fay, The Origins of the World War,2 Bde., New York 1929; Mathias Morhardt, Die wahrenSchuldigen. Die Beweise, das Verbrechen des gemeinenRechts, das diplomatische Verbrechen, Leipzig 1925; Ber-

nadotte E. Schmitt, The Coming of the War 1914, 2 Bde., NewYork 1930.10 Carnegie Endowment for International Peace (Hrsg.),Summary of Organization and Work 1911–1941, Washington,D.C. 1941.11 Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Ge-schichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt/M.1992; Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legi-timationswissenschaft, Frankfurt/M. 1997.12 Ludwig Dehio/Walter Classen (Hrsg.), Friedrich Mei-necke: Ausgewählter Briefwechsel, Stuttgart 1962, S. 364.

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erschienen, auf dem ein Wehrmachtsoldat zusehen war, der die Reichskriegsflagge (mit Haken-kreuz) in französischen Boden pflanzte. Darunterstand der Satz, den der Wehrmachtsoldat den ima-ginierten Kameraden des Ersten Weltkriegs zurief:„Und Ihr habt doch gesiegt.“13

Die Weltkriegshistoriographienach 1945

Die westdeutsche Geschichtsschreibung über denErsten Weltkrieg während der späten 1940er undin den 1950er Jahren knüpfte nahtlos an dieGeschichtsdeutungen in der Weimarer Republikan. Neue Forschungen fanden so gut wie nichtstatt; sie wurden auch nicht als notwendig empfun-den. Stattdessen wurden ältere Interpretationenneu formuliert, die als Variationen des berühmtenLloyd-George-Verdikts gelten können: „Allpowers slithered over the brink into the boilingcauldron of war“, zumeist übersetzt: „Wir sind allehineingeschlittert.“ Bereits die ersten Schriften derbeiden bedeutendsten deutschen Historiker nachKriegsende, Gerhard Ritters „Dämonie derMacht“ und Friedrich Meineckes „Deutsche Kata-strophe“, wiesen jeden Gedanken an eine verän-derte Sicht des Ersten Weltkriegs weit von sich.14

Beide bemühten die Erklärungsmuster der Zwi-schenkriegszeit zur Schuldfrage. Ritter beschwordie „militärisch-politische Zwangslage, die unsereDiplomatie im Moment der großen Weltkrisis imJuli 1914 geradezu in Fesseln schlug“15. Mit ihremnicht einmal unbedingt ideologisch motiviertenBeharren auf Werten und Verfahren einer älterenNationalgeschichtsschreibung verstellten sichdiese Historiker nicht nur die Möglichkeit, über-kommene Sichtweisen kritisch zu hinterfragen,sondern auch, die inzwischen sehr intensive For-schung des Auslands zum Ersten Weltkrieg einzu-beziehen. Dies galt vor allem für das mit großerAkribie und feinsinniger Quellenkritik verfasste

Werk zur Julikrise 1914 des italienischen Publizis-ten und Historikers Luigi Albertini „Le originedella guerra“ (ursprünglich 1942/43), dessen engli-sche Übersetzung in den fünfziger Jahren vondeutschen Historikern für kaum der Erörterungwert befunden wurde.16 Obwohl für Albertini alleeuropäischen Staatsmänner Verantwortung fürden Ausbruch des Krieges trugen, sah er Deutsch-land doch als die treibende Kraft: Ohne den deut-schen Druck in der Julikrise hätte sich Österreich-Ungarn niemals zum kriegerischen Vorgehengegen Serbien entschlossen. Selbst die vorsichtig-kritische Position ihres Kollegen Ludwig Dehio,der bereits 1951 die „singuläre Dynamik“ desDeutschen Reiches und dessen Politik vor 1914 alsein sich ständig verschärfendes „Kriegsrisiko“bezeichnet hatte, wurde von deutschen Histori-kern nicht wirklich aufgegriffen.17

Aus eben dieser „Burgsicherungs-Mentalität“(Wolfgang Jäger) heraus erklärt sich auch die Hef-tigkeit der Reaktion auf Fritz Fischers Darstellungund seine Beurteilung der deutschen Verantwor-tung für den Kriegsausbruch, die dieser 1961 in sei-nem berühmten Buch „Griff nach der Weltmacht“präsentierte. Die Fischer-Kontroverse wurde zumersten „Historikerstreit“ der deutschen Nach-kriegsgeschichte; seine Auswirkungen gingen weitüber die historische Zunft hinaus. Publizisten undPolitiker, unter ihnen Bundeskanzler LudwigErhard und Verteidigungsminister Franz-JosefStrauß, aber auch große Teile des Bildungsbürger-tums reagierten irritiert, teilweise auch aggressivauf die von Fischer konstatierte Verantwortungder deutschen Eliten für den Kriegsausbruch. DieReaktionen der meisten Historiker, insbesondereder älteren Generation, reichten von Ungläubig-keit und Schock bis hin zu offener Feindseligkeit.18

