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Der Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung Vortrag zum Round-Table auf der ESFL-Konferenz in Heidelberg, 29.Oktober 2016 von Helmut Krebs 1 A) Zeitalter 1. Gliederung der Zeitalter: Geschichte gliedert den zeitlichen Ablauf des menschlichen Handelns in Jahrtausende und Jahr- hunderte wir unterteilen die Menschheitsgeschichte in Vorgeschichte und Geschichte (schriftliche Zeugnisse etwa ab 5.500 v. Chr.) eine wirtschaftshistorische Gliederung unterscheidet die Abfolge von Gesellschaftstypen: Jäger- und Sammlergesellschaft – Agrargesellschaft – Industriegesellschaft die Geschichte gliedern wir in: Antike (ab 500 v. Chr.) – Mittelalter (ab 500 n. Chr.) – Moderne (ab 1500) Die Gliederung der Moderne wird kontrovers diskutiert. 2. Perioden der Moderne: 1. Zentralstaat und Nationenbildung (zuerst etwa um 1500 in England, Holland, Schweden und Frank- reich). Institutionen und Ideen: Monarchie, Staat (despotischer Absolutismus), Gewaltmonopol, Souveränität, Verwaltung und ab hier der Aufbau von Infrastruktur. Denker: Grotius, Bodin, Hobbes 2. Rechtsstaat (etwa ab 1700). Institutionen und Ideen: aufgeklärter Absolutismus, Gewaltenteilung, Parteienbildung, Pluralismus, Toleranz, Laizismus, Recht, Wohlfahrtsstaat, Merkantilismus. Denker: Locke, Voltaire, Montesquieu 3. Freie Marktwirtschaft (etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts). Institutionen und Ideen: Freihandel, Presse- und Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Eigenverantwortung, klassischer Liberalis- mus. Denker: Hume, Smith, Kant, Diderot, Rousseau. 4. Massendemokratie (im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts): Institutionen und Ideen: Großindus- trie, Großstadt, Sozialismus, Genossenschaft und Versicherung, Nationalismus, allgemeines und gleiches Wahlrecht, Massenparteien. Denker: Marx, Nietzsche, John Stuart Mill, Mises, Hayek. 5. Langer Frieden und Globalisierung (etwa seit 1945). Denker: Popper, Sen, Pinker 1 Download des Papers: http://menschliches-handeln.de/pdf/161021_ESFL-Vortrag.pdf 1

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Der Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung

Vortrag zum Round-Table auf der ESFL-Konferenz in Heidelberg, 29.Oktober 2016 von Helmut Krebs1

A) Zeitalter

1. Gliederung der Zeitalter:

• Geschichte gliedert den zeitlichen Ablauf des menschlichen Handelns in Jahrtausende und Jahr-hunderte

• wir unterteilen die Menschheitsgeschichte in Vorgeschichte und Geschichte (schriftliche Zeugnisse etwa ab 5.500 v. Chr.)

• eine wirtschaftshistorische Gliederung unterscheidet die Abfolge von Gesellschaftstypen: Jäger- undSammlergesellschaft – Agrargesellschaft – Industriegesellschaft

• die Geschichte gliedern wir in: Antike (ab 500 v. Chr.) – Mittelalter (ab 500 n. Chr.) – Moderne (ab 1500)

• Die Gliederung der Moderne wird kontrovers diskutiert.

2. Perioden der Moderne:

1. Zentralstaat und Nationenbildung (zuerst etwa um 1500 in England, Holland, Schweden und Frank-reich). Institutionen und Ideen: Monarchie, Staat (despotischer Absolutismus), Gewaltmonopol, Souveränität, Verwaltung und ab hier der Aufbau von Infrastruktur. Denker: Grotius, Bodin, Hobbes

2. Rechtsstaat (etwa ab 1700). Institutionen und Ideen: aufgeklärter Absolutismus, Gewaltenteilung, Parteienbildung, Pluralismus, Toleranz, Laizismus, Recht, Wohlfahrtsstaat, Merkantilismus. Denker: Locke, Voltaire, Montesquieu

3. Freie Marktwirtschaft (etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts). Institutionen und Ideen: Freihandel, Presse- und Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Eigenverantwortung, klassischer Liberalis-mus. Denker: Hume, Smith, Kant, Diderot, Rousseau.

