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Nicola Badalucco / Enrico Medioli / Luchino Visconti Der Fall der Götter (La caduta degli dei – The damned) Für die Bühne bearbeitet von TOM BLOKDIJK Deutsch von MONIKA THE F 1513

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Page 1: Der Fall der Götter - Deutscher Theaterverlag · Der Fall der Götter ist eine Bühnenfassung des Films The damned von Luchino Visconti, für die niederländische Theatergruppe ZT

Nicola Badalucco / Enrico Medioli / Luchino Visconti

Der Fall der Götter (La caduta degli dei – The damned)

Für die Bühne bearbeitet von TOM BLOKDIJKDeutsch von MONIKA THE

F 1513

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Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

Der Fall der Götter (F 1513)

Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb anNichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnenerwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mitdem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kaufder vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.einer Tantieme.Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungenin geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen derRollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen dasUrheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechteverfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

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Der Fall der Götter Der Fall der Götter ist eine Bühnenfassung des Films The damned von Luchino Visconti, für die niederländische Theatergruppe ZT Hollandia verfasst von Tom Blokdijk, Dramaturg dieser Gesellschaft. Es gibt zwei essentielle Ausgangspunkte für diese Bearbeitung. Der erste Ausgangspunkt ist, dass die Figuren Joachim von Essenbeck, Friedrich Bruckmann und Martin Bruckmann von ein und demselben Schauspieler gespielt werden, dass die Figuren Konstantin von Essenbeck und Herbert Thalmann gleichfalls von einem Schauspieler gespielt werden, und die Figuren Sophie von Essenbeck und Elisabeth Thalmann-von Essenbeck von einer Schauspielerin. Der Schauspieler, der Wolf von Aschenbach spielt, ist also der einzige Spieler einer Protagonistenrolle, der nur einer Figur Gestalt gibt. Wir wollten ohne Worte zei-gen, dass ein und dieselbe Person gegensätzliche Entscheidungen treffen kann (Konstantin-Herbert und Sophie-Elisabeth), und dass jemand mit wirtschaftlicher Macht, durch die Zusammenarbeit mit einem bösartigen politischen Regime, von jemandem, der immer auf der Suche nach Gleichgewicht ist (Joachim) zu einem Mörder (Friedrich) und schließlich zu einem perversen Kriminellen (Martin) de-generieren kann. Da der Mann, der sich von Anfang an ganz bewusst für das NS-System entscheidet (Aschenbach), von einem Schauspieler gespielt wird, der nur diese eine Rolle spielt, wird angegeben, dass er eine Figur ist, die willentlich in sich selbst die Möglichkeit ausschließt, ein Anderer zu sein. Die Folge der Hand-habung dieses Ausgangspunkts ist, dass Martin am Ende des Stücks nicht selbst den Selbstmord seiner Mutter und ihres frischgebackenen Ehemanns Friedrich ü-bernimmt, sondern die Ausführung seinem Neffen Günther überlässt. Zweiter Ausgangspunkts ist, dass die vier Schauspieler, die die acht wichtigsten Rollen spielen, jeweils ihren eigenen Dienerinnen haben. Weil sie die Dienerinnen der Schauspieler sind, tragen sie ihre Eigennamen. Wir gehen davon aus, dass die Schauspielerinnen diesen Figuren in jeder Produktion ihren eigenen Namen geben. Wir wollten zeigen, wie diese treuen Untergebenen die schrecklichen Geschehnis-se, mit denen sie konfrontiert werden, betrachten und wie sie darauf reagieren. Sie nehmen immer aktiver an den Ereignissen teil, übernehmen am Ende sogar teil-weise die Regie. Ihre Anwesenheit gab uns obendrein die Möglichkeit, sie als Er-zähler auftreten zu lassen. Diese beiden Ausgangspunkte waren für mich essentiell. Das will nicht sagen, dass innerhalb dieser Ausgangspunkte keine anderen Entscheidungen getroffen werden können. Gegebenenfalls möchte der Bearbeiter gerne im Voraus mit dem Theater oder der Gruppe, die das Stück aufführen will, beratschlagen.

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In der Vorstellung von ZT Hollandia spielte Musik eine unabhängige, wesentliche Rolle. Das Singen eines Madrigals von Monteverdi diente als Ersatz der langen Filmsequenz von Joachims Begräbnis. Für uns war die Rolle der Musik wichtig, ohne die von uns gebrauchte und komponierte Musik zwingend vorzuschreiben. Tom Blokdijk

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Personen

Baron Joachim von Essenbeck, Generaldirektor der Essenbecker Stahlwerke

Freifräulein Sophie von Essenbeck, Joachim von Essenbecks Nichte und Witwe seines ältesten Sohns

Baron Konstantin von Essenbeck, sein zweiter Sohn und Direktor der Essenbecker Stahlwerke

Freifrau Elisabeth Thalmann - von Essenbeck, Joachims Nichte

Herbert Thalmann, ihr Mann und Vizepräsident der Essenbecker Stahlwerke

Thilde Thalmann, ihre Tochter

Baron Günther von Essenbeck, Konstantins Sohn

Baron Martin von Essenbeck, Sophies Sohn

Friedrich Bruckmann, einer der Direktoren der Essenbecker Stahlwerke, der Ge-liebte von Sophie van Essenbeck

Hauptsturmführer Wolf von Aschenbach, Cousin von Joachim von Essenbeck

Carola, Joachims, Friedrichs und Martins Dienerin

Sanne, Sophies und Elisabeths Dienerin

Thekla, Konstantins und Herberts Dienerin

Gonny, Wolf von Aschenbachs Dienerin

Polizeikommissar

Lisa, ein Kind

Lisas Mutter

Olga, Martins Freundin

Rektorin des Gymnasiums, auf das Günther geht

Polizeiinspektor

SA-Leute

Hochzeitsgäste

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Erster Akt Erste Szene Carola wie ein Stallmeister im Zirkus: Im Schloß der Familie von Essenbeck. In ihren Zimmern kleiden die Familienmitglieder sich zum Essen zu Ehren des Ge-burtstags des alten Baron Joachim von Essenbeck, Generaldirektor der Essenbe-cker Stahlwerke. Diejenigen, die bereits fertig sind, gehen in den Eßsaal. Martin von Essenbeck und Carola kommen. Carola Baron Martin von Essenbeck. Sophie und Sanne folgen. Sanne wie ein Stallmeister im Zirkus: Freifrau Sophie von Essenbeck – von Essenbeck, seine Mutter. Martin von Essenbeck 'Geld- und Seelenadel sind nicht miteinander vereinbar, so scheint es. Aber der Adel selbst, von dem dieses Wort stammt, besaß er diesen Seelenadel eigentlich? Um all die Stücke Land zusammenzubekommen, all die Gebiete, von denen später all die Vornehmheit herrühren sollte, muß dieser Adel nicht weniger berechnend und geschäftig gewesen sein als ein Geschäftsmann der heutigen Zeit, möglicher-weise wendet der Geschäftsmann sogar eine ehrlichere Methode an. Aber das Land, das man besaß, die Kriege, die man führte, die Position, die man innehatte, haben ihm schließlich zu Würde und Noblesse verholfen, allem Niedri-gen abgeneigt. Anscheinend beruht das Entstehen adliger Geschlechter auf Prozessen, denen die Entfaltung zur höheren Humanität eigen ist. Warum sollte diese Entfaltung zur höheren Humanität nicht auch gelten, wenn sich eine Schmiede zu einem Welt-konzern auswächst?' Sophie lacht.