Der Doyen der westdeutschen Historiker, GerhardRitter, sprach den meisten seiner Kollegen ausdem Herzen, als er 1962 in einer Besprechungin der „Historischen Zeitschrift“ Fischer der „wis-senschaftlichen und politischen Verantwortungs-losigkeit“ zieh: „So vermag ich das Buch nicht

13 Susanne Brandt, Bilder von der Zerstörung an derWestfront und die doppelte Verdrängung der Niederlage, in:Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zurSozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Es-sen 1977, S. 439–454, hier S. 453.14 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesba-den 1946; Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, Stuttgart1947 (umgearbeitete Fassung von Ritters Studie Machtstaatund Utopie, 1940).15 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 2,München 1960, S. 171; hierzu C. Cornelißen, Gerhard Ritter(Anm. 4), S. 595.

16 Vgl. Luigi Albertini, The Origins of the War of 1914, 3Bde, London 1952–1957; hierzu auch G. Krumeich/G. Hirschfeld (Anm. 5), S. 309.17 Vgl. Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im20. Jahrhundert, München 1955.18 Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. DieKriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18,Düsseldorf 1961; Wolfgang Jäger, Historische Forschung undpolitische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914–1980über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1984;Konrad H. Jarausch, Der nationale Tabubruch. Wissenschaft,Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in:Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.),Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München 2003, S. 9–40.

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ohne Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurig-keit und Sorge im Blick auf die kommende Gene-ration.“19

Zu Recht ist betont worden, dass ohne FritzFischers Forschungen und die sich anschließendendeutschen wie internationalen Debatten diemoderne Geschichtsschreibung über den ErstenWeltkrieg nicht nur einen anderen Verlauf genom-men, sondern dass es sie in dieser Intensität nichtgegeben hätte. Fischers Thesen und Schlussfolge-rungen, die er in einer Reihe von Punkten revi-diert und ergänzt hat, stellen heute keine Heraus-forderung für die Geschichtswissenschaft mehrdar. An der erheblichen Verantwortung des Deut-schen Reiches für den Kriegsausbruch zweifeltkaum noch ein seriöser Historiker, wie anderer-seits Fischers These von der Kontinuität der deut-schen Eliten und Kriegsziele („von Wilhelm II. bisHitler“) inzwischen entschiedenen und substantiel-len Widerspruch erfahren hat. Zu ihrer Zeit halfenFischers Arbeiten und die seiner Schüler dabei,die tradierte nationalkonservative Sicht einerdeutschen „Kriegsunschuld“ zu überwinden unddie Voraussetzungen für einen neuen Blick auf dasKaiserreich wie die Geschichte des Ersten Welt-kriegs zu schaffen.20 Für die ebenfalls seit den frü-hen 1960er Jahren bemerkenswert engagierte For-schung der DDR-Historiker zum Ersten Weltkriegbildeten die Arbeiten Fischers lange Zeit gleich-sam ein Gradmesser für die Beurteilung der „übri-gen westdeutschen Forschung“, die fortan „nachihrer Nähe oder Distanz zu Fischer beurteiltwurde“21.

Die Ironie der Fischer-Debatte lag darin, dassFischer selbst den konventionellen methodischenAnsatz einer klassischen Politik- bzw. Diplomatie-geschichte präsentierte. Seine Darlegungenbasierten fast ausschließlich auf regierungsamtli-chen und anderen offiziellen Quellen. Fischerlehnte es ab, die Erinnerungsliteratur zum Welt-krieg oder auch Autobiographien der Protago-

nisten als Primärquellen heranzuziehen. Wirt-schafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungenwaren weitgehend ausgeklammert oder bliebenden politischen Entscheidungen untergeordnet.Erst allmählich – gleichsam mit jeder Neuauflageseiner Weltkriegsstudien – erweiterte sich Fischerspolitik- und diplomatiegeschichtlicher Horizontdurch die Einbeziehung sozioökonomischer Fak-toren über die Ursachen des Krieges ebenso wiedie von ihm propagierte Kontinuität zwischendem wilhelminischen und dem nationalsozialisti-schen Deutschland. In dieser Hinsicht trugFischer nicht wenig zum Theorem eines deutschen„Sonderwegs“ (insbesondere Bielefelder Prove-nienz) bei.22

In den 1970er Jahren erschienen eine Reihegrundlegender Studien aus dem Umkreis derHamburger Schule Fritz Fischers, aber auch vonanderen Historikern, die verstärkt sozial- undwirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen aufgrif-fen. Naturgemäß stand die Organisation derKriegswirtschaft im Zentrum, aber auch Ursacheund Auswirkung der kriegsbedingten Inflation,der Beziehungen auf dem Arbeitssektor sowieallgemein die politischen und ökonomischen Ver-werfungen innerhalb der deutschen Gesellschaftals Folge des Krieges.