4. Massendemokratie (im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts): Institutionen und Ideen: Großindus-trie, Großstadt, Sozialismus, Genossenschaft und Versicherung, Nationalismus, allgemeines und gleiches Wahlrecht, Massenparteien. Denker: Marx, Nietzsche, John Stuart Mill, Mises, Hayek.

5. Langer Frieden und Globalisierung (etwa seit 1945). Denker: Popper, Sen, Pinker

1 Download des Papers: http://menschliches-handeln.de/pdf/161021_ESFL-Vortrag.pdf

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B) Globalisierung

Die folgenden Daten sind nachzusehen auf meiner Website menschliches-handeln.de. Reiches Material fin-det sich unter OurWorldInData.org von Hans Roser.

1. Die Globalisierung löst eine Phase des Sozialismus und Nationalismus ab.

Der Welthandel tritt an die Stelle von Krieg, Eroberung und Abschottung. Kommunikation, Verkehr, Waren-, Kapital- und Menschenströme wachsen exponentiell.

Man beachte die Periode in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wo unter dem Einfluss von Nationalis-mus und Sozialismus der Welthandel dramatisch einbrach.

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2. Zunahme des Friedens und Abnahme der Gewalt in der Moderne und im Zeitalter der Globalisierung

1) Man beachte die logarithmische Skalierung! Die führenden Länder Europas liegen bei 1 Mordpro 100.000 Menschen im Jahr. Das innergesell-schaftliche Gewaltpotenzial von Naturvölkern war durchschnittlich 500mal höher. Noch heute ist es bei den Inuits 100mal höher. In den gewaltförmigsten lateinamerikanischen Staaten liegt es bei etwa 50 (Honduras, El Salvador u.a.), in Russland bei 10, in den USA bei 4. Allerdings weisen schwarze Städte wie Washington D.C. einPotenzial von 30 und mehr auf.

2) Die Zahl der Kriege, in die Großmächte verwi-ckelt waren, sank in der Moderne und liegt heu-te bei 0. Gleichzeitig schrumpfte die Zahl der Staaten in Europa von 5000 auf etwa 50. Die Zentralisierung der Gewalt senkt das Kriegsrisiko.

3a) Bei Abnehmender Zahl von Kriegen steigt dasRisiko durch hohe Opferzahlen. Wir erkennen diedrei Katastrophen der Religionskriege, der napo-leonischen Kriege und der beiden Weltkriege deutlich.

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3b) Durch die Fortschritte der Waffentechnik steigt das Risiko von Tötungen durch Kriege. Diesbegünstigte die Pazifizierung in der Zeit nach den beiden Weltkriegen.

4) Dies ist die Vergrößerung des rechten Teils derobigen Grafik (3b). Die großen Gemetzel fanden in China, Korea, Algerien, Indochina, in den por-tugisischen Kolonien und durch die lateinameri-kanische marxistische Guerilla und schließlich in den Nahostkriegen statt. Die Opferzahlen von Syrien reiht sich in diesen Trend ein. Der heutige Terrorismus in den westlichen Ländern lässt sich nicht in dieser Größenordnung abbilden.

5) Die Skalierung ist um den Faktor 100 gegen-über der obigen Grafik (4) vergrößert. Die lonke Hälfte bildet u.a. die Kämpfe in Irland und im Baskenland ab. Der letzte Ausschlag ist der An-schlag auf das WTC mit 3000 Toten. Die Terror-anschläge von Paris sind mit ca. 100 Toten um den Faktor 30 kleiner.

6) Entgegen Trumps Propaganda sinkt die Mord-rate auch in den Vereinigten Staaten. In Deutsch-land liegt sie bei einem historischen Tiefststand von 0,8. Die Zahl der Sexualmorde ging seit Mit-te der 80er-Jahre von 50 auf zwei Fälle zurück. Inden vergangenen 20 Jahren hat sich die Gewalt gegen Kinder und der Kindesmissbrauch hal-biert.

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3. Wohlstandszuwächse global und national

1) Einkommen global: 1820 war die Welt sehr arm. 500 Dollar pro Kopf und Jahr. 1970 Spaltung in Arm und Reich. 2000 viermal höheres Durchschnittseinkommen und Schließen der Schere.