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Martin fährt fort: 'Die Geschichte stellt den großen Unternehmern daher unzweideutig die zweideutige Frage: Welches Maß an niederen Beweggründen ist nötig und erlaubt, um eine solche höhere Humanität zu erlangen? Die Frage ist um so drängender, da die großen Unternehmer und Geschäftsleute beim nächsten Wendepunkt der Geschichte wahrscheinlich dazu auserkoren sein werden, die Leitung der Welt auf sich zu nehmen.' Was mittlerweile ja bereits pas-siert ist. *) Sophie Baron Martin von Essenbeck, mein Sohn. Martin 'Einen Mann, einen richtigen Mann.' Verwandelt sich in Joachim von Essenbeck, geht in dessen Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett. Carola folgt ihm. Joachim von Essenbecks Schlafzimmer. Joachim von Essenbeck sitzt auf seinem Bett mit einem umflorten Bild in der Hand, küßt es und stellt es wieder weg. Joachim von Essenbeck geht in den Eßsaal. Carola Baron Joachim von Essenbeck ist in den Eßsaal gegangen und hat sich an seinen Platz gesetzt. Zweite Szene Das Zimmer von Konstantin von Essenbeck. Konstantin von Essenbeck in der Badewanne. Thekla! Thekla!! Thekla!!! Thekla kommt. Das Zimmer von Konstantin von Essenbeck. Baron Konstantin von Es-senbeck. Konstantin Sind alle da? Thekla Ja, Herr Baron.

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Konstantin Wo stecken sie alle? Thekla Herr Bruckmann und Hauptsturmführer von Aschenbach sind schon unten. Konstantin Und der Alte? Hm? Unser Jubilar? Thekla gibt keine Antwort. Konstantin Baron Joachim. Na? Nun los, sag schon! Thekla Ihr Vater ist noch auf seinem Zimmer. Konstantin Was macht er? Thekla gibt keine Antwort Konstantin Er küßt und kost das umflorte Bild meines toten Bruders, des Kriegshelden, seines Erstgeborenen. Und mein Sohn? Thekla Baron Günther übt seinen Vortrag. Gehen Sie nicht nach unten? Konstantin Doch. Ich warte nicht, bis sie mich holen kommen. Zieht sich an, verwandelt sich in Herbert, geht in dessen Zimmer. Dritte Szene Das Zimmer von Elisabeth und Herbert Thalmann. Thilde Thalmann übt ihre Cellosonate.

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Günther kommt herein. Thilde Günther! Günther Thilde. Thilde schweigt. Günther Was hast du? Thilde schweigt weiter. Günther Es ist genau wie voriges Jahr, Thilde. Nicht mehr, nicht weniger. Thilde Ja, aber voriges Jahr war ich nur Publikum. Diesmal nicht, heute abend ist es an-ders. Günther Es wird ein großartiges Debüt. Morgen steht dein Name in allen Zeitungen. Er kit-zelt sie. Sie lachen. Vierte Szene Gonny Der Eßsaal. Hauptsturmführer von Aschenbach ist anwesend. Aschenbach Onkel Joachim! Joachim verwandelt sich in Friedrich. Aschenbach Oh, Friedrich Bruckmann.

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Friedrich Wolf, schon seit ihrer Geburt war immer jemand da, der zu ihr sagte: „Du bist die Intelligenteste… du bist die Reichste, du wirst von allen am meisten beneidet: du bist nämlich Freifräulein von Essenbeck.“ Wie kann ich sie da bitten, Frau Bruckmann zu werden? Die Frau eines einfachen Direktors der Stahlwerke, die ihren Namen tragen. Aschenbach Einfacher Direktor ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck, Friedrich. Du ge-nießt das Vertrauen von Onkel Joachim, dem Generaldirektor, und von Herbert, seinem Stellvertreter… und sogar Konstantin trifft keine einzige Entscheidung ohne dich. Bedeutet dir das denn gar nichts? Friedrich Gewiß. Aber für Sophie ist das nicht genug. Oh ja, ich habe aus eigener Kraft Kar-riere gemacht… und doch bleibe ich immer einer ihrer Angestellten. Und außer-dem: falls wir beschließen sollten, morgen zu heiraten… der alte Joachim würde mir sein Vertrauen und seine Zuneigung auf der Stelle entziehen. Er will gerne weiter daran glauben, daß sie die untröstliche Witwe seines… vergötterten Soh-nes… des Helden ist. Verfolger gehen an, sie blenden Aschenbach. Aschenbach flucht. Verfolger aus. Friedrich Wolf, er würde mich wahrscheinlich stehenden Fußes entlassen. Aschenbach Nein, Friedrich, da täuschst du dich. Heutzutage hätten nicht mal das Heer von Sklaven, das seine Bergwerke und Fabriken in Gang hält… ganz zu schweigen von seinem Vermögen und seinen Besitzungen, genug Macht, um dich aus dem Werk zu drängen. Wir haben nämlich die Macht. Und wir wollen, daß du auf dei-nem Posten bleibst. Wir wollen sogar gerne, daß du noch höher kletterst. Friedrich Und an wem sollte ich da vorbei klettern? An Herbert? Natürlich ist es für nie-manden neu, daß Herbert sich zurückhalten muß. Seine Feindschaft den National-sozialisten gegenüber ist etwas zu auffallend. Aber Konstantin… Aschenbach Konstantin?

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Friedrich Ja. Aschenbach Imponiert er dir so? Friedrich Nein, aber er ist Mitglied der SA. Er hat Beziehungen zu Röhm. Aschenbach Friedrich, unsere Großindustrien werden Männer wie dich brauchen. Und unser Kanzler… hat eine Schwäche… für Großindustrielle. Es war auf jeden Fall nicht Konstantin … den ich gemeint habe. Weißt du, Friedrich, derjenige, der dir im Wege steht, bist in erster Linie du selbst. Man hat zwar den Eindruck, als seist du ehrgeizig, aber du wirst offensichtlich das Gefühl nicht los, daß du der Junge aus dem Volke bist, der die Treppe hinaufgefallen ist. So machst du Sophie nicht glücklich. Du machst dir zu viele Gedanken wegen Herbert und Konstantin. Du vergißt, daß es jemanden gibt, der viel wichtiger ist als sie, auf dessen Position solltest du dich richten: Onkel Joachim. Eins muß dir doch klar sein … heutzutage ist in Deutschland alles möglich, sogar das Unwahrscheinlichste. Und das ist erst der Anfang, Friedrich. „Die Moral des Individuums existiert nicht mehr. Wir bil-den eine Elitegesellschaft. Und dieser Elite ist alles erlaubt.“ Das sind Hitlers Worte, mein lieber Friedrich. Denke einmal daran. Heute abend… zum Beispiel. Friedrich Ja. Verwandelt sich in Martin. Fünfte Szene Thekla Elisabeth und Herbert Thalmanns Schlafzimmer. Herbert Heute ein kleiner Kompromiß, morgen ein kleiner Kompromiß und eines schönen Tages sind wir unseren Sessel los. Elisabeth Natürlich, Schatz. Pause. Herbert, du weißt, Onkel Joachim hält auf Pünktlichkeit, vor allem heute abend. Wir sind fertig. Herbert zu Thekla: Bitte, hilf mir.