Die beiden wichtigsten und zugleich einflussreichs-ten Arbeiten dieser Forschungsperiode waren dieArbeit des amerikanischen Historikers Gerald D.Feldman über „Army, Industry and Labor“ sowieJürgen Kockas Studie über die deutsche „Klassen-gesellschaft im Krieg“. Insbesondere KockasAnregung, die Ursachen der Novemberrevolutionaus den gesellschaftlichen Verteilungskonfliktender Kriegsjahre zu erklären, stieß auf große Reso-nanz. Kockas Studie ist ein treffendes Beispiel fürdie in den 1970er Jahren dominante „historischeSozialwissenschaft“ mit ihrer vielleicht notwendi-gen Einseitigkeit in Bezug auf die von ihr aufge-worfenen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichenFragen.2319 Gerhard Ritter, Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz

Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: HistorischeZeitschrift, 194 (1962), S. 646–668.20 Vgl. Wolfgang. J. Mommsen, Der Große Krieg und dieHistoriker. Neue Wege der Geschichtsschreibung über denErsten Weltkrieg, Essen 2002, S. 8 f.; Helmut Böhme, „Pri-mat“ und „Paradigma“. Zur Entwicklung einer bundes-deutschen Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel des ErstenWeltkrieges, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Historikerkon-troversen, Göttingen 2000, S. 87–139.21 Fritz Klein, Die Weltkriegsforschung der DDR, in: En-zyklopädie Erster Weltkrieg (Anm. 5), S. 316–319; MatthewStibbe, The Fischer Controversy over German War Aims inthe First World War and its Reception by East German His-torians, 1961–1989, in: Historical Journal, 46 (2003), S. 649–668.

22 Zur deutschen Sonderwegsdebatte siehe Matthias Peter/Hans-Jürgen Schröder, Zeitgeschichtliche Kontroversen, in:dies. (Hrsg.), Einführung in das Studium der Zeitgeschichte,Paderborn 1994, S. 111–115; S. Baranowsky, Elbian landedelites and Germany‘s turn to Fascism: The „Sonderweg“controversy revisited, in: European History Quarterly, 26(1996), S. 209–240.23 Vgl. Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbei-terschaft in Deutschland 1914–1918, Berlin-Bonn 1985 (Orig.1966); Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deut-sche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1973; vgl. auchG. Krumeich (Anm. 2), S. 12 f.

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Die neue Weltkriegsforschung:Alltags- und Mentalitätsgeschichte

Seit Mitte der 1980er Jahre beobachten wir einesehr unterschiedliche Herangehensweise derHistoriker an die Geschichte des Ersten Welt-kriegs. Es begann die Rückkehr des Individuumsauf die historische Bühne und die Entdeckung desmethodischen Ansatzes der so genannten „Alltags-geschichte“. „Alltag“ ist kein exakter wissenschaft-licher Begriff, eher handelt es sich um einen „Sam-melbegriff für unterschiedliche Formen undAnnäherungen an die Alltagserfahrungen vonMenschen“ (Detlev Peukert).24 Die Vertreter desKonzepts der „Alltagsgeschichte“ sprachen voneinem „radikalen Ansatz ohne theoretische undmethodische Überfrachtung“. Nicht von ungefährwurden sie von ihren Kritikern, darunter den Ver-tretern der historischen SozialwissenschaftenHans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, wegenihres Verzichts auf eine explizite theoretische Fun-dierung als „Barfuß-Historiker“ bezeichnet, fürdie emotionale Hinwendung kritische Reflexionund Analyse ersetzen.25 Für die Weltkriegsforscherwar die Aneignung der Konzepte einer„Geschichte von unten“, wie die Alltagsgeschichtegern charakterisiert wird, aber nicht nur einwissenschaftlicher Reflex auf eine methodischeNeuorientierung eines Teils der Geschichtswissen-schaft. Der damals einsetzende Paradigmenwech-sel war das Ergebnis eines tief empfundenenUnbehagens mit bisher beschrittenen historiogra-phischen Wegen: der Politik- und Diplomatiege-schichte mit ihrer Betonung der Rolle der militäri-schen, politischen und wirtschaftlichen Eliten oderdem Ansatz der historischen Sozialwissenschaften,die sich mit ökonomischen und sozialen Struktu-ren beschäftigten, wobei das Individuum zumeistin einer abstrakten sozialen Gruppe oder Klasseverschwand.

Trotz der zweifellos vorhandenen Wertschätzungsozialhistorischer Konzepte und Ansätze lauteteder Haupteinwand, den die Alltags- und Mentali-tätshistoriker gegenüber einer reinen Strukturge-

schichte erhoben, dass diese weithin eine„Geschichte des Krieges ohne den Krieg“ sei.26 Siesei nicht in der Lage, sich mit dem wichtigstenGegenstand der Geschichte angemessen auseinan-derzusetzen, dem Menschen, und sie habe einenzentralen Aspekt der menschlichen Existenz imKriege vernachlässigt: das so genannte „Kriegser-lebnis“. Nach eigenem Bekunden verstanden sichdie Alltagshistoriker vor allem als Anwälte desgemeinen Soldaten. „Der Krieg des kleinen Man-nes“ lautete der Titel eines Sammelbandes, dender Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wetteals „Militärgeschichte von unten“ 1992 veröffent-lichte.27 Wettes einführende Bemerkung, dass dieetablierte Militärgeschichte sich bislang mit dem„kleinen Mann“ nicht ausreichend beschäftigthabe, mochte für die deutsche Militärgeschichtezutreffen, für die britischen oder französischenHistoriker der Weltkriege konnte sie nicht gelten.