2) Lebenserwartung global

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3) Einkommen Deutschland

4) Lebenserwartung Deutschland

5) Alphabetisierungsgrad global

6) Anteil der unterernährten Bevölkerung. Un-terernährung bedeutet eine Minderversorgung mit Proteinen bei ausreichender Kalorienversor-gung.

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7) Kalorienversorgung nach Weltregionen

Mit der Bevölkerungszunahme nimmt auch die Produktion von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern zu. Seit 1960 hat sich die Getreideproduktion in Afrika verdoppelt. Folgende Indikatoren weisen eine positive Tendenz auf: Lebenserwartung und Kindersterblichkeit, die Versorgung mit Nahrung, Einkommen, Vermö-gen, Bildung, Abnahme der Gewalt

Mit der Globalisierung einher geht eine Tendenz zur Humanisierung. Die Diskriminierung von Geschlecht, Rasse, Glauben, Herkunft, sexuelle Orientierung wird zunehmend geächtet. Sklaverei und Todesstrafe wer-den weltweit immer mehr abgeschafft, Folter geächtet. Die Vergewaltigungen gehen zurück. Die Abtreibun-gen gehen zurück. Die Menschenrechte werden zunehmend anerkannt.

4. Differenzierung nach gesellschaftlicher Entwicklung

Die Grafik „Einkommen global“ zeigt den Übergang von der polarisierten zur homogenisierten Welt der Ent-wicklungsländer. Doch eine genauere Untersuchung zeigt, dass das Entwicklungstempo in vielen Indikatio-ren (Gewalt, Armut, Bildung, Gleichberechtigung, Menschenrechte) noch weit gespreizt ist. Die Humanisie-rungstendenz ist in den Entwicklungsländern noch jung. Insbesondere sitzen etwa eine Milliarde Menschen der ärmsten Länder in einer Entwicklungsfalle. Die Dynamik der Globalisierung ist in Asien stark, während inSchwarzafrika nur einige Länder vom Wohlstandszuwachs der Globalisierung profitieren. Die Länder Mit-telamerikas weisen die höchsten Gewaltraten auf. An diesen Problemen arbeitet die Entwicklungsökono-mik. Welche Bedingungen begünstigen Entwicklung, welche blockieren sie.

C) Liberalismus

1. Neue Sichtweisen des Liberalismus:

• Popper untersucht die philosophischen Grundlagen des ideologischen Denkens und plädiert dafür, die Grenzen und Unvollständigkeit des Wissens zu akzeptieren. Statt der Durchsetzung von ver-

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meintlich unumstößlichen Wahrheiten soll der rationale Diskurs einer offenen Gesellschaft treten.2

• Amarthya Sen definiert Entwicklung als Zuwachs an Freiheit. Er meint damit einen Zuwachs an Ge-staltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens, an Handlungsoptionen, an realistischen Zielen und Mit-teln.3

• Acemoglu und Robinson unterscheiden zwischen extraktiven und inklusiven Gesellschaften. Extrak-tive sind statische, inklusive sind dynamische Gesellschaften. Extraktive sind polarisiert, inklusive sind homogenisiert.4

• Pinker untersucht die sozialpsychologischen Bedingungen für den Rückgang der Gewalt in der Mo-derne und verweist auf ein Bündel an gesellschaftlichen Institutionen (Ideen), die die Gewalt ein-dämmen und damit die freie Entfaltung begünstigen.5

2. Historische Perioden sind systemische Schichten.

Die Analyse der historischen Perioden und ihrer typischen Institutionen und Ideen gibt ein Gesamtbild einerhochentwickelten dynamischen Gesellschaft.