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Thekla hilft ihm beim Binden der Krawatte. Thilde dreht Pirouetten und fällt. Elisabeth Thilde! Hilft ihr beim Aufstehen. Herbert Danke. Zu Elisabeth: Elisabeth, du kannst nicht immer und ewig ja sagen. Diese Leute besitzen keine Vernunft. Je mehr du ihnen zu essen gibst, um so freßsüchti-ger werden sie. Elisabeth Liebling, Onkel Joachim steht schon vierzig Jahre am Ruder… und war immer in der Lage… stark und tüchtig… das Gleichgewicht zu bewahren. Herbert Das Gleichgewicht. Wieder benutzt du das treffende Wort. Hier ein Sonderrecht für die Liberalen und da ein Sonderrecht für die Nationalsozialisten. Hier ein Son-derrecht für mich und da ein Sonderrecht für Konstantin. Elisabeth Herbert, du bist unfair. Joachim faßt „diesen Herrn“ keineswegs mit Samthand-schuhen an. Komm, laß uns nach unten gehen. Sie gehen. Herbert Weil er ein Snob ist. Wenn Hitler nicht der Sohn eines Zollbeamten und eines Dienstmädchens wäre, hätte Joachim sich ihm schon längst angeschlossen. Elisabeth Ich weiß, ich weiß. Aber du mußt zugeben, er hat deinen Rat befolgt, keinen Pfen-nig hat er den Nationalsozialisten gegeben. Herbert Doch nur, weil er so geizig ist. Sie erreichen den Eßsaal. Sechste Szene Carola Der Eßsaal.

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Joachim begrüßt alle der Reihe nach. Elisabeth. Elisabeth verwandelt sich danach in Sophie. Joachim Wolf… Günther... Herbert… Herbert verwandelt sich danach in Konstantin. Joachim Martin… Verwandelt sich in Martin. Martin Großvater… Verwandelt sich in Joachim. Joachim Sophie… Sophie verwandelt sich wieder in Elisabeth. Joachim Konstantin… Setz dich! Friedrich… Verwandelt sich in Friedrich und wieder in Joachim. Thilde… Schlägt dreimal mit der Hand auf den Tisch. „Der Geist gilt als das Höchste, was es gibt, er beherrscht alles. Ein Mensch, den man einen großen Geist nennt, wird bis in die untersten Regionen bewundert und respektiert. Alltäg-liche häusliche Tätigkeiten wirken daneben wie der Schmutz, den Gott unter sei-nen Zehennägeln hervorpult. Der reine Geist aber, unbegrenzt, von nichts eingeschränkt, wie gewollt ist der? Was passiert, wenn man sich diesem Geist wirklich unterwirft, sich von ihm leiten läßt? Dieser Geist weiß, daß Schönheit einen Menschen gut und schlecht, dumm und bezaubernd machen kann. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen der des Darms verwandt ist, weiß aber gleichzeitig, daß die Demut derselben Lippen der Demut all dessen verwandt ist, was heilig ist. Der Geist verwirrt, entwirrt aber auch wie-der. Gut und böse, oben und unten sind für diesen Geist keine relativen Begriffe, sondern Werte, deren Gewicht von dem Zusammenhang, in dem sie sich befinden, bestimmt wird: nichts ist in jedem Falle zulässig, Konstantin, und nichts ist in je-dem Falle unzulässig, Konstantin, denn alles kann eines Tages Teil eines größeren Ganzen, eines neuen Zusammenhangs sein, und dann geht die These nicht mehr auf; Tugenden werden zu Untugenden und Untugenden zu Tugenden.

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Heimlich haßt der Geist alles wie die Pest, was so tut, als stünde es für immer und ewig fest, die großen Ideale und die ewigen Gesetze und deren kleinen versteiner-ten Abdruck: den eingegrenzten Charakter. Der Geist betrachtet nichts als festste-hend, kein Ich, keine Ordnung. Die Frage ist, wer will und kann mit diesem Geist leben.“ * ) Applaus. Sie essen. Joachim verwandelt sich in Martin. Ein roter Vorhang wird auf die Bühne gerollt. Sophie Martin, komm. Martin verkleidet sich als Hure. Thekla Telefon für Baron Konstantin. Konstantin Entschuldigt mich einen Augenblick. Verläßt den Raum. Carola Das Licht im Eßsaal geht aus, der Verfolger ist da, der Vorhang der kleinen Bühne öffnet sich und da steht Martin. Martin singt „Lola“, Marlene Dietrichs berühmtes Lied aus „Der Blaue Engel“. Frühling kommt, der Sperling piept Duft aus Blütenkelchen Bin in einen Mann verliebt Und weiß nicht in welchen Ob er Geld hat, ist mir gleich Denn mich macht die Liebe reich Kinder heut‘ abend, da such ich mir was aus Einen Mann, einen richtigen Mann Kinder, die Jungs häng’ mir schon zum Hals heraus Einen Mann, einen richtigen Mann Einen Mann, dem das Herz noch von der Liebe glüht Einen Mann, dem das Feuer aus den Augen sprüht Kurz einen Mann, der noch küssen will und kann Einen Mann, einen richtigen Mann

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Männer gibt es dünn und dick Groß und klein und kräftig Andre wieder schön und schick Schüchtern oder heftig Wie er aussieht, mir egal Irgendeinen trifft die Wahl Kinder heut‘ abend, da such ich mir was aus Einen Mann, einen richtigen Mann Kinder, die Jungs häng’ mir schon zum Hals heraus Einen Mann, einen richtigen Mann Konstantin ist hereingekommen, zu Martin: Martin, Ruhe, bitte. Martin! Martin hört auf zu singen. Konstantin zu allen: In Berlin… brennt der Reichstag. Der Brand begann vor einer halben Stunde. Eine Verschwörung… ohne Zweifel. Aber ich glaube, man hat den Schul-digen bereits verhaftet. Ein Holländer. Mitglied der kommunistischen Partei. Martin reagiert auf diese Nachricht, indem er wieder anfängt, „Lola“ zu singen, diesmal noch nachdrücklicher. Einen Mann, dem das Feuer aus den Augen sprüht... Konstantin außer sich vor Wut. Martin, hör auf! Martin Kurz, einen Mann… Konstantin Hör sofort auf! Martin hört auf zu singen. Verfluchte Scheiße! Beginnt, sich umzuziehen. Es ist doch Karneval! Verwandelt sich in Joachim. Konstantin verwandelt sich unterdessen in Herbert. Herbert zu Aschenbach: Ein Kommunist, natürlich!

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Aschenbach Es ist eine Provokation der Kommunisten, die man nicht unterschätzen sollte… ein Anschlag auf die neue Regierung. Herbert Vielleicht wäre ich besser nicht hier. Elisabeth Immer mit der Ruhe, Herbert, der Coup d’État ist ja gescheitert. Herbert Eben deshalb. Aschenbach zu Herbert: Auf jeden Fall beweist die Tatsache, daß wir die Verschwörung ent-deckt haben… Herbert Was denn für eine Verschwörung? Das ist doch ganz eindeutig nur ein Vorwand. Elisabeth Ist das nicht ein wenig weit hergeholt, Herbert? Aschenbach zu Herbert: Es ist eine wohl durchdachte Kampfansage. So etwas kann nur je-mand machen, der gegen die Regierung ist. Herbert Ich kenne nur einen, dem das Parlament beim Regieren gestohlen bleiben kann, und das ist Ihr Reichskanzler. Elisabeth Herbert, ich bitte dich. Herbert zu Aschenbach: Ganz Deutschland weiß, daß es eine Liste mit Leuten gibt, die man für vogelfrei erklärt hat. Und jetzt ist der Moment gekommen, sich jeglicher Opposition zu entledigen, sang- und klanglos, ohne daß es ruchbar wird. Und ganz Europa schaut zu. Aschenbach zu Herbert: Die öffentliche Ordnung in Deutschland kann niemals eine Frage sein, die Europa etwas angeht.