Besonders in Großbritannien bestand schonimmer ein ausgeprägtes Interesse an dem unbe-kannten Krieger, den „nur Gott kennt“ (wie es inRudyard Kiplings Formulierung „known only untoGod“ auf englischen Soldatengräbern eingemei-ßelt steht). Die Bedeutung des gemeinen Soldatenunterliegt zwar Schwankungen der historischenKonjunktur, doch in den Büchern von John Kee-gan, Denis Winter, Martin Middlebrook und LynMacdonald – um nur einige zu nennen – war dieFigur des „Tommy Atkins“ – wie man den gemei-nen Soldaten in Großbritannien zu nennen pflegt –stets vorhanden.28 Eine ähnliche Tradition, diesubjektiven Erfahrungshorizonte der einfachenLeute zu ermessen, existiert auch in Frankreich.Die beinahe klassisch zu nennende Dokumenten-sammlung „Vie et mort des Françaises, 1914–1918“ (zusammengestellt von André Ducasse, Jac-ques Meyer und Gabrielle Perreux) trägt nicht vonungefähr den Untertitel „Simple histoire de laGrande Guerre“.29

Verglichen mit Großbritannien und Frankreich wardas Interesse der deutschen Historiker am „kleinen

24 Detlev Peukert, Alltagsgeschichte – eine andere Per-spektive, in: ders., Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde.Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Natio-nalsozialismus, Köln 1982, S. 21–26.25 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Neoromantik und Pseudo-realismus in der neuen „Alltagsgeschichte“, in: ders., Preußenist wieder chic. . . Politik und Polemik in zwanzig Essays,Frankfurt/M. 1983, S. 99–106; Jürgen Kocka, Kritik undIdentität, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (1986) 10,S. 890–897.

26 Hierzu G. Krumeich (Anm. 2), S. 14 f.27 Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes.Eine Militärgeschichte von unten, München– Zürich 1992,S. 9–47.28 Hierzu u. a. John Keegan, The Face of Battle. A Study ofAgincourt, Waterloo and the Somme, London 1976; DenisWinter, Death‘s Men. Soldiers of the Great War, London1978; Martin Middlebrook, The First Day on the Somme,London 1971; Lyn Macdonald, They called it Passchendaele.The Story of Ypres and the Men who fought in it, London1978; dies., 1914–1918: Voices and Images of the Great War,London 1988.29 André Ducasse/Jacques Meyer/Gabrielle Perreux, Vie etmort des Françaises, 1914–1918, Paris 1962.

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Mann“ (oder der „kleinen Frau“) nur wenig ausge-prägt. Die Quellenedition der deutsch-amerikani-schen Historikerin Hanna Hafkesbrink, die diese1948 unter dem Titel „Unknown Germany. Aninner chronicle of the First World War based on let-ters and diaries“ veröffentlichte, blieb in Deutsch-land weithin unbekannt.30 Drei Jahre nach demEnde eines weiteren und für die Deutschen nochweitaus schrecklicheren Krieges konnte es kaumüberraschen, dass kein deutscher Historiker vonHafkesbrinks Brief- und Tagebuchsammlung Notiznahm – heute ist sie nahezu vergessen.

Mit dem Paradigmenwechsel in der Weltkriegsfor-schung hin zu einer Geschichte des Alltags imKrieg richtete sich das Interesse der Historikerverstärkt auf das „Kriegserlebnis“: Wie erlebtenMenschen aller Schichten – die Soldaten an derFront wie auch Frauen, Männer und Kinder in derHeimat – den Krieg? Hat der Krieg neue sozialeGegensätze geschaffen, oder bestätigte er nur denbestehenden gesellschaftlichen Status? Was bedeu-tete die Trennung der Soldaten von ihren Fami-lien? Welche Rollen wurden den Frauen innerhalbund außerhalb der Familie zugewiesen? Brachteder Krieg für sie – wie gerne behauptet wird –einen Zugewinn an gesellschaftlicher und politi-scher Emanzipation? Welches Bild von den Welt-kriegsfeinden existierte in der Bevölkerung undwelche Mechanismen zu seiner Stabilisierungwaren notwendig? An welche Ereignisse erinner-ten sich die Menschen nach 1918, und wie gingensie mit dieser Erinnerung unter den Bedingungender Nachkriegsgesellschaft um?