3. Der Liberalismus muss ideologischen Ballast abwerfen.

In der Tradition des klassischen Liberalismus steht die Sichtweise, dass Freiheit und Staat antagonistisch sei-en: je weniger Staat desto mehr Freiheit. Das ist grundfalsch. Wir müssen zwischen freiheitlichen und des-potischen Staaten unterscheiden. Freie Gesellschaften sind vielschichtige Systeme, in denen der Staat mit den gesellschaftlichen Institutionen untrennbar verwoben ist. Ein Liberalismus, der einen anti-etatistischen Marktradikalismus anstrebt, ist einem antiquierten Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet. Die Auflösung des Staates würde eine Rückkehr zum gewaltförmigen Urzustand riskieren. Der heutige Liberalismus findet mit dem Sozialreformismus Gemeinsamkeiten, während der Gegensatz zum Sozialismus unvermindert an-hält.6

4. Die Gegenwartsaufgaben des Liberalismus sind differenziert.

• Je nach dem Entwicklungsstand der Gesellschaften müssen spezifische Aufgaben gelöst werden. • In failed states geht es um die Schaffung von elementaren Voraussetzungen von Staatlichkeit (So-

malia). • In extraktiven Diktaturen oder Oligarchien können Enteignungen des Großgrundbesitzes sinnvoll

sein (El Salvador). • In zentralisierten Ländern müssen Individualrechte gestärkt werden (China). • In Griechenland muss eine moderne Verwaltung aufgebaut werden. • In misogynen Gesellschaften muss eine innere Entwaffnung und Stärkung der Frauenrechte geför-

dert werden (Indien, Mexiko). • In den USA müssen die Humanisierungstendenzen verstärkt werden, insbesondere der Rassismus

und das Faustrechtdenken überwunden werden.• In hochentwickelten Ländern muss die Tendenz zur Überregulierung gedrosselt werden (Frankreich)

und gleichzeitig ein humaner Umgang mit den sich neu bildenden Unterschichten aus der Zuwande-rung gepflegt werden.

• Entwicklungsländer brauchen die ganze Palette an Institutionen: Warenbörsen und relativ stabiles Geld; Eigentumsschutz und genuine Vermögensbildung; Diversifizierung der Wirtschaft; moderne Infrastrukturen, leistungsfähige Energieversorgung, breite Bildung und medizinische Vorsorge;

2 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, Tübingen, 1992.

3 Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München, 2005.

4 Daron Acemoglu/James A. Robinson: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt, 2014.

5 Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt, 2011.

6 Rainer Hank: Links, wo das Herz schlägt. Inventur einer politischen Idee, München, 2015.

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Rechtssicherheit und funktionstüchtige Verwaltung; Gleichberechtigung und Menschenrechte; De-mokratie und Toleranz. Es gibt keinen Königsweg für alle.

D) Fazit

Die Haupttendenz der Gegenwart ist:• die Sprengung der Enge von Nationalstaaten und die Vertiefung der internationale Organisation der

Staaten und Institutionen (konkret die Weitergestaltung von UNO, EU usw.)• die Angleichung des Rechts im Sinne der Durchsetzung der Menschenrechte und der Schaffung ei-

nes komplexen Völkerrechts, das über dem nationalen Recht steht• die globale Öffnung, Durchlässigkeit der Grenzen, Entideologisierung der Politik, Toleranz der Reli-

gionen• Vermeidung von Kriegen, Befriedung von inneren Konflikten durch Sicherheitseinrichtungen, die

Domestizierung der Gewalt durch Erziehung und Bildung• die umfassende Humanisierung des Lebens.

Aus meiner Sicht stehen wir erst am Anfang der Globalisierung. Es wird mindestens ein weiteres Halbjahr-hundert dauern, bis sich alle Länder zur komplexen Freiheit entwickeln. Möglicherweise werden spätere Historiker unsere Zeit als den Beginn eines neuen Gesellschaftstyps nach der Industrialisierung deuten, als eine postindustrielle Weltgesellschaft. Möglicherweise suchen wir dann, aber erst dann, nach Lösungen, dieGesellschaften ohne herkömmliche Territorialstaaten organisieren, insofern sie durch ein allgemein aner-kanntes Völkerrecht gesichert sind. Doch dies liegt im Reich des utopischen Denkens.

Weitere Lesetipps:

Matthias Horx: Das Megatrend-Prinzip. Wie die Welt von morgen entsteht, München, 2011.

ders.: Anleitung zum Zukunftsoptimismus. Warum die Welt nicht schlechter wird, 2007.

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin, 2014.

Ben Rawlence: Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt, München, 2016.

Alex Perry: In Afrika. Reise in die Zukunft, Frankfurt, 2016.

Linda Polmann: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen, Frankfurt, 2010.

Helmut Krebs/Maximilian Tarrach: Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung. Denkübungen zur Weitung des Horizonts, Norderstedt, 2016.

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