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Herbert Welche öffentliche Ordnung? Daß Sie Ihren Kumpanen erlauben, in fremde Woh-nungen einzudringen und einfach drauflos zu morden? Elisabeth Herbert! Herbert War es nicht Ihr verehrter Göring, der den Feinden des Dritten Reiches reichlich Leine versprach, um sich aufzuhängen? Aschenbach Göring meinte die Kommunisten, Herr Thalmann. Sie sind doch kein Kommu-nist? Herbert Heute sind es die Kommunisten… Zu allen: Und morgen? Elisabeth Vergeßt die Sorgen wegen morgen. Wir wollen uns dem heutigen Tag widmen! Aschenbach Sehr richtig. Unsere einzige Sorge sollte die Geburtstagsfeier von Onkel Joachim sein. Elisabeth Du bist an der Reihe, Thilde. Thilde setzt sich auf einen Stuhl und beginnt zu spielen. Günther hilft ihr. Als sie zu Ende gespielt hat, klatschen alle. Elisabeth, Herbert und Günther umarmen sie. Joachim Schon seit geraumer Zeit… habe ich die Absicht, euch das zu sagen… was ich jetzt sagen werde. Die dramatischen Ereignisse… der letzten Stunden in Berlin … zwingen mich, jegliches Zögern zu überwinden… alle Zweifel zur Seite zu schie-ben… und zu sagen, was ich sagen muß. In all den Jahren… hatte ich, wie ihr wißt, nur ein einziges Ziel… die Einheit und das Ansehen der Firma aufrechtzuer-halten. Darum habe ich immer danach gestrebt, unsere Produkte... und die Struk-tur unseres Werkes den Umständen anzupassen. Während des großen Krieges. In Friedenszeiten. Während der… Wirtschaftskrise. In diesem Augenblick… ange-sichts der dramatischen Ereignisse der letzten Zeit… lege ich Wert auf die Fest-stellung, daß es mehr denn je gilt… die Essenbecker Stahlwerke zu beschützen… gegen eventuellen politischen Druck … oder gegen… noch größere Risiken. Ihr müßt zugeben, daß ich mich diesem Regime bisher nicht gebeugt habe. Und jeder

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weiß, daß ich keine Beziehungen … unterhalte… oder jemals unterhalten werde… zu diesem eh… Herrn. Trotzdem zwingt… die Art unserer Tätigkeiten… mich dazu… im Interesse der Werke… einen täglichen Kontakt zu pflegen mit… diesen Leuten. Darum erscheint es mir unumgänglich, als stellvertretenden Generaldirek-tor einen Mann neben mir zu haben… der dem Regime wohlgesinnt ist… der uns garantieren kann… Herbert Schon gut. Ich habe meine Kündigung bereits vor einiger Zeit geschrieben. Das ist es doch, was du verlangst, Onkel Joachim? Joachim Ich bin dazu gezwungen, Herbert. Gegen meinen Willen und nicht aus Über-zeugung. Aber… die Essenbecker Stahlwerke… Herbert Ja, richtig oder falsch, die Stahlwerke gehen immer vor, das war seit jeher dein Kredo. Du hast sogar deinen Sohn in die Schlacht geschickt, damit du sagen konn-test: „Seht her, ob die von Essenbecks nun Kinder oder Kanonen in die Welt set-zen, sie machen es mit demselben Gefühl.“ Elisabeth Herbert! Herbert Und wenn sie sie begraben, machen sie das mit dem gleichen Gefühl! Elisabeth Sei ihm bitte nicht böse, Onkel Joachim. Herbert Übermittle Konstantin meine Glückwünsche. Er wird der stellvertretende Gene-raldirektor sein, den wir verdienen. Elisabeth Komm, Herbert, ich bitte dich! Lotst ihn aus dem Eßsaal. Thilde geht mit. Herbert verwandelt sich in Konstantin. Konstantin Ich habe nicht vor, in die Fußstapfen meines Vorgängers zu treten.

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Joachim Setz dich. Na Günther, was hast du vorbereitet? Günther „Es ist ein Zeichen der Größe, nicht zu viel Kritik an der eigenen Zeit zu üben! Ein mittelmäßiger Reiter, der sich den Bewegungen seines Pferdes anpaßt, wird jedes Hindernis mit Leichtigkeit überwinden; während ein vorzüglicher Reiter, der sich mit seinem Pferd nicht verträgt, schnell abgeworfen werden und im Graben landen wird. Zum Beispiel Napoleon. Gewiß kein großer Denker mit einer gewaltigen analyti-schen Gabe, jedoch jemand mit einem intuitiven Verstand. Er besaß das Talent, seine Zeit auf einen Schlag zu ergründen und begriff, daß diese sowohl revolutio-när als auch konterrevolutionär war. Ihm war gleich klar, daß er beides in sich vereinigen mußte, wenn er nicht wollte, daß die Zeit sich gegen ihn stellte. So ge-lang es ihm, die Massen zu führen, und so konnte er jede Schlacht zu seinen Gunsten entscheiden.“ *) Applaus. Konstantin und Aschenbach gratulieren ihm. Joachim verwandelt sich in Friedrich. Elisabeth verwandelt sich in Sophie. Siebte Szene Sanne Sophies Schlafzimmer. Sophie Sanne! Kommst du mich kitzeln? Sanne kitzelt sie. Sophie Genug! Friedrich Sophie!

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Sophie Friedrich! Friedrich Sophie, wenn es ihm in den Kram paßte, würde Aschenbach mir einen Dolch in den Rücken stoβen, das weiß ich. Aber diesmal nicht. Er ist auf meiner Seite. Auf unserer Seite, Sophie. Herbert hatte recht: natürlich haben sie den Reichstag selbst angezündet. Ich hatte ein Gespräch mit Aschenbach, und der war voll und ganz davon überzeugt, daß alles erfolgreich verlaufen würde. Wir sprachen von dir und von mir, von den Stahlwerken und von… Joachim. Und unterschwellig… unter-schwellig sagte er eigentlich dauernd: 'Heute abend bekommst du eine außeror-dentliche Gelegenheit. Es liegt an dir, sie zu nutzen oder nicht. Für oder gegen uns zu sein.' Verstehst du, was das bedeutet, Sophie? Ich kann mir einfach nicht vor-stellen, daß sie Joachims Namen auf die Liste für vogelfrei Erklärte gesetzt haben, er ist viel zu unentbehrlich für die Werke. Herbert vielleicht. Wahrscheinlich ist es ein… höchst seltsame Dinge werden heute nacht geschehen. Und die einzigen Verlierer werden die sein, die weiterhin zuschauen. Ich habe so ein Gefühl, als hätte man mir… einen Sonderauftrag erteilt. Und wenn ich den annehme, wenn ich die Chance ergreife, werden sie mich voll und ganz unterstützen. Und dann spielen ein Herbert oder ein Konstantin oder ein Joachim gar keine Rolle mehr. Dann bin ich der Chef. Ich treffe dann die Entscheidungen. Du und ich, Sophie. Sophie Was hast du beschlossen? Friedrich Das wird der erste Entschluß sein, den ich gefaßt habe, ohne deinen Rat einzu-holen. Sophie Das ist gut, Friedrich. Immer zerbreche ich mir den Kopf, wie ich dir weiterhelfen könnte. Weiter so! Weiter so! Geh bis zum Äußersten! Keiner von denen ist auch nur halb soviel wert wie du. Du hast gut daran getan zu warten, immer ja zu sagen, dich bei ihnen zu bedanken. Jetzt mußt du Kapital daraus schlagen. All die Male, die Herbert dich zur Seite zu schieben versuchte, die Joachim auf dich herabsah. Und Konstantin, der sich immer als dein Beschützer aufwirft, dir immer zu helfen versucht, dir den Rücken stützt, oh… Konstantin: der ist der Schlimmste von al-len. Hab keine Angst, Friedrich. Friedrich Ich habe keine Angst. Wir brauchen deinen Sohn nur davon zu überzeugen, daß ich derjenige bin, der die Werke leiten kann.