Diese Art des „Kriegserlebnisses“, die sowohl dieErfahrungen der Schützengräben als auch die der„Heimatfront“ darzustellen trachtete, hatte wenigmit jenem soldatischen Blick gemein, der vorallem die nationalistische Erinnerungsliteratur derWeimarer Zeit beherrscht hatte. Zwischen ErnstJüngers Tagebuchbeschreibungen des „stahlgewit-ternden“ Krieges und seiner literarischen Schöp-fung eines „Neuen Menschen“ (des kämpfendenMannes) auf dem Schlachtfeld und der empiri-schen Rekonstruktion der Kriegswirklichkeitdurch die Alltagshistoriker liegen Welten – einmalabgesehen von Jüngers radikal-ästhetischen undauch politischen Auffassungen. Die Mehrheit derKriegsteilnehmer konnte sich wohl kaum mitdem von ihm propagierten Draufgängertum der

„Fürsten des Grabens mit den harten, entschlosse-nen Gesichtern (. . .) mit scharfen blutdürstigenAugen“ identifizieren, wie Jünger die Soldaten ander Westfront in seinem frühen Werk „In Stahl-gewittern“ zu charakterisieren suchte.31 Jüngersheroische Deutung war eine „ideologische Verzer-rung der tatsächlichen Abläufe und mehr noch dermentalen Dispositionen und der Motive“ der meis-ten Frontsoldaten.32

Die zu Beginn des Krieges propagierten Ideale derindividuellen Tapferkeit und des selbstlosen Ein-satzes für das Vaterland wurden rasch obsolet;gefragt waren Leidensfähigkeit und Durchhalte-vermögen unter widrigsten Verhältnissen. Der hel-denhafte Kampf unter den Bedingungen des Stel-lungskriegs reduzierte sich auf die Erfahrung vonKälte, Schlamm und Nässe, auf das Ertragen vonUngeziefer und Krankheiten und die verzweifeltenVersuche, dem Artillerie- und Schrapnellbeschusszu entkommen. Angesichts des anonymen Massen-sterbens verlor der Tod des Einzelnen seine Sinn-haftigkeit, nicht nur deshalb, weil die Körper derGefallenen häufig bis zur Unkenntlichkeit ver-stümmelt waren.33 Bemerkenswerterweise stelltegerade diese Vorstellung für die Soldaten häufiggenug eine traumatische Perspektive dar. „Durchdie Kugel zu sterben, scheint nicht schwer; dabeibleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aberzerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei gestampft zuwerden, ist eine Angst, die das Fleisch nicht ertra-gen kann“, so die Beschreibung der Todesum-stände auf dem Schlachtfeld durch einen Soldatenin einem Feldpostbrief an seine Familie.34

Entscheidend für die Beschäftigung mit Kriegsall-tag, Mentalitäten und den Erlebnissen der Men-schen im Krieg war nicht zuletzt ein erweiterterUmgang mit den Quellen: mit Tagebüchern undErinnerungen, mit Front- und Soldatenzeitungen,mit Bildern und Fotografien sowie vor allem mitden Kriegsbriefen, die in beide Richtungen zwi-schen der Front und der Heimat versandt wurden,

30 Hanna Hafkesbrink, Unknown Germany. An innerchronicle of the First World War based on letters and diaries,New Haven 1948; vgl. hierzu auch Christian Geinitz, Kriegs-furcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Frei-burg, Essen 1998, S. 11 f.

31 Ernst Jünger, Tagebücher I. Der Erste Weltkrieg, in:ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 9–300;hierzu Hans-Harald Müller, „Im Grunde erlebt jeder seineneigenen Krieg“. Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses imFrühwerk Ernst Jüngers, in: ders./Hasso Segeberg (Hrsg.),Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995.32 Wolfgang J. Mommsen, Kriegsalltag und Kriegserlebnisim Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 59(2000), S. 125–138, hier S. 135.33 Vgl. ebd., S. 128. Vgl. auch Tony Ashworth, TrenchWarfare 1914–1918, London 1980.34 Zit. von Klaus Latzel, Die mißlungene Flucht vor demTod. Töten und Sterben vor und nach 1918, in: Jörg Duppler/Gerhard P. Groß (Hrsg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wir-kung, Nachwirkung, München 1999, S. 188.

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der so genannten Feldpost. Vor allem die Entde-ckung der Soldatenbriefe als einer bis vor kurzemnoch weithin ungesicherten „popularen“ Quelleerwies sich als wichtige Informationsgrundlage.35

Feldpostbriefe, wie sie sich zu Tausenden in denArchiven des Londoner Imperial War Museumsoder der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichtefinden, stellen eine bedeutende Quelle für die„Erforschung der populären Kultur und der totalenMobilisierung unter den Bedingungen industriellerKriegführung“ dar, so Aribert Reimann, der einenaufschlussreichen Vergleich zwischen deutscherund britischer Feldpost unternommen hat.36

