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Franz Rosenzweig (1886-1929) Der Stern der Erlösung Mit einer Einführung von Bernhard Casper tma rbd li bkrv xlj Herausgegeben von Albert Raffelt Freiburg im Breisgau · Universitätsbibliothek · 2002

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Page 1: Der Stern der Erlösung - Auszügehans-feger.de/inhalte/Der-Stern-der-Erloesung.pdf · 2011. 8. 21. · Drittes Buch: Der Stern oder die ewige Wahrheit 423 Tor 465. ERSTER TEIL DIE

Franz Rosenzweig

(1886-1929)

Der Stern der Erlösung

Mit einer Einführung von

Bernhard Casper

tma rbd li bkrv xlj

Herausgegeben von

Albert Raffelt

Freiburg im Breisgau · Universitätsbibliothek · 2002

Page 2: Der Stern der Erlösung - Auszügehans-feger.de/inhalte/Der-Stern-der-Erloesung.pdf · 2011. 8. 21. · Drittes Buch: Der Stern oder die ewige Wahrheit 423 Tor 465. ERSTER TEIL DIE

Der Stern der Erlösung III

INHALT

ERSTER TEIL. DIE ELEMENTE

ODER DIE IMMERWÄHRENDE VORWELT

Einleitung: Über die Möglichkeit, das All zu erkennen 3Erstes Buch: Gott und sein Sein oder Metaphysik 25Zweites Buch: Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik 44Drittes Buch: Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik 67

Übergang 91

ZWEITER TEIL: DIE BAHN

ODER DIE ALLZEITERNEUERTE WELT

Einleitung: Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben 103Erstes Buch: Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge 124Zweites Buch: Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele 174Drittes Buch: Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs 229

Schwelle 283

DRITTER TEIL: DIE GESTALT ODER DIE EWIGE ÜBERWELT

Einleitung: Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten 295Erstes Buch: Das Feuer oder das ewige Leben 331Zweites Buch: Die Strahlen oder der ewige Weg 373Drittes Buch: Der Stern oder die ewige Wahrheit 423

Tor 465

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ERSTER TEIL

DIE ELEMENTE

ODER

DIE IMMERWÄHRENDE VORWELT

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EINLEITUNG

ÜBER DIE MÖGLICHKEIT DAS ALL ZU ERKENNEN

VOM TODE

in philosophos!

VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Er-kennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwer-fen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinenPesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philoso-phie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes,jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuenGrund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhörengebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, undein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mitFurcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel.Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde.Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedemSchritt auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallensein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Daßdie Angst des Todes von solcher Scheidung in Leibund Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt undvon Ableitung der Angst auf einen bloßen „Leib“nichts hören will – was schert das die Philosophie. Magder Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nack-ten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschos-sen des blindunerbittlichen Tods, mag er es da gewalt-sam unausweichlich verspüren, was er sonst nie ver-spürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn es stürbe, undmag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seinerKehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittli-chen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernichtungdroht – die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr lee-res Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefingerdas Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Dies-seits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es garnichts wissen will. Denn der Mensch will ja gar nichtirgend welchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, erwill – leben. Die Philosophie, die ihm den Tod als ih-ren besonderen Schützling und als die großartige Gele-genheit anpreist, der Enge des Lebens

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG4

zu entrinnen, scheint ihm nur zu höhnen. Der Menschfühlt eben gar zu gut, daß er zwar zum Tode, aber nichtzum Selbstmord verurteilt ist. Und nur den Selbstmordvermöchte jene philosophische Empfehlung wahrhaftzu empfehlen, nicht den verhängten Tod Aller. DerSelbstmord ist nicht der natürliche Tod, sondern derwidernatürliche schlechtweg. Die grauenhafte Fähig-keit zum Selbstmord unterscheidet den Menschen vonallen Wesen, die wir kennen und die wir nicht kennen.Sie bezeichnet geradezu diesen Heraustritt aus allemNatürlichen. Es ist wohl nötig, daß der Mensch einmalin seinem Leben heraustrete; er muß einmal die kostba-re Phiole voll Andacht herunterholen; er muß sich ein-mal in seiner furchtbaren Armut, Einsamkeit und