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Sophie Ich kümmere mich um Martin. Ich kenne seine Wünsche. Er hat kein Gefühl für Werte. Ein Stahlwerk oder ein Rolls-Royce, für ihn bleibt sich das gleich. Über-lasse ihn ruhig mir. Verwandelt sich in Elisabeth. Friedrich verwandelt sich in Martin. Achte Szene Der Eβsaal. Konstantin hat viel getrunken. Trink. Laß uns nicht mehr davon reden. Trink. Günther Ich will nicht von der Schule abgehen. Konstantin Du verläßt diese linke Brutstätte und kommst zu mir ins Werk. Wenn's sein muß, schleife ich dich persönlich hin. Ich schwöre dir… in zehn Jahren hast du bei uns eine führende Position. Die Position, daß du sogar mich rauswerfen kannst. Und wenn ich deine verdammten Bücher Seite für Seite zerreißen muß. Trink. Günther Nein, danke. Konstantin Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher. Genauso einen empfindlichen Magen. Wollte nie einen Fuß in die Fabrik setzen. Von der Hitze der Öfen wurde ihr schwindlig. Ha! Günther Hör zu, Vater, ich bin zu dem Entschluß gekommen … Konstantin Ich fasse die Entschlüsse für dich. Ich weiß, daß du mich nicht ausstehen kannst. Aber eh… sogar ich… Ich verlange ja nicht von dir, mich zu lieben. Im Gegenteil. Aber ich habe nicht die Absicht, diesem raffgierigen Friedrich den Sessel des Ge-neraldirektors zu überlassen. Auch Martin nicht. Ich binde dich einfach darauf fest, wenn die Zeit da ist… Gott steh mir bei, das gelobe ich. Thekla Günther geht wütend zur Tür.

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Günther wendet sich ab, schrumpft in sich zusammen. Konstantin Diese Schweine haben deinen Geist vergiftet. Aber wir werden deine Schule in der Luft zerreißen, mitsamt den verdammten Scheißbüchern. Brüllt: Günther! Günther! Günther! Verwandelt sich in Herbert. Herbert Günther. Günther Onkel Herbert! Sie umarmen sich und gehen. Neunte Szene Friedrich Ich will Martin sein. Carola, sing ein Lied. Carola singt: Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein, Stock und Hut stehn ihm gut, ist ihm wohlgemut. Friedrich verwandelt sich in Martin. Martin hört einen Augenblick zu, gibt Carola dann mit einer Geste zu verstehen, daß sie aufhören soll. Carola hört auf zu singen. Martin entdeckt Thilde unterm Tisch. Thilde! Thilde! Thilde! Verschwindet auch unterm Tisch. Sieht die Flasche Likör, die Thilde mitgenommen hat. Schenkt ihr ein, gibt ihr zu trinken. Schmeckt’s? Thilde nickt.

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Martin Noch einen? Thilde nickt. Martin schenkt ihr ein. Thilde trinkt. Martin küßt sie erst leicht auf die Wange, wird dann immer zudringlicher. Thilde entzieht sich ihm, rollt unter dem Tisch hervor, macht sich aus dem Staub. Elisabeth Thilde? Thilde rennt ihrer Mutter in die Arme, geht mit ihr zu ihrem Zimmer. Martin verwandelt sich in Friedrich. Zehnte Szene Elisabeth und Herbert Thalmanns Schlafzimmer. Elisabeth Aber Herbert, wir machen uns ja davon… wie Diebe. Herbert Wir sind nicht die einzigen, Elisabeth. Jeden Tag sind massenhaft Leute gezwun-gen, in andere Länder Europas zu reisen. Wir können uns sogar glücklich preisen. Wir wissen wenigstens, wo wir hin können. Wir haben Freunde. Günther Und wann?

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Herbert Sobald wir gepackt haben und ich meine Geschäfte im Werk deinem Vater über-tragen habe. Es ist aus, Günther. Es ist unsere Schuld. Unser aller Schuld, auch meine. Es hilft nichts, die Stimme zu erheben, wenn es zu spät ist. Nicht mal um die eigene Seele zu retten. Wir haben nicht mehr aber auch nicht weniger getan, als Deutschland zu einer kranken Demokratie zu machen. Die Angst vor einer pro-letarischen Revolution, die dem ganzen Land einen Linksruck gegeben hätte, war… war zu groß. Und jetzt können wir nicht einmal mehr diese Demokratie verteidigen. Der Nationalsozialismus wurde in unseren Fabriken geboren und mit unserem Geld gefüttert. Ich weiß, was du denkst, Günther. Daß ich nicht weglau-fen dürfte. Und vielleicht haßt du mich deswegen. Günther Nein, Onkel Herbert. Herbert 'Zum ersten Mal in der Geschichte, ist ein Mann auf die Welt gekommen, der zu seinen Anhängern sagt: stehlt, mordet, vergewaltigt – egal was, denn unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden rauschende, klare Gebirgsbäche macht. Es hilft nichts, eine Lehre dagegenzuhalten, die sagt: helft, heilt, liebt, denn unsere Lehre ist stärker, sie macht nicht nur aus der Jauche eurer Worte klare Gebirgsbä-che, sie macht sogar aus dem Kot eurer Taten fruchtbare Erde. Gegen eine Lehre, die einen Freibrief gibt für Mord, Diebstahl und Vergewaltigung, hilft nur geballte Gewalt, verbunden mit individuellen Heldentaten.' *) Verläßt mit Elisabeth den Raum. Günther, wir bleiben in Kontakt, nicht wahr? Günther Ja. Elisabeth verwandelt sich in Sophie. Elfte Szene Gonny Sophies Schlafzimmer. Sophie und Friedrich sitzen auf dem Bett. Aschenbach be-endet gerade ein Telefongespräch. Aschenbach Das hab ich mir gedacht. Vor Sonnenaufgang wird man Herbert verhaften. Pause. Armer Herbert! Und dann zu bedenken, daß wir so dicht an der Grenze wohnen.