Die Heranziehung privater Briefe zur Rekonstruk-tion des „Kriegsalltags“ (Peter Knoch) ist uner-lässlich, um jene Menschen zum Sprechen zu brin-gen, die sonst stumm geblieben wären. EinfacheSoldaten, Bauern, Arbeiter und Angestellte wur-den im Krieg angehalten – die Soldaten in regel-mäßigen Abständen durch die so genannte„Schreibstunde“ an der Front oder in der Etappe –,über ihre Erlebnisse Rechenschaft abzulegen.Natürlich gab es eine militärische Zensur, aberdiese hatte auf die Art und Weise, wie Soldatenmit der Heimat kommunizierten, geringe Auswir-kungen.37 Für den Historiker gibt es vor allemmethodische Probleme: Das offenkundige Unver-mögen mancher Soldaten, sich angemessen zu arti-kulieren, oder aber die Absicht der Schreiber,ihren Familien den Horror des Krieges zu erspa-ren, zwingen dazu, „zwischen den Zeilen“ zulesen. Entsprechende Dokumentationen existierenauch für das „Alltagsleben“ an der „Heimatfront“,so in den Briefen und Tagebuchaufzeichnungenvon Ehefrauen und Kindern, die den Gatten undVater über die Ereignisse daheim auf dem Laufen-den halten wollten. Private Briefe sind – nebenTagebüchern, Fotos und Frontzeitungen – diewichtigsten Quellen für die neue historiographi-sche Annäherung an die Alltagsgeschichte desErsten Weltkriegs. Ganz so neu allerdings sind der-artige Dokumente keineswegs: Die zuerst 1916publizierte Briefsammlung des Freiburger Ger-manistikprofessors Philipp Witkop, „Kriegsbriefe

gefallener Studenten“, stieß nach 1928 sowohl inDeutschland als auch – dank zahlreicher Überset-zungen – im Ausland auf ein auflagenstarkesEcho.38 Eine vergleichbare Sammlung entstandEnde der 1920er Jahre, vermutlich unter dem Ein-druck der Witkopschen Edition, in Großbritannien(Sammlung Laurence Housman).39

Auf dem Wegzu einer Kulturgeschichte

des Ersten Weltkrieges

Die Vielfalt der Quellen und die offene Herange-hensweise bei der Suche nach dem Alltagslebenim Krieg verweisen auf eine historiographischeTradition, die sich in Frankreich als „Annales-Schule“ etabliert hat. Obgleich die „histoire desmentalités“, wie sie von den Straßburger Histori-kern Marc Bloch und Lucien Febvre in den späten1920er Jahren begründet wurde, über keine ver-bindliche Theorie verfügt, hat sie Wege aufge-zeichnet, wie sich Mentalitäten, kollektive Wahr-nehmungen und Erfahrungen „einer bestimmtenBevölkerungsgruppe zu einer bestimmten Zeit“,erforschen lassen.40 Der Einfluss der Annales-Schule auf die französische Geschichtsschreibungist evident: Marc Ferro, Guy Pedroncini, AntoineProst, Jean-Jacques Becker, Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker sind zu dieser Tradi-tion zu rechnen.41 Besonders J.-J. Beckers Studieüber die Reaktionen der Franzosen auf denKriegsbeginn evozierte starkes Interesse.42 In der

35 Vgl. die Beiträge in Peter Knoch (Hrsg.), Kriegsalltag.Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der histo-rischen Forschung und der Friedenserziehung, Stuttgart 1989;Klaus Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung, in:Militärgeschichtliche Mitteilungen, 56 (1997), S. 1–30.36 Aribert Reimann, Der große Krieg der Sprachen. Un-tersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland undEngland zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Essen 2000. Anm.der Redaktion: Vgl. auch den Beitrag von Aribert Reimann indiesem Heft.37 Vgl. Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feld-postbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen1997, S. 78–105.

38 Die erste Ausgabe erschien als „Kriegsbriefe deutscherStudenten“ (Gotha 1916), die zweite (1918) und dritte(München 1928), stark veränderte Auflage dann unter dembekannten Titel. 1942 betrug die Auflage 200 000 Exemplare.Hierzu Manfred Hettling/Michael Jeismann, Der Weltkriegals Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studen-ten“, in: G. Hirschfeld u. a. (Anm. 2), S. 205–234.39 Vgl. Laurence Housman, War Letters of Fallen Eng-lishmen, London 1930; vgl. hierzu Neil Jakob, Representationand commemoration of the Great War, in: Retrospect. Jour-nal of the Irish History Students Association, (2001).40 Ulrich Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zurhistorischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987;vgl. Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in:Historische Zeitschrift, 241 (1985), S. 555–598.41 Vgl. u. a. Marc Ferro, La Grande Guerre 1914–1918,Paris 1969; Guy Pedroncini, Les mutineries de 1917, Paris1967; Antoine Prost, Les anciennes combattants et la societéfrancaise, 1914–1939, 3 Bde., Paris 1977; Stéphane Audoin-Rouzeau, A travers leurs journaux: 14–18. Les combattantsdes tranchées, Paris 1986; Annette Becker, La guerre et laferveur, Paris 1994.42 Vgl. Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Françaissont entrés dans la guerre, Paris 1977; ders., Les Français dansla Grande Guerre, Paris 1980.

