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Nr. 499

Der Geist des Mächtigen

Atlans Heimkehr in die Milchstrasse

von Marianne Sydow

Die Herrschaft des Bösen über die Schwarze Galaxis ist längst aufgehoben. Der Zusammenbruch der dunklen Mächte begann damit, daß Duuhl Larx, der verrückte Neffe, durch die Schwarze Galaxis raste und Unheil unter seinen Kollegen stiftete. Es hatte damit zu tun, daß die große Plejade zum Zentrum der Schwarzen Galaxis ge­bracht wurde, und nicht zuletzt auch damit, daß Atlan, der Arkonide, und Razamon, der Berserker, in ihrem Wirken gegen das Böse nicht aufsteckten.

Dann löste die große Plejade den Lebensring um Ritiquian auf. Der Dunkle Oheim mußte seine bisher schlimmste Niederlage einstecken, und die Statthalter des Dunklen Oheims starben aus. Doch das Schicksal der dunklen Mächte schien damit noch nicht endgültig besiegelt zu sein. Der Dunkle Oheim traf jedenfalls einschnei­dende Maßnahmen, indem er die Dimensionsfahrstühle zusammenführte und mit ih­nen startete.

Der aus den Dimensionsfahrstühlen bestehende Kunstplanet hat inzwischen die Milchstraße erreicht. Die Bedrohung, die der Dunkle Oheim repräsentiert, ist somit für die Menschheit akut geworden.

Kein Wunder daher, daß Atlan alles versucht, um das Parraxynt zusammenzuset­zen und das größte Geheimnis Pthors und der anderen Dimensionsfahrstühle zu lüf­ten. Der Arkonide erhofft sich dadurch Hilfe gegen den Dunklen Oheim, Hilfe vom GEIST DES MÄCHTIGEN …

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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide kehrt heim. Razamon - Der Berserker entwickelt magische Kräfte. Copasallior und Koratzo - Die Magier kämpfen um den Bestand von Pthor. Sindro - Bote eines Mächtigen. Yephenas - Ein Mächtiger erwacht.

1.

Es gab sicher keinen Raum in ganz Pthor, der dem Arkoniden bessere Bedingungen für seine Arbeit hätte bieten können. Die Tem­peratur war angenehm – weder so warm, daß er dadurch schläfrig geworden wäre, noch kühl genug, um ihn während der häufigen Pausen, in denen er die nächsten Schritte seines Vorgehens überdachte, frieren zu las­sen. Während die Wände des Raumes in der Dunkelheit verschwammen, war der Platz um das Parraxynt herum hell erleuchtet.

Trotzdem ging es nicht so schnell voran, wie Atlan es sich gewünscht hätte. Die letz­ten Teile des großen Ringes widersetzten sich seinem Vorhaben und verschwammen häufig vor seinen Augen, obwohl er das Goldene Vlies trug, das derartige Erschei­nungen verhindern sollte.

Atlan starrte ratlos auf das Teil, das er in der Hand hielt. Die Bruchkanten schienen sich vor seinen Augen zu verändern. Er konnte nicht mehr erkennen, an welcher Stelle er dieses Stück an den Ring setzen mußte.

Er stand vor dem fast vollendeten Ring aus Metall und wog das Bruchstück in der Hand, innerlich zitternd vor Wut und An­spannung, bis er hinter sich ein leises Ge­räusch hörte. Hastig drehte er sich um und sah Copasallior, der aus der Dunkelheit auf ihn zutrat.

»Hilf mir!« bat der Arkonide. »Ich schaf­fe es nicht!«

Der Magier nickte. Seine übergroßen Ba­saltaugen blieben ausdruckslos wie immer. Er legte eine seiner sechs Hände auf Atlans Schulter. Im nächsten Augenblick standen sie im Garten der FESTUNG.

»Ich hatte mir unter deiner Hilfe etwas anderes vorgestellt«, bemerkte Atlan bitter.

»Es tut mir leid«, antwortete Copasallior ruhig. »Etwas anderes kann ich nicht für dich tun. Nur du kannst das Goldene Vlies tragen, und darum bist auch nur du fähig, das Parraxynt zusammenzusetzen. Ruhe dich ein bißchen aus, dann wirst du besser vorankommen.«

Atlan lachte verzweifelt auf und deutete zum Wölbmantel hinauf. »Ausruhen?« frag­te er. »Bei diesem Anblick?«

Der Morgen kündigte sich bereits an, aber noch war es dunkel genug, um am Himmel von Pthor die Lücke in der schwarzen Hülle und die dahinterstehenden Sterne sehen zu können. Sie leuchteten ruhig und stetig. At­lan kannte keinen einzigen davon, aber er wußte, daß es Sterne der Milchstraße waren, die jetzt auf Pthor herabschienen. Der bloße Gedanke daran, daß sie schon bald ihren Glanz einbüßen und durch schwarze Kerne verdüstert werden mußten, wenn es ihm nicht gelang, den Dunklen Oheim aufzuhal­ten, machte ihn rasend vor hilflosem Zorn.

»Du hast eine Chance, diese Galaxis vor dem Oheim zu bewahren«, sagte Copasallior ungerührt. »Aber du darfst dich nicht ver­wirren lassen!«

»Du hast gut reden«, knurrte der Arkoni­de. »Nicht einmal das Goldene Vlies kann mir noch helfen …«

»Das ist ein Irrtum!« »Ach! Ich wollte, ich könnte dich dazu

bringen, in das Ding hineinzusteigen – dann könntest du selbst sehen, wie wirksam es im Augenblick ist!«

»Das liegt nicht am Goldenen Vlies!« »Sondern an mir, wie?« fragte Atlan spöt­

tisch. »Zum Teil stimmt das.«

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Copasallior zögerte und vollführte eine hilflos wirkende Geste mit allen sechs Ar­men.

»Ich spüre etwas, das nach dem Vlies zu greifen versucht«, murmelte er. »Dieses Et­was macht seinen Einfluß geltend, und das Goldene Vlies reagiert darauf, zumindest teilweise. Leider weiß ich nicht, wer oder was dahintersteckt.«

»Sicher der Dunkle Oheim.« Copasallior überging diese Bemerkung. »Andererseits«, fuhr er fort, »reagiert das

Goldene Vlies positiv auf dich. Es akzeptiert dich und versucht dir zu helfen. Es könnte sogar den fremden Einfluß ignorieren, wenn es dir gelänge, ihm klarzumachen, wie drin­gend du seine Hilfe jetzt brauchst.«

»In diesem verrückten Land ist vermut­lich alles möglich«, murmelte der Arkonide nachdenklich. »Aber ich halte es trotzdem für sinnlos, diesem Anzug einen Vortrag über die derzeitige Lage zu halten!«

»Das ist auch nicht nötig«, versicherte Copasallior gelassen. »Du solltest lediglich aufhören, nach eigenen Lösungen zu suchen. Bis jetzt hast du die Hilfestellung des An­zugs nur dann angenommen, wenn dein ei­gener Verstand dir nicht mehr weiterhelfen konnte. Ich glaube, daß du damit einen Feh­ler gemacht hast. Verlaß dich auf das Golde­ne Vlies, zeige ihm, wie abhängig du von ihm bist, ja, spiele ihm mehr Abhängigkeit vor, als tatsächlich vorhanden ist.«

»Und du meinst wirklich, daß das helfen kann?«

»Es ist ein Versuch«, gab Copasallior schulterzuckend zu.

Atlan sah schaudernd zu den Sternen hin­auf. Der Gedanke, sich dem Goldenen Vlies gegenüber als noch hilfloser zu präsentieren, als er tatsächlich war, erfüllte ihn mit Unbe­hagen. Er sah noch immer Valschein vor sich, den Bildermagier, den dieser seltsame Anzug getötet hatte. Das Goldene Vlies war kein Spielzeug, sondern eine Waffe, ein ge­fährliches Machtmittel, und er wurde das Gefühl nicht los, daß er kein Recht hatte, diesen Anzug zu tragen. Das Ding war für

jemand anderen bestimmt. Aus irgendeinem Grund akzeptierte es den Arkoniden, aber der kleinste Fehler mochte es darauf auf­merksam machen, daß es einem Irrtum auf­gesessen war.

Du tust, als wäre der Anzug lebendig! sagte der Logiksektor mit leisem Vorwurf.

Atlan zuckte zusammen. Vielleicht ist das gar nicht einmal so ver­

kehrt, dachte er betroffen. Nein, natürlich ist es kein Lebewesen, aber es enthält etwas – etwas Lebendiges, eine besondere Kraft. Ich habe sie immer in ihm gespürt, aber es nie so recht definieren können.

Er sah Copasallior an. »Bring mich zurück!« bat er. »Ich werde

es versuchen!« Der Magier streckte schweigend die Hand

aus, und Atlan sah sich erneut dem Parra­xynt gegenüber.

Der zwei Meter große Ring aus grauem Metall schimmerte geheimnisvoll. Seine Au­ßenseite war über und über mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt, die scheinbar regel­los durcheinanderliefen. Auf der Innenseite gab es nur wenige Unebenheiten. Sie sahen aus wie die Überreste von Anschlußteilen, von technischen Geräten und Halterungen. Der Arkonide wurde das Gefühl nicht los, daß die Schriftzeichen erst nachträglich an­gebracht worden waren und daß das Parra­xynt einst Bestandteil einer Maschine gewe­sen war.

Atlan schob alle abweichenden Gedanken zur Seite und konzentrierte sich auf die am Boden liegenden Bruchstücke.

Die Lücke, die es in dem grauen Ring noch zu füllen galt, war relativ klein. Es wä­re einem grausamen Witz gleichgekommen, wenn er an dieser letzten Hürde gescheitert wäre. Allerdings enthielt der noch nicht zu­sammengefügte Teil den bedeutsamsten Ab­schnitt der Botschaft, die das Parraxynt trug: Die darauf angebrachten Schriftzeichen soll­ten Aufschluß darüber geben, wer die Di­mensionsfahrstühle geschaffen hatte und warum er es getan hatte. Alle anderen Rätsel hatten sie bereits gelöst. Sie wußten, wer der

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Dunkle Oheim war und woher er stammte, sie kannten das Geheimnis der Seelen, von denen die »Inseln« gesteuert wurden. Sie wußten sogar, daß einst jener Mächtige, dem die Dimensionsfahrstühle ihre Existenz ver­dankten, nach Pthor gekommen war, um hier zu sterben, daß er das Parraxynt, das Golde­ne Vlies und die Knochen der Yuugh-Katze mitgebracht und über Pthor verteilt hatte. Sie hatten erfahren, daß die Quorks die ne­gative Komponente des schlummernden, in unzählige Teile zersplitterten Bewußtseins heraufbeschwören konnten, während das Parraxynt die positive Komponente zu wecken vermochte. Aber all dieses Wissen half ihnen nicht weiter, wenn es ihnen nicht gelang, auch das letzte Rätsel zu lösen und das Parraxynt zur Gänze zusammenzufügen.

Der Arkonide bemühte sich, diesmal nicht nach den passenden Kanten und Zacken Ausschau zu halten. Statt dessen nahm er wahllos eines der Teile in die Hand, starrte auf den Ring und wartete geduldig. Er war skeptisch, was den Erfolg dieses Versuchs betraf, aber er unterdrückte auch seine Zwei­fel. Er bemühte sich, an nichts zu denken, sondern nur auf etwas zu warten, was aus den Tiefen seines Gehirns aufsteigen sollte.

Und endlich, als seine Muskeln bereits zu schmerzen begannen, weil er unnatürlich starr auf einem Fleck verharrte, bildete sich zögernd ein Bild vor seinem inneren Auge.

Er sah, wohin das Teil gehörte, und als er es in den Ring gefügt hatte, stand ein ande­res Bild vor ihm und zeigte ihm das Bruch­stück, das als nächstes in die Lücke gesetzt werden mußte.

Unter seinen Händen entstand eine kaum quadratmetergroße Fläche, von seltsamen Zeichen bedeckt, die sich allmählich zu ei­nem überschaubaren Muster ordneten.

*

Als er das letzte Teil an seinen Platz ge­fügt hatte, kehrte Atlan mit einem beinahe schmerzhaften Ruck in die Wirklichkeit zu­rück. Fassungslos betrachtete er das Parra­

xynt. Es war tatsächlich vollständig – nach Millionen von Jahren war es gelungen, alle Teile zusammenzutragen und zu einem sinn­vollen Ganzen zu vereinigen.

Er drehte sich um und entdeckte seine Freunde, die am Rand des Lichtkreises stan­den.

»Wir haben es geschafft«, sagte er, und er mußte sich räuspern, weil ihm plötzlich die Kehle trocken war. Er tat einen Schritt auf Razamon zu und taumelte fast vor Müdig­keit.

»Du hast es geschafft«, verbesserte der Berserker nüchtern. »Aber wenn du dir nicht allmählich ein bißchen Ruhe gönnst, wirst du den Rest des Dramas verpassen.«

Der Arkonide legte in einer unbewußten Bewegung die Hand auf die Stelle, an der der Zellaktivator unter seiner Brustplatte saß. Er spürte die kräftigen Impulse, die von dem Gerät ausgingen.

»Ich bin nur hungrig«, behauptete er. »Du Armer!« rief Kolphyr mit seiner hel­

len Stimme. »Koy, geh und hole Fleisch und Brot. Vergiß den Wein nicht! Ich werde At­lan trösten, bis du zurück bist.«

»Alles, nur das nicht!« stieß der Arkonide lachend hervor und streckte dem grünhäuti­gen Riesen die Hände abwehrend entgegen. »Bleib mir vom Leibe, Gloophy!«

Der Bera blieb stehen, und er brachte es auf irgendeine Weise fertig, sein ewig lä­chelndes Gesicht traurig wirken zu lassen.

Atlan beobachtete ihn, und ihm kam plötzlich zum Bewußtsein, wie unendlich einsam das Antimateriewesen sein mußte. Kolphyr hatte sich nie über sein Schicksal beklagt, aber der Arkonide wußte, daß der gutmütige Riese sich nichts sehnlicher wünschte, als zu seinen Artgenossen zurück­kehren zu können.

Er kam nicht dazu, diesen Gedanken wei­terzuverfolgen, denn Sigurd trat vor und reichte ihm schweigend einen Teller mit kal­tem Braten und frischem Fladenbrot, und gleichzeitig tauchte Bördo lautlos neben dem Arkoniden auf, einen Krug Wein in der Hand. Koy sah den Bera an und lächelte ver­

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legen. »Wir werden nicht gebraucht«, murmelte

der Trommler. »Wir hätten eher daran denken sollen«,

stimmte der Bera zu. »Willst du nicht end­lich diesen seltsamen Anzug ablegen, At­lan?«

Copasallior, der den gerade fertiggestell­ten Abschnitt des Parraxynts zu entziffern versuchte, drehte sich so heftig um, daß sein düsteres Gewand sich wie im Sturm blähte.

»Nein!« sagte er scharf. »Behalte es an, Atlan!«

Sekundenlang herrschte betretenes Schweigen.

»Meine Arbeit ist getan«, gab Atlan schließlich zu bedenken. »Ich brauche das Goldene Vlies nicht mehr – und mir wäre um vieles wohler, wenn ich das Ding end­lich wieder in irgendeiner abgelegenen Kammer wüßte.«

»Du darfst es nicht ablegen«, beharrte der Magier auf seiner Meinung. »Es wäre zu ge­fährlich für uns alle. Solange du das Golde­ne Vlies trägst, steht es auch unter deiner Kontrolle.«

Atlan verspürte keine Lust, jetzt mit dem Magier über diesen Punkt zu streiten.

»Hast du die Botschaft schon entziffert?« wollte er wissen.

Copasallior nickte langsam. »Ich werde sie euch vorlesen«, sagte er

leise, und es wurde sehr still in dem großen Raum. Copasallior blickte starr auf die ural­ten Schriftzeichen und begann zu lesen.

Der Text auf dem Parraxynt lautete: »Es ist ein Gesetz, daß das Universum, in­

telligentes Leben tragen soll. Damit solches Leben in möglichst großer Vielfalt entsteht, senden die, die jenseits der Materiequellen existieren, seit undenklichen Zeiten gewalti­ge Sporenschiffe aus, die unzählige Welten befruchten. Über die Sporenschiffe herr­schen die Zeitlosen, die die Diener derer von jenseits der Materiequellen sind. Die Zeitlo­sen, die man auch die Mächtigen nennt, säen das Leben in die Weiten des Universums und wachen über die weitere Entwicklung.

Wenn die Zeit gekommen ist, erwecken sie die höherentwickelten Formen zu intelligen­tem Leben, und damit große und kraftvolle Kulturen entstehen, bauen sie Sternen-schwärme, die durch das Universum reisen und bei vielen Völkern eine Erhöhung der Intelligenz bewirken.

Es gibt aber immer wieder Völker, die auf die Strahlung der Schwärme nicht anspre­chen. Einige davon zählen zu jenen Formen, die zunächst besondere Hoffnungen wecken. Um ihnen zu helfen, wurden die Dimensi­onsfahrstühle geschaffen.

Ich bin ein Zeitloser, der diesen Namen nicht mehr verdient. Die Uhr ist abgelaufen, der Ruf ergeht an andere, die die Nachfolge angetreten haben. Um nicht wie meine Ge­fährten in Einsamkeit und Wahnsinn zu en­den, habe ich mir diese Aufgabe gestellt: All jenen Völkern zu helfen, die sonst schon bald ihre Intelligenz wieder verlieren und untergehen müßten. Ich schuf die Inseln, de­ren Aufgabe es sein soll, alle betreffenden Welten aufzusuchen. Jede Insel verbreitet ei­ne Strahlung um sich, die der der Sternen-schwärme gleicht. Diese Strahlung wird je­doch in ihrer Stärke und speziellen Form den Bedürfnissen der Bewohner des betref­fenden Planeten angeglichen. Diese Anpas­sung ist Aufgabe der Schutzschirme, von de­nen die Inseln umgeben sind. Sobald nach einer Landung ein Eingeborener einen sol­chen Schirm durchschreitet, wird sein Ge­hirn sondiert, und schon wenige Stunden später beginnt die hilfreiche Strahlung auf die Bewohner des Planeten einzuwirken.

Darüber hinaus habe ich eine Vielzahl von intelligenten Wesen auf die Inseln geru­fen. Sie beherrschen Wissenschaft und Technik und helfen den bedrohten Völkern, Gefahren auszuschalten, Krankheiten zu überwinden und Fehlentwicklungen zu ver­meiden.

Bedrohte Völker gibt es nicht nur in je­nem Abschnitt des Universums, in dem ich mit meinen Gefährten Leben säte. Darum gab ich den Inseln die Möglichkeit, durch Zeit und Raum zu reisen, die entlegensten

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Gebiete zu erreichen und sogar in andere Di­mensionen vorzudringen. Die Aufgabe der Inseln wird erst dann erfüllt sein, wenn die Zeitlosen es gelernt haben, die Sternen-schwärme so zu bauen, daß ihre Strahlung auf alle Völker in gleicher Weise wirkt.

Ich befürchte allerdings, daß dieses Ziel erst nach meinem Tode erreicht sein wird. Damit die Inseln auch nach meinem körper­lichen Ende nicht meiner Kontrolle entglei­ten, werde ich meinen Geist auf sie vertei­len.«

Niemand sprach. Sie alle wußten mittler­weile, wie dieser letzte Satz gemeint gewe­sen war: Der Mächtige hatte sein Bewußt­sein in so viele Teile aufgespalten, wie es Dimensionsfahrstühle gab. In Form der »Seelen« hatte er dann die Inseln kontrolliert – bis zu dem Augenblick, in dem der Dunkle Oheim erkannte, welch großartige Waffe die Dimensionsfahrstühle darstellten. Der voll­ständige Geist des Mächtigen wäre vielleicht mit dem schwarzen Ring fertig geworden, die Seelen aber unterlagen ihm. Die Funkti­on, die die Inseln einst hatten erfüllen sollen, waren auf grausige Weise in ihr Gegenteil verkehrt worden. Anstatt fremden Völkern zu helfen, hatten die Dimensionsfahrstühle fortan unsagbares Leid über unzählige Pla­neten gebracht und nicht die Saat des Le­bens, sondern die des Bösen verbreitet und gepflegt. Mehr noch: All jene Völker, die die Hilfe der Inseln gebraucht hätten, waren durch die Schuld des Dunklen Oheims ihrem Schicksal überlassen worden.

»Er ist ein Ungeheuer«, murmelte Raza­mon düster. »Wenn man ihn nur zu fassen bekäme! Wo bleibt dieser Mächtige? Wa­rum rührt er sich nicht? Es heißt doch, daß er nach der Fertigstellung des Parraxynts be­reit sein wird, jeden Feind in die Flucht zu schlagen?«

Atlan starrte mit brennenden Augen auf das Parraxynt. Er hatte sich bestimmte Vor­stellungen davon gemacht, was nun gesche­hen sollte – wie jeder andere im Raum auch. Während er an dem Parraxynt gearbeitet hat­te, war immer wieder ein Bild vor seinem

inneren Auge aufgestiegen: Ein Nebel, der sich über dem metallenen Ring bildete und zu einer gigantischen, heldenhaften Gestalt wurde, die hinauseilte, um den Dunklen Oheim ein für allemal aus dem Weg zu räu­men.

Und nun war alles ganz anders. Kein Ne­bel entstand, man spürte nicht einmal die Anwesenheit einer mentalen Kraft. Das Par­raxynt war nichts als ein toter Gegenstand.

2.

Tiefe Stille herrschte, und diese Stille schien sich auszudehnen. Atlan glaubte spü­ren zu können, wie sie sich über das ganze Land verbreitete, über die Grenzen von Pthor hinausgriff und schließlich den gesam­ten Pseudoplaneten erfaßte. Es war die Stille des Todes.

Der Tag war vergangen, und nun standen wieder die Sterne der Milchstraße am Wölb­mantel. Der Riß in der schwarzen Hülle war konstant geblieben. Der Dunkle Oheim rühr­te sich nicht. Niemand wußte, was dieses Wesen jetzt dachte und welche Pläne es wälzte, aber Atlan war sicher, daß die un­heimliche Wesenheit schon bald zuschlagen würde.

Der Arkonide harrte unbeirrbar in dem Raum mit dem Parraxynt aus. Regungslos saß er auf dem Boden und starrte den Ring an. »Vielleicht haben wir etwas übersehen«, meinte Razamon, der dem Arkoniden Ge­sellschaft leistete. »Oder das Ding funktio­niert nicht mehr. Es ist so schrecklich viel Zeit vergangen … Ein Splitter davon könnte verlorengegangen sein und wir haben es gar nicht gemerkt, daß er fehlt. Oder es liegt daran, daß einige Inseln mit den dazugehöri­gen Seelen nicht mehr existieren.«

Atlan schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß die Lösung so ein­

fach ist«, sagte er leise. »Dieser Zeitlose hat für die Ewigkeit geplant. Das Parraxynt war einer der wichtigsten Faktoren in seiner Pla­nung. Also wird er auch dafür gesorgt ha­ben, daß man ihm nicht auf so einfache Wei­

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se einen Strich durch die Rechnung machen kann. Nein – entweder hindert ihn etwas daran, zu erscheinen, oder er will gar nicht kommen und uns helfen.«

»Wie kommst du darauf?« Der Arkonide zuckte die Schultern. »In dem Text, den Copasallior uns vorge­

lesen hat, wurde ziemlich deutlich angedeu­tet, daß einige Zeitlose dem Wahnsinn ver­fielen, nachdem ihre Aufgabe beendet war. Wie sicher können wir sein, daß das für ›unseren‹ Mächtigen nicht auch gilt? Die Seelen waren seit Millionen von Jahren dem Einfluß des Dunklen Oheims ausgesetzt. Wer weiß, was dadurch bewirkt wurde. Vielleicht hat der Mächtige jetzt gar nichts mehr dagegen einzuwenden, wenn seine In­seln mißbraucht werden. Oder er hat schlicht und einfach Angst vor einem Gegner, der si­cher auch den Geist eines Zeitlosen das Fürchten lehren könnte.«

»Wenn er nicht kommt, müssen wir uns etwas anderes ausdenken.«

Atlan lachte bitter auf. »Was denn, bitte schön?« fragte er sarka­

stisch. »Wir könnten die GOL'DHOR nehmen

…« »Die kann nichts gegen das Ungeheuer

ausrichten.« »Laß mich ausreden. Es gibt jetzt diese

Lücke in der schwarzen Hülle. Erinnere dich an Kil'Dhun. Der hat es schließlich auch ge­schafft, durch eine solche Lücke dem Bann­kreis des Dunklen Oheims zu entwischen.«

»Ja, und er hat nichts dadurch erreicht.« »Das lag nicht an ihm, sondern an den

Umständen. Die Alven waren noch ein pri­mitives Naturvolk. Selbst wenn Kil'Dhun sie nachhaltig hätte warnen können, wären sie nicht imstande gewesen, sich gegen den Oheim zu verteidigen.«

»Wer könnte das schon.« »Du siehst jetzt alles etwas zu schwarz!«

behauptete Razamon ruhig. »Wenn wir hin­auskommen, können wir die Völker der Milchstraße warnen, und die sind nicht so hilflos, wie es die Alven damals waren.«

»Nein«, murmelte Atlan nachdenklich. »Ich fürchte lediglich, daß all unsere Waffen gegen den Dunklen Oheim nutzlos sind. Aber du hast recht. Laß es uns versuchen.«

Sie verließen den Raum. Atlan atmete auf, als er die frische Luft

spürte, die von der großen Schleuse herein­wehte.