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Sophie Wird es zum Prozeß kommen? Was wirft man ihm denn genau vor? Aschenbach Ich glaube nicht, daß diese Art von Formalitäten benötigt wird. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, um was es hier geht. Und… es geht um folgendes. Bevor die Flammen des Reichstags gelöscht sind, wird das alte Deutschland – und jeder, der dazu gehörte – wieder zu Asche geworden sein. Ein Anschein von Rechtmä-ßigkeit… kann trotzdem nützlich sein… manchmal. Aber jetzt müßt ihr mich ent-schuldigen. Ich bin müde, ich möchte gerne auf mein Zimmer gehen. Sophie, Friedrich. Falls ihr mich braucht… Verläßt das Zimmer. Sophie verwandelt sich in Elisabeth. Zwölfte Szene Carola SS-Leute nähern sich dem Haus und beginnen, mit den Kolben ihrer Maschinen-gewehre gegen die Tür zu hämmern. Die Tür wird geöffnet. Sie dringen mit viel Getöse weiter ins Haus ein. Thekla Das Schlafzimmer von Herbert und Elisabeth. Sie hören den Lärm. Friedrich kommt ins Zimmer. Sie sind da. Sie kommen dich holen. Du hast keine Sekunde zu verlieren. Herbert umarmt Thilde. Friedrich Herbert, du hast keine Sekunde zu verlieren. Um Gottes Willen, beeile dich! Thekla reicht Herbert seine Pistole. Friedrich Herbert, bist du von allen guten Geistern verlassen! Gib sie mir. Ich werde sie schon los. Und beeile dich. Beeile dich! Reißt Herbert die Pistole aus der Hand, verläßt hastig den Raum.

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Thekla reicht Herbert seine Aktentasche. Herbert und Elisabeth stürzen aufeinander zu und umarmen sich. Herbert rennt weg. Elisabeth rennt ein Stückchen hinter ihm her. Thilde rennt noch weiter hinter ihm her. Vati!!! Herbert verwandelt sich in Konstantin. Elisabeth verwandelt sich in Sophie. Dreizehnte Szene Carola Sophies Schlafzimmer. Sophie zu Friedrich: 'Friedrich, warum fürchtest du dich…' Aaah! Carola, mach du’s. Macht sich davon, gesellt sich aber schon bald wieder zu ihr. Carola 'Warum fürchtest du dich, der zu werden, der du in deinen Träumen bist? Warum läßt deine Sehnsucht dir die Haare zu Berge stehen, dein standhaftes Herz gegen deine Natur laut gegen deine Rippen schlagen? Was glaubst du, wird nach deiner Tat mit dir geschehen? Was du siehst, sind nur die Schatten deiner Furcht, und was du hörst, ist nur die Nachgeburt deines Schreckens. Wirklich durchlebte Ängste sind nur Weibermärchen verglichen mit der Furcht, die die Phantasie uns bereitet.

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Vorausblicken läßt deinen Daseinsstrom gerinnen? Warum erfüllt, Freund, was so herrlich klingt dich mit Abscheu? Warum macht die höchste Ehre, die Aussicht auf noch größeres Ansehen, daß du dich selbst nicht mehr kennst? Ach, wär nicht dein Gemüt mit Milch der Menschenliebe allzu voll. Laß die Angst, es zu tun, nicht triumphieren über den Wunsch, es nicht getan zu haben.' Friedrich geht in Joachims Schlafzimmer. Sophie folgt ihm. Carola fährt fort: 'Auge, vergiß die Hand, und wird es Tat, weigere dich zu sehen.' Sophie Schluss. Carola 'Ach, wenn Mord einsargen könnte, was Mord ausbrütet.' **) Vierzehnte Szene Carola Joachims Schlafzimmer. Friedrich Joachim. Verwandelt sich in Joachim. Joachim Friedrich. Verwandelt sich in Friedrich. Das wiederholt sich noch ein oder zwei Mal.

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Friedrich erschießt Joachim, verwandelt sich in Joachim. Alle singen: 'Hor che'l ciel e la terra e le venta tace e le fere e gli augelli il sonno affrena, notte il carro stellato in giro mena, e nel suo letto il mar senz' onda giace; veglio, penso, ardo, piango; e chi mi sface sempre m'è innanzi per mia dolce pena: guerra è il mio stato, d'ira e di duol piena, e sol di lei pensando ho qualche pace. Così sol d'una chiara fonte viva move il dolce e l'amaro ond'io mi pasco: una man sola mi risana e punge. E perchè il mio martir non giunga a riva, mille volte il dì moro e mille nasco; tanto dalla salute mia son lunge.' (Francesco Petrarca/Claudio Monteverdi ****) Reimlose Rohübersetzung: Nun, da der Himmel, die Erde und der Wind schweigen und der Schlaf Tiere und Vögel umfängt, die Nacht ihren Sternenwagen kreisen läßt, das Meer ohne Wellenschlag in seinem Bette ruht, wache, grüble, brenne, weine ich, und sie, meine Qual, steht immer vor mir mit ihrem süßen Schmerz. Ich führe Krieg mit ihr, wütend und traurig, und nur wenn ich an sie denke, habe ich Frieden. So sprudelt aus derselben reinen Quelle, das Süße und das Bittere, von dem ich zehre. Und da an meine Folter niemals ein Ende kommt, sterbe ich tausendmal und werde tausendmal neu geboren; so weit bin ich entfernt von meinem Wohlbefinden. Fünfzehnte Szene Gonny Joachims Schlafzimmer. Joachim liegt tot auf seinem Bett. Er ist erschossen wor-den. Polizeikommissar. Polizeikommissar zeigt Konstantin eine Pistole. Kennen Sie diese Waffe?

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Konstantin Ja. Polizeikommissar zu Gonny, die Notizen macht: Anscheinend gehört die Waffe Herrn Herbert Thal-mann. Gonny SS-Mann zu Aschenbach: Sollen wir die Ermittlungen weiterführen? Aschenbach Das überlassen wir wohl besser den offiziellen Instanzen. Gonny Herr Thalmann hat Unterlagen aus der Forschungsabteilung der Essenbecker Stahlwerke mitgenommen, sie betreffen die neuen Maschinengewehre. Diese Pa-piere könnten uns außerhalb des Reiches ziemlich kompromittieren. Aschenbach Faktisch kann er damit nichts anfangen. Gonny Der SS-Mann bringt den Nazigruß. Aschenbach erwidert ihn. Aschenbach führt die Handlung aus. Gonny Polizeikommissar. Polizeikommissar diktiert: An den Staatsanwalt, 28. Februar 1933. Betrifft: Anklage gegen den ent-flohenen Herbert Thalmann wegen vorsätzlichen Mordes an Baron Joachim von Essenbeck. Gonny Konstantin und Aschenbach verlassen das Schlafzimmer und begeben sich in den Eßsaal. Konstantin Wir sind schon im Eßsaal. Joachim aufersteht von den Toten, verwandelt sich in Martin.