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französischen Geschichtsschreibung über denErsten Weltkrieg hat sich der Begriff einer Kultur-geschichte des Krieges („guerre et cultures“)43 ein-gebürgert.

Der amerikanische Historiker Jay Winter unter-streicht den Einfluss der Annales-Schule auch fürdie britische Weltkriegsforschung. Er attestiert ihr,dass sie „zahlreiche Elemente der Kultur-geschichte des Großen Kriegs hervorgebracht“habe.44 Samuel Hynes’ faszinierende Untersu-chung über die britische Kultur unter den Bedin-gungen des Weltkriegs („A War Imagined“) ist einsolches Beispiel.45 Zugleich zeigt sich in der Arbeitvon Hines eine starke Ausrichtung an der literatur-wissenschaftlich geprägten ErinnerungsforschungUS-amerikanischer Forscher, deren berühmtestesBeispiel für die Zeit des Ersten Weltkriegs nachwie vor die Arbeit von Paul Fussell ist.46

Deutsche Historiker griffen mentalitätsgeschichtli-che Fragen zunächst nur zögerlich auf. Die ersteUntersuchung über Kriegsmentalität, die eine tra-ditionelle Sozialgeschichte und die neue Alltagsge-schichte mit ihrer „Sicht von unten“ verband, warVolker Ullrichs Buch über Hamburg im ErstenWeltkrieg mit dem seinerzeit fast provozierendenTitel „Kriegsalltag“.47 Sein wichtigster Befund war,dass es kein homogenes, von euphorischen Stim-mungen abhängiges „August-Erlebnis“ gegebenhabe und dass die öffentliche Stimmung, zumal inden Arbeitervororten Hamburgs, während derersten Kriegstage starken Schwankungen unterlag,die von örtlichen Gegebenheiten und schichten-spezifischen Bedingungen geprägt waren. VonHurra-Patriotismus allerorten und einer generel-len Kriegsbegeisterung könne keine Rede sein.Eine Reihe von Studien, die sich mit dem ländli-chen Raum oder mit Grenzregionen des Reichesbeschäftigten, bestätigen Ullrichs Erkenntnisse.Hierzu zählen Benjamin Ziemanns Darstellungder ländlichen Kriegserfahrungen in Bayern sowieChristian Geinitz’ äußerst konzise Studie über dasso genannte „August-Erlebnis“ in der Universi-tätsstadt Freiburg im Breisgau. Ihre Befunde wer-den von dem in Berlin lebenden amerikanischen

Historiker Jeffrey Verhey bekräftigt, der diegeradezu mythische Tiefenwirkung des „Geistesvon 1914“ auf die politische Kultur der Nach-kriegszeit betont.48 Vielleicht lässt sich in derregionalgeschichtlichen Orientierung, in der Dis-kussion allgemeiner Thesen in einem überschauba-ren geographischen Kontext, der zentrale Beitragder deutschen Geschichtswissenschaft zur Histo-riographie des Ersten Weltkriegs erkennen.49

Seit einigen Jahren haben die deutschen Histori-ker damit begonnen, sich mit der kulturellen Ver-arbeitung des Weltkrieges, seiner Gedächtnis- undErinnerungsgeschichte, zu beschäftigen. Entschei-dende Anstöße kamen von dem amerikanischenHistoriker George L. Mosse, dessen Arbeiten zum„Kult der Gefallenen“ („Fallen Soldiers“) undzum „Mythos des Kriegserlebnisses“ starke Beach-tung fanden.50 Die Arbeiten von Reinhart Kosel-leck, Michael Jeismann, Susanne Brandt undSabine Behrenbeck sind überzeugende Beispielefür eine Darstellung der sich in Deutschland nachKriegsende vollziehenden Auseinandersetzungmit Symbolen von Massentod und Gewalterfah-rung.51 Gleiches kann für die Dokumentation derintellektuellen und ästhetischen Verarbeitungender Kriegserfahrungen durch Gelehrte, Schriftstel-ler und Künstler gelten, wo über den Kreis der Eli-ten hinaus nun auch weniger bedeutende, abergleichwohl wirkungsmächtige Personen in Augen-schein genommen werden.52

43 Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter/Gerd Krumeich/Annette Becker/Stéphane Audoin-Rouzeau (Hrsg.), Guerreet cultures 1914–1918, Paris 1994.44 Jay Winter, Catastrophe and Culture. Recent Trends inthe Historiography of the First World War, in: Journal ofModern History, 64 (1992), S. 525–532.45 Samuel Hynes, A War imagined. The First World Warand English Culture, London 1990.46 Vgl. Paul Fussell, The Great War and Modern Memory,Oxford 1975.47 Volker Ullrich, Kriegsalltag. Hamburg im Ersten Welt-krieg, Köln 1982.