Draußen war es sehr dunkel. Am Horizont geisterten Lichterscheinungen über den Wölbmantel, aber das von ihnen ausgehende Licht reichte nicht aus, um die Umgebung der Pyramide zu erhellen, und auch die Ster­ne spendeten kaum Licht. Die mit leuchten­den Kristallkieseln bestreuten Wege bildeten ein verschlungenes Muster von glimmenden Fäden in dem düsteren Garten. Inmitten die­ser Finsternis erhob sich die golden leuch­tende GOL'DHOR wie ein gigantisches, strahlendes Insekt.

Atlan und Razamon blieben am Fuß der goldgläsernen Rampe stehen.

»Öffne bitte die Schleuse für uns, GOL'DHOR!« sagte Atlan.

»Ihr seid willkommen«, versicherte das Schiff und gab den Weg frei.

Sie schritten hinauf und traten in das In­nere des magischen Raumfahrzeugs. Die Wände waren klar wie Glas, dabei aber von einem strahlend hellen Gold. Atlan sah sich unauffällig um.

»Du fürchtest, daß die Magier dich auf­halten könnten«, stellte die GOL'DHOR fest.

»Ja, das stimmt«, gab Atlan freimütig zu. »Du bist ihr Eigentum. Sie werden nicht be­geistert sein, wenn du uns hinausbringst.«

»Sie haben keinen Grund, einzuschrei­ten«, behauptete die GOL'DHOR.

Atlan brauchte fast eine Sekunde, um den Sinn dieses Satzes zu erfassen.

»Du hast uns willkommen geheißen«, stieß er hervor. »Darum dachte ich, daß du mit unseren Plänen einverstanden bist. Du wußtest doch, was uns hierher geführt hat!«

»Ihr wollt Pthor verlassen«, stellte die GOL'DHOR fest. »Ihr hofft, mit meiner Hil­fe durch die Lücke in der schwarzen Hülle

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entkommen zu können. Seid ihr einmal draußen, so denkt ihr, dann wird es euch ge­lingen, die Völker dieser Galaxis zu warnen, und ihr nehmt weiter an, daß diese Völker mit Waffen, von denen man in diesem Land nie zuvor etwas gehört hat, den Dunklen Oheim vernichten werden.«

»So hatten wir uns das gedacht«, bekann­te Atlan.

»Und ihr wart beide dennoch von vorn­herein im Zweifel darüber, daß dieser Plan gelingen könnte.«

Atlan warf Razamon einen Blick zu. Der Berserker lächelte schwach und zuckte die Schultern.

»Erkläre uns, warum es nicht geht, GOL'DHOR!« forderte er.

»Ich bin das Erzeugnis eines negativen Magiers«, erwiderte das Schiff mit seiner freundlichen, sanften Stimme. »Seht euch meine Wände an – sie strahlen noch nicht wieder so hell, wie es im Ritiquian-System der Fall war, aber es hat sich in mir bereits wieder viel positive Energie gespeichert. Ich könnte die schwarze Hülle nicht durchsto­ßen, sondern würde beim Aufprall vergehen. Die Energie, die in mir steckt, und der Inhalt der schwarzen Kerne vertragen sich nicht miteinander.«

»Du mußt nicht sehr nahe an ihn heran«, behauptete Atlan. »Die Lücke ist groß ge­nug.«

»Du gehst davon aus, daß dem Dunklen Oheim die Energie fehlt, die Hülle komplett aufrechtzuerhalten. Das stimmt leider nicht. Er hat diese Lücke entstehen lassen, und er kann sie jederzeit wieder schließen.«

»Weißt du auch noch, warum er das getan hat?«

»Vielleicht um besonders dich zu quälen, vielleicht aber auch, um uns eine Falle zu stellen.«

»Sind das nicht alles nur Vermutungen?« fragte Atlan skeptisch. »Wir sollten es trotz­dem versuchen!«

»Meine eigene Existenz ist mir nicht so wichtig«, erwiderte die GOL'DHOR unge­wöhnlich ernst. »Aber ich werde es zu ver­

hindern wissen, daß ihr beide auf diese Wei­se Selbstmord begeht. Ihr habt keine Chan­ce, auf diesem Wege zu entkommen.«

»Und wenn wir dich zwingen?« »Das könnt ihr nicht«, behauptete eine an­

dere Stimme hinter dem Arkoniden. Atlan drehte sich blitzschnell um. Copa­

sallior stand hinter ihm. »Ich habe etwas Wichtiges entdeckt«, er­

klärte der Magier. »Du solltest es dir anse­hen.«

»Was ist es?« fragte Atlan mißtrauisch. »Ich habe mir das Parraxynt noch einmal

ganz genau angesehen und einen Text ge­funden, den wir bisher nicht beachtet haben. Ich bin erst durch ein paar winzige Zeichen in der letzten Botschaft darauf aufmerksam geworden. Ich weiß nicht, warum wir hier in der FESTUNG keine Reaktion des Mächti­gen feststellen konnten.«

Gegen seinen Willen war Atlan so faszi­niert, daß er den Gedanken an eine Flucht vom Verband der Dimensionsfahrstühle ver­gaß.

»Rede doch endlich!« sagte er ungedul­dig.

Copasallior lächelte flüchtig. »Du mußt es dir ansehen!« erklärte er.

»Ich bin mir meiner Sache zwar sicher, aber ich möchte auch deine Deutung dieser Zei­chen kennenlernen. Es wäre schlimm, wenn wir gerade jetzt einem Selbstbetrug meiner­seits auf den Leim gingen.«

»Du willst mich aus der GOL'DHOR locken, damit ich sie nicht zu einem Flug nach draußen verführen kann, wie?«

Copasallior schüttelte den Kopf. »Du bist der König von Pthor«, sagte er

leise. »Wenn du dich mit aller Gewalt um­bringen willst, kann ich dich nicht daran hin­dern, und was die GOL'DHOR betrifft, so ist es mir unmöglich, sie in diesem Fall zu be­einflussen. Das Schiff hat seine Entschei­dung bereits getroffen.«

Atlan sah zu dem Berserker hin, und Raz­amon zog die Schultern hoch.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Atlan«, murmelte er. »Ich will aber ehr­

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lich eingestehen, daß mich nur das Motiv beherrscht: Ich muß endlich etwas unterneh­men können.«

»Na gut«, sagte Atlan. »Aber wir gehen zu Fuß!«

Copasallior nickte nur und verschwand. »Ich glaube fast, er hat es ehrlich ge­

meint«, sagte Atlan, als sie die GOL'DHOR verließen.

Er hörte einen schwachen Laut und drehte sich überrascht zu Razamon um.

Der Berserker stand geduckt da, die Hän­de zu Fäusten geballt, mit glühenden Augen und verzerrtem Gesicht. Noch während der Arkonide hinsah, entspannte sich der Berser­ker. Er richtete sich langsam auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Du wirst es nicht glauben«, sagte er mühsam beherrscht. »Aber eben verspürte ich das dringende Bedürfnis, dir den Hals umzudrehen.«

»Ein Anfall von der alten Sorte?« erkun­digte sich Atlan bestürzt.

»Nein«, erwiderte Razamon zögernd. Er schlug gegen sein linkes Bein. »Es kam von dort. Etwas versucht, mich über den Zeit­klumpen zu beeinflussen.«

Der Dunkle Oheim! dachte Atlan. Irgend­wann mußte er ja auf mich aufmerksam wer­den, und zu Razamon hat er zweifellos einen direkten Draht. Aber warum greift er gerade jetzt ein? Das ist doch sinnlos!

Es sei denn, Copasallior hat wirklich et­was entdeckt, wandte der Logiksektor ein.

Der Arkonide verzichtete auf eine Ant­wort. Er legte den Kopf zurück und blickte zum Wölbmantel hinauf. Der Dunkle Oheim selbst war nicht zu sehen, aber Atlan konnte ihn sich nur zu genau vorstellen, wie er als gigantischer schwarzer Ring den Pseudopla­neten samt der Hülle aus ehemaligen schwarzen Kernen von Sonnen der Schwar­zen Galaxis umschlang.

»Du wirst es nicht schaffen, einen Keil zwischen uns zu treiben!« sagte er leise und drohend zu dem unsichtbaren Oheim.

Paß auf! schrie der Extrasinn, der nie in seiner Wachsamkeit nachließ und nicht

durch Emotionen beeinflußt wurde. Atlan reagierte wie ein Automat. Im Zu­

rückweichen sah er die Hand des Berserkers auf sich zukommen. Er schlug sie zur Seite, duckte sich unter der ebenfalls heranfliegen­den Linken hinweg, ließ sich fallen und empfing den nachsetzenden Pthorer mit ei­nem Tritt in die Magengegend. Razamon taumelte zurück, und Atlan ließ ihm keine Zeit, sich wieder zu fangen, sondern sprang auf und betäubte den Berserker mit einem Fausthieb gegen die Schläfe.

»Tut mir leid, mein Freund!« flüsterte er, als er schweratmend über dem bewußtlosen Pthorer stand. »Aber es ging wirklich nicht anders.«

Er sah zwei Dellos auf dem Weg auftau­chen, der zur GOL'DHOR führte. Es waren menschliche »Modelle«, keine Spezialanfer­tigungen. Sie tauchten wie auf ein Stichwort auf, und das machte ihn mißtrauisch, aber schließlich winkte er sie doch heran.

»Bringt ihn in die große FESTUNGsPyra­mide!« bat er die Dellos. »Gebt gut auf ihn acht. Er ist zur Zeit nicht vollständig Herr seiner Sinne.«

Die Dellos sahen zu ihm auf und nickten freundlich, hoben den Berserker hoch und zogen davon. Atlan sah ihnen nach, bis sie hinter einigen Büschen verschwanden.

»Jetzt bist du alleine und mußt dich ent­scheiden«, sagte die GOL'DHOR plötzlich, und Atlan war überrascht, daß das Schiff sich noch einmal meldete. »Du darfst nicht länger zögern. Du hast schon viel zu viel Zeit verloren.«

Der Arkonide drehte sich schweigend um und schritt davon.

Er betrat wenig später den Raum mit dem Parraxynt und fand Copasallior vor dem me­tallenen Ring. Der Magier kauerte halb be­sinnungslos am Boden, die Augen starr auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Atlan schüttelte den Sechsarmigen, erzielte jedoch nicht die leiseste Reaktion.

Ratlos sah er sich um und entdeckte end­lich eine Stelle am Parraxynt, die aussah, als hätte sie jemand gerade erst provisorisch

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blankgerieben. Er beugte sich vor, um die Zeichen zu entziffern. Zu seiner Überra­schung gelang es ihm fast sofort, und gleich­zeitig begann er sie zu begreifen.

Copasallior erwachte mit einem Seufzer, als Atlan die Botschaft gerade zum zweiten Mal zu studieren begann.

»Wie lange weißt du es schon?« fragte er den Weltenmagier.

»Ich habe es dir gesagt, sobald ich es her­ausgefunden hatte«, erklärte Copasallior stöhnend.

»Warst du dort? Bist du deshalb in diesem Zustand?«

Copasallior nickte bedrückt. »Ja«, murmelte er. »Ich war dort, und ich

gäbe etwas darum, nicht wieder hinzumüs­sen. Es ist schrecklich.«

Atlan nickte. »Uns bleibt aber nichts anderes übrig«,

murmelte er. »Das gilt für mich, nicht aber für dich. Du

bist kein Magier, und darum geht es dich im Grunde genommen nichts an. Du kannst dich heraushalten.«

»Du hast mich vorhin erst wieder darauf aufmerksam gemacht, daß ich der König von Pthor bin«, sagte Atlan spöttisch. »Was ist das für ein König, der vor einem simplen Geist die Flucht ergreift?«

Der Weltenmagier richtete sich schwan­kend auf und stand dann kerzengerade vor dem Arkoniden. Sein düsteres Gewand bläh­te sich, als das Ventilationssystem heftiger zu arbeiten begann.

»Es ist kein simpler Geist!« sagte er grob. »Du wirst das sehr schnell begreifen. Willst du wirklich mitkommen?«

»Ja!« Copasallior zuckte die Schultern und

streckte dem Arkoniden die Hand hin. Atlan wollte sie ergreifen, zögerte aber im letzten Augenblick.

»Hast du es dir anders überlegt?« fragte der Weltenmagier hoffnungsvoll.

»Nein«, murmelte Atlan. »Aber es gibt je­manden, den wir mitnehmen sollten.«

»Razamon«, riet Copasallior, und Atlan

nickte. »Ich warne dich! Er wird den Ver­stand verlieren.«

»Oh nein. Du wirst ihn davor beschüt­zen.«

»Ich habe genug damit zu tun, mich selbst vor dem Schlimmsten zu bewahren«, ge­stand Copasallior kleinlaut ein.

»Was ist mit Koratzo?« Der Weltenmagier lachte verzweifelt auf. »Er steht an der Schwelle zum Wahn­

sinn!« rief er. »Du wirst niemanden finden, der den Berserker beschützen könnte. Laß ihn hier, in der FESTUNG, wo er sicher ist!«

»Er ist hier womöglich in noch größerer Gefahr«, erwiderte Atlan ruhig.

Copasallior starrte den Arkoniden unver­wandt an.

»Du willst es also so«, sagte er schließlich leise. »Bist du dir der Gefahren wirklich be­wußt?«

»Bist du es?« Copasallior senkte betroffen den Kopf. »Niemand weiß, was noch geschehen

wird«, flüsterte er. »Du hast recht, Atlan. Laß uns den Berserker holen.«

3.

»Warum ausgerechnet hier?« fragte sich Atlan, als er neben Copasallior am Rand der Großen Barriere von Oth materialisierte. »Welchen Sinn soll das haben? Was stellen diese Berge dar?«

Es gab niemanden, der ihm diese Fragen zu diesem Zeitpunkt hätte beantworten kön­nen. Es gab lediglich die kurze Botschaft auf dem Parraxynt.

»Der Geist des Mächtigen wird in der Barriere von Oth erwachen«, lautete sie, wenn man sie auf einen einfachen Nenner brachte. Der Rest war mystisches Beiwerk. Die Barriere aber mit ihren schroffen Gip­feln und finsteren Schluchten war eine Rea­lität, und Atlan hatte sich oft genug den Kopf darüber zerbrochen, was an diesen Bergen so Besonderes sein sollte. Er kannte die Vorstellungen, die die Magier mit

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12 Marianne Sydow

»ihren« Bergen verbanden. Darüber hinaus wußte er, daß schon weit früher Wesen, die der Magie zugetan waren, diese Berge be­völkert hatten. Es gab einladendere Orte in Pthor, an denen man sich hätte ansiedeln können, noch dazu dann, wenn man über ein gewisses Maß an Macht verfügte. Aber die Magier – und für ihre Vorgänger traf das of­fensichtlich ebenfalls zu – hatten niemals den Versuch unternommen, einen bequeme­ren Lebensraum zu erobern und das unwirk­liche Gebirge zu verlassen. Sie hatten sogar im Gegenteil die Herren der FESTUNG im Stich gelassen, als sie glauben mußten, daß man sie aus diesem Gebiet ausquartieren wollte.

Warum? Die Magier behaupteten, daß die Berge

von Oth ihnen ihre Unsterblichkeit gaben. Nur hier, so sagten sie, konnten sie optimale Arbeit leisten und sich im vollen Umfang der magischen Wissenschaften und Techni­ken bedienen.

Gerade jetzt, da er wußte, auf welcher Ba­sis diese magischen Künste beruhten, war es ihm doppelt unverständlich, daß die Magier sich auf das Gebirge im Süden von Pthor be­schränkten. Es war einfach nicht einzusehen, warum sie nicht an jedem beliebigen ande­ren Ort im Universum auf genauso wirksa­me Weise zu arbeiten vermochten.

Bei der Geburt eines Universums gab es zunächst unendlich viel Energie und unend­lich wenig Materie. Dann setzte der Prozeß der Entropie ein. Bildlich gesprochen, kühlte das Universum sich ab und die Energie ge­fror zu Materie. Wenn alle freie Energie ver­braucht und in Form von Materie gebunden war, dann »starb« das Universum. Das war eine Theorie, die Atlan schon viele Jahrtau­sende zuvor im Großen Imperium von Ar­kon gehört hatte.

Für die Magier war es keine Theorie. So­lange ein Universum »lebt«, sagten sie, gibt es auch diese freie, noch nicht »gefrorene« Energie – und sie bildete die Basis all jener seltsamen Begebenheiten, die die Magier be­wirkten. Wenn man diese freie Energie zu

formen und zu benutzen verstand, dann konnte man Gegenstände ohne Zeitverlust von einem Ort zum anderen versetzen, wie Copasallior es tat, oder Schallwellen durch Zeit und Raum senden, wie es Koratzos Spe­zialität war. Wie die Bewohner von Oth die­se Energie nutzten, wußte Atlan nicht. Es schien sich zum überwiegenden Teil um einen geistigen Vorgang zu handeln.

Die »freie« Energie aber stand überall in annähernd gleichem Umfang zur Verfügung – speziell innerhalb von Pthor konnte es in dieser Beziehung keine großen Unterschiede geben. Koratzo hatte dem Arkoniden erklärt, daß die Berge von Oth in besonders hohem Maße fähig waren, diese Energie zu spei­chern, und daß sich daraus ein Abhängig­keitsverhältnis zwischen den Magiern und dem Gebirge entwickelt hatte. Das klang einleuchtend, war es aber nicht mehr im sel­ben Maß, sobald man sich den Gebirgszug im Süden von Pthor genauer ansah. Es gab, geologisch gesehen, keinen vernünftigen Grund, warum gerade dieses Gebirge so be­sonders dazu geeignet sein sollte, Magier zu beherbergen.

Atlan schob diese Gedanken beiseite und wandte sich an Copasallior, der regungslos neben ihm auf einem niedrigen, sandigen Hügel stand. »Wie geht es weiter?« fragte der Arkonide.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Copasallior bedrückt. »Ich fürchte, wir werden zu Fuß weitergehen müssen. Das Risiko ist mir zu hoch. Als ich vorhin zum Crallion wollte, bin ich statt dessen am Skatha-Hir gelandet, und auch alle weiteren Versuche sind fehl­geschlagen.«

»Dann müssen wir ihn tragen«, stellte At­lan fest und deutete auf Razamon. Der Ber­serker war immer noch bewußtlos.

»Ich kann ihn immer noch in die FE­STUNG zurückbefördern«, bot Copasallior an.

»Gib dir keine Mühe«, bat Atlan spöt­tisch.

»Razamon bleibt bei uns, und wenn ich ihn durch die ganze Barriere schleppen müß­

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te. Es ist mir zu gefährlich, ihn jetzt hier draußen zu lassen.«

»Gefährlich für wen?« »Für ihn.« Copasallior zuckte die Schultern. »Da drin erwartet ihn weit schlimmeres«,

sagte er und deutete auf die Gipfel der Bar­riere.

»Das bleibt abzuwarten!« murmelte At­lan, lud sich den Berserker auf die Schultern und stapfte den Hang hinab.

An jener Linie, an der der von dem großen Knoten beschützte Bereich geendet hatte, änderte sich das Gelände so abrupt, daß es geradezu unheimlich, ja, irreal wirk­te. Wie mit dem Messer geschnitten endete hier die Wüste, und saftiges Gras sproß aus dem Boden.

Ein Windstoß wirbelte dem Arkoniden ei­ne Ladung Staub ins Gesicht und er schritt schneller aus. Er sah das frische, grüne Gras vor sich, und ein unstillbares Verlangen, der Wüste zu entrinnen, ergriff von ihm Besitz. Er vergaß das Gewicht, das auf seinen Schultern ruhte, und rannte die letzten Meter des Hügels hinab.

»Warte!« hörte er Copasallior hinter sich rufen. »Wir müssen vorsichtig sein!«

Er achtete nicht darauf. Mit einem weiten Satz übersprang er die Grenze – und landete in einer fremden, erschreckenden Welt.

Das Gras war nicht länger grün, sondern grau und die einzelnen Halme glichen den grünen, schleimigen Fangarmen unzähliger Polypen. Diese Fangarme griffen nach ihm und schlangen sich um seine Knöchel. Er spürte ein unerträgliches Brennen.

»Es ist alles nur Einbildung!« sagte er laut zu sich selbst. »Ich stehe auf einer Wiese. Das Gras kann mir nichts anhaben.«

Die Fangarme kümmerten sich nicht dar­um. Sie ringelten sich weiter um die Knö­chel des Arkoniden. Selbst das Goldene Vlies konnte sie nicht aufhalten.

Atlan stürmte vorwärts, aber die Halme hielten ihn unerbittlich fest, so daß er vorn­über in das schreckliche Gras stürzte. Das Goldene Vlies reagierte ohne sein Zutun.

Der Helm schloß sich vor seinem Gesicht. Gleichzeitig veränderte sich die Landschaft vor seinen Augen zum zweitenmal. Er sah, daß er von einer graubraunen Masse umge­ben war, die von dünnen, smaragdgrünen Li­nien durchzogen wurde. Eine dieser Linien war nur wenige Meter weit von ihm entfernt.

Er kroch darauf zu. Die Schmerzen spürte er immer noch, aber sie waren jetzt einiger­maßen erträglich. Als er den smaragdgrünen Streifen erreichte, schwanden sie vollends. Atlan blieb sekundenlang liegen und atmete tief durch. Dann erst wurde ihm bewußt, daß er Razamon verloren hatte.

Erschrocken richtete er sich auf und sah Copasallior, der am Ende einer der grünen Linien stand und dem Berserker aufhalf. Razamon war offensichtlich gerade erst aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht. Er stand un­sicher auf den Füßen und sah sich um, als könne er noch gar nicht begreifen, wo er sich befand.

»Bleib, wo du bist!« rief Copasallior dem Arkoniden zu.

»Was ist das hier?« wollte Atlan wissen. »Eine Falle? War sie für uns bestimmt?«

»Ganz sicher nicht«, antwortete Copasal­lior, während er Razamon mit sich zog. »Es ist nur die Hinterlassenschaft eines Magiers, der vor Hunderten von Jahren hier gelebt hat.«

Er erreichte den Arkoniden und deutete auf das seltsame, graue Gras.

»Das alles starb mit ihm, und niemand hat seither etwas davon bemerkt. Jetzt kommt es wieder zum Vorschein.«

»Aber warum?« »Ich weiß es nicht. Laß uns weitergehen,

ehe noch andere Dinge aus diesem Boden hervorkriechen. Sistako war ein Pflanzen­magier von der üblen Sorte. Sein Erbe ist dementsprechend unerfreulich.«

Atlan warf Razamon einen fragenden Blick zu. Der Berserker zuckte die Schul­tern.

»Mir geht es gut«, behauptete er. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich versucht, dich umzubringen, nicht wahr?«

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»Ja«, antwortete Atlan lakonisch. »Unter diesen Umständen wäre es besser

gewesen, mich in der FESTUNG zu lassen.« »Das glaube ich nicht. Etwas hatte dich in

seine Gewalt bekommen. Ich möchte nicht, daß du in der Nähe des Parraxynts einen sol­chen Anfall erleidest. Wer weiß, was dann alles geschehen könnte.«

»Jetzt sind wir in der Barriere?« Atlan nickte. »Wenn wir Glück haben, bleibst du hier

vor diesem Einfluß bewahrt.« »Möglich wäre es«, murmelte Razamon.

Er sah beim Gehen nachdenklich auf sein linkes Bein hinab. »Der Zeitklumpen war an dem ganzen Durcheinander schuld. Ich konnte spüren, wie etwas mich durch ihn be­einflußte.«

Copasallior ging vor ihnen her, sich weit­gehend an die grünen Streifen haltend, aber auch ab und zu, wenn der Weg allzu unre­gelmäßig verlief, mit seinen magischen Kräften eingreifend. Dann entstand wie durch Geisterhand ein neuer grüner Streifen vor ihnen.

»Was ist hier passiert?« fragte Razamon leise.

Atlan berichtete, was er bereits erfahren hatte. Viel war es nicht, und Razamon sah sich beklommen um.

»Mir ist dieses Gebirge unheimlich«, ge­stand er.

Copasallior wies auf einen spitzen Felsen. »Dort ist das Zentrum«, sagte er. »Paßt

jetzt gut auf, daß ihr immer dicht hinter mir bleibt und nicht vom Weg abkommt.«

Sie schritten schweigend hinter ihm her, bis das graue Gras hinter ihnen lag. Als sie sich umdrehten, sahen sie nur eine scheinbar idyllische Wiese. Sie hatten keine Spuren in dem hohen Gras hinterlassen – das war der einzige Hinweis auf die Existenz der Falle.

»Hoffentlich treffen wir nicht allzu häufig auf solche Dinge«, meinte Atlan besorgt.

»Wir werden sehen«, murmelte Copasalli­or abwesend.