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Sechszehnte Szene Der Eßsaal. Alle sind anwesend. Konstantin trinkt ununterbrochen. Ich weiß, was du jetzt durchmachst, mein lieber Martin. Man kann… von einem auf den anderen Tag… nicht eine so große Verantwortung auf sich nehmen… ohne ein Gefühl der… wie soll ich sagen… Angst. Aber weder ich noch Friedrich werden dich im Stich lassen. Wir finden sogar, du solltest ge-nügend Zeit bekommen, um dein Studium fortzusetzen, bevor du dich den Prob-lemen des Werkes widmest. Und glaube mir, klein sind die Probleme nicht. Ich und Friedrich werden den Laden unterdessen in Schwung halten. Wie wir das auch in der Vergangenheit gemacht haben. Ich hätte mir wirklich gewünscht, du müßtest den Posten des Generaldirektors der Essenbecker Stahlwerke nicht unter solch … tragischen… Umständen auf dich nehmen. Aber… oder… leider… woll-te ich noch sagen… daß ich… Martin Großvater hatte recht. In Zeiten wie diesen… stellt unser Werk… ja… doch durchaus… sich entweder gut mit der Regierung… oder unsere Geschäfte, unser Profit… verschwinden. Ich will nicht so tun, als sei ich ein Geschäftsmann. Oder gar ein Politiker. Und doch weiß ich... was wir herstellen ist ein spezielles aber auch ganz normales Produkt. Die Probleme sind technischer Art. Konstantin Ausgezeichnet. Du hast deine eigene Krönungsrede geschrieben. Aber wir wollen nicht übertreiben. Versuchen wir doch, unserer Zusammenkunft einen weniger of-fiziellen Charakter zu geben, nicht wahr? Eh… Joachims Absicht… Sophie Bitte, Konstantin… Martin ist noch nicht fertig. Er will noch etwas sagen. Konstantin Dann laßt uns zuhören. Martin Onkel Konstantin, ich werde Großvaters Wunsch voll und ganz respektieren. Er hat dich zum stellvertretenden Generaldirektor ernannt und so soll es auch blei-ben. Aber… aber… aber… ich glaube, in einem Augenblick wie diesem… Ich denke… ja… in einem Augenblick wie diesem… sollte der Generaldirektor… vor allem… technisch versiert sein. Konstantin zu Sophie: Soll das ein Witz sein?

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Sophie Es ist kein Witz. Riesige Interessen stehen auf dem Spiel. Und Friedrich… Lacht. Und Martin denkt … Konstantin Soviel ich weiß, ist dies das allererste Mal… daß Martin seinen Kopf zum Denken benutzt. Martin Ich erbe die Aktienmehrheit … und ich habe Entscheidungsbefugnis. Ich habe das Sagen. Ich ernenne … Friedrich Bruckmann… zum Vorsitzenden des Vorstands und zum Generaldirektor der Essenbecker Stahlwerke und jedes einzelnen dazu-gehörigen Werkes. Verwandelt sich in Friedrich. Konstantin Friedrich Bruckmann. Aus einem Nichts habe ich ihn zu dem gemacht, der er heu-te ist. Ich verstehe. Herberts Pistole. Aschenbachs Aussage. Das Erscheinen der SS! Friedrich verwandelt sich in Martin. Gonny und Thekla wiederholen mehrere Male: Herberts Pistole. Aschenbachs Aussage. Das Erschei-nen der SS! Sophie Du hast eine blühende Phantasie, Konstantin. Konstantin zu Günther: Komm mit, du. Heute hast du was gelernt. Sachen, die sie dir in dei-ner Schule da nicht beibringen. Geht, nimmt Günther mit. Dreht sich um, zu So-phie und Martin: Macht euch nur keine Illusionen… dieser Krieg hat gerade erst angefangen. Komm, Günther. Geht. Günther folgt ihm. Sophie zu Martin: Martin, komm! 'Erfolgreiche Geschäftsleute und Militärs besitzen die-selben Eigenschaften: die Abwesenheit jeglicher althergebrachten Skrupel und Hemmungen; dagegen haben sie die Fähigkeit, moralische Bedenken auszuschal-ten; Schöpfungsdrang und Zerstörungstrieb besitzen sie in gleichem Maße; sie kämpfen bis zum letzten Blutstropfen, um einen kleinen Vorteil zu erlangen; sie besitzen unbeirrbares Durchsetzungsvermögen, auch wenn dies zu nichts führt;

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den Mut, alles, was man erreicht hat, aufs Spiel zu setzen; Ehrfurcht vor Größe und Quantität als markanteste Form des Mißtrauens allem Unsicheren gegenüber. Das Element des Urbösen, so könnte man es nennen, ist bei ihnen nicht verloren gegangen, es ist offenkundig, unverwüstlich und ewig: es besteht aus nicht mehr, aber auch nicht weniger als dem Vergnügen, jemanden zugrunde zu richten, vor-zugsweise für immer. Und dieses Vergnügen wächst, je höher, erhabener und un-verletzlicher das Ansehen der betreffenden Person in den eigenen und in den Au-gen der anderen ist.' *) Verwandelt sich in Elisabeth. Martin verwandelt sich in Friedrich.

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Zweiter Akt Die Dienerinnen verwandeln dem Raum in den Sitzungssaal des Vorstands der Essenbecker Stahlwerke. Erste Szene Sanne bringt Karten mit den Entwürfen von Maschinengewehren, zeigt sie dem Publi-kum. Friedrich Der Sitzungssaal des Vorstands der Essenbecker Stahlwerke. Friedrich, Konstan-tin und Aschenbach stehen mit einer Gruppe von SS-Offizieren um den Entwurf eines neuen Maschinengewehrs. SS-Offizier 1 (Gonny) hebt sein Glas. Auf das erste Modell. In der Hoffnung, daß wir seine Musik sehr bald hören werden. Konstantin nimmt Friedrich zur Seite. Wo ist Martin? Friedrich Ist ausgegangen. Ich habe gesagt, in diesem Augenblick sei sein Platz hier bei uns. Aber er hatte etwas vor. SS-Offizier 2 (Thekla) zeigt auf Konstantin. Herr Bruckmann, das verstehe ich nicht… SS-Offizier 3 (Carola) Meine Herren, in diesem Punkt ist der Generalstab der Reichswehr unerbittlich. Der Generalstab hat verlauten lassen: „Entweder die SA oder wir.“ Das ist ein-deutig Erpressung. Aber es ist der SA gelungen, unseren großen Finanziers das Messer an die Gurgel zu setzten. Darum ist es unumgänglich, den Strom schweren Geräts zu den Kasernen der SA zu unterbinden. Konstantin Ist das Ihre persönliche Meinung? SS-Offizier 1 Das ist die Meinung des Generalstabs der Reichswehr. Und, verzeihen Sie, die des Reichskanzlers.