48 Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. LändlicheKriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen1997; C. Geinitz (Anm. 30); Jeffrey Verhey, The Spirit of1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cam-bridge 2000.49 Siehe hierzu das sog. Baden-Württemberg-Projekt zumErsten Weltkrieg, das (mit 17 Dissertationen) von 1992 bis1996 an den Universitäten Freiburg und Tübingen sowie ander Bibliothek für Zeitgeschichte angesiedelt war. Eine Syn-these findet sich in Kriegserfahrungen (Anm. 13); vgl. auchGerd Krumeich, Kriegsalltag vor Ort, in: Neue Politische Li-teratur, 39 (1994), S. 187–202.50 George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Me-mory of the World Wars, Oxford–New York 1990 (dt. Aus-gabe: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum undnamenloses Sterben, Stuttgart 1993); hierzu auch Jay Winter,Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in Euro-pean cultural history, Cambridge 1995.51 Vgl. Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hrsg.), Derpolitische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne,München 1994; Sabine Behrenbeck, Der Kult um die totenHelden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole1923 bis 1945, Vierow 1996; Susanne Brandt, Vom Kriegs-schauplatz zum Gedächtnisraum. Die Westfront 1914–1940,Baden-Baden 2000.52 Vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Kultur und Krieg.Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller imErsten Weltkrieg, München 1996; einen detaillierten Nach-weis bietet Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste

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Im Umkreis des „Historial de la Grande Guerre“in Péronne, dem derzeit aktivsten internationalenForschungszentrum zum Ersten Weltkrieg, hat injüngerer Zeit eine Forschungsrichtung Auftrieberhalten, welche die im Weltkrieg häufig feststell-bare „Kriegseschatologie“ als Konsequenz einesteilweise als „heilig“ aufgefassten „Kriegs der Kul-turen“ betrachtet.53

Die hier skizzierten Ansätze einer Alltags-, Men-talitäts- und Erinnerungsgeschichte gestatten es,sich auch um eher traditionelle Themen und histo-rische Felder zu bemühen und diese mit aktuellenhistoriographischen Konzepten zu verbinden. Diesgilt beispielsweise für die vernachlässigte Struktur-geschichte, aber auch für die traditionelle Kriegs-und Militärgeschichte. Bedarf besteht nach wievor an einer vergleichenden Betrachtung politi-scher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und men-taler Prozesse. Die von Jay Winter und Jean-LouisRobert auf den Weg gebrachten sozioökonomi-schen und demographischen Forschungen zu dreieuropäischen Hauptstädten kriegführender Staa-ten (London, Paris, Berlin) stellen ein beeindru-ckendes Zwischenergebnis dar.54

Woran es der deutschen Weltkriegsforschung man-gelt, ist ein allseits akzeptierter Begriff, der dievielfältigen Ansätze verbindet. „Kulturgeschichtedes Krieges“ – dieser von angelsächsischen und

französischen Historikern adaptierte Terminus istwegen seiner internationalen Konnotationenattraktiv, in der deutschen Diskussion wirft er aberProbleme auf: „Kulturgeschichte“ scheint histo-risch überfrachtet, die Wurzeln dieses Begriffs rei-chen tief in die deutsche Philosophie und Geistes-geschichte des 19. Jahrhunderts zurück. Zudemweist „Kultur“ in Verbindung mit dem ErstenWeltkrieg auf die Ausbildung eines nationalen„Sonderwegsbewusstseins“ hin, das bereits vor1914 alle Zeichen eines politischen und gesell-schaftlichen Überlegenheitsanspruchs gegenüberanderen Nationen in sich barg.55 Es bedurfte einesweiteren, noch schrecklicheren Krieges, um diesebetont antiwestlich orientierte deutsche „Kultur“obsolet werden zu lassen.

Kulturgeschichte des Krieges als ein gegenüberanderen Human- und Sozialwissenschaften offenesKonzept, wie es jüngst von Ute Daniel als Diskurs-angebot vorgestellt wurde,56 hat dennoch alleChancen, sowohl die Objekte, die historischenThemen, als auch die Subjekte, die methodischeSelbstreflexion der Kulturgeschichtsschreibung,angemessen zu würdigen. Eine derart interdiszipli-när forschende Kulturgeschichte des Ersten Welt-kriegs bietet hierzu die besten Voraussetzungen.

Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, 2Bde., Konstanz 1994 f.53 Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, 14–18: re-trouver la guerre, Paris 2000.54 Vgl. Jay Winter/Jean-Louis Robert (Hrsg.), Capital Ci-ties at War: Paris, London, Berlin, 1914–1919, Cambridge1997.

55 Hierzu Kurt Sontheimer, Ein deutscher „Sonderweg“?,in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen,Bonn 1983, S. 324–335; Barbara Beßlich, Wege in den„Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914,Darmstadt 2000; Jürgen und Wolfgang von Ungern-Stern-berg, Der Aufruf „An die Kulturwelt“. Das Manifest der 93und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg(mit einer Dokumentation), Stuttgart 1996.56 Vgl. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theo-rien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 2001.

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