Atlan faßte ihn schärfer ins Auge. Der Magier blickte starr auf die Umge­

bung. Es war schwer, allein an Copasalliors Gesicht etwas ablesen zu wollen, denn er be­saß keine allzu reiche Mimik, und seine Ba­saltaugen waren ohnehin ausdruckslos. Den­noch hatte Atlan das sehr bestimmte Gefühl, daß etwas mit dem Magier nicht stimmte.

»Was ist los?« fragte er. Copasallior reagierte nicht. Erst als Atlan

ihn an der Schulter rüttelte, zuckte er zusam­men. Dann schüttelte er Atlans Hand beina­he wütend ab.

»Spürst du irgend etwas?« fragte Atlan beharrlich.

»Nein!« erwiderte Copasallior schroff. »Wir müssen weiter. Hier draußen werden wir nichts erfahren.«

Er marschierte so schnell davon, daß die beiden Männer Mühe hatten, ihm zu folgen.

Atlan glaubte, in dem vor ihm liegenden Berg den Gnorden erkennen zu können. Ganz sicher war er sich seiner Sache nicht. Wolken und Nebelschwaden krochen an den steilen, felsigen Hängen herab und rissen nur selten für wenige Augenblicke hier und da auf.

Der Weg wurde immer beschwerlicher. Atlan, der bei jeder Gelegenheit nach allen Seiten Ausschau hielt, glaubte, den gegen­überliegenden Berg als den Crallion identifi­zieren zu können. Das aber bedeutete, daß sie sich tatsächlich am Gnorden befanden und somit auf dem Wege zu Glyndiszorn, dem Knotenmagier, waren. Da dies der Mann war, der sich darauf verstand, Dimen­sionstunnel zu errichten, magische »Knoten« zu flechten, in denen man die gan­ze Barriere verstecken konnte, oder sogar in die Zukunft zu sehen, schöpfte der Arkonide keinerlei Verdacht – bis Copasallior plötz­lich erschöpft zu Boden sank.

»Ich weiß nicht mehr, wo wir sind!« sagte der Magier kläglich. »Ich habe völlig die Orientierung verloren.«

Atlan hockte sich neben ihn. »Wir sind am Gnorden«, erklärte er ruhig.

»Wir werden Glyndiszorn bald erreicht ha­ben. Warum wolltest du zu ihm?«

»Ich hatte nicht die Absicht, ihn aufzusu­

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chen«, flüsterte Copasallior entsetzt. »Ich wollte euch den Crallion hinaufführen. In meinen Höhlen hätte ich die Möglichkeit ge­habt, mich mit jedem beliebigen Magier in Verbindung zu setzen.«

»Halb so schlimm«, tröstete Atlan. »Der Knotenmagier wird uns weiterhelfen.«

»Wenn er das noch tun kann!« Atlan sah den Weltenmagier ratlos an. Er

hatte Copasallior noch nie in einem solchen Zustand erlebt.

»Verlaufen kann sich jeder mal«, bemerk­te Razamon. »Das ist doch nicht tragisch. Man muß nur versuchen, das Beste daraus zu machen. Wir sind schon so weit gegan­gen, daß es unsinnig wäre, jetzt noch umzu­kehren. Bist du sicher, daß es nicht mehr weit bis zu diesem Knotenmagier ist?«

Atlan zuckte die Schultern. »Ich kenne mich hier nicht gut genug

aus«, murmelte er und sah Copasallior fra­gend an.

Der Weltenmagier sah sich um. Man spürte förmlich, wie er all seine Kräfte auf das eine Ziel konzentrierte: Den eigenen Standort zu bestimmen. Es gelang ihm nicht. Er schüttelte mutlos den Kopf und barg das Gesicht in zwei von seinen Händen.

»Komm!« flüsterte Razamon dem Arko­niden zu und zupfte an Atlans Ärmel. Der Arkonide zögerte, wandte sich dann aber ab und folgte dem Berserker zu einer Stelle, an der das Rauschen eines Baches ihre leise Unterhaltung übertönen würde.

»Was jetzt?« fragte Razamon. »Mir scheint, der alte Bursche hat tatsächlich den Überblick verloren. Wir wissen zu wenig von der Barriere. Wenn wir auf eigene Faust weitersuchen, verlieren wir zu viel Zeit.«

»Das ist mir klar«, murmelte Atlan. »Wir wissen ja nicht einmal, wo sich die Suche lohnt und wonach wir Ausschau halten müs­sen. Aber ich nehme an, daß Copasallior sich bald wieder erholt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Er läßt sich doch völlig gehen. Verdammt, der Kerl lebt seit Tausenden von Jahren in diesem Gebirge. Wie ist es möglich, daß er da so

restlos versagt – ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankommt.«

»Er hatte es niemals nötig, sich Wege auf die herkömmliche Weise einzuprägen.«

»Na und? Was hat das mit der Tatsache zu tun, daß er sich jetzt verlaufen hat?«

»Er besitzt ein phänomenales Orientie­rungsvermögen«, sagte Atlan langsam. »Du weißt, daß Copasallior, Koratzo und ich mit der GOL'DHOR im Korsallophur-Stau her­umgekurvt sind. Der Weltenmagier wußte immer, wo wir uns befanden und wo Pthor zu suchen war.«

»Ich halte die Wette!« sagte Razamon dü­ster.

»Irgend etwas geschieht in der Barriere«, fuhr Atlan unbeirrbar fort. »Etwas, das nur auf die Magier wirkt und von dem wir beide nichts merken. Copasalliors Orientierungs­vermögen hängt mit seinen magischen Fä­higkeiten zusammen. Er behauptete zwar, sie jetzt nur nicht anwenden zu wollen, weil er gewisse Gefahren für uns sieht, aber ich habe den Verdacht, daß er sich eigentlich aus einem ganz anderen Grunde dazu be­quemt, zu Fuß zugehen.«

»Du meinst, seine Magie läßt ihn im Stich?«

Atlan nickte ernst. »Ihn – und andere offenbar auch.« »Koratzo?« »Richtig. Er hat Opkul bei sich, der uns

auf Schritt und Tritt beobachten kann, und er selbst kann seine Stimme mühelos über die Grenzen von Pthor hinaussenden. Wenn er wüßte, wo wir uns befinden und wie es um den Weltenmagier steht, hätte er sich längst gemeldet. Da er das nicht tut, müssen wir davon ausgehen, daß er uns nicht hört und auch Opkul uns nicht zu sehen vermag. Und das wiederum bedeutet, daß mit großer Wahrscheinlichkeit auch alle anderen Ma­gier mit jenen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die wir jetzt bei Copasallior beobach­ten können.«

»Damit erhebt sich abermals die Frage, was wir tun sollen.«

Der Arkonide sah zweifelnd an dem stei­

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len Hang hinauf. »Wenn das wirklich der Gnorden ist«,

murmelte er, »dann finden wir ein kurzes Stück unterhalb des Gipfels die Behausung des Knotenmagiers. Dort gibt es, wie bei je­dem anderen Magier auch, eine Zelle der freien Gedanken – etwas wie ein Telefon. Aber ich weiß nicht, wie man sich dieser Einrichtung bedient.«

»Es ist noch nicht heraus, daß es Glyndis­zorn ebenfalls getroffen hat.«

»Oh doch, ganz sicher. Er hätte dem Wel­tenmagier längst geholfen. Für ihn wäre es ein Kinderspiel, uns zum Crallion zu brin­gen.«

»Also doch lieber zurück?« Atlan dachte einen Augenblick lang über

das Problem nach. »Nein«, entschied er schließlich. »Wir

steigen weiter hinauf. Erstens ist es egal, wo wir anfangen, und zweitens verlasse ich mich darauf, daß Copasallior zumindest im Unterbewußtsein immer noch auf die alte Weise reagiert. Auch wenn er uns nicht un­bedingt auf diesen Berg führen wollte – viel­leicht ist es ganz gut, daß wir diesen Weg eingeschlagen haben. Etwas anderes macht mir weit mehr Sorgen.«

»Ich kann es mir denken«, sagte Razamon leise. »Der Geist des Mächtigen. Die Verän­derungen hier in Oth könnten darauf hindeu­ten, daß er bereits erwacht ist.«

»Oder wenigstens kurz vor dem Erwa­chen steht«, nickte Atlan. »Allmählich frage ich mich, ob ich nicht die ganze Zeit hin­durch Scheuklappen getragen habe. Was, wenn wir eine noch größere Gefahr als den Oheim heraufbeschworen haben?«

»Er kann nicht so schlimm sein. Denke daran, welchem Ziel die Dimensionsfahr­stühle dienten.«

»Das liegt Jahrmillionen weit in der Ver­gangenheit«, gab der Arkonide ernst zu be­denken. »Inzwischen kann sich vieles verän­dert haben. Was auch geschieht – ich möch­te, wenn es irgend geht, mit diesem Geist sprechen können, ehe er endgültig losgelas­sen wird.«

»Und wenn er das schon ist?« Atlan sah nachdenklich zum Wölbmantel

hinauf. »Nein«, murmelte er. »Dann wäre er si­

cher nicht mehr hier. Irgend etwas hält ihn auf. Wir müssen herausbekommen, was das ist.«

Razamon blickte auf und machte eine kur­ze, warnende Geste.

»Wir bekommen Besuch«, sagte er leise. Der Arkonide drehte sich um und sah den

Weltenmagier auf sich zukommen. Copasal­lior wirkte wieder ganz normal. Nur wenn man sehr genau hinsah, erkannte man die ungeheure Spannung, unter der er stand. Es schien ihn viel Kraft zu kosten, sich aufrecht und gerade wie sonst zu halten.

»Du solltest dich noch ein wenig ausru­hen«, sagte Atlan, aber Copasallior hob ab­wehrend eine seiner sechs Hände.

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er. »Folgt dem Weg, den wir bis jetzt gegangen sind. Er führt zu einer Steilwand. Ein Kamin, der leicht zu durchklettern ist, führt direkt zu Glyndiszorns Luftschiff hinauf. Der Knoten­magier muß einen neuen Knoten flechten, einen für die ganze Barriere.«

Copasallior verstummte. »Warum?« fragte Atlan drängend.

»Weltenmagier, du mußt mir sagen, was hier vorgeht! Welchem Zweck soll der große Knoten dienen? Wen soll er schützen – euch oder die Pthorer? Oder gibt es noch eine dritte Partei? Rede doch endlich!«

»Das hat keinen Sinn«, bemerkte Raza­mon. »Sieh ihn dir doch an.«

Atlan nickte seufzend. Copasallior sank langsam auf einen großen Stein. Er blieb re­gungslos sitzen und starrte vor sich hin.

»Das hat nichts mehr mit Orientierungs­schwierigkeiten zu tun«, stellte der Arkonide grimmig fest. »Wenn ich nur wüßte, wie wir ihm helfen können!«

»Wir können nichts anderes tun, als ihn mitzunehmen und auf ihn aufzupassen«, murmelte der Berserker. »Ob das hilft …«

Er zuckte die Schultern und betrachtete zweifelnd den regungslosen Weltenmagier.

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»Uns bleibt nichts anderes übrig, als es auszuprobieren«, nickte Atlan. »Hierlassen können wir ihn jedenfalls nicht. Komm, faß mit an, und dann auf zu Glyndiszorn.«

4.

Copasallior erwies sich als ausgesprochen bequemer und geduldiger Patient. Er begehr­te niemals auf und gehorchte jedem Wink, ja, er schien unsagbar erleichtert darüber zu sein, daß man ihm alle Entscheidungen ab­nahm. Dennoch war seine bloße Anwesen­heit belastend.

Sie brauchten noch drei Stunden, um die Steilwand zu erreichen. Dann aber war es zu dunkel, um nach dem Einstieg zum Kamin zu suchen.

Copasallior war so müde, daß er auf der Stelle in sich zusammensank. Auch Raza­mon konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und sogar Atlan, der durch seinen Zellaktivator mit sehr wenig Schlaf auskam, hatte das dringende Bedürfnis, sich für ein paar Stunden ausstrecken zu dürfen.

Er schlief sofort ein und träumte einen verrückten Traum. Er träumte, daß er Pthor mit der GOL'DHOR verlassen hatte und einen riesigen Schatten über dem Land sah. Während er noch hinstarrte, nahm der Schat­ten Formen an und wurde zu einer giganti­schen Katze, die immer weiter wuchs, bis ihr Rücken die Sterne berührte. Unter den Pranken des gewaltigen Tieres zerbrachen Pthor und viele andere Dimensionsfahrstüh­le wie Eierschalen, die Barriere von Oth aber blieb unversehrt und trieb davon, bis die Katze dieses Fragment verschlang, wäh­rend der Dunkle Oheim sich wie eine pech­schwarze Krone um den Kopf des Ungeheu­ers legte. Die Katze stieß ein Fauchen aus, das bis ans Ende des Universums drang, und zerriß den Oheim mit einem einzigen Pran­kenhieb. Dann löste sie sich in einem mäch­tigen Sprung von dem Planeten der Dimen­sionsfahrstühle, wobei die letzten Inseln zer­brachen, schwang sich hinaus in die Unend­lichkeit und hinterließ eine Spur, die aus er­

loschenen Sonnen und zertrümmerten Plane­ten bestand.

Atlan erwachte schweißgebadet und hatte sekundenlang Mühe, sich in die Wirklichkeit zu finden. Dann endlich wurde ihm klar, woher das grauenhafte Geräusch stammte, das er im Traum gehört hatte.

Fassungslos saß er in der Finsternis und beobachtete die winzigen, blauen Flammen, die über alle Gipfel von Oth liefen. Sie tanz­ten an den Hängen hinab, und ihr Licht ver­teilte sich auf ihre Umgebung.

Aber die Lichter waren nicht alles. Ge­räusche kamen dazu. Ein ständiges Fauchen, Dröhnen und Heulen lag in der Luft. Zuerst brachte der Arkonide diese Geräusche mit den Flammen in Verbindung, dann aber er­kannte er, daß die Berge selbst diese schrecklichen Laute erzeugten. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Er hörte das Donnern, mit dem Felsbrocken in die Tiefe stürzten, und die Chance, daß er den näch­sten Morgen erleben würde, erschien ihm als äußerst gering.

Razamon kroch auf ihn zu und deutete die Steilwand hinauf.

»Ich glaube nicht, daß wir da hinaufgehen werden!« gestand er, und er mußte schreien, um sich verständlich machen zu können. »Wir sollten sehen, daß wir von hier ver­schwinden!«

»Sinnlos!« rief Atlan zurück. »Die Gefahr ist überall gleich groß. Außerdem scheint die Steilwand besonders stabil zu sein.«

Gemeinsam schleppten sie Copasallior an einen geschützteren Platz. Der Magier wach­te nicht auf. Für einen furchtbaren Augen­blick hatte Atlan das Gefühl, einen Toten zu tragen, aber als er den Sechsarmigen unter­suchte, konnte er nur eine tiefe Ohnmacht feststellen.

Bis zum Morgengrauen saßen Atlan und Razamon neben dem Magier und warteten sehnsüchtig auf den Augenblick, in dem es hell wurde. In diesen endlosen Stunden wa­ren sie fest entschlossen, der Barriere von Oth den Rücken zu kehren.

Die ganze Nacht hindurch ließen die Ber­

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ge von Oth ihr eigenes, schauerliches Ster­belied hören, und die blauen Flammen tanz­ten auf den Gipfeln. Dann kam der Morgen, und es wurde immer stiller, bis schließlich kein Laut mehr zu vernehmen war.

»Das ist unnatürlich!« flüsterte Razamon schaudernd. »In der Morgendämmerung müßten doch Tiere am Werk sein, und in dieser Höhe müßte der Wind wehen. Aber ich kann ihn nicht hören. Ich höre überhaupt nichts mehr, außer meiner eigenen Stimme.«

Wie auf ein Stichwort erklang ein ohren­betäubendes Krachen. Funken sprühten auf, wo Fels auf Fels traf. Gesteinssplitter flogen den beiden Männern um die Ohren. Sie war­fen sich instinktiv zu Boden und deckten Copasallior gegen die heimtückischen Ge­schosse, so gut es ging.

Als endlich Ruhe eintrat und die Stille wieder um sich griff, stand Atlan energisch auf.

»Das reicht!« sagte er. »Auch wenn es noch fast dunkel ist – wir müssen diesen Platz verlassen.«

»Gut gebrüllt, Arkonide«, murmelte Raz­amon spöttisch. »Aber wie – und wohin? Wir haben den Kamin noch nicht gefun­den.«

Atlan zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann ließ er sich neben Copasalli­or auf die Knie sinken.

Er hatte keine Ahnung, wo bei dem Ma­gier die entsprechenden Nervenzentren la­gen, aber er verließ sich auf sein Glück und auf die Tatsache, daß Muskeln und Nerven auf gleichwertige Reize auch gleichartig rea­gieren. Er spürte zwei kritische Punkte auf, und als er sie vorsichtig zu massieren be­gann, erhöhten sich Atemfrequenz und Puls­schlag des Magiers. Wenig später wachte Copasallior auf. Er öffnete seine seltsamen Augen und sah Atlan unverwandt an.

»Wo ist der Kamin?« fragte der Arkonide eindringlich. »Wir haben keine Zeit, lange nach ihm zu suchen!«

Copasallior hob in einer schwachen, aber unmißverständlichen Geste die Hand, und Atlan wich zurück.

»Das kannst du jetzt gar nicht«, behaupte­te er. »Deine Magie funktioniert nicht so recht, solange die Barriere sich in diesem Zustand befindet. Du kannst mich nicht ein­fach zur Eisküste oder an ein anderes entle­genes Ziel versetzen!«

»Ich wollte, ich könnte es!« flüsterte der Magier. »Begreifst du nicht, daß ihr in Ge­fahr seid?«

»Leben ist lebensgefährlich«, sagte Atlan lächelnd. »Das hat ein Terraner gesagt – vor sehr langer Zeit. Paß auf, Copasallior. Du hast viel verschlafen. Die Berge haben ge­bebt, und ganz in der Nähe ist irgend etwas in sich zusammengefallen. Wenn es der Ka­min war, dann müssen wir einen neuen Weg suchen …«

»Das ist nicht schwer. Am Ende der Steil­wand beginnt eine Geröllhalde. Ihr braucht nur hinaufzugehen.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« fragte Razamon erbost.

Copasallior lächelte flüchtig. »Glyndiszorn hat nicht immer am Gnor­

den gelebt«, erklärte er. »Als er noch ein junger, relativ unbedeutender Magier war, da hat es ihn in die Tronx-Kette gezogen.«

»Warum ausgerechnet dorthin?« fragte Atlan dazwischen. »War Koratzo damals schon das, was er heute ist?«

»O nein!« antwortete Copasallior lä­chelnd. »Die Tronx-Kette war von Anfang an ein besonderer Anziehungspunkt für un­sere Rebellen. Koratzo war zu der Zeit noch ein Kind. Er stieß erst später zu dieser Grup­pe und wurde dann sehr schnell zu ihrem Anführer.«

»Aber warum in der Tronx-Kette?« bohr­te Atlan beharrlich weiter.

»Ich weiß es wirklich nicht«, versicherte Copasallior und richtete sich leise stöhnend auf. »Sie gingen eben alle dorthin – auch Glyndiszorn. Es dauerte sehr lange, bis er diesen Berg für sich erobern konnte. In der Zwischenzeit haben viele andere Magier am Gnorden gewohnt. Der Weg, den wir ge­nommen haben, war einmal eine von den neutralen Straßen. Dort drohte euch keine

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Gefahr, und auch der Kamin wurde niemals mit Fallen versehen. Die Geröllhalde dage­gen enthält die Hinterlassenschaften von mindestens vier Magiern. Darum hielt ich es für besser, wenn wir den unbequemeren Weg nähmen.«

»Gestern hast du behauptet, daß du die Orientierung verloren hättest«, machte der mißtrauische Berserker den Mager auf einen Widerspruch aufmerksam. »So, wie du es jetzt ausdrückst, hört es sich eher so an, als ob du genau gewußt hättest, wohin du uns geführt hast!«

Copasallior sah den Berserker überrascht an. Er musterte Razamon, als hätte er ihn nie zuvor gesehen, und in seinen undurchdring­lichen Basaltaugen glomm für einen Augen­blick ein seltsames Licht.

»Ich hatte mich verirrt«, sagte er dann nüchtern. »Ich wollte nicht zum Gnorden. Aber mein Unterbewußtsein hat sich anders entschieden.«

»Dein Unterbewußtsein?« fragte Atlan scharf. »Oder das, was euch Magier steu­ert?«

Er biß sich auf die Lippen, als ihm be­wußt wurde, was diese Frage für den ohne­hin verwirrten, desorientierten Magier be­deuten mochte.

Aber Copasallior blieb ganz gelassen. »Ich weiß nicht einmal, ob zwischen den

beiden ein Unterschied besteht«, murmelte er. »Eine der Grundthesen der magischen Wissenschaften lautet, daß man seine Ge­fühle und Ahnungen niemals ignorieren darf. Koratzo hat einmal versucht, den Ur­sprung unserer wichtigsten Gesetze festzu­stellen. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß in den Gesetzen nur das als bindend für alle festgelegt worden ist, was jeder neutrale Magier ohnehin tun würde, wenn es gelänge, jeden Einfluß von außen auszuschalten. Als er mit dieser Theorie vor den Rat der Mäch­tigen trat, habe ich ihn einen Narren ge­nannt. Heute bin ich ein bißchen klüger. Er hatte nämlich recht, und er konnte das schon damals beweisen.«

»Warum habt ihr das nicht eher erkannt?«

fragte Atlan betroffen. »Es wäre doch eine Chance gewesen. Ihr hättet herausfinden können, wer oder was euch manipuliert.«

Copasallior lächelte schmerzlich. »Nein«, sagte er leise. »Diese Chance war

nie vorhanden. Jeder von uns ist einmal all­zu nahe an diese Frage herangeraten und ge­scheitert. Es gibt da eine Schwelle, die wir nicht überschreiten können.«

Es donnerte in der Ferne. »Ein Gewitter«, murmelte Copasallior

und stemmte sich mühsam hoch. »Nicht ein­mal diese unbekannte Macht kann es aus Breckonzorpfs Speichern gestohlen haben, und natürliche Gewitter gibt es in der Bar­riere nicht. Dafür kenne ich ein gutes Dut­zend Wettermagier, die längst verstorben sind. Wir sollten gehen, solange wir noch die Voraussetzungen dafür vorfinden!«

Razamon faßte nach dem Arm des Wel­tenmagiers. Copasallior wehrte ihn ärgerlich ab.

»Das brauche ich nicht«, behauptete er barsch.

Aber nach wenigen Metern stolperte er ohne jeden Anlaß und sank in die Knie.

»Nur ein paar Meter«, flüsterte er, als sie ihn schweigend zwischen sich nahmen. »Dort gibt es eine Gesteinsader, in der hei­lenden Energien fließen.«

»Nur ruhig!« sagte Razamon erstaunlich sanft. »Es besteht kein Grund zur Aufre­gung. Atlan und ich sind genauso erschöpft, aber er hat einen Zellaktivator, und ich habe den Zeitklumpen. Wir werden auch für dich etwas finden, was dich wieder auf die Beine bringt.«

Copasallior schwieg. Atlan dachte dar­über nach, wie die Worte des Berserkers wohl auf den Magier wirken mochten. Er hatte Copasallior bereits in kritischen Situa­tionen erlebt und wußte, daß der Magier ta­gelang ohne Schlaf und ohne Ruhe auszu­kommen vermochte. Er fand nur eine Erklä­rung für den Zustand, in dem der Sechsarmi­ge sich befand: Copasallior war sehr krank. Und es handelte sich um eine Krankheit, die nicht in dem Magier selbst hauste, sondern

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von außen an ihn herangetragen wurde. Er verspürte das Bedürfnis, ebenfalls et­

was Tröstliches zu sagen, aber er verdrängte diesen Wunsch.

»Jetzt!« sagte Copasallior erleichtert. »Laß mich los!«

Sie beobachteten ihn. Der Sechsarmige ließ sich diesmal nicht einfach zu Boden sin­ken, sondern er tastete den Boden mit den Händen ab, ehe er sich langsam ausstreckte, bis er im innigsten Kontakt mit der Ge­steinsader war. Schon nach wenigen Sekun­den entspannte er sich. Sein Körper sog die magischen Kräfte gierig in sich auf.

»Hoffentlich will er nicht stundenlang dort liegenbleiben«, murmelte Razamon und spähte besorgt zu den Felsen hinauf.

Atlan ging schweigend ein Stück zur Seite und deutete auf eine finstere Öffnung.

»Das könnte der Kamin sein«, meinte er. »Paß du hier draußen auf – ich sehe mal nach, ob der Weg frei ist.«

Razamon setzte zu einem Einwand an, aber Atlan entfernte sich so schnell, daß der Berserker nicht zu Wort kam.

*

Atlan gelangte in eine erstaunlich geräu­mige Höhle, obwohl der Eingang recht eng gewesen war. Er entdeckte, daß es einen zweiten Zugang gegeben haben mußte, der aber jetzt verschüttet war. In der Höhle herrschte ein mattes Dämmerlicht. Bänder aus winzigen, leuchtenden Kristallen zogen sich an den Wänden entlang.

Der Arkonide ging vorsichtig tiefer in die Höhle hinein. Schon nach kurzer Zeit ent­deckte er einen seitlich abzweigenden Gang. Dieser Weg war ganz sicher nicht auf natür­liche Weise entstanden, denn er war auffal­lend rund, und seine Wände waren glatt und glänzend. Am Ende dieses Ganges sickerte trübes Tageslicht herab.

Augenblicke später stand der Arkonide auf dem Grund eines nach oben führenden Schachtes.

Alles sprach dafür, daß er den von Copa­

sallior erwähnten »Kamin« gefunden hatte. Er sah einen Felsspalt von wechselnder Breite, aus dessen Wänden in bequemen Ab­ständen Steine hervorragten oder Mulden entstanden waren, so daß man ohne jede Mühe nach oben steigen konnte. An mehre­ren Stellen rieselte Wasser über die Wände, aber keines der Rinnsale benetzte die zum Klettern geeigneten Steine.

Atlan konnte der Versuchung nicht wider­stehen und stieg ein paar Meter weit auf. Am liebsten wäre er auf eigene Faust zu Glyndiszorn gegangen. Es war so einfach, der Weg konnte nicht weit sein. In diesem Kamin drohten ihm offensichtlich auch kei­ne Gefahren, die ihm als Nichtmagier zu schaffen machen konnten …

Er verlor fast den Halt, als etwas an ihm zog. Erschrocken hielt er inne, klammerte sich an die Felsen und sah sich um.

Es befand sich nichts in seiner Nähe, was ihn hätte angreifen können.

Ärgerlich schüttelte er den Kopf. »Halluzinationen«, murmelte er.

»Allmählich macht es sich also auch bei mir bemerkbar.«

Er tat den nächsten Schritt, da zupfte abermals etwas an ihm. Deutlich fühlte er, wie das Goldene Vlies sich auf dem Rücken zentimeterweit von seiner Haut entfernte. Aber als er sich umsah, war auch diesmal nichts und niemand anwesend.

Er kletterte hastig abwärts. Noch zweimal spürte er das geisterhafte Zupfen, dann stand er auf sicherem Boden.

Nachdenklich sah er in den Schacht hin­auf. Er war völlig leer. Weder Geräusche noch Bewegungen verrieten, daß ein Gegner darin steckte.

Atlan wandte sich zum Gehen, als das Unsichtbare den nächsten Angriff startete. Diesmal griff es so heftig zu, daß der Arko­nide zu Boden stürzte. Entsetzt dachte er daran, daß er sich noch kaum eine Minute zuvor in dem Schacht befunden hatte – wäre der Angriff schon dort in dieser Stärke er­folgt, dann hätte er sich mit einiger Sicher­heit den Hals gebrochen. Es gelang ihm,

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sich hochzuschnellen. Er sprang in die Rich­tung, in der er seinen Gegner vermutete. Auch wenn der Unbekannte allem Anschein nach unsichtbar war, mußte er doch materi­ell vorhanden sein, denn er spürte schließ­lich seinen Griff.

Der Arkonide hatte Pech. Er stürmte ins Leere. Unterdessen aber mußte sein Gegner an ihm vorbeigeschlüpft sein, denn wieder griff er von hinten an.

»Jetzt reicht's mir aber!« knurrte Atlan. Er trat aus und ließ die Ellbogen nach hinten zucken, aber er traf nicht auf den geringsten Widerstand. Schließlich gelang es ihm, nach genau der Stelle zu greifen, an der der Un­sichtbare das Goldene Vlies gepackt hatte.

Eine Gänsehaut kroch dem Arkoniden über den Rücken.

Es gab keine Hand, die ihn gepackt hielt. »Magie«, sagte er zu sich selbst. »Fauler

Zauber. Copasallior muß sich geirrt haben. In diesem Schacht war doch schon jemand zugange, und dieser Jemand konnte keine Fremden leiden.«

Er schob sich rückwärts in den Schacht hinein und warf sich plötzlich zur Seite, prallte mit dem Rücken hart gegen den Fels – aber der Unsichtbare ließ sich dadurch nicht im geringsten beeindrucken. Atlan rannte unvermittelt los, so schnell, daß ei­gentlich irgendeine Reaktion hätte erfolgen müssen. Aber sein Gegner war gegen Über­raschungen gefeit. Er folgte ihm unbeirrbar, und der Zug nach hinten wurde weder stär­ker noch schwächer. Atlans Kräfte erschöpf­ten sich, und er mußte sein Tempo drosseln. Als er schweratmend die Höhle verließ, spürte er den Griff in seinem Rücken immer noch.

Wütend stapfte er auf Copasallior zu. Der Magier war gerade dabei, sich zu erheben. Er wirkte alles andere als frisch und munter, war aber offenbar wieder bei Sinnen.

»Irgend etwas hat in dem Kamin ge­steckt!« rief Atlan dem Weltenmagier schon von weitem zu. »Jetzt sitzt es mir im Nacken, und ich werde es nicht wieder los.«

Copasallior sah ihn erstaunt an.

»Das kann nicht sein«, sagte er. »Der Ka­min ist in Ordnung. Laß mich mal sehen!«

Atlan drehte sich um – und im selben Au­genblick war das, was ihn die ganze Zeit hindurch geplagt hatte, verschwunden.

»Ich kann nichts finden«, sagte Copasalli­or.

»Das wundert mich nicht«, knurrte der Arkonide. »Es hat vor dir die Flucht ergrif­fen.«

»Wir werden den Weg über die Geröllhal­de nehmen«, meinte Copasallior zögernd. »Ich hoffe, daß wir durchkommen.«

»Sehr sicher hört sich das nicht an«, stell­te Razamon fest. »Ist es wirklich so gefähr­lich?«

»Unter normalen Umständen wäre es ein Kinderspiel«, erklärte Copasallior bitter. »Die Magier, die dort oben gehaust haben, waren zwar bösartig, aber nicht besonders mächtig. Ich könnte uns mit Leichtigkeit ge­gen alles abschirmen, was sie uns hinterlas­sen haben.«

»Aber?« »Meine Kräfte lassen nach«, murmelte

der Weltenmagier bedrückt. »Ich habe mir zu wenig Zeit gelassen, und wir können es uns auch gar nicht erlauben, noch länger hierzubleiben. Ich habe genug Energie in mich aufgenommen, um mich gegen das zu wehren, was mich vorhin so verwirrt hat, aber es reicht nicht, um auch noch die magi­schen Einflüsse der Toten abzublocken.«

»Wenn es sein muß, müssen wir eben auf dich warten«, meinte Atlan.

»Aber wir gehen voran, und du bleibst, bis du dich wieder fit fühlst. Wir können die verlorene Zeit leicht hereinholen, wenn du erst wieder deine Magie anzuwenden ver­magst.«

Copasallior schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Razamon verlor plötzlich die Geduld. Er hielt den Magier fest.

»Sei nicht so stur!« fauchte er ihn an. »Niemand ist damit geholfen, wenn du un­terwegs zusammenbrichst.«

Copasallior blieb mit hängenden Armen stehen.

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»Es nützt nichts!« sagte er leise. »Ich wer­de meine Magie solange nicht ausüben kön­nen, wie dieser unbekannte Einfluß die Bar­riere beherrscht. Es spielt keine Rolle, wie­viel Energie ich aus den Felsen sauge – ich komme gegen diese fremde Macht nicht an.«

»Aber du könntest uns zumindest auf dem Weg zu Glyndiszorn beschützen!« gab Atlan zu bedenken.

»Auch das ist nicht sicher. Gebt es end­lich auf. Wir verlieren Zeit.«

Atlan nickte resignierend, und Razamon gab den Magier frei.

5.

Es war, als wollten die Berge auf einen Schlag all das freigeben, was sie in den un­gezählten Jahren magischer Besiedlung in sich gespeichert hatten. Die Geister der Ver­gangenheit krochen durch die Barriere von Oth, und sie waren allgegenwärtig. Zum Glück hatten sie alle einst nur defensive Aufgaben zu erfüllen gehabt. Sie gingen de­nen, die sich einen Weg durch dieses ge­spenstische Reich suchten, nicht entgegen, sondern erwarteten sie nur – dies allerdings in der unverhohlenen Absicht, jedem Ein­dringling den Hals umzudrehen.

Als die drei Männer die Geröllhalde er­reichten, bekamen sie einen Begriff davon, was sie erwartete. Das ganze Gelände war von schillernden Nebelstreifen überzogen, und aus diesem Nebel ragten geisterhafte Köpfe von allerlei Ungeheuern hervor. Ko­chendheiße Dampfwolken entstiegen dem Boden, und Flammen züngelten aus dem Fels.

»Wir müssen uns an den Weg halten«, sagte Copasallior. »Es ist die einzige neutra­le Zone.«

»Gut und schön«, murmelte Razamon. »Aber wie erkennen wir diesen Weg? Ich je­denfalls kann ihn nicht entdecken.«

Der Weltenmagier brachte ein schwaches Lächeln zustande.

»Keine Sorge«, meinte er. »Soweit reicht

es bei mir noch. Folgt mir und achtet darauf, daß ihr keinen einzigen Schritt zur Seite macht, auch dann nicht, wenn ihr glaubt, un­bedingt ausweichen zu müssen.«

Angesichts der Dinge, die auf sie zuka­men, war es gar nicht so leicht, sich an diese Anweisung zu halten.

Als sie fast die Hälfte des Weges hinter sich hatten, stürzte Atlan, und sofort senkten sich eisige Nebelschwaden auf seinen Ober­körper, der über die Grenze des neutralen Weges geraten war. Aus dem Nebel krochen winzige Würmer hervor, weiß wie Gespen­ster und durchsichtig wie Glas. Aber sie wa­ren sehr real, als sie über das Gesicht des Arkoniden krochen und versuchten, sich in seine Haut zu bohren.

Das Goldene Vlies reagierte nicht auf die Gefahr, und Atlan war wie gelähmt im Bann des Nebels und der Kälte – und des mörderi­schen Griffes, den er im Nacken spürte. Ein unsichtbarer Gegner preßte ihn zu Boden. Er konnte nicht einmal schreien, weil die Wür­mer buchstäblich an seinen Lippen hingen und nur darauf warteten, daß er den Mund öffnete.

Als Razamon den Arkoniden auf den schmalen, kaum wahrnehmbaren Weg zu­rückgezogen hatte, wich die unsichtbare Hand eilig zurück. Atlan drehte mühsam den Kopf zur Seite und sah Copasallior, der sich über ihn beugte.

»Vor dir hat es anscheinend Respekt«, flüsterte er. »Was, zum Teufel, kann man dagegen tun, daß das Ding mir durch die halbe Barriere folgt?«

»Der Feind aus dem Kamin?« fragte der Weltenmagier leise.

Atlan nickte, stand auf und atmete tief durch. Ärgerlich tastete er nach dem Helm des Goldenen Vlieses.

Er stockte. Das Ding ließ sich nicht schließen.

Copasallior hatte den Arkoniden beobach­tet. Er nickte nachdenklich. »Ich glaube nicht, daß es aus den Höhlen stammt«, be­stätigte er Atlans Verdacht. »Ich fürchte eher, daß du diesen Gegner schon seit gerau­

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mer Zeit hautnah bei dir trägst.« »Das Goldene Vlies!« stieß der Arkonide

überrascht hervor. »Aber warum? Was will es von mir? Man könnte ja meinen, daß es die Absicht hat, mich umzubringen!«

Copasallior deutete auf die Nebelschwa­den und Flammenzungen.

»Wir können später noch darüber reden«, sagte er ruhig. »Jetzt müssen wir weiter.«

»Warte nur noch einen Augenblick«, bat Atlan und traf Anstalten, den goldenen An­zug abzustreifen. Er hakte die ersten Ver­schlüsse auf, und es ging erstaunlich leicht. Es war, als würden die Haken ganz von selbst aus den Ösen gleiten.

»Hör auf!« bat Copasallior hastig. »Siehst du denn nicht, was los ist? Das Ding will nicht länger an dich gebunden sein. Wenn du es jetzt freigibst …«

»Was geschieht dann?« fragte Atlan ge­spannt, als der Magier abrupt schwieg.

Copasallior wollte sich abwenden, aber der Arkonide erwischte ihn an einem seiner sechs Arme. Er packte grob zu und drehte den Magier zu sich herum.

»Rede endlich!« herrschte er den Sechsar­migen an. »Was wird hier gespielt? Was ist mit dem Goldenen Vlies?«

»Ich weiß es nicht«, behauptete Copasalli­or gelassen. »Ich weiß nur, daß etwas diesen Anzug haben will, und dieses Etwas ist mächtig genug, um uns alle zu vernichten.«

»Und wenn es der Geist des Mächtigen ist? Wenn er das Vlies braucht, um zum Le­ben zu erwachen und uns den Oheim vom Hals zu schaffen?«

»Dann werden wir es noch früh genug er­fahren. Dieses Wesen hat gewiß andere Mit­tel, um sich uns verständlich zu machen.«

»Ja«, knurrte Atlan. »Zweifellos kann es mich mühelos umbringen, wenn ich mich weiterhin stur stelle. Bringe uns aus dieser Hölle hinaus, und ich werde das Vlies able­gen – egal, was du dagegen einzuwenden hast.«

»Nein!« sagte eine ferne, kaum hörbare Stimme.

»Wer war das?« fragte Atlan verwundert,

aber im gleichen Augenblick wußte er es, und er sah wie zur Bestätigung, daß Copa­sallior erleichtert aufatmete.

»Koratzo!« schrie der Arkonide. »Wo steckst du?«

Lange Zeit kam keine Antwort. Sie stan­den regungslos auf dem schmalen Pfad und achteten kaum auf das geisterhafte Gewoge um sie herum.

»Ich bin in der Tronx-Kette!« kehrte Ko­ratzos Stimme dann endlich wieder, aber sie war so schwach, daß sie Mühe hatten, den Magier zu verstehen. »Kommt her, so schnell ihr könnt!«

»Es wird eine Weile dauern!« gab Copa­sallior zu bedenken. »Ich kann mit meiner Magie nichts anfangen.«

»Rufe Saisja zu dir!« »Meine Stimme reicht nicht bis zum Cral­

lion.« Wieder dauerte es lange, bis eine Antwort

kam. »Rufe sie!« befahl der Stimmenmagier

ungeduldig. »Ich sorge dafür, daß sie dich hört.«

Copasallior zuckte die Schultern. Ihm war deutlich anzusehen, was er von Koratzos Vorhaben hielt, aber er gab nach und rief nach dem eisernen Yassel.

»Gut«, wisperte die magische Stimme. »Saisja wird kommen.«

»Du ahnst nicht, was hier los ist! Selbst ein eisernes Yassel kommt da nicht durch.«

Koratzo ging auf die Bemerkung des Wel­tenmagiers nicht ein.

»Geht zur ORSAPAYA!« rief er. »Dort seit ihr vorerst sicher, wenn auch nur für kurze Zeit.«

»Was ist mit dem Goldenen Vlies?« frag­te Atlan ungeduldig.

»Behalte es an. Noch schützt es dich, auch wenn du daran zweifeln magst. Solan­ge die Speicher am Skatha-Hir halten, wird es dir nichts tun. Wenn die Lage gefährlich wird, warne ich dich.«

»Vorausgesetzt, daß es mich bis dahin nicht schon umgebracht hat.«

»Dir wird nichts geschehen.«

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Atlan seufzte. »Wenn du dich da nur nicht irrst!« mur­

melte er, aber Koratzo schwieg. Mühsam kämpften sie sich durch die wal­

lenden Nebel und die Vielfalt magischer Er­scheinungen dem Hochtal entgegen, in dem die ORSAPAYA verankert war.

*

Das Tal wirkte leblos und verlassen. Das rostfarbene Moos zwischen den Steinen war verdorrt und bildete eine krümelige, zunder­trockene Masse, die unter den Füßen zer­stäubte. Die geborstenen Kristallsäulen rund um den schwarzen See waren stumpf gewor­den, und der leuchtende Möbiusstreifen auf der Hülle des Luftschiffs war fast verblaßt. Aber die ORSAPAYA schwebte immer noch in der Luft, von mächtigen Trossen ge­halten, die rings um den See verankert wa­ren. Eine Transportröhre führte zur Gondel des Luftschiffs hinauf. Der Eingang war ver­siegelt, öffnete sich aber, als Copasallior die Tür behutsam berührte. Sie sahen hinein und entdeckten nichts als Staub und Abfall auf dem Boden des Schachtes.

»Was ist hier passiert?« fragte Atlan unsi­cher. »Wo steckt der Knotenmagier?«

Copasallior antwortete nicht. Sein Gesicht war wie versteinert. Er drehte sich abrupt um und ging auf ein kleines, gläsernes Ge­bäude mit schiefen Wänden zu. Die Tür schwang lautlos vor ihm auf. Das Gebäude war leer. Nur ein paar zerbrochene Kristall-kugeln lagen in den Ecken. Der Weltenma­gier untersuchte jeden einzelnen Brocken, legte aber einen nach dem anderen ent­täuscht an seinen Platz zurück.

»Keine Nachricht«, murmelte er. »Koratzo, kannst du mich hören?«

Der Stimmenmagier meldete sich nicht. »Da drüben sind Höhlen«, bemerkte Raz­

amon. »Vielleicht finden wir ihn dort.« »Wir können es versuchen«, sagte Copa­

sallior leise. »Aber ich fürchte, wir werden Glyndiszorn nicht finden.«

Atlan ging schweigend auf die Höhlen zu,

und Razamon folgte ihm. Als sie sich nach Copasallior umsahen, stand der Weltenma­gier immer noch vor dem schiefen, gläser­nen Bauwerk.

»Wir trennen uns«, schlug Atlan vor. »Und, Razamon – achte auf Lebensmittel. Ich hoffe, der Knotenmagier hat ein paar Vorräte eingelagert, denn sonst sieht es schlecht für uns aus. Oder hast du Tiere ge­sehen, die man jagen könnte?«

»Nein«, murmelte Razamon und schüttel­te sich. »Nur diese gespenstischen Ungeheu­er.«

Die Höhlen entpuppten sich als in den Fels geschlagene Hallen und Kammern von unterschiedlicher Größe. Drinnen lagerten unzählige Dinge, mit denen sich in der jetzi­gen Situation nichts anfangen ließ, Gegen­stände, wie sie nur für einen Magier von Wert sein konnten. In einer Halle fand Atlan endlich Glyndiszorns Vorräte. Von dem Ma­gier selbst sah und hörte er nichts, aber er glaubte manchmal, etwas spüren zu können, was in diesen Höhlen lebte. Er ignorierte dieses Gefühl und packte geräuchertes Fleisch und getrocknete Früchte zu einem festen Bündel zusammen. Als er mit seiner Beute die Höhle verließ, brachte das Golde­ne Vlies ihn zu Fall, indem es urplötzlich um seine Beine herum erstarrte.

»Allmählich reicht es«, murmelte Atlan. Er wälzte sich mühsam herum, setzte sich auf und betrachtete seine Beine, die sich kaum noch bewegen ließen. »Wenn du da­mit nicht aufhörst …«

Er schüttelte mutlos den Kopf. Es hatte keinen Sinn, Drohungen gegen diesen An­zug auszustoßen.

Er fragte sich, wer für diese Angriffe ver­antwortlich sein mochte. Seiner Meinung nach kam nur der Geist des Mächtigen in Frage. Aber was wollte er erreichen? In wel­cher Beziehung stand das Goldene Vlies zu diesem Wesen?

Da er keine Chance für sich sah, das Rät­sel durch bloßes Spekulieren zu lösen, kon­zentrierte Atlan sich darauf, seine Beweg­lichkeit wiederzuerlangen. Das Goldene

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Vlies hielt ihn erbarmungslos fest, und er dachte schon, daß ihm nun doch nichts ande­res übrigbleiben würde, als das gefährliche Ding auszuziehen. Da fiel ihm der Trick ein, mit dem er das Vlies dazu gebracht hatte, ihm bei der Arbeit am Parraxynt zu helfen, und er konzentrierte sich auf den Gedanken, daß er ohne den Anzug in dieser fremd ge­wordenen Barriere verloren wäre. Schon nach kaum einer Minute konnte er aufste­hen.

Er fand Razamon und Copasallior bei dem gläsernen Gebäude. Der Berserker hatte ein wenig Holz gefunden und versuchte nun, im schwarzen Wasser des Sees einen Fisch oder ein vergleichbares Tier zu erspähen. Er steckte erleichtert sein Messer ein, als er At­lan mit den Vorräten sah.

Sie setzten sich auf die kalten Steine und kauten mißmutig auf den zähen Früchten und dem noch zäheren Fleisch herum.

»Wenn wir einen Topf hätten, könnten wir uns eine Suppe kochen«, meinte Raza­mon hoffnungsvoll.

Atlan zuckte die Schultern. »Es wird kalt«, stellte er fest. »Und die

Dunkelheit wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich habe keine Lust, in den Höhlen zu übernachten und zu warten, bis uns der halbe Berg auf die Köpfe fällt. Laßt uns in diese windschiefe Hütte gehen.«

»Nein!« sagte Copasallior scharf. »Warum nicht?« »Weil …«, begann Copasallior und brei­

tete hilflos die Hände aus. »Ich kann es euch nicht erklären. Ich weiß nicht, wo Glyndis­zorn jetzt ist, aber er ist von diesem Gebäu­de aus aufgebrochen, und wenn er zurück­kehren will, darf nichts darin verändert sein.«

Atlan und Razamon sahen sich schwei­gend an.

»Wir müssen es wohl oder übel akzeptie­ren«, murmelte der Arkonide schließlich. »Aber in die Höhlen sollten wir trotzdem nicht gehen.«

»Der Transportschacht«, schlug Razamon vor. »Da drinnen sind wir wenigstens vor

dem Wind geschützt.« »Es weht gar keiner«, sagte Atlan mit ei­

nem schiefen Lächeln. »Eben das«, meinte der Berserker,

»bereitet mir Sorgen.«

*

Mit der Dunkelheit erwachten auch dies­mal die Berge zu gespenstischem Leben. Das blaue Feuer lief über die Gipfel und durcheilte das Tal, und das Krachen und Bersten wollte kein Ende nehmen. Fels-brocken stürzten von der Gipfelwand des Gnorden herab und ließen den kleinen, schwarzen See anschwellen, bis das Wasser in die Transportröhre einzudringen drohte. Hastig verließen die drei Männer diesen Schlupfwinkel. Sie taumelten über den vi­brierenden Boden, und als sie sich umsahen, rannten blaue Flammen über die Trossen, von denen die ORSAPAYA gehalten wurde. Die Flammen erreichten das Luftschiff und hüllten es in eine züngelnde blaue Aura. Knallend zerrissen die dicken Drahtseile und schnellten wie gigantische Peitschen durch die Luft. Der Flugkörper schwankte und tau­melte, raste auf die Gipfelwand zu und zer­schellte daran. Es regnete blauflammende Trümmer. Die Felsen am Rand des Tales brachen, das Wasser des schwarzen Sees rann davon.

»Zu den Höhlen!« schrie Copasallior, aber Atlan deutete wortlos hinüber.

In den Höhlen tobte das blaue Feuer. Razamon schob den widerstrebenden

Weltenmagier energisch vor sich her in das gläserne Gebäude, das als einziges unver­sehrt der Hölle trotzte. Copasallior gab sei­nen Widerstand schließlich auf und ließ es zu, daß Atlan die kleine Tür schloß.

Drinnen war es erstaunlich still. Obwohl die Wände von außen klar wie Glas wirkten, sah man nichts mehr von dem, was in der Barriere vorging. Selbst der Boden war ru­hig und zeigte keine Neigung, zu bocken und zu vibrieren.

»Wenn das so weitergeht, fliegt spätestens

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26 Marianne Sydow

in der nächsten Nacht die ganze Barriere auseinander«, sagte Razamon entsetzt. »Wenn das der Geist des Mächtigen ist – was, um alles in der Welt haben wir da ge­weckt?«

Das war genau die Frage, mit der Atlan sich seit geraumer Zeit herumplagte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß sie darauf verzichtet hätten, das Parraxynt zu­sammenzusetzen. Irgendwie, dachte er, wäre es ihnen auch ohne die fragwürdige Hilfe ei­nes so mächtigen und offensichtlich zerstö­rerisch gesinnten Bewußtseins gelungen, den Dunklen Oheim zur Strecke zu bringen.

Sie mußten wenigstens verhindern, daß die Zerstörung auf den Rest von Pthor und die angrenzenden Dimensionsfahrstühle übergriff!

»Wo ist Glyndiszorn?« wandte der Arko­nide sich an Copasallior. »Und keine Aus­flüchte mehr. Ich kann mir denken, was du sagen willst: Du weißt es nicht. Aber du hast zumindest Ahnungen, und die will ich jetzt kennenlernen.«

Copasallior seufzte und breitete ratlos sei­ne sechs Hände aus.

»Ich vermute, daß Glyndiszorn die Gefahr erkannt hat«, erklärte er leise. »Und daß er genau das versucht hat, worum ich ihn bitten wollte.«

»Er hat versucht, die Große Barriere aber­mals durch einen magischen Knoten von der Außenwelt abzuschirmen?«

»Ja.« »Dann ist es ihm mißlungen, und er ist

wahrscheinlich tot.« »Es ist ihm mißlungen, aber er lebt noch.

Ich spüre es. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, daß gerade der Gnorden das Ziel der Zerstörung ist.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß die an­deren Berge besser daran wären«, meinte Atlan skeptisch.

»Der Mächtige kann nicht sicher sein, wo die kritischen Speicher sich befinden.«

»Du glaubst also auch, daß er dahinter­steckt?«

»Wer sollte es sonst sein?« fragte Copa­

sallior ruhig. »Aber was will er von Glyndiszorn? Von

welchen Speichern redest du?« »Von denen am Skatha-Hir und von

Glyndiszorns Dimensionstunneln. Ich habe dir bereits gesagt, daß etwas uns seit unserer Ankunft in der Barriere manipuliert hat – und nicht nur uns, sondern viele andere Völ­ker vor uns ebenfalls. Wir haben nie er­kannt, wer über unser Schicksal bestimmte, aber jetzt erscheint mir alles ganz klar.«

»Es war natürlich der Mächtige.« Copasallior nickte. »Er hat magisch befähigte Völker nach

Oth gezogen, damit sie die Berge ständig neu aufluden. Das hielt ihn wahrscheinlich am Leben, vor allem aber sicherte es seine Wiederentstehung. Wenn der Zeitpunkt ge­kommen war, wollte er die gespeicherte Energie an sich reißen und sich mit ihrer Hilfe erheben. Er hat sicher nicht damit ge­rechnet, daß es einem seiner Völker gelin­gen könnte, Speicher zu bauen, die er nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt leersaugen kann.«

»Aber es gibt sie.« »Ja, die Speicher am Skatha-Hir. Kir Ban

hat dort ein völlig fremdartiges Material ver­wendet. Alle anderen Speicher bestehen aus Materialien, die wir in Oth zur Verfügung haben. Das hat gewisse Vorteile: Solche Speicher lassen sich kaum überladen. Wenn wir zu viel Energie hineinleiten, wird der Überschuß ab einem gewissen Punkt an die Umgebung abgeleitet. Dabei kann es zu dra­matischen Erscheinungen kommen, aber es ist so gut wie ausgeschlossen, daß wir dabei versehentlich die Barriere in die Luft spren­gen.«

»Mir scheint, dieser Kir Ban hat ein ge­fährliches Spiel getrieben«, murmelte Raza­mon.

»Nicht nur in dieser Hinsicht«, nickte Co­pasallior. »Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte uns vernichtet. Er hat Dutzende von Magiern umgebracht, um an die in ihren Körpern gespeicherte Energie zu kommen. Seine Opfer hat er in fremde Welten abge­

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schoben. Sie waren – in magischer Hinsicht – bereits tot, aber ihre Körper lebten noch und saugten wie Schwämme die Lebens­energie fremder Wesen an sich. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall exi­stieren die Speicher, und sie haben als einzi­ge keine Verbindung zu den Bergen von Oth. Es ist unmöglich, sie auf einem anderen Wege als dem, den Kir Ban vorgesehen hat­te, anzuzapfen. In diesen Speichern steckt das, was von den mehr als zweihundert Ne­gativen übriggeblieben ist, als sie in die Ver­bannung gingen. Versteht ihr? Die Energie von mehr als zweihundert Magiern – und der Geist des Mächtigen kommt nicht an sie heran.«

»Wenn ich mir ansehe, wie er da draußen wütet«, sagte Razamon und deutete mit dem Daumen über die Schulter, »dann komme ich zu dem Schluß, daß er weit mehr Ener­gie zur Verfügung hat, als ihm guttut.«

»Es ist das, was er bis zu diesem Zeit­punkt den Bergen und den noch lebenden Magiern genommen hat«, sagte Atlan ruhig. »Die Magier sind nicht von derselben Art wie die, die man verbannt hat.«

»Sie waren negativ«, nickte Copasallior. »Es hat in all der langen Zeit immer diese beiden Pole gegeben. Die Masse der Magier war von der Veranlagung her neutral, aber stets gab es einige, die positiv oder negativ waren, und diese beiden Gruppen hielten sich die Waage. Die in den Bergen gespei­cherte Energie ist wertfrei – jeder kann sich ihrer bedienen. Dem Mächtigen steht die neutrale und die positive Form zur Verfü­gung. Wenn er an die negative Abart heran­will, muß er die Speicher am Skatha-Hir öff­nen.«

»Und Glyndiszorn? Was will er von dem?«

»Ich glaube nicht, daß der Mächtige so genau feststellen kann, wo die von ihm be­nötigte Energie geblieben ist«, sagte Copa­sallior gedehnt. »Schon gar nicht jetzt, da er noch gar nicht voll erwacht ist. Er spürt, daß etwas fehlt, und versucht, es sich zu ver­schaffen. Ich bin fast sicher, daß Glyndis­

zorn einen Tunnel errichtet hat, um von dort aus einen Dimensionsknoten zu schaffen. Ein solcher Vorgang ist sehr auffällig – der Mächtige mag darauf aufmerksam geworden und zu dem Schluß gelangt sein, daß es Glyndiszorn war, der die negative Energie gestohlen hat.«

»Meinst du, daß er so naiv ist?« fragte At­lan zweifelnd.

Copasallior zuckte die Schultern. »Du mußt immer bedenken, daß er sicher

noch nicht in der Lage ist, bewußt zu han­deln«, sagte er. »Denkst du in deinen Träu­men immer logisch? Er schlägt blindlings zu, und wahrscheinlich merkt er gar nicht, was er dabei anrichtet.«

»Wenn es so ist, gibt es immerhin noch eine Hoffnung«, murmelte Atlan und lehnte sich an die schiefe Wand. »Vielleicht ist er doch nicht so gefährlich, wie es uns jetzt scheint.«

»Er ist gefährlich!« behauptete Razamon grimmig. »Im wachen Zustand wahrschein­lich noch mehr als jetzt.«

6.

Ab und zu öffneten sie die Tür und sahen hinaus, und die ganze Nacht hindurch änder­te sich überhaupt nichts, wenn man davon absah, daß das Hochtal allmählich immer kleiner und die Gipfelwand des Gnorden im­mer niedriger wurde. Derjenige, der die blauen Flammen lenkte – falls sie gelenkt wurden – schien fest dazu entschlossen zu sein, mit ihrer Hilfe langsam, aber sicher den ganzen Berg abzutragen.

In der gläsernen Hütte selbst blieb es ru­hig. Das blaue Licht durchdrang die Wände nicht, und das Gebäude schien jede Schwan­kung des Bodens von selbst auszugleichen. Copasallior berichtete, daß die Hütte dem Knotenmagier als Ausgangspunkt für seine Tunnel diente, die durch Zeit und Raum führten. Von dieser Warte aus gesehen, war es verständlich, daß Glyndiszorn das kleine Gebäude gegen Erschütterungen aller Art abgesichert hatte.

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Mit dem Licht des trüben Tages verblaß­ten die Flammen und viele von ihnen ver­schwanden ganz. Aber einige existierten noch. Man sah sie als ein bläuliches Flim­mern in der Luft. Auch die Erschütterungen wurden zwar schwächer, hörten aber nicht völlig auf.

»Bald wird er gar keine Pause mehr ma­chen«, prophezeite Atlan. »Dann schüttelt er das Land durch, bis eure magischen Spei­cher zerbrechen.«

Copasallior lächelte bitter. »Wenn es so einfach wäre, sie zu öffnen,

hätten wir sie schon vor langer Zeit vernich­tet und Kir Bans Spuren für immer aus unse­rem Land gebannt«, versicherte er. Er öffne­te wieder einmal die Tür und schrak zurück.

»Was ist los?« fragte Atlan beunruhigt. »Saisja ist eingetroffen«, sagte Copasalli­

or tonlos. »Ich dachte, das wäre ein Grund zur Freu­

de«, murmelte Razamon verwundert und trat neben den Weltenmagier. Aber als er das ei­serne Yassel sah, konnte er Copasalliors Re­aktion verstehen.

»Schrottreif!« kommentierte er lakonisch. »Sei still!« schrie Copasallior wütend,

und der Berserker wich unwillkürlich vor ihm zurück. Er hatte den Weltenmagier nie zuvor so zornig gesehen.

»Er hat es nicht so gemeint«, versicherte Atlan, der zumindest eine Ahnung davon hatte, wie sehr Copasallior an dem eisernen Yassel hing.

Der Weltenmagier warf dem Arkoniden einen seltsamen Blick zu und ging wortlos hinaus. Verständnislos beobachtete Raza­mon, wie der Sechsarmige Saisja zu strei­cheln begann. Der Magier liebkoste das me­chanische Tier und sprach mit ihm wie mit einem kranken Kind.

»Es war zu viel für ihn«, flüsterte der Ber­serker. »Sieh ihn dir an!«

»Nein«, sagte Atlan leise. »Sieh dir Saisja an!«

Razamon pfiff leise durch die Zähne. Das eiserne Yassel veränderte sich. Die metalle­ne Haut, die an vielen Stellen aufgerissen

war, schloß sich, ein geknicktes Bein wurde wieder gerade, Beulen verschwanden. Das rechte Auge allerdings, dessen kristallene Linsen zertrümmert waren, blieb, wie es war. Schließlich drehte Copasallior sich um.

»Es stammt aus Wolterhaven«, sagte er mit steinerner Miene. »Es kann sich bis zu einem bestimmten Punkt selbst wieder her­stellen. Saisja wird uns in die Tronx-Kette bringen.«

»Und danach in seine Bestandteile zerfal­len«, raunte Razamon dem Arkoniden zu, aber Atlan zuckte nur die Schultern.

»Kann es uns alle drei tragen?« fragte er den Weltenmagier.

»Es muß es können«, erklärte Copasallior. Der Boden unter ihren Füßen schüttelte

sich, und der Rand des Abgrunds rückte abermals ein Stückchen näher.

Copasallior schwang sich als erster auf das metallene Ungetüm. Razamon und Atlan stiegen hinter ihm auf. Da Saisja größer als ein normales Yassel war, fanden sie gerade genug Platz auf seinem Rücken. Kaum sa­ßen sie, da brauste Saisja davon wie ein Sturmwind.

Saisja entwickelte Geschwindigkeiten, die Atlan und der Berserker bei diesem mecha­nischen Wesen niemals für möglich gehalten hätten.

Wie im Flug ging es den Gnorden hinab. Saisja überquerte Schluchten und Spalten mit weiten Sprüngen und jagte unter Donnergetöse vor heranpolternden Fels-brocken davon.

»Das ist Wahnsinn!« rief Razamon, als das eiserne Yassel auf ein in die Tiefe glei­tendes Geröllfeld hinauspreschte. »Wir wer­den uns den Hals brechen!«

Auch Atlan sah fast schon das sichere En­de vor sich. Er stieß Copasallior an. Der Weltenmagier reagierte nicht.

Besorgt beugte Atlan sich vor. Der Sechsarmige starrte blicklos vor sich

hin. Als der Arkonide an Copasalliors Schultern rüttelte, wäre der Magier fast von dem eisernen Yassel gefallen.

»Es hat ihn wieder erwischt«, teilte Atlan

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dem Berserker mit. »Dann nimm du die Zügel!« forderte Raz­

amon. »Setze diesem Irrsinn ein Ende!« Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Das eiserne Yassel gehorcht nur dem

Weltenmagier«, erklärte er. »Und Copasalli­or hat es leider versäumt, dem Ding die ent­sprechenden Befehle zu geben, damit auch wir es lenken können.«

Weit vor ihnen tauchte ein Abgrund auf, eine Schlucht, die so breit war, daß Saisja schon Flügel hätte haben müssen, um ihn überwinden zu können. Das eiserne Yassel hielt direkt auf das Verderben zu.

»Das war es dann wohl«, murmelte Raza­mon bitter. »Wo zum Henker, sitzt bei die­sem verdammten Ding die Notbremse?«

Sie hatten den Abgrund erreicht. Saisja schwang sich mit einem weiten Satz in die Luft, als wollte sie tatsächlich fliegen – und sie stürzte nicht ab, sondern schwebte sanft in die Tiefe.

Razamon stieß pfeifend den Atem aus. »Das ist noch einmal gut gegangen«, mur­

melte er. »Wer hätte gedacht, daß dieses me­tallene Monstrum so etwas fertigbringt?«

Atlan gab keine Antwort. Er hatte genug damit zu tun, den Weltenmagier festzuhal­ten. Copasallior schien das Bewußtsein ver­loren zu haben. Er hing schwer und regungs­los auf Saisjas Rücken. Atlan hatte einen be­stimmten Verdacht und war nicht verwun­dert, als eine Stimme aus dem Nichts er­klang.

»Saisja kann nicht fliegen!« erklärte Ko­ratzo, der Stimmenmagier, über die weite Strecke bis zur Tronx-Kette hinweg. »Copasallior konnte gerade noch im letzten Augenblick ein Flugfeld errichten. Es wird halten, bis Saisjas Hufe den Boden berüh­ren.«

»Und dann?« fragte Atlan. Koratzo schwieg. Der Arkonide spähte nach unten. Sie schwebten in eine der berüchtigten

Schluchten der Großen Barriere von Oth hinein. Es war schon zu normalen Zeiten nicht unbedingt ratsam, in diesen Abgründen

herumzuwandern, jetzt aber würden sie in ein Chaos geraten, das ihnen kaum noch ei­ne Chance ließ.

Die Wände der Schlucht waren in ständi­ger Bewegung. An jener Stelle, an der Saisja den Boden berühren mußte, tat sich eine Bo­denspalte auf wie ein gefräßiges Maul.

»Kann man das Flugfeld steuern, Korat­zo?« fragte er drängend.

»Copasallior kann es, aber er wacht be­stimmt nicht mehr rechtzeitig auf.«

»Kannst du wenigstens seine Stimme nachahmen und dafür sogen, daß Saisja mir gehorcht?«

»Solange der Weltenmagier auf dem ei­sernen Yassel sitzt, wäre ein solcher Ver­such nur eine weitere Gefahr für euch. Es könnte euch als Feinde einstufen und euch töten.«

Razamon lachte verzweifelt auf. »Wir stürzen in die verdammte Spalte!«

rief er. »Wir haben nichts mehr zu verlie­ren.«

»Es tut mir leid«, wisperte die magische Stimme. »Ich kann nichts für euch tun. Ver­sucht, den Weltenmagier zu wecken – er könnte euch retten.«

Atlan sah die Spalte etwa fünfzig Meter unter sich. Er drückte den Sechsarmigen tief auf den Hals des künstlichen Tieres hinab und versuchte, die Kontrollen am Kopf zu erreichen. Vielleicht, so sagte er sich, hatte Copasallior dem eisernen Yassel doch noch einen entsprechenden Befehl zuflüstern kön­nen.

Natürlich reagierte Saisja nicht, konnte es auch gar nicht tun, solange sie sich innerhalb des Flugfelds befanden. Waren sie aber erst in der Spalte gefangen, dann spielte es keine Rolle mehr, wem das Yassel gehorchte.

Nur noch zehn Meter. Felsbrocken flogen an ihnen vorbei, ohne sie zu treffen. Offen­bar wurden sie von dem Flugfeld abgelenkt. Selbst die dichten Staubwolken, die durch die Schlucht wehten, drangen nicht bis zu ihnen vor.

Atlan dachte, daß es eine Ironie des Schicksals war: Da saßen sie auf einem

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wahren Wundergebilde, vor nahezu jegli­cher Gefahr bestens geschützt, solange sie sich in der Luft befanden. Aber sobald sie unten ankamen …

Der Arkonide stutzte. Er beugte sich un­gläubig vor.

Sie sanken nicht mehr. Wenige Meter vor dem gefräßigen Schlund entfernt standen sie regungslos in der Luft. Neben ihnen, direkt am Rand des Flugfelds, hing ein kopfgroßer Stein wie festgefroren zwischen reglosen Staubfahnen. Dafür aber liefen unter ihnen die Ereignisse rasend schnell ab. Binnen we­niger Sekunden schloß sich die Spalte.

»Das gibt es nicht!« stöhnte der Arkonide auf. »Koratzo – wer ist uns da zu Hilfe ge­kommen?«

Aber der Stimmenmagier meldete sich nicht.

Der Bodenspalt war verschwunden. Ein unübersehbares Durcheinander von rollen­den, springenden und zerbröckelnden Fels-brocken bedeckte den Boden der Schlucht. Atlan suchte verzweifelt nach einer Insel der Ruhe, auf der das Yassel den Boden hätte berühren können, ohne sofort überrollt zu werden. Er fand nichts – bis sich abermals alles umkehrte.

Diesmal war es die Umgebung, die still­stand, während sie selbst sich bewegten. Saisja landete, federnd auf dem Boden und raste davon, durch ein Gelände, in dem jedes lebende Tier sich bei einer vergleichbaren Geschwindigkeit unweigerlich die Beine ge­brochen hätte. Das eiserne Yassel flog über den unebenen Boden hinweg, als bemerke es die Hindernisse gar nicht, die ihm im Weg lagen.

Was um sie herum geschah, war unnatür­lich und unheimlich. Die Luft war voller Ge­steinssplitter, die nicht zu Boden fielen. Ein­mal raste Saisja unter einem gigantischen Felsbrocken hindurch, der regungslos weni­ge Meter über dem Boden schwebte.

Atlan versuchte nicht mehr, Koratzo auf sich aufmerksam zu machen. Er war über­zeugt davon, daß sie sich im Zentrum eines magischen Feldes befanden, wohin die Stim­

me des Rebellen aus der Tronx-Kette nicht vorzudringen vermochte. Daß Copasallior für diese Ereignisse nicht verantwortlich war, daran kamen ihm nicht die geringsten Zweifel. Der Sechsarmige war noch immer bewußtlos, und abgesehen davon lagen seine magischen Talente auf einem ganz anderen Gebiet.

Schließlich erreichten sie eine Stelle, an der Saisja die Schlucht verlassen konnte. Sie jagten über den Rand des Abgrunds hinweg und fanden sich in einer beinahe idyllischen, völlig unversehrten Landschaft wieder. Er­starrte Gräser bogen sich widerstrebend un­ter den eisernen Hufen, und die Bäume wa­ren unnatürlich starr. Aber ihre Blätter wa­ren grün, es gab keine in der Luft schweben­den Felsbrocken an diesem Ort, und Atlan war überzeugt davon, daß der fremde Ma­gier, dem sie ihre Rettung verdankten, schon bald alles wieder in Ordnung bringen würde.

Erleichtert drehte er sich zu Razamon um, der während dieser ganzen Zeit kein einzi­ges Wort gesprochen hatte.

»Wir haben es geschafft«, sagte er leise. »Ich hoffe, daß wir uns für all das wenig­stens einmal bedanken können.«

Er stutzte und stieß den Berserker an. Für einen Augenblick glaubte er, daß auch Raza­mon einem veränderten Zeitablauf unterlag, so still und starr saß der Berserker hinter ihm.

»Was ist mit dir los?« fragte er besorgt. Razamon blinzelte und schüttelte den

Kopf, als müsse er mit Gewalt etwas von sich drängen, was ihn von der Wirklichkeit trennte.

»Ist es vorbei?« fragte er mit merkwürdig flacher Stimme. »Haben wir es geschafft?«

»Hast du etwa gar nichts davon mitbe­kommen?« fragte Atlan verblüfft. »Sieh dich mal um!«

Aber als er selbst endlich wieder der Um­gebung etwas mehr Aufmerksamkeit wid­mete, mußte er feststellen, daß alles wieder normal war.

Unterdessen setzte Saisja unbeirrbar ihren Weg nach Osten fort. Wenig später, als sie

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bereits mitten in den Dunklen Tälern steck­ten, meldete sich Koratzo wieder. Er erklär­te, daß er die drei Reiter vorübergehend »verloren« hatte. Angeblich wußte er nicht, wer die Veränderung im Zeitablauf verur­sacht hatte. Atlan glaubte ihm nicht, verzich­tete aber auf Vorhaltungen, denn er spürte, daß auch Koratzo mit seinen Nerven fast am Ende war.

Razamon machte für den Rest der Reise einen sehr düsteren, in sich gekehrten Ein­druck.

Ab und zu führte er Selbstgespräche, mur­melte dabei aber so undeutlich vor sich hin, daß Atlan kein Wort verstand. Ein paarmal klopfte der Berserker wütend gegen sein lin­kes Bein, und einmal rief er laut und zornig:

»Das ist eine Lüge! Ich habe nichts damit zu tun. Es war der Zeitklumpen!«

Als Atlan ihn nach dem Sinn dieser Be­merkung fragte, schüttelte der Pthorer nur bedrückt den Kopf und schwieg.

Copasallior erwachte, als sie das Ende der Dunklen Täler erreichten und bereits das Kristallband vor sich sahen, das die Schlucht zwischen dem ehemaligen »Hauptquartier« der negativen Magier und dem Karsion überbrückte. Als Atlan diese seltsame Brücke zum erstenmal überschritten hatte, war sie ihm kilometerlang erschienen. Jetzt kam es ihm so vor, als betrüge die Entfer­nung zum Berg des Wettermagiers im Höchstfall dreihundert Meter.

»Ein magischer Trick«, erklärte Copasal­lior, als Atlan ihn auf diesen Unterschied an­sprach. »Karsjanor und seine Freunde woll­ten um jeden Preis verhindern, daß Sterbli­che auf diesem Weg heimlich in die Dunklen Täler eindrangen. Wenn ein Sterb­licher, der von uns mit entsprechenden Kräf­ten ausgestattet worden ist, vor dieser Brücke steht, dann glaubt er, sie müsse bis in die Unendlichkeit reichen. Wagt er sich trotzdem auf das Kristallband hinaus, dann rückt sein Ziel scheinbar endgültig in uner­reichbare Ferne, und wenn er nicht rechtzei­tig umkehrt oder Hilfe erhält, muß er ster­ben. Du bist nicht sterblich, und das mag der

Grund dafür sein, daß du die Dunklen Täler erreichen konntest. Jetzt sitzt du auf Saisja und trägst außerdem das Goldene Vlies. Darum siehst du die Brücke nun in ihrer wirklichen Länge.«

Atlan zuckte zusammen, als der Sechsar­mige das Goldene Vlies erwähnte. Der merkwürdige Anzug hatte seit geraumer Zeit keinen seiner unerklärlichen Angriffe mehr unternommen. Wenn es dem Ding aber ein­fiel, sich mit ihm anzulegen, wenn sie sich auf dem kristallenen Band befanden, dann würde es kaum noch eine Rettung für ihn geben.

Aber das Goldene Vlies verhielt sich still und brav, nicht nur auf der kristallenen Brücke, sondern auch danach, als sie am Karsion entlangritten.

Während in den Dunklen Tälern kaum et­was von den Veränderungen, die mit der Großen Barriere vorgingen, zu sehen gewe­sen war, tanzten am Berg des Wettermagiers wieder die blauen Flammen. Allerdings wa­ren die Zerstörungen hier noch längst nicht so schlimm wie am Gnorden gediehen. At­lan wußte nicht, warum ausgerechnet die Dunklen Täler verschont blieben, aber er wertete es als ein äußerst schlechtes Zei­chen. Seine Befürchtung, daß der Geist des Mächtigen gewisse Sympathien für die ne­gativen Magier und ihre Werke aufbrachte, schien sich zu bestätigen, als sie vom Karsi­on aus zur Tronx-Kette hinüberblicken konnten.

Das Reich der Sieben Gipfel lag in wa­berndem, blauem Licht vor ihnen. Das blaue Feuer brannte dort drüben mit verheerender Macht.

»Und da sollen wir hinein?« fragte Atlan entsetzt.

Copasallior, an den die Frage gerichtet war, hatte Mühe, wenigstens soweit bei Ver­stand zu bleiben, daß er Saisja zu lenken vermochte. Er murmelte etwas Unverständ­liches vor sich hin und trieb das eiserne Yas­sel auf die Brücke zu, die die Schlucht der Seelenlosen überspannte.

»Es ist halb so schlimm«, behauptete Ko­

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ratzos magische Stimme. »Die Flammen werden euch nichts tun, solange du das Gol­dene Vlies trägst und die Speicher am Ska-tha-Hir halten.«

Sie preschten auf die Brücke hinaus. Zum erstenmal konnte Atlan den Grund der Schlucht sehen. Die schwarzen Nebel, die ihm einmal fast zum Verhängnis geworden waren, existierten nicht mehr. Atlan wünschte sie sich fast zurück, denn sie hät­ten wenigstens den Blick auf die kahlen, verbrannten Felswände und den sterilen, grauen Boden in der Tiefe verdeckt. Auch dort unten züngelten blaue Flammen.

Im Grenzgebiet des Reiches der Sieben Gipfel schlugen die blauen Flammen viele Meter hoch aus dem Fels. Weiter drinnen aber wurden sie immer niedriger und ver­schwanden schließlich ganz. Dafür hing ein seltsamer, bläulicher Dunst in der Luft. Der Arkonide spürte, wie sich ihm die Haare sträubten – die Luft war mit statischer Elek­trizität aufgeladen. Besorgt achtete er auf Saisjas Gang, aber dem eisernen Yassel schien der Aufenthalt in der Tronx-Kette nichts auszumachen. Im Gegenteil – es be­wegte sich fühlbar leichter.

Nicht nur Saisja reagierte positiv auf die Veränderung. Auch Copasallior richtete sich allmählich straffer auf, als würden mit jeder Sekunde seine Kräfte zurückkehren.

Als sie Koratzos Wohnhalle erreichten, hielt der Weltenmagier das eiserne Yassel an und sprang ab. Er rannte fast auf Koratzo zu, der an der Tür des gläsernen Bauwerks stand.

»Was ist hier passiert?« fragte er. »Habt ihr dieses Übermaß an Energie freigelas­sen?«

Koratzo schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht!« antwortete er. Er ging auf Atlan und Razamon zu, die

von dem eisernen Yassel stiegen und ihre steifen Glieder streckten.

»Saisja mag eine wahre Wundermaschine sein«, bemerkte der Berserker, »aber man hätte ihren Rücken polstern sollen!«

Koratzo brachte ein schwaches Lächeln

zustande. »Kommt mit hinein«, bat er. »Wir haben

auf euch gewartet.« Auf uns wohl kaum, dachte Atlan spöt­

tisch, und er war überrascht, als er kaum ei­ne Sekunde später die magisch übertragene, lautlose Stimme in seinem Ohr wahrnahm.

Du irrst dich, sagte Koratzo, ohne daß ein anderer als der Arkonide ihn hören konnte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß du bereits zu uns unterwegs warst, hätte ich alles dar­angesetzt, um dich herzuholen. Die Lage spitzt sich zu, und du bist derjenige, der die letzte Entscheidung treffen muß. Wir alle le­gen unser Schicksal in deine Hände.

Ist das nicht ein wenig pathetisch, Korat­zo? dachte Atlan fragend.

Warte ab, bis du erfahren hast, was in der Zwischenzeit hier geschehen ist, riet Korat­zo. Dann wirst du es selbst beurteilen kön­nen.

Er wandte sich abrupt ab und ging voran.

7.

In der Wohnhalle warteten einige Magier auf Atlan, Razamon und den Weltenmagier. Einer davon war nichtmenschlich – es war der Traummagier Kolviss, der wie eine riesi­ge, blaue Meduse auf dem Boden ruhte. Ne­ben ihm hockte Taldzane auf einem steiner­nen Schemel und spielte nervös mit seinen magischen Schwertern. Rischa, die zwergi­ge, elfenhafte Feldermagierin, hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und ver­schwand fast zwischen den Fellen. Auch Ontra, Antharia, Haswahu und Opkul waren da. Atlan entdeckte darüber hinaus im Hin­tergrund der Halle behelfsmäßig hergerich­tete Lager, auf denen weitere Magier lagen – ob schlafend oder bewußtlos, das ließ sich so schnell nicht feststellen.

Das alles konnte den Arkoniden nicht überraschen, denn mit der Anwesenheit der Magier hatte er gerechnet. Aber inmitten dieser seltsamen Runde saß eine Gestalt, bei deren Anblick es Atlan die Sprache ver­schlug.

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Der kleine Mann, dem sein Erstaunen galt, lächelte und holte ein Instrument aus einer Falte seines gelben, kuttenähnlichen Gewands. Das Instrument sah aus wie eine irdische Panflöte, aber die Töne, die Sindro damit produzierte, hatten mehr mit Magie als mit Musik zu tun.

»Erkennst du mich?« fragte der Zwerg und setzte das Instrument an die Lippen. Ei­ne flüchtige Tonfolge erklang, und Atlan spürte, wie etwas Fremdes sich in sein Ge­hirn zu schleichen versuchte. Es war ein an­genehmes Gefühl, denn der Einfluß, dem er für die Dauer einiger Sekunden erlag, lösch­te all die schreckliche Spannung in ihm aus, die ihm nun schon seit Wochen zu schaffen machte.

Er sah Sindro enttäuscht an, als der klei­ne, weißhaarige Mann die Flöte sinken ließ.

»Wir haben keine Zeit für solche Spiele­reien«, brummte Taldzane.

Koratzo ließ sich seufzend auf eine Bank sinken.

»Der Schwertmagier hat recht«, stellte er fest. »Sindro – es wird Zeit, daß du uns dei­ne Geschichte erzählst.«

Der Zwerg zuckte die Schultern und ließ die Flöte verschwinden.

»Einiges habt ihr alle mittlerweile erra­ten«, meinte er. »Und den Rest müßtet ihr euch eigentlich selbst zusammenreimen kön­nen.«

Koratzo sprang heftig auf. »Dies hier ist nicht der richtige Zeitpunkt,

um Ratespiele zu veranstalten!« rief er wü­tend, und erst Sindros schrilles Kichern brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Du hast mich überzeugt«, bekannte der Zwerg. »Ich dachte, es wäre völlig unmög­lich, dich aus der Fassung zu bringen. Aber ich gebe zu, daß ich nicht alles über dich weiß.«

»Komm endlich zur Sache!« forderte Ko­ratzo mühsam beherrscht.

»Wie du willst. Ihr alle wißt, daß es seit undenkbaren Zeiten Magier in diesem Ge­birge gegeben hat. Wenn eines dieser Völker starb, wurde ein anderes geholt, eines nach

dem anderen, viele Tausende, seit Pthor in die Gewalt des Dunklen Oheims geriet. All diese Völker hatten nur eine einzige Funkti­on: Sie mußten Energie in dieses Gebirge ziehen. Die Berge können diese Energie nur speichern, sie aber nicht ohne fremde Hilfe aufsaugen. Die Speicherfähigkeit war seit eh und je vorhanden, und die Energie, die seit dem Ende des Mächtigen in den Bergen ruh­te, hätte für eine wahre Ewigkeit gereicht. Sie wurde außerdem durch den Wölbmantel ständig ergänzt. Sobald der Dunkle Oheim auftrat, fiel der Wölbmantel als Energieliefe­rant aus, denn der Schirm konnte nicht ein­mal dieses Land restlos vor dem Einfluß die­ses Wesens bewahren. Die Berge selbst ver­loren Energie durch die veränderten Verhält­nisse. Nur darum wurde es notwendig, Ma­gier nach Pthor zu holen.«

»Es gibt sie auch auf anderen Dimensi­onsfahrstühlen«, wandte Atlan ein. »Wie ha­ben welche in Dorkh getroffen.«

»Das glaube ich gerne«, nickte Sindro spöttisch. »Der Dunkle Oheim mag erkannt haben, daß die Magier sehr nützlich sein können.«

Er sah Koratzos Gesicht und Copasalliors heftige Geste und winkte hastig ab.

»Das war nicht verletzend oder abwertend gemeint«, sagte er ernst.

»Wo ist der Mächtige?« fragte Koratzo. »Wo hat er sich die ganze Zeit hindurch ver­steckt gehalten?«

»Ich möchte wetten, daß du es weißt«, er­widerte der Zwerg. »Sein Bewußtsein ruht hier, unter deinen Füßen, in den Bergen der Tronx-Kette. Du mußt wissen, daß seit jeher die Sieben Gipfel die Heimat der positiven Magier waren.«

»Die gab es also auch bei den anderen Völkern?« erkundigte sich Copasallior über­rascht.

»Selbstverständlich. Der Geist des Mäch­tigen braucht die ungeformte, neutrale Ener­gie, um stark zu werden. Die Quorks und das Parraxynt sollten die beiden anderen Komponenten liefern, die positive und die negative. Aber es ist zu viel Zeit vergangen,

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und der Einfluß des Dunklen Oheims brach­te viele Veränderungen mit sich. Ohne die besonderen Kräfte der positiven und der ne­gativen Magie kann der Geist des Mächtigen nicht erwachen. Die positiven Kräfte sind verfügbar, sie stecken in den entsprechenden Magiern. Aber an die negative Energie kommt der Mächtige nicht heran, solange ihr die Speicher am Skatha-Hir nicht öff­net.«

»Du hast das schon einmal von uns gefor­dert«, sagte Koratzo gedehnt. »Du hast uns außerdem erklärt, daß der Dunkle Oheim nur dann zu schlagen ist, wenn dem Mächti­gen alle positive und alle negative Energie zur Verfügung steht, über die wir verfügen. Aber was wird mit uns geschehen, wenn wir auf die Forderung eingehen? Werden wir sterben?«

»Das ist nicht anzunehmen. Es bleibt ge­nug neutrale Energie übrig, um die jetzt le­benden Magier zu erhalten.«

»Und was geschieht mit Pthor?« »Das Land wird frei sein. Seine Bewoh­

ner werden endlich Frieden finden.« Atlan stieß Koratzo unauffällig an. Kannst du seine Gedanken hörbar ma­

chen? fragte er in Gedanken. Nein, erwiderte Koratzo auf die lautlose

Weise. Es ist, als hätte er gar keine Gedan­ken. Atlan, ich weiß nicht, wer oder was die­ser Mächtige war und wie es um seinen Geist steht, aber ich habe Angst. Es gibt sehr viele magische Speicher in Oth, und der Geist des Mächtigen hat sie alle geöffnet. Er hat auch den lebenden Magiern fast alle Kraft genommen. Sieh dir die Berge an – sie zerfallen unter dem Ansturm der entfesselten Energie. Aber was der Mächtige bis jetzt freigesetzt hat, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich vorhanden ist. In den Spei­chern am Skatha-Hir steckt mehr als das, was den Negativen genommen wurde. Der ganze Berg ist ein einziger Speicher. Wenn er geöffnet wird – es könnte ganz Pthor zer­reißen.

Sindro hat das Ergebnis möglicherweise ganz richtig angedeutet, dachte er. Das Land

wird frei sein, und seine Bewohner werden endlich Frieden finden. Eine feine Um­schreibung der schrecklichen Wahrheit! Aber noch sind wir nicht am Ende. Ich weiß, daß ich in meine Welt zurückkehren werde. Wir werden nicht sterben!

Du wirst nicht sterben, betonte Koratzo in seiner lautlosen Antwort bedrückt.

Wir müssen mit dem Geist des Mächtigen selbst reden, erklärte Atlan. Ich bin sicher, daß Sindro uns die Möglichkeit dazu ver­schaffen kann – wenn er will. Fordere es von ihm!

Diese lautlose Verständigung funktionier­te wesentlich schneller als jede andere Art von Sprache. Es war daher keine auffällig lange Pause im Gespräch entstanden.

»Du trittst uns gegenüber als der Bote des Mächtigen auf«, sagte Koratzo laut. »Wir haben die Forderungen des Mächtigen ver­nommen und sind bereit, darüber zu verhan­deln. Aber nicht mit dir! Wir wollen mit dei­nem Herrn sprechen.«

Für einen Augenblick wirkte Sindro maß­los verblüfft, und er starrte den Stimmenma­gier fassungslos an. Dann begann er plötz­lich zu lachen.

»Ich finde das Ganze gar nicht komisch!« bemerkte Atlan scharf.

»Aber begreifst du denn nicht!« rief Sin­dro erregt. »Mit dem Geist des Mächtigen will er reden! Er – die Eintagsfliege!«

»Er ist ein Unsterblicher!« »Ich weiß«, sagte der Zwerg wegwerfend.

»Ihr alle seid unsterblich – nach euren Maß­stäben. Aber wenn du es mit den Augen des Mächtigen betrachtest, dann seid ihr ledig­lich Mikroben, die ein paar Stunden lang zur Beobachtung zur Verfügung stehen, wäh­rend alle anderen schon nach wenigen Se­kunden erlöschen. Ihr könnt nicht mit ihm reden, denn ihr lebt in einem ganz anderen Verhältnis zur Zeit, als es bei ihm der Fall ist.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte Atlan heftig. »Ich will dir auch sagen, warum: Ich trage das Goldene Vlies, und wir wissen, daß dein Mächtiger diesen Anzug nach Pthor ge­

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bracht hat. Ich bin sicher, daß das Vlies für ihn nicht nur eine Art Souvenir war. Er hat darin gesteckt, hat den Anzug getragen und benützt. Das heißt, daß dessen Reaktionen auf den Mächtigen abgestimmt sind. Ich wä­re längst tot, wenn diese Reaktionen von meinen allzu weit abweichen würden. Mit anderen Worten: Es gibt keinen gravieren­den Unterschied zwischen uns.«

»Der Gedankengang einer Eintagsfliege«, höhnte Sindro. »Du weißt, daß der Anzug zu töten vermag. Daß es dich noch nicht erwi­scht hat, ist reiner Zufall.«

Atlan lachte leise auf. »Willst du mir Angst einjagen?« fragte er

spöttisch. »Ich soll diesen Anzug ablegen – ist es nicht so? Welche Bedeutung hat das Goldene Vlies für den Mächtigen, Sindro?«

Aus unerfindlichen Gründen zog der Zwerg es vor, auf ein anderes Thema auszu­weichen.

»Ihr werdet euch entscheiden müssen«, sagte er. »Entweder öffnet ihr den Speicher, oder ihr laßt den Dunklen Oheim auf diese Galaxis los. Eine dritte Möglichkeit existiert nicht.«

»Gib uns eine Bedenkzeit!« forderte der Arkonide.

Sindro blickte demonstrativ nach oben. Die Sterne der Milchstraße waren nicht zu sehen, denn über dem gläsernen Dach der Wohnhalle waberte blauer Dunst. Aber jeder wußte, wie diese Geste gemeint war.

»Wenn ihr glaubt, so viel Zeit zu haben«, sagte der Zwerg schroff, »dann beratet euch nur. Wenn der Dunkle Oheim die schwarzen Kerne auf die Reise schickt, wird es zu spät sein.«

Und damit verschwand er von einem Au­genblick zum anderen.

*

»Habt ihr herausbekommen, wer er ist?« fragte Atlan, als sie unter sich waren.

Koratzo schüttelte stumm den Kopf. »Wir haben ihn nur einmal gesehen«, sag­

te Rischa an seiner Stelle. »Das war im Tal

der Schneeblume, als die Entscheidung für oder gegen die Herren der FESTUNG fallen sollte. Du kennst ihn offenbar auch?«

»Ich bin ihm vor langer Zeit begegnet«, murmelte der Arkonide nachdenklich. »Das war in der Wüste Fylln. Damals hat er mir geholfen. Es ist sehr fraglich, ob Razamon und ich ohne seine Hilfe den Kartaperator hätten ausschalten können.«

»Mit der Vernichtung des Kartaperators habt ihr den Stein ins Rollen gebracht«, be­merkte Copasallior überrascht. »Von allen nichtmagischen Waffen, über die die Herren der FESTUNG verfügten, war der Kartape­rator die wichtigste. Mit seiner Vernichtung waren die weiteren Ereignisse nicht mehr aufzuhalten. Ragnarök mußte kommen, und die FESTUNG mußte fallen. Ausgerechnet dabei hat er euch geholfen!«

»Vielleicht ist er der Mächtige!« wisperte Haswahu ängstlich.

»Unsinn«, sagte Koratzo grob. »Woher willst du das wissen?« erkundigte

Rischa sich ärgerlich. »Er muß ja nicht der Mächtige in seiner vollen Gestalt sein – nur ein Teil davon!«

»Das könnte zutreffen«, gab der Stim­menmagier zu. »Aber die Macht dieses We­sens, das wir als Sindro kennen, ist begrenzt. Wenn Sindro zurückkehrt und uns das Ge­spräch mit dem Mächtigen verweigert – was sollen wir dann tun, Atlan?«

»Ihr werdet ihn zwingen, eine Verbindung herzustellen«, sagte der Arkonide langsam. »Ich bin sicher, daß ein Gespräch stattfinden kann!«

»Ich auch«, erwiderte Koratzo mit seltsa­mer Betonung.

Die beiden Männer sahen sich in die Au­gen.

Du hast schon mit ihm gesprochen, stellte Atlan in Gedanken fest.

Nein, antwortete Koratzo lautlos. Es hat noch kein Gespräch gegeben.

Was dann? Einen Gedankenaustausch, vielleicht. Der

Mächtige ist noch nicht wach, aber er schläft auch nicht mehr. Er steht an der Grenze zum

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Erwachen, und tausend Ängste quälen ihn. Wer oder was ist Sindro? Ein Wesen, das es eigentlich gar nicht

gibt, eine Figur, die nur in den Träumen des Mächtigen existiert. Ich vermute, daß Sindro mit der Seele von Pthor in enger Verbindung steht. Durch die Seele erfährt der Mächtige, was sich auf diesem Dimensionsfahrstuhl abspielt. Die Informationen fließen in seine Träume ein, und Sindro stellt die Reaktion auf die Neuigkeiten dar, die der Mächtige erfährt.

Atlan zögerte für einen Augenblick. Er fürchtete sich beinahe vor der nächsten Fra­ge. Aber gegen seinen Willen formulierte er das, was er dachte, und kleidete es in Gedan­ken in Worte.

Er ist nicht böse, beantwortete Koratzo die stumme Frage des Arkoniden. Ich glau­be nicht, daß er jemals etwas Schlechtes ge­wollt hat.

Bist du sicher? dachte Atlan. Er hat uns alle benutzt, aber das schlimmste Spiel hat er mit euch Magiern getrieben. Begreifst du denn nicht, was da passiert ist, Koratzo?

Der Magier lächelte schwach. Oh doch, flüsterte seine magische Stimme

in Atlans Ohren. Aber du solltest bedenken, daß er gar nicht bei Bewußtsein war, als er diesen Weg einschlug. Er hätte einen ganz anderen Weg gewählt, wäre er bei vollem Verstand gewesen und hätte er handeln kön­nen.

Welchen Weg? Koratzo schwieg. Er hätte die Dimensionsfahrstühle zer­

stört, nicht wahr? fragte Atlan drängend. Er hätte buchstäblich alles getan, um nicht mit den Verbrechen des Dunklen Oheims in Ver­bindung gebracht zu werden. Oder stimmt das nicht?

Wahrscheinlich hast du recht. Du gibst das nicht gerne zu, stellte Atlan

fest. Du hast sicher schon seit einiger Zeit gewußt, daß da etwas ist, was euch steuert, aber du hast nicht begriffen, wie tief das ging. Jetzt mußt du erkennen, daß du nie­mals frei in deinen Entscheidungen warst,

und du suchst instinktiv nach einem Schlupf­loch. Deine eigene Welt wäre rehabilitiert, wenn das, was euch beeinflußt hat, positiv wäre. Wenn du dagegen die Motive des Mächtigen in Frage stellst, dann wird auch dein ganzes Leben fragwürdig.

Koratzo sah den Arkoniden lange Zeit schweigend an.

»Nein«, sagte er schließlich, und diesmal bediente er sich nicht der magischen Spra­che, sondern er redete so, daß jeder ihn hö­ren konnte. »Der Mächtige hat nichts Böses gewollt, und er hat auch uns gegenüber nicht negativ gehandelt. Er hat uns manches ab­verlangt, aber er hat uns dafür das gegeben, was man das ewige Leben nennt. Wenn wir jetzt dafür bezahlen müssen, dann ist das nur recht und billig.«

»Du würdest dich opfern?« fragte der Ar­konide entsetzt. »Aber das ist doch Wahn­sinn!«

»Du hast mich einmal mit deinem Miß­trauen angesteckt, König von Pthor«, erwi­derte der Stimmenmagier abweisend. »Es wird dir kein zweitesmal gelingen. Wir wer­den nicht sterben müssen. Es ist alles halb so schlimm. Außerdem«, setzte er zögernd hin­zu, »geht es um das Schicksal von Pthor. Wir haben einigen Schaden gutzumachen.«

Atlan hatte eine bitterböse Bemerkung auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter und wandte sich statt dessen an Copasallior.

»Kannst du diesen Narren nicht zur Ver­nunft bringen?« erkundigte er sich bitter.

Der Weltenmagier zuckte die Schultern. »Je länger ich über seine Worte nachden­

ke, desto besser gefallen sie mir«, gab er zu. »Koratzo hat in allen Punkten recht.«

»Laß uns zum Skatha-Hir gehen!« forder­te Koratzo prompt und streckte dem Sechs­armigen die rechte Hand hin. »Ich werde die Speicher öffnen.«

Dem Arkoniden kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Nur wenige Minuten zu­vor hatte Koratzo ihm erklärt, mit welchen Risiken ein solcher Schritt verbunden war, und jetzt …

Atlan schalt sich einen Narren. Natürlich

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37 Der Geist des Mächtigen

hatten weder Koratzo noch Copasallior ihre Meinung geändert. Der Unheimliche, der ir­gendwo in den Bergen der Tronx-Kette im Halbschlaf lag, hatte sie wieder unter seinen Bann gezwungen. Wie das geschehen war und warum der Mächtige es nicht schon lan­ge vorher auf diese Weise versucht hatte, war dem Arkoniden egal. Er sah das Ergeb­nis vor sich, und das reichte ihm vorerst.

Er sah Razamon an, und der Berserker nickte grimmig.

Unter normalen Umständen wäre ein tätli­cher Angriff auf die beiden mächtigsten Ma­gier von Oth ein völlig aussichtsloses Unter­nehmen gewesen. Jetzt aber waren Koratzo und der Weltenmagier kaum imstande, sich auf die für sie typische Weise abzuschirmen. Hinzu kam, daß Atlan und Razamon durch das Goldene Vlies und den Zeitklumpen teil­weise gegen magische Kräfte geschützt wa­ren. So bereitete es ihnen keine Schwierig­keiten, an ihre beiden Opfer heranzukom­men und sie blitzschnell zu betäuben.

Atlan ließ Koratzo zu Boden gleiten, drehte sich um und sah die anderen Magier an, die betreten herumstanden und offen­sichtlich nicht wußten, wie sie sich zu ver­halten hatten.

»Kommt zu euch!« rief er ihnen zu. »Der Mächtige versucht euch zu beeinflussen, aber er wird es aufgeben, wenn er erkennt, daß es sinnlos ist. Nur Koratzo kann die Speicher öffnen. Der Mächtige wird warten müssen, bis der Stimmenmagier wieder zu sich kommt.«

Ehe einer der Magier dem Arkoniden ant­worten konnte, erschien Sindro neben dem Arkoniden.

»Gib ihn frei!« forderte der Zwerg und deutete auf Koratzo.

»Nein!« »Man wird dich dazu zwingen!« Atlan lachte gezwungen. »Wer will das übernehmen?« fragte er

spöttisch. »Die Magier? Sie werden sich hü­ten, etwas gegen mich zu unternehmen, denn wenn Koratzo den Willen des Mächtigen er­füllt, dann wird es keine Magier mehr in Oth

geben – selbst wenn eine alles vernichtende Explosion verhindert wird. Die ausströmen­de Energie wird ihre Gehirne leerbrennen.«

Er sah Sindros seltsamen, starr auf Raza­mon gerichteten Blick und schüttelte war­nend den Kopf.

»Jetzt verstehe ich es«, murmelte er. »Du hast dafür gesorgt, daß Koratzo und Copa­sallior ihre Meinung änderten. Aber du soll­test es auf keinen Fall bei Razamon versu­chen. Er trägt einen Zeitklumpen. Beeinflus­se ihn, und du stellst möglicherweise eine direkte Verbindung zum Dunklen Oheim her. Muß ich dir erklären, was dann ge­schieht? Dein Mächtiger ist noch nicht er­wacht. Der Oheim würde ihn in Fetzen rei­ßen.«

Sindro drehte sich blitzschnell zur Seite und deutete mit beiden Händen auf Atlan. Für einen Augenblick glaubte der Arkonide, daß nun alles vorbei sei. Er wußte jetzt, wer das Goldene Vlies zu den heimtückischen Mordanschlägen getrieben hatte, und er konnte sich nicht vorstellen, daß der Anzug sich auch jetzt noch auf die Pflichten besin­nen würde, die er seinem derzeitigen Träger gegenüber hatte.

Der Helm schloß sich ganz von selbst über dem Kopf des Arkoniden. Das Innere des Anzugs wurde eiskalt. Atlan fühlte be­reits seine Kräfte schwinden, und seine eige­ne Hilflosigkeit versetzte ihn in Zorn.

»Gehorche ihm nur«, sagte er zu dem Goldenen Vlies. »Vollende das, was der Dunkle Oheim begonnen hat. Der Mächtige wollte dem Guten zum Sieg verhelfen, und ich nehme an, daß das auch der Grund dafür war, daß die Seelen der Inseln sich in ihr Schicksal fügten und auf eine günstige Gele­genheit warteten, anstatt sofort mit Gewalt gegen das schwarze Ungeheuer vorzugehen. Das mag gut gemeint gewesen sein, war aber trotzdem ein Fehler, durch den unsag­bar viel Leid entstanden ist. Immerhin kann man bis jetzt sagen, daß der Mächtige nicht gewollt böse gehandelt hat. Was er jetzt vor­hat, ist jedoch reiner Mord.«

Das Goldene Vlies reagierte nicht.

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38 Marianne Sydow

Zieh es aus! wisperte der Extrasinn. Atlan versuchte, die Hände zu heben. Es

ging nicht. Das Goldene Vlies schloß sich eng um seinen Körper und verhinderte jede Bewegung.

Durch die Frontplatte des Helms sah er verschwommen, daß Razamon sich auf Sin­dro stürzte. Er wollte einen warnenden Schrei ausstoßen, aber kein Laut drang über seine Lippen. Der Berserker kam nicht an Sindro heran, sondern stürzte wie vom Blitz gefällt zu Boden, als er noch gut zwei Meter von dem Zwerg entfernt war. Der kleine Mann blickte herausfordernd in die Runde.

»Kommt nur her!« lockte er drohend. »Kommt, ihr Narren!«

Atlan war ihm dankbar dafür. Voller Tri­umph spürte er, wie das Goldene Vlies sei­nen erbarmungslosen Griff lockerte. Der Anzug wurde wieder weich und geschmei­dig, und der Helm öffnete sich. Der Arkoni­de blickte lächelnd auf Sindro hinab.

»Diesmal hast du verloren«, stellte er fest. Sindro starrte ihn an wie einen Geist. Als

Atlan einen Schritt auf ihn zu machte, streckte der Zwerg abwehrend die Hände aus und wich zurück. Die Magier, die einen lockeren Kreis um die Gruppe gebildet hat­ten, gingen schweigend ein wenig auseinan­der und gaben eine Gasse frei. Schritt für Schritt ging Sindro rückwärts, und Atlan folgte ihm unbarmherzig, bis sie die Tür er­reichten.

»Öffne sie!« befahl der Arkonide. Der Zwerg gehorchte, und Atlan drängte

ihn nach draußen. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Magier sahen ihm schwei­gend nach.

»Weckt Razamon und eure beiden Freun­de auf«, bat er. »Aber paßt auf, daß sie mir nicht nach draußen folgen.«

Taldzane schüttelte seine Mähne und hob demonstrativ die rechte Faust. Herzfinder, das magische Schwert, fuhr zischend durch die Luft.

»Ich begleite dich!« bot der Schwertma­gier an.

Atlan zögerte einen Augenblick, nickte

dem Hünen dann aber zu. Taldzane strahlte über das ganze bärtige Gesicht. Mit einem Wink befahl er die vier Herztöter zu sich.

Draußen herrschte eine seltsame, blaue Dämmerung. Die Luft war klar, und man konnte deutlich die nächsten Gipfel erken­nen. Auch sie waren in bläuliches Licht ge­taucht, wirkten aber noch völlig unbeschä­digt. Selbst in halbwachem Zustand schien der Mächtige die zerstörerischen Flammen recht genau kontrollieren zu können – er brachte sich nicht selbst in Gefahr. Zweifel­los konnte er auch die gesamte Barriere vor der Zerstörung bewahren …

Das brachte den Arkoniden auf eine Idee. »Erkläre mir, warum der Mächtige die

Magier vernichten will!« sagte er zu Sindro. Taldzane fuhr überrascht auf. »Du solltest das Goldene Vlies ablegen!«

bat der Zwerg statt einer Antwort. »Dein Geist verwirrt sich. Warum sollte der Mäch­tige die Magier vernichten wollen? Er hat sie doch in dieses Land geholt.«

Taldzane stieß einen ärgerlichen Laut aus und richtete Herzfinders Spitze auf den Zwerg. Die vier Herztöter gingen sofort in Angriffsposition. Sindro musterte die in der Luft schwebenden Schwerter mit herablas­sender Gleichgültigkeit.

»Nimm dich in acht!« warnte Atlan leise. »Das sind keine gewöhnlichen Schwerter. Wo bleibt die Antwort auf meine Frage?«

Sindro lachte schrill. »Du reimst dir etwas zusammen …«, be­

gann er, aber da dirigierte Taldzane die vier Herztöter näher an den Zwerg heran. Eine der spitzen Klingen ritzte den Arm des Zwerges. Helles, orangefarbenes Blut sickerte aus der Wunde.

Sindro blickte fassungslos auf seinen Arm.

»Das ist nur Lug und Trug!« flüsterte er entsetzt. »Sie können mich nicht verletzen.«

»Oh doch«, versicherte Taldzane grim­mig. »Meine Schwerter können das. Du exi­stierst auf einer magischen Ebene, auf der normale Waffen dich nicht erreichen kön­nen, aber vor meinen Schwertern wirst du

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nirgendwohin fliehen können.« Atlan hatte keineswegs damit gerechnet,

daß Sindro in irgendeiner Weise verletzlich sein könnte. Die Erkenntnis, daß Taldzanes Schwerter eine Bedrohung für den Zwerg darstellten, gab ihm neue Zuversicht.

»Es ist immer ein Fehler, seine Gegner zu unterschätzen«, bemerkte er. »Ich hoffe, wir können nun vernünftig miteinander reden. Was führt der Geist des Mächtigen im Schil­de?«

Sindro war wie verwandelt. Seine Selbst­sicherheit war wie weggeblasen. Er starrte abwechselnd auf die Schwerter und auf Taldzane.

»Ich weiß es nicht genau«, flüsterte er. »Er ist noch nicht imstande, klare Pläne zu fassen, aber seine Träume sind furchtbar. Ich fürchte, die Erkenntnis dessen, was seine In­seln angerichtet haben, wird ihn zerbre­chen.«

»Soll ich noch mehr aus ihm herauskit­zeln?« fragte Taldzane unternehmungslustig und ließ die vier Herztöter einen verwirren­den Tanz um den Zwerg aufführen.

Atlan winkte ab. »Wer bist du?« fragte er. »Ein Teil des

Mächtigen?« »Ja. Aber ich werde nicht mehr lange exi­

stieren. Die Träume verschwimmen allmäh­lich, und wenn der Mächtige endgültig er­wacht, muß ich zu ihm zurückkehren.«

»Welche Aufgabe hattest du zu lösen?« Sindro verzog das Gesicht. »Keine Aufgabe«, murmelte er kaum hör­

bar. »Ich bin nur ein Produkt des Zufalls. Ich habe hier und da versucht, die Ereignisse zu steuern, aber es ist mir niemals in ausrei­chendem Maße gelungen.«

Sindro schwankte. Gleichzeitig brach ein Donnerschlag die Stille in der Tronx-Kette. Atlan zuckte zusammen und blickte unwill­kürlich zu den Gipfeln auf. Er sah die blauen Flammen emporschießen. Staubwolken er­hoben sich an vielen Stellen und wälzten sich träge den tiefen, dunklen Schluchten entgegen.

»Sieh dir das an!« schrie Taldzane wü­

tend. »Der Kerl will abhauen!« Die Herztöter zuckten vor, einem gemein­

samen Mittelpunkt entgegen, an dem noch immer Sindro stand. Aber der Zwerg war halb durchsichtig geworden, und er schwankte noch stärker. Als die Schwerter ihn berührten, schien er es gar nicht zu spü­ren. Die vier Herztöter durchbohrten den durchsichtigen Zwerg und fielen dann plötz­lich zu Boden.

Sindro war verschwunden. Der Boden begann zu vibrieren, und don­

nernde Geräusche erfüllten die Luft. Aus der Tiefe der Schlucht, die sich neben Koratzos Wohnhalle auftat, drangen ein unheimliches Knirschen und das schreckliche Gebrüll der Monstren, die der Stimmenmagier dort un­ten beherbergte.

»Der Mächtige erwacht!« rief Atlan dem Schwertmagier zu. »Bringe dich in Sicher­heit!«

Er drehte sich um und rannte in die Wohnhalle zurück. Als er die Tür erreichte, brach hinter ihm der Rand des Plateaus in Stücke. Atlan hörte den Schrei des Schwert­magiers, dann das dumpfe Donnern, mit dem die Felstrümmer in die Tiefe stürzten. Er warf sich nach vorne, in die trügerische Sicherheit zwischen den gläsernen Wänden.

Von dort, wo er Razamon und die beiden betäubten Magier zurückgelassen hatte, hör­te er Copasalliors zornige Stimme.

»Du mußt es tun, und du kannst es. Du bist einer von uns, auch wenn du das nicht wahrhaben willst. Wenn du jetzt versagst, ist alles verloren! Halte die Zeit an – es ist un­sere einzige Chance!«

Atlan blieb wie vom Donner gerührt ste­hen. Er starrte Razamon an, der mit verknif­fener Miene auf den Weltenmagier blickte. Der Berserker sah auf, und ihre Blicke be­gegneten sich.

»Du warst es also«, sagte Atlan leise. »Ich hätte es gleich wissen müssen. Verdammt, Razamon, worauf wartest du noch? Da drau­ßen bricht alles zusammen. Taldzane ist tot …«

»Ihr irrt euch, alle miteinander!« schrie

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der Berserker wild. »Ja, es stimmt, ich habe am Gnorden die Zeit angehalten – aber das war nicht wirklich mein Werk. Der Zeit­klumpen hat es getan.«

»Dann soll dieses Ding jetzt noch einmal beweisen, daß es etwas zu leisten vermag«, knurrte Copasallior.

»Das wäre nur recht und billig«, erwiderte Razamon verstört. »Aber ich kann es nicht steuern. Der Zeitklumpen handelt selbstän­dig. Wahrscheinlich will er uns jetzt nicht helfen …«

Atlan hörte nicht weiter zu. Er packte Razamon bei den Schultern, und stieß ihn auf die Tür zu.

»Sieh es dir an«, bat er atemlos. »Schnell, ehe es zu spät ist.«

Er spürte Widerstand, und eine grenzenlo­se Wut stieg in ihm auf. Da war er nun so weit gekommen, die Milchstraße lag jenseits der schwarzen Hülle, und fast konnte er schon damit rechnen, tatsächlich nach Terra zurückkehren zu können. Sollte er im letzten Augenblick hier, in diesem buchstäblich von allen guten Mächten verlassenen Gebirge, sterben müssen?

Koratzo griff mit zu, und gemeinsam drängten sie den sich sträubenden Berserker zur Tür. Atlan sah aus den Augenwinkeln die anderen Magier, die ebenfalls zu helfen versuchten. Dann tauchte Rischa wie eine blaue Elfe vor ihnen auf und winkte sie mit einer herrischen Geste zur Seite. Im näch­sten Augenblick wurde Razamon von un­sichtbaren Händen in die Luft gehoben und zur Tür getragen.

»Bringe die anderen von hier weg!« schrie Atlan dem Weltenmagier zu, während er Razamon nacheilte. »Schicke sie in die Dunklen Täler, besser noch zum Rand der Barriere.

Beeile dich!« Dann stand er an der Tür und begriff, daß

es möglicherweise ein Fehler war, den Wel­tenmagier jetzt mit Arbeit zu überhäufen. Wenn kein Wunder geschah, dann würden sie ohne Copasalliors Hilfe die Wohnhalle des Stimmenmagiers nicht mehr verlassen

können. Der Abgrund begann jetzt direkt an der

Tür. Es war ein Wunder, daß die Wände noch nicht in die Tiefe gestürzt waren.

Rischa hielt Razamon mit ihren magi­schen Bändern fest und sicher umfangen. Der Berserker starrte entsetzt in das Chaos. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus und versuchte, die Hände über die Au­gen zu legen, aber Rischa vereitelte diese Absicht. Atlan war nahe daran, sie zurück­zurufen. Er war wenige Sekunden später froh, daß er es nicht getan hatte.

Razamon entspannte sich plötzlich – und hielt dann ganz still. Er wirkte wie erstarrt. Gleichzeitig erstarrte auch die Umgebung, genau in dem Augenblick, in dem etwas weiter rechts die gläserne Wand der Wohn-halle nachgab. Das Glas splitterte, schien aber mitten in diesem Vorgang einzufrieren – die Splitter hingen in irrealen Winkeln in der Luft.

Rischa holte Razamon vorsichtig aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich heraus. Sie blieb regungslos neben dem Berserker ste­hen, um ihn zu bewachen. Atlan drehte sich um und entdeckte Koratzo und Copasallior, die bleich und entsetzt nach draußen blick­ten.

»Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeit­punkt gekommen«, sagte der Arkonide leise. »Sprich mit dem Mächtigen, Koratzo!«

8.

Viermal mußte Koratzo nach dem Geist des Mächtigen rufen, ehe er eine Antwort er­hielt. Was der Magier dann schließlich für die anderen hörbar machte, das klang wie das gereizte Brummen eines großen, gefähr­lichen Tieres, das man im Schlaf gestört hat.

»Gebt die Energien frei und laßt mich meine Arbeit tun!« forderte der Mächtige ungeduldig, und seine Stimme hallte dumpf und drohend durch die Wohnhalle. »Es ist sinnlos, daß ihr euch wehrt.«

Koratzo sah den Arkoniden an, und Atlan nickte.

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»Das glaube ich nicht«, erwiderte er und verließ sich darauf, daß der Stimmenmagier die Antwort weitergab. »Du kommst ohne unsere Einwilligung nicht an diese Energien heran. Du solltest mit uns verhandeln.«

Der Geist des Mächtigen stieß ein dump­fes Gelächter aus.

»Du mußt der sein, der den Anzug der Vernichtung trägt«, stellte er dann fest. »Ja, ich sehe, daß das verdammte Ding mir nicht ganz ohne Grund den Gehorsam verweigert. Du bist ein guter Träger, aber du wirst trotz­dem verzichten müssen.«

»Du hast eine seltsame Ausdrucksweise für einen …«

»Einen Mächtigen?« Wieder erklang das seltsame Lachen. »Ich konnte lieben und hassen, lachen und leiden – wie du. Über­rascht dich das? Und jetzt Schluß damit! Zieh den Anzug aus.«

»Nein!« »Warum nicht?« Die Frage klang verwun­

dert. »Ich habe das Parraxynt zusammenge­

setzt, weil ich von dir Hilfe für dieses Land und die anderen Inseln erhofft habe«, erklär­te Atlan langsam. »Mehr noch – der Dunkle Oheim hat die Milchstraße erreicht, jene Ga­laxis, in der mein Volk lebt. Ich habe ge­dacht, daß mir kein Preis zu hoch sein könn­te, wenn es mir nur gelänge, die Völker der Milchstraße vor der Herrschaft des Dunklen Oheims zu bewahren.«

»Ich bin bereit, dir diesen Dienst zu er­weisen.«

Atlan lauschte der Stimme nach. Er fand, daß entschieden zu viel bitterer Spott darin mitklang.

»Ja«, sagte er. »Das glaube ich dir. Aber ich habe Angst vor den Folgen. Ich brauche mich nur hier in der Barriere umzusehen, um zu wissen, daß du nicht das bist, was ich mir erhofft habe. Du zerstörst. Du tötest.«

»Das ist doch das, was du wolltest. Ich werde auch den Dunklen Oheim vernich­ten.«

»Und vieles andere dazu.« Der Mächtige schwieg.

»Wir werden die Speicher nicht öffnen«, sagte Atlan fest. »Und ich werde den Anzug der Vernichtung so lange tragen, bis ich eine Möglichkeit finde, ihn für immer aus deiner Reichweite zu entfernen.«

»Du bist ein Narr!« behauptete der Mäch­tige.

»Das macht mir nichts aus«, versicherte Atlan gelassen.

»Nun gut«, sagte der Mächtige nach einer langen Pause. »Laß mich darüber nachden­ken.«

Wieder brach die Stille über sie herein. Razamon rührte sich nicht, und auch Rischa stand starr wie eine Statue. Koratzo lauschte konzentriert einer Stimme, die nur er zu hö­ren vermochte.

»Er wird auf nichts eingehen«, flüsterte Copasallior dem Arkoniden zu. »Er hat recht: Über kurz oder lang erreicht er sein Ziel. Razamon kann den Zerfall nur für eine begrenzte Zeit aufhalten. Früher oder später werden die zerstörerischen Kräfte durch­schlagen und uns alle vernichten. Dann wer­den zumindest die Kräfte des Goldenen Vlieses frei.«

»Und die Speicher?« Der Weltenmagier zuckte die Schultern. »Sie werden etwas länger halten«, gab er

zu. Koratzo hob die Hand. »Er versucht es«, sagte er leise. »Er will

uns vernichten. Aber er schafft es nicht. Das liegt nicht nur an Razamon, sondern auch an ihm selbst, denn er kann seine Kräfte noch nicht so gezielt einsetzen, wie es ihm vor­schwebt … Jetzt hat er erkannt, daß er so nicht weiterkommt. Er denkt darüber nach, was er tun soll.«

Atlan beobachtete den Magier aufmerk­sam. Koratzo wurde plötzlich sehr bleich.

»Beim Geist der FESTUNG!« flüsterte der Stimmenmagier. »Hört euch das an!«

»Vernichten!« flüsterte die Stimme des Mächtigen. »Alles vernichten. Ich muß die Spuren tilgen. Erst der Dunkle Oheim, dann die Inseln. Sie sind entartet. Ich habe sie ge­schaffen, damit sie Gutes tun, aber sie haben

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sich verwandelt. Ihre Bewohner sind Wahn­sinnige. Sie haben kein Recht darauf, dieses Universum zu besudeln. Ich muß es verhin­dern.«

Die Stimme sank zu einem unverständli­chen Murmeln herab. Wenige Sekunden später meldete sich der Geist des Mächtigen erneut.

»Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Du hast recht. Ich wollte euch vernichten. Aber ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz wach, und ich bin es immer noch nicht. Im­merhin sehe ich die Dinge jetzt schon etwas klarer. Die Zerstörungen werden aufhören, und die Magier werden leben. Den Pthorern und den Bewohnern der anderen Inseln wird nichts geschehen. Nun öffnet die Speicher.«

»Du lügst!« antwortete Atlan ruhig. »Wenn wir deinen Wunsch erfüllen, dann wird zwar der Dunkle Oheim sterben, aber mit ihm werden Milliarden von unschuldi­gen Lebewesen in den Tod gehen. Du wirst von den Inseln nichts übriglassen.«

»Diese Wesen sind nicht unschuldig!« brauste der Geist des Mächtigen auf.

»Oh doch, das sind sie. Man hat sie von ihren Heimatwelten entführt und sie in eine grausame Umgebung gesteckt. Sie versu­chen zu überleben, das ist alles. Sie wollen nichts weiter als Frieden.«

»Ja, und darum schlagen sie sich gegen­seitig die Köpfe ein!«

»Sie können nichts dafür. Es sind ver­schiedene Einflüsse, die sie dazu zwingen, unablässig Krieg gegeneinander zu führen. Es liegt an dir, ob diese Einflüsse weiterbe­stehen werden, oder ob endlich Ruhe herr­schen wird. Wenn die Inseln der Herrschaft des Dunklen Oheim entrinnen, wird man auch die Wölbmäntel wieder umstellen kön­nen – wenigstens so, daß sie auf neutraler Basis arbeiten. Die schwarzen Kerne werden sich auflösen, und die Ableger des schwar­zen Ringes werden sterben. Dann wird Frie­den herrschen.«

Der Geist des Mächtigen schwieg. »Wenn du aber keine Gnade walten läßt«,

fuhr der Arkonide unbeirrbar fort, »dann

stellst du dich mit dem Dunklen Oheim auf eine Stufe. Du wirst nicht fähig sein, ihn zu besiegen. Wenn du aber im Kampf mit ihm unterliegst, dann werden diese Inseln noch viel schrecklichere Spuren hinterlassen, denn du wirst seine Macht noch vergrö­ßern.«

Lange Zeit blieb es still. »Leider hast du recht«, sagte der Geist des

Mächtigen schließlich resignierend. »Gut, du sollst deinen Willen haben. Ich gebe die Inseln frei. Sie sollen von niemandem mehr beherrscht werden.«

»Was wird mit ihnen geschehen?« »Das ist Sache ihrer Bewohner. Ich neh­

me an, die meisten werden das Reisen satt­haben und sich einen Planeten suchen wol­len, auf dem sie sicher sind.«

»Und was ist mit Pthor?« »Es bildet keine Ausnahme.« »Betrifft das auch die Magier?« Der Mächtige zögerte. »Ja, auch sie«, erwiderte er dann. »Sie

werden leben. Ich brauche nicht alle Ener­gie, die sie gespeichert haben, denn sie wa­ren fast zu fleißig. Ich brauche nur die ver­schiedenen Komponenten, die für mich wichtig sind.«

»Die positive und die negative.« »Ja.« »Und das Goldene Vlies?« Der Geist des Mächtigen lachte. »Es scheint dich zu irritieren, daß das Par­

raxynt zu diesem Punkt keine Auskunft ge­ben konnte. Der Grund ist einfach: Ich konn­te nicht damit rechnen, daß der Anzug der Vernichtung einen neuen Träger finden wür­de. Das Goldene Vlies, wie du ihn nennst, ist so etwas wie ein … Zünder. Ich brauche es, um zu vollem Leben erwachen zu kön­nen. Du wirst es ablegen müssen.«

Atlan sah zu Koratzo hinüber. Der Stim­menmagier zuckte die Schultern.

»Diesmal scheint er es ehrlich zu mei­nen«, sagte er leise.

»Oder er bringt dich dazu, das zu den­ken«, murmelte Atlan unsicher.

Koratzo lächelte schwach.

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»Das geht nicht«, erwiderte er. »Nicht so­lange Razamon die Zeit erstarren läßt.«

Atlan gab sich einen Ruck. »Also gut«, murmelte er. »Was kommt

zuerst – die Speicher oder das Goldene Vlies?«

»Die Speicher«, sagte Copasallior hart. »Wenn der Mächtige ein falsches Spiel mit uns treibt, können wir am Skatha-Hir viel­leicht noch das Schlimmste verhindern. Beim Goldenen Vlies dagegen sind wir machtlos.«

»Wir werden Razamon mitnehmen müs­sen«, überlegte Atlan.

»Das wird nicht nötig sein«, meldete sich Rischa. »Draußen scheint es sich zu beruhi­gen.«

»Bringe sie trotzdem weg«, bat Atlan den Weltenmagier. »Wir können sie hier nicht alleine lassen.«

Der Weltenmagier nickte und schickte Razamon und Rischa mit einer knappen Handbewegung in die Dunklen Täler. Erst da begriff Atlan, daß Copasallior seine ma­gischen Fähigkeiten zurückgewonnen hatte.

»Es funktioniert nur, solange ich mich in der Tronx-Kette aufhalte«, erklärte Copasal­lior, als er die Blicke des Arkoniden be­merkte.

»Und am Skatha-Hir?« »Wir werden es erleben.«

*

Es war stockfinster, als sie die Höhlen Kir Bans erreichten. Das blaue Wabern über der Barriere war erloschen. Nur vom Wölbman­tel her kam geisterhaft schwaches Licht, das sich in der glatten Oberfläche des Sees vor den Grotten spiegelte. Hoch am Himmel glänzten ein paar Sterne. Die Grotten lagen in Höhe des Passes, der zwischen den beiden Gipfeln des Zwillingsberges hindurchführte. Atlan blickte schaudernd zu den Felsmassen auf, die in der Dunkelheit bedrohlich wirk­ten.

Koratzo trat auf den Felsensteg hinaus, der über den dunklen See zu den Grotten

hinüberführte. Atlan folgte ihm wie benom­men. Er war nur einmal an diesem Ort ge­wesen – damals, als die Negativen in die Verbannung gegangen waren.

In den Grotten selbst hatte sich nichts ver­ändert. Die kristallenen Prismen existierten immer noch, und sie sammelten das schwa­che Licht, das der Wölbmantel spendete, und konzentrierten es zu einem matten Strahl, der aus einem Schacht in der Decke auf den steinernen Boden fiel. Genau da, wo der Strahl auftraf, hatte einst Kir Bans Thron gestanden. Der steinerne Sitz war ver­schwunden, nachdem Koratzo die Speicher so justiert hatte, daß sie die gesammelte Energie langsam und stetig abgaben.

Dieser stete Strom reichte dem Mächtigen nicht. Er wollte die volle Energie – mög­lichst auf einen Schlag. Der einzige Magier, der ihm dazu verhelfen konnte, war Koratzo, Kir Bans Sohn, der die Geheimnisse dieses unheimlichen Berges kannte.

»Er wird dir das nehmen, was dich bis jetzt unverwechselbar gemach hat«, sagte Copasallior zu dem Stimmenmagier. »Es wird keine positiven Magier mehr geben.«

Koratzo lachte leise auf. »Oh doch«, sagte er sanft. »Uns wird es

immer geben. So leicht wirst du uns nicht los.«

»Und wenn er gelogen hat?« Koratzo deutete auf den matten Lichtbal­

ken. Schwache Schatten bewegten sich dar­in.

»Die Prismen machen das sichtbar, was unseren Augen noch verborgen bleibt«, er­klärte er ernst. »Die schwarze Hülle ist be­reits in Bewegung geraten. Nicht mehr lan­ge, und die ersten Sonnen dieser Galaxis verlieren ihren Glanz. Wir müssen das ver­hindern – um jeden Preis.«

Atlan sah Koratzo auf den Lichtbalken zugehen.

»Tu es nicht!« rief er ihm zu, als der Ma­gier in den Lichtkreis treten wollte.

Koratzo drehte sich um und lächelte ihm zu, dann tat er den letzten Schritt. Der Stim­menmagier blieb stehen und blickte zu den

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Prismen auf. Die Kristalle im Schacht be­gannen zu glühen. Das Licht wurde so grell, daß Atlan die Hand vor die Augen heben und unter den Lidern hervorblinzeln mußte, und dennoch sah er fast nichts mehr. Als die grelle Helligkeit abklang, stand Kir Bans Thron wieder im Mittelpunkt des Lichtkrei­ses, und Koratzo ließ sich darauf nieder und senkte die Hände auf die Lehnen.

Atlan hatte das Gefühl, auf einem ausbre­chenden Vulkan zu stehen. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, dann wur­den die Wände der Grotte glutrot, und Ge­stalten durcheilten den Raum, von denen er sicher war, daß sie zu dieser Zeit nicht in Pthor lebten. Irgendwann tauchte Razamon vor ihm auf, dann war der Stimmenmagier zur Stelle und schüttelte ihn.

»Zieh den Anzug aus!« flehte Koratzo. »Schnell, oder es zerreißt uns doch noch!«

Es war absurd: Das Goldene Vlies streik­te. Es war, als wollte es sich nicht vom Kör­per des Arkoniden lösen. Atlan spürte Hän­de, die ihm zu Hilfe kamen, und wieder sah er Razamon.

»Wie kommst du hierher?« fragte er ver­wundert.

Razamon lächelte verlegen. »Copasallior hat mich geholt«, erklärte er.

»Die Zeit hätte sonst nicht gereicht.« »Bist du wirklich ein Magier?« fragte At­

lan benommen, während er das Goldene Vlies abstreifte.

»Natürlich nicht!« erwiderte der Berser­ker grob. Etwas nachdenklicher fügte er hin­zu: »Vielleicht werde ich einer.«

Dann lag das Goldene Vlies auf dem glat­ten Steinboden. Atlan starrte auf den seltsa­men Anzug und fühlte sich von einer schrecklichen Last befreit. Er fragte sich, was der Mächtige mit dem Anzug anfangen würde. Insgeheim hoffte er, daß dieses We­sen in der Grotte erscheinen und in das Gol­dene Vlies schlüpfen würde. Aber er wurde enttäuscht. Es war nur die Stimme des Mächtigen, die plötzlich durch die Grotte hallte.

»Die Bedingungen sind erfüllt«, sagte der

Mächtige. »Ich werde meine Versprechen halten. Die negativen Kräfte sind auf mich übergegangen. Von den positiven fehlst nur noch du, Koratzo.«

»Halt!« rief Atlan. »Bist du der Träger des Goldenen Vlie­

ses?« »Ja, und ich habe eine Frage an dich.« »Dann beeile dich. Wir haben nicht mehr

viel Zeit.« »Wie heißt du?« Einige Sekunden lang herrschte atemloses

Schweigen. »Yephenas«, erwiderte der Mächtige

dann. »Aber dann bist du … in gewissem Sinn

der Bruder des Dunklen Oheims, die Super­intelligenz, der er entstammt!«

»Das stimmt nicht ganz«, erwiderte der Mächtige traurig. »Jenes Volk, das sowohl die Superintelligenz, als auch den Dunklen Oheim gebildet hat, gehörte einst zu meinen besonderen Schützlingen. Die Superintelli­genz hat meinen Namen angenommen, um mich zu ehren, und ich schäme mich dafür. Aber es wird Zeit, daß wir alle die Vergan­genheit vergessen. Bist du bereit, Koratzo?«

Der Stimmenmagier nickte beklommen. »Es wird dir nichts geschehen«, versicher­

te der Mächtige sanft – und dann schwieg er für immer.

Koratzo schwankte für einen Augenblick und setzte sich dann in Bewegung. Er ver­ließ die Grotte und blieb draußen auf dem Felsensteg stehen, umgeben von den Spiege­lungen des Bergsees.

Etwas, das wie ein blasser Nebel aussah, löste sich von den Bergen von Oth und fuhr in die aus schwarzen Sonnenkernen gebilde­te Hülle. Die Hülle riß auf und gab den Blick auf die strahlend hellen Sterne der Milchstraße frei. Aber inmitten dieses präch­tigen Sternenhimmels schwamm ein giganti­scher schwarzer Streifen – der Dunkle Oheim. Und dieser Streifen geriet in Bewe­gung und versuchte, sich enger um die In­seln zu schlingen.

Der blasse Nebel konzentrierte sich und

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wurde heller. Er nahm die Form und Gestalt einer gigantischen Katze an.

Atlan wischte sich über die Augen und blinzelte. Er fragte sich, ob das, was er zu sehen glaubte, wirklich von seinen Pupillen an sein Gehirn übermittelt wurde. Er zwei­felte daran. Er hatte das Goldene Vlies ge­tragen und wußte daher recht gut, welche Gestalt der Mächtige haben mußte.

Aber die geisterhafte Katze schlich trotz­dem durch den Himmel, erreichte den Dunklen Oheim und hob die Pranken.

Das Wunder geschah. Der Oheim wich zurück. Er gab die Dimensionsfahrstühle frei und floh, bis er in seiner ganzen, schreckli­chen Gestalt erkennbar war. Und dann – fiel die Katze über ihn her. Sie schlug mit den Pranken auf den schwarzen Ring ein, und Atlan glaubte, daß er dieses Bild bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. Schließ­lich lösten Oheim und Katze sich zur glei­chen Zeit auf. Nichts blieb von ihnen übrig. Der Himmel über Pthor war klar und ohne schwarze Schleier. Die Sterne der Milchstra­ße schienen zum Greifen nahe.

»Wir haben es geschafft«, sagte Atlan lei­se – und taumelte, als der Boden unter sei­nen Füßen erschüttert wurde.

»Dort!« schrie Razamon und deutete nach Süden.

Es konnte keinen Zweifel daran geben, was er meinte. Jenseits der Barriere hatte ei­ne breite Lücke zwischen Pthor und dem nächsten Dimensionsfahrstuhl bestanden. Jetzt schob sich ein gewaltiger dunkler Kör­per heran. Zwei Wölbmäntel berührten ein­ander, und Lichterscheinungen geisterten über das Land. Die Berge von Oth – oder das, was noch von ihnen übrig war – brüll­ten und krachten, als der Aufprall erfolgte.

»Er hat uns betrogen!« schrie Copasallior voller Wut und Zorn.

»Nein«, sagte Koratzo leise, aber seine magisch verstärkte Stimme klang durch alle Täler und Schluchten von Oth. »Wir haben nur zu viel in dem gehört, was er verspro­chen hat. Er hat gesagt, daß die Inseln frei sein werden, und sie sind es. Es gibt keine

Seelen mehr, die die Dimensionsfahrstühle vor dem Zusammenprall bewahren. Er hat uns die Freiheit gegeben, und diese Freiheit wird uns umbringen.«

»Nein«, sagte eine andere, noch sanftere Stimme.

Atlan blinzelte und erkannte eine schwach leuchtende Sphäre, die über dem Wasser trieb.

»Wir haben dir eine Botschaft geschickt«, sagte die Sphäre. »Hast du sie nicht erhal­ten?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte der Arkoni­de. »Wer seid ihr?«

»Wir sind Körperlose aus den Höheren Welten. Erinnerst du dich jetzt? Ihr alle habt uns geholfen. Die Schwarze Galaxis war der einzige Ort, an dem wir für begrenzte Zeit in unsere stoffliche Existenz zurückkehren konnten. Seit der Dunkle Oheim dort herrschte, war uns dieser Weg versperrt, und unsere Existenz geriet in Gefahr. Wir selbst waren nicht fähig, gegen diese unheimliche Kreatur zu kämpfen, aber ihr habt es getan, obwohl ihr euch dabei selbst in Schwierig­keiten bringen mußtet. Nun ist es Zeit, daß wir etwas für euch tun.«

»Was habt ihr vor?« erkundigte sich Atlan benommen.

»Wir werden die Seelen ersetzen. Das ist nicht schwer für uns. Wir werden die Inseln zu Planeten steuern, auf denen sie landen können, ohne großen Schaden anzurichten, und auf denen ihre Bewohner ein neues Le­ben beginnen können.«

Atlan richtete sich schwankend auf dem Steg auf.

»Ich habe eine große Bitte an euch«, sagte er leise. »Steuert die Dimensionsfahrstühle weit weg. Bringt sie aus der Milchstraße und den benachbarten Galaxien heraus.«

»Wir werden deinem Rat folgen«, ver­sprach die Sphäre, dann schmolz sie zusam­men, bis nur noch ein flüchtiger Lichtstrei­fen übrig blieb.

»Bist du für Pthor zuständig?« fragte At­lan.

»Ja«, erwiderte der Körperlose. »Du soll­

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test das Land bald verlassen. Wir werden nicht in diese Galaxis zurückkehren.«

»Laß mir Zeit, mich von meinen Freun­den zu verabschieden!« bat der Arkonide.

»Wenn es nach mir ginge, dann könntest du alle Zeit des Universums beanspruchen«, sagte der Körperlose traurig. »Leider wirst du dich trotzdem beeilen müssen.«

Der Tag brach an, und zum erstenmal seit vielen Wochen ging für Pthor eine Sonne auf. Sie war groß und goldgelb, und ihr Licht tauchte die Berge und Schluchten in einen seltsamen Schimmer, der die Spuren der Vernichtung unsichtbar machte. Oder gab es sie etwa gar nicht?

Atlan sah genauer hin. Da war die Tronx-Kette, und er erkannte sie wieder, Gipfel um Gipfel – keiner war verändert. Er wandte sich nach Süden und sah einen Teil vom Karsion. Der Berg erhob sich in seiner alten Pracht und Herrlichkeit.

»Es war alles nur eine Illusion!« stieß der Arkonide verwundert hervor.

Koratzo, der neben ihm stand, schüttelte den Kopf.

»Ganz so einfach ist es nicht«, erklärte er beinahe andächtig. »Es war Wirklichkeit, und es hätte uns alle umbringen können. Aber es fand auf einer magischen Ebene statt und ließ sich darum rückgängig ma­chen.«

Atlan sah den Stimmenmagier nachdenk­lich an.

»Fühlst du dich jetzt verändert?« fragte er zögernd.

Koratzo lachte. »Ja«, murmelte er. »Ich fühle mich freier

als vorher. Aber sonst hat sich wohl nicht viel geändert – jedenfalls für mich. Ich wer­de lediglich in Zukunft meine Kräfte so ein­setzen können, wie die Situation es verlangt – ohne allzu viel Rücksicht auf die uralten Gesetze.«

»Wie wirst du sie einsetzen? Um Macht zu gewinnen?«

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Koratzo leise. »Glücklicherweise hat der Abschied des Mächtigen keine derartige Wirkung er­

zielt. Nein, ich denke, wir alle werden mehr oder weniger weiterleben wie bisher. Natür­lich hat sich einiges verändert, aber diese Veränderungen werden sich positiv auswir­ken. Von nun an wird die Barriere nicht mehr so isoliert sein, und wir werden ständi­gen Kontakt zu den anderen Pthorern auf­rechterhalten. Ich glaube, daß wir viel von ihnen lernen können – und sie von uns.«

Dunkle Punkte bewegten sich jenseits des Wölbmantels.

»Die Inseln brechen auf«, stellte Koratzo fest. »Ich nehme nicht an, daß du bei uns bleiben willst.«

Atlan sah sich nach Razamon um und winkte.

»Es wird Zeit für uns!« rief er ihm zu. Razamon kam langsam näher. »Ich bleibe hier«, sagte er ernst. Atlan starrte den Berserker betroffen an. »Hier?« wiederholte er fassungslos. »In

der Barriere?« Razamon nickte und schlug mit der fla­

chen Hand gegen sein linkes Bein. »Der Zeitklumpen existiert nicht mehr«,

erklärte er nüchtern. »Aber ich spüre, daß ich trotzdem die Zeit anhalten könnte, wenn es notwendig wäre.« Er zuckte die Schul­tern. »Ein richtiger Magier wird aus mir si­cher niemals werden, aber ich möchte we­nigstens wissen, wie dieser Trick funktio­niert. Copasallior hat versprochen, mir zu helfen.«

»Dann wünsche ich dir viel Glück«, sagte Atlan ein wenig hilflos. »Aber willst du nicht wenigstens mit zur FESTUNG kom­men? Die anderen werden nach dir fragen.«

»Sie haben jetzt genug mit sich selbst zu tun«, wehrte Razamon ab. »Erkläre es ihnen, wenn du willst – sie werden dir vermutlich kein Wort glauben. Sobald ich Klarheit ge­wonnen habe, werde ich zu ihnen zurück­kehren. Schick mich in die Tronx-Kette, Co­pasallior! Leb wohl, Atlan, und grüße Terra von mir!«

»Das werde ich tun«, versicherte der Ar­konide, aber Razamon war bereits ver­schwunden.

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»Ihr habt es verdammt eilig, mich loszu­werden, wie?« knurrte der Arkonide, als der Weltenmagier nach seiner Hand griff.

»Nein«, behauptete Copasallior. »Aber wenn du noch lange wartest, könnte es sein, daß der Körperlose Pthor nicht mehr in die­ser Position zu halten vermag, ehe du das Land verlassen hast. Uns bleibt nicht genug Zeit, um deinen Sieg mit dir zu feiern.«

»Meinen Sieg!« murmelte Atlan bitter, aber da waren sie bereits in der FESTUNG. »Ich habe den Dunklen Oheim nicht schla­gen können. Ich habe nur seine Niederlage herbeigeführt – aber jeder andere hätte es auch tun können.«

Er hörte ein leises Lachen und entdeckte, daß Copasallior auch den Stimmenmagier mitgenommen hatte.

»Du weißt genau, daß es nicht so ist«, sagte Koratzo. »Komm, der Körperlose war­tet schon auf dich.«

»Was will er von mir?« »Er wird dir helfen, Pthor zu verlassen.

Ohne ihn wäre das ziemlich schwierig. Die GOL'DHOR hat während des Kampfes zwi­schen dem Mächtigen und dem Dunklen Oheim so viel Energie verloren, daß wir dich ihr nicht anvertrauen dürfen. Der Kör­perlose wird in einem der Pyramiden-Boote die Stelle des Steuermanns übernehmen und dich zu einem geeigneten Planeten bringen.«

Atlan nickte und sah sich um. Die Pyramiden der FESTUNG glänzten

im Sonnenlicht. Hier und da waren Dellos damit beschäftigt, die Spuren zu tilgen, die in diesen letzten Tagen entstanden waren. Die Gärten – soweit sie noch existierten – standen in voller Blüte. Die Wagen und Zel­te der Pthorer waren schon fast völlig ver­schwunden – die Bewohner des Landes kehrten dorthin zurück, wo sie zu Hause wa­ren.

Vor einem der Beiboote warteten seine Freunde auf ihn. Ihm war seltsam zumute, als er sie ansah.

»Was werdet ihr tun?« fragte er sie. »Wir werden das fortsetzen, was du ange­

fangen hast«, erklärte Sigurd ernst. »Wenn

alle Pthorer damit einverstanden sind, wer­den meine Brüder und ich für Ordnung in diesem Land sorgen, bis sich jemand findet, der besser für diese Aufgabe geeignet ist. Wir haben zuverlässige Helfer, die uns nicht im Stich lassen werden. Koy wird sich in Aghmonth um die Dellos und die Pfisters kümmern und den Kelotten ein wenig auf die Finger sehen, und Kennon hat uns ver­sprochen, uns bei der Ausarbeitung von Ge­setzen zu helfen, die für alle gelten sollen, und dafür zu sorgen, daß diese Gesetze auch eingehalten werden. Alle, die mit dir zusam­mengearbeitet haben, sind bereit, auch uns zu helfen. Wenn du jemals nach Pthor zu­rückkehren solltest, wirst du kein solch bar­barisches Land mehr vorfinden.«

Atlan mußte lächeln. Sigurd sprach mit solchem Eifer, als könne er es gar nicht er­warten, sich in die Arbeit zu stürzen. Der Arkonide fragte sich, ob die Odinssöhne wohl ahnten, welche Aufgabe sie sich da aufgeladen hatten. Aber er wußte auch, daß sie in der letzten Zeit dazugelernt hatten. Sie waren reifer und verantwortungsbewußter geworden.

Er wandte sich an Leenia. »Ich nehme an, du kehrst nun in die Hö­

heren Welten zurück?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe niemals wirklich dorthin ge­

hört«, bekannte sie. »Ich bleibe in Pthor.« »Und du, Kolphyr?« Der Bera deutete auf die GOL'DHOR, die

matt golden in der Sonne stand. »Ich werde versuchen, in meine Heimat

zurückzukehren«, erklärte er. »Die GOL'DHOR hat vor einiger Zeit angedeutet, daß sie mich möglicherweise dorthin brin­gen kann, und die Magier haben mir ver­sprochen, daß ich das magische Schiff für meine Suche benutzen darf.«

Jemand berührte Atlans Schulter. Er fuhr herum und sah ärgerlich in das Gesicht des Stimmenmagiers.

»Ich kann nichts dafür«, murmelte Korat­zo entschuldigend. »Der Körperlose drängt zum Aufbruch.«

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Atlan drehte sich schweigend um und be­trat das uralte Beiboot. Augenblicke später startete die kleine Pyramide.

Der Arkonide verfolgte den Start auf ei­nem winzigen, fast blinden Bildschirm. Er sah seine Freunde, die binnen einer Sekunde zu winzigen Punkten schrumpften und dann nicht mehr sichtbar waren. Jeder von ihnen hatte ein Ziel, eine feste Vorstellung von sei­ner Zukunft. Was hatte er selbst dagegen?

Es war seltsam – er hatte dieses Land un­zählige Male verflucht, aber jetzt, im Au­genblick des Abschieds, stieg tiefe Wehmut in ihm auf. Wenn er nur ein bißchen länger hätte bleiben können, nur einige Wochen oder Monate, bis er sicher sein konnte, daß die Pthorer den richtigen Weg gefunden hat­ten und seine Freunde ihn nicht länger brauchten …

Sie werden sehr gut ohne dich auskom­men, bemerkte der Logiksektor mit der ihm eigenen gefühllosen Objektivität. Und au­ßerdem wirst du sie bald vergessen haben. Auf Terra warten andere Freunde auf dich, und du kennst sie schon viel länger als die, die du gerade verlassen hast.

Pthor verschwand im Gewimmel der Ster­ne.

»Wohin fliegen wir?« fragte Atlan, ohne sich Hoffnungen auf eine Antwort zu ma­chen. Zu seiner Überraschung war der Kör­perlose jedoch in der Lage, sich ihm auch jetzt verständlich zu machen.

»Es tut mir leid«, sagte das seltsame We­sen, dessen Gestalt dem Arkoniden für im­mer unbekannt bleiben würde. »Ich wollte dich zu einem Planeten bringen, auf dem Menschen von deiner Art leben, aber ich fürchte, daß das nicht möglich sein wird.«

»Sind wir in einem so abgelegenen Sektor der Milchstraße?«

»Daran liegt es nicht. Es geht um Pthor. Das Land ist steuerlos, und es reagiert auf unvorhergesehene Weise auf meine Abwe­senheit. Ich muß zurück, oder die Insel wird abtreiben und für immer im Dimensionskor­ridor verschollen bleiben. Ich habe jedoch einen Planeten gefunden, auf dem du überle­

ben kannst, und ich habe auch schon einen Funkspruch abgesetzt, der deine Freunde auf dich aufmerksam machen sollte.«

Atlan mußte plötzlich lachen. »Das hört sich an wie der Beginn einer

neuen Odyssee!« murmelte er. »Du wirst nicht lange warten müssen«,

versicherte der Körperlose. Eine halbe Stunde später landeten sie in

einem riesigen, idyllischen Tal. Atlan ver­ließ das Beiboot und ging auf einen kleinen See zu. Von dort aus beobachtete er, wie die Pyramide startete. Der Körperlose schien es wirklich sehr eilig zu haben, denn er jagte das Boot mit der größtmöglichen Beschleu­nigung in den klaren Himmel hinauf. Als es nicht mehr zu sehen war, spürte der Arkoni­de eine Bewegung in seiner Brust. Er öffnete das Hemd und sah gerade noch, wie der Zel­laktivator seinen normalen Platz wieder ein­nahm.

Atlan baute sich einen Unterschlupf für die Nacht und fing Fische in dem kleinen See, die er über einem offenen Feuer briet. Während ein verlockender Duft aufstieg, er­tappte sich der Arkonide bei dem Gedanken, daß jetzt nur noch Razamon bei ihm zu sein brauchte – dann würden sie dieser Welt alles abtrotzen, was sie brauchten.

Er hielt verwundert inne. Wie kam er auf diesen Gedanken? Erstens war dies ein friedlicher Planet, auf dem einem Menschen das Überleben leichtgemacht wurde. Zwei­tens aber – warum dachte er in diesem Zu­sammenhang ausgerechnet an Razamon? Er erinnerte sich deutlich an den seltsamen, ha­geren Mann, der kurz vor der Atlantis-Krise auf Terra mit ihm in Verbindung getreten war. Aber er hatte mit Razamon niemals an einem Lagerfeuer gesessen.

Oder doch? Plötzlich begriff er, was geschah, und in

rasender Eile versuchte er, seine Erinnerun­gen festzuhalten. Er sprang auf, nahm einen spitzen Stock und ritzte alle Namen, an die er sich erinnerte, in den feuchten Boden am Ufer. Dabei bemühte er sich, mit jedem Na­men weitere Erinnerungen zu verknüpfen,

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aber immer häufiger kam er mit seinen Nachforschungen zu spät.

Wer war Thalia? Welches absonderliche Wesen mochte den Namen Copasallior ge­tragen haben? Was verbarg sich hinter Be­zeichnungen wie »Dunkler Oheim«, »Schwarze Galaxis«, »FESTUNG«, »Organschiff«, »Stern der Läuterung«, »Koordinatoren der Ewigkeit«? Er starrte ratlos auf die Schriftzeichen im Sand, und noch während er hinsah, verloren sie für ihn ihren Sinn. Aus purer Gewohnheit hatte er pthorische Schriftzeichen benutzt – nicht die alten Glyphen, die er von Razamon während der Hypnoschulung gelernt hatte, sondern jene, die man zehntausend Jahre nach der Verbannung des Berserkers benutzte.

Atlan nahm den Stock und kratzte jedes einzelne Zeichen tiefer aus. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, was mit diesen Na­men zusammenhing. Er ahnte, daß er das neue Atlantis besucht hatte, aber er wußte nicht, wie er an seinen jetzigen Aufenthalts­ort gelangt war. Er hatte jedoch eine Hoff­nung: Sein Gedächtnis zeichnete alles, was er erlebte, wirklichkeitsgetreu auf. Wenn man einen passenden Schlüssel zu bestimm­ten Erinnerungen fand, würde das Gedächt­nis des Arkoniden längst zerfallene Welten zu neuem Leben erwecken. Die Zeichen im Sand mochten ein solcher Schlüssel sein. Er mußte sie hüten, bis jemand kam, der sie auf bessere Weise zu konservieren verstand.

Aber noch in derselben Nacht ging ein Regensturm durch das Tal. Atlan erwachte viel zu spät. Aus unerklärlichen Gründen hatte er sich so müde gefühlt, daß er nicht einmal mehr fähig gewesen war, die kostba­ren Zeichen mit schützenden Blättern zu be­decken, obwohl dies kaum etwas genützt hätte.

Wenige Tage später landete ein Explorer und brachte Atlan auf dem schnellsten Wege nach Terra. Der Arkonide genoß den Flug, ohne selbst genau zu wissen, was ihn daran so sehr faszinierte. Er ertappte sich immer

wieder dabei, daß er vor Bildschirmen stand und die herrlichen, strahlenden Sterne be­frachtete. Bei diesem Anblick erfüllte ihn tiefe Zufriedenheit, und ein seltsames Glücksgefühl stieg in ihm auf. Wenn er aber versuchte, der Sache auf den Grund zu ge­hen, irrten seine Gedanken ab und er verlor sich in nutzlosen Spekulationen.

An diesem Zustand änderte sich auch dann nichts, als er die Erde erreichte und schließlich Perry Rhodan gegenüberstand.

»Du warst lange fort«, sagte der Terraner, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Wo hast du dich in diesen zwei Jahren herumgetrie­ben? Wir haben überall nach dir gesucht!«

»Zwei Jahre?« Atlan legte den Kopf schräg und wartete darauf, daß irgendeine Erinnerung ihm verriet, wie er diese Zeit verbracht hatte. Aber alles, was er fand, war ein vages Gefühl.

»Du mußt dich irren«, murmelte er, und er spürte etwas wie einen kalten Hauch, der ihn streifte. »Es können keine zwei Jahre ge­wesen sein. Es waren Jahrzehnte!«

»Vielleicht unterlag Pthor einem anderen Zeitablauf!« vermutete Rhodan.

»Pthor?« »Atlantis. Du bist mit Razamon dorthin

aufgebrochen. Erinnerst du dich nicht dar­an?«

»Oh doch, sehr deutlich sogar, aber alles, was dann geschah – ich weiß nichts mehr, Perry. Es ist alles weg!«

»Es wird wiederkommen.« »Das glaube ich nicht. Und weißt du was?

Ein Gefühl sagt mir, daß es besser ist, wenn ich mich nicht erinnere. Es muß eine grauen­volle, finstere Welt gewesen sein, in der ich mich befunden habe!«

Rhodan sah den Arkoniden nachdenklich an.

»Wie dem auch sei«, sagte er schließlich. »Willkommen daheim!«

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Atlan ist nach rund zweijähriger Abwesenheit in der Schwarzen Galaxis nach Ter¬ra zu­rückgekehrt, wo weitere wichtige Aufgaben auf den relativ unsterblichen Arkoniden warten. Nach Jahrhunderten aufopfernder Tätigkeit für die Menschheit kommt es im Jahr 3791 dann erneut zu einer Mission, die dem Arkoniden alles abverlangt. Die Kosmokraten entlassen At­lan, damit er sich um die SOL kümmert und um DIE SOLANER …

DIE SOLANER # so heißt auch der von William Voltz verfaßte Jubiläumsband 500, der zu­gleich einen neuen Atlan-Zyklus einleitet.