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SS-Offizier 2 Die Reichswehr ist die Reichswehr und die SA die SA. Das Verhältnis der beiden untereinander ist uns egal. Aber wir, die SS, sind nicht gewillt, unsere traditio-nellen Aufgaben mit anderen zu teilen. Konstantin Mich würde interessieren, wo die preußischen Generäle waren, als wir Deutsch-land von oben bis unten von unerwünschten Elementen gesäubert haben. SS-Offizier 1 Deutschland ist noch lange nicht sauber genug… Aschenbach Aber, aber, meine Herren! Zu Konstantin: Mein lieber Konstantin, es zweifelt ja niemand an den Verdiensten der Schlägertrupps. Ohne die Arbeit der SA wären wir hier nicht versammelt. Aber für die öffentliche Ordnung brauchen wir keine schweren Waffen. Man braucht sich ja nur umzusehen. Deutschland ist das or-dentlichste Land der Welt. Die amerikanischen und englischen Touristen empfin-den das als Wohltat. Was wollen wir mehr? Friedrich Wir sind uns also einig, meine Herren, kein einziges Maschinengewehr verläßt diese Fabrik, es sei denn auf Wunsch des Generalstabs der Reichswehr. Aschenbach winkt Friedrich herbei. Friedrich! Wir stehen kurz vor den Wahlen, Friedrich. Und die müssen wir um jeden Preis gewinnen, wenn wir wollen, daß es die letzten sind. Du weißt, daß das sehr viel Geld kostet. Von Essenbeck ist im Verzug. Diese unangenehme Situation ist durch Joachims bockiges Ressentiment gegen uns Na-tionalsozialisten entstanden. Alle anderen Industriellen haben bereits ihr Scheffel beigetragen, während du… Friedrich Es ist… es ist schwierig eine so große Summe locker zu machen, ohne die Bilanz zu fälschen. Wir sind eine Aktiengesellschaft. Und du weißt sehr gut, daß Kon-stantin ... zu einem Problem werden kann. Aschenbach Wenn Konstantin zu einem Problem werden will… ja dann… finde ich… ein Pro-blem kann gelöst werden. Was meinst du? 'Der Staat kann das unschuldige Blüm-chen zerquetschen, wenn es ihm den Weg versperrt.' Friedrich aufgebracht: Ich bin nicht der Staat. Ich habe getan, was man von mir verlangt hat. Mit dieser Art von Geschichten will ich nichts zu tun haben.

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Aschenbach Ach komm, sei nicht so! Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Diese Zeilen sind von Hegel, weißt du. Er würde sich im Grab umdrehen, bei dem Gedanken, daß ich Konstantin mit seinem unschuldigen Blümchen vergleiche. Friedrich Schon gut. Schon gut. Aschenbach Aber du bist verantwortlich für alles, was hier geschieht. Merk dir das. Friedrich verwandelt sich in Martin. Zweite Szene Gonny Günthers Schule. Das Büro der Rektorin. Rektorin (Sanne) Thomas Mann, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Franz Kafka, André Gide, Jack London, George Bernhard Shaw, Emile Zola, Marcel Proust, Walther Rathenau, Helen Keller. Alle diese Schriftsteller mußt du von deiner Liste streichen, sie sind in Zukunft verboten. Günther wiederholt die Namen. Thomas Mann, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Franz Kafka, André Gide, Jack London, George Bernhard Shaw, Emile Zola, Marcel Proust, Walther Rathenau, Helen Keller. Rektorin Gut. Hier, ein Brief für dich. Ich mußte ihn öffnen. Günther nimmt den Brief aus dem Umschlag und liest ihn. Rektorin Ich bin verpflichtet, die Post zu lesen. Besonders die aus dem Ausland. Günther Herbert Thalmann ist mein Onkel. Es ist absurd, daß ich hier keine Post von ihm empfangen kann…

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Rektorin Hör zu, von Essenbeck. Wenn dein Onkel auch nur einen Funken Verstand hätte, würde er dir keinen Brief in unsere Schule schicken. Günther Und wohin sollte er mir dann schreiben, bitte schön? Er braucht Hilfe, nicht wahr? Das steht doch drin! Rektorin Ich will nichts davon wissen. Ich will da nicht reingezogen werden. Und ich will nicht, daß du unsere Schule da mit hineinreißt. Und außerdem kann ich das nicht glauben…. weigere ich mich zu glauben… was dein Onkel schreibt. Günther Darf ich gehen? Rektorin Ja. Und laß dir die Haare ordentlich schneiden, von Essenbeck. Günther Ja, Frau Rektorin. Dritte Szene Martin und Carola kommen, steppend und singend: 'Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt…' Carola Olgas Wohnung und Lisas Wohnung. Martin kommt singend mit einem Blumen-strauß, einer Kleiderschachtel und einem Päckchen vor Olgas Mietwohnung in einem ärmlichen Viertel an. Als er die Tür mit dem Schlüssel öffnen will, er-scheint Lisa… Thekla! …ein kleines Mädchen, aus der Wohnung nebenan. Thekla verkleidet sich als Lisa, kommt. Martin und Lisa sagen gemeinsam: Olga ist nicht da. Sie ist zur Arbeit gegangen. Sie kommt spät nach Hause. Martin Ich weiß, danke. Und deine Mutti ist auch zur Arbeit?

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Lisa Nachher. Carola Martin betritt Olgas Wohnung, legt alles ab, stellt die Blumen in eine Vase, macht es sich bequem. Stellt das Radio an: Hitler hält eine Rede. Imitiert Hitlers Rund-funkstimme, die zum Volk spricht: 'Denn heute gehört uns Deutschland und mor-gen die ganze Welt.' Irritiert sucht er einen Sender mit Tanzmusik. Imitiert das Suchen, dann erklingt Tanzmusik. Zündet sich eine Zigarette an, läßt sein Zigaret-tenetui auf dem Nachttisch liegen. Das ist sehr wichtig. Darauf kommen wir später zurück. Setzt sich auf Olgas Bett, packt das Paket aus: ein kleines Schaukelpferd. Geht damit zu Lisas Wohnung. Lisa sitzt auf dem Fußboden, sie näht und singt ein Kinderlied. Lisa Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein klein Sag wer mag das Männlein sein Das da steht im Wald allein Mit dem purpurroten Mäntelein Das Männlein steht im Walde auf einem Bein Und hat auf seinem Haupte schwarz Käpplein klein Martin Lisa? Carola Lisa hört auf zu singen. Martin hockt sich neben sie und stellt ihr das Schaukel-pferd hin. Martin Schau mal, was ich für dich habe. Gefällt es dir, dieses Pferdchen? Lisa Ja, danke schön. Martin Du kannst darauf reiten. Carola Lisa setzt sich auf das Schaukelpferd. Martin Gefällt es dir? Ja? Du kannst es streicheln. Versuch’s mal. Es gehört dir. Gefällt es dir?

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Lisa Ja. Carola Lisa streichelt das Schaukelpferd. Martin streichelt ihren Arm. Martin Du mußt gut zu ihm sein. Es findet dich auch nett, weißt du. Wirklich. Carola Lisa steht auf und geht in eine Ecke, sieht sich zu ihm um. Martin sieht sie an, rennt plötzlich zurück in Olgas Wohnung. Lisas Mutter kommt nach Hause. Sanne! Sie betrachtet Lisas Näharbeit. Sanne verkleidet sich als Lisas Mutter. Lisas Mutter Lisa, was hast du nur für Flausen im Kopf? Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Zeit nicht verplempern. Lisa, warum antwortest du mir nicht? Du bist ein schlech-tes Kind, Lisa. Carola Sie schlägt Lisa. Lisa beginnt zu weinen. Martin kann sich kaum beherrschen, als er die Standpauke von Lisas Mutter hört. Lisas Mutter Kann man dir denn nie was überlassen? Hör auf. Hör auf. Ich werde dir gleich ei-nen Grund zum Heulen geben. Hör auf, sage ich. Hörst du mich nicht? Carola Sie verhaut sie. Lisa fängt nur noch lauter an zu weinen. Martin dreht das Radio auf volle Lautstärke, wirft sich auf Olgas Bett und verbirgt den Kopf unter den Kissen. Lisas Mutter Fege den Fußboden. Nun mach schon. Wenn ich wiederkomme, bist du fertig. Verstanden? Carola Lisas Mutter geht. Martin bleibt in derselben Haltung liegen. Olga nähert sich ih-rer Wohnung. Gonny! Gonny verkleidet sich als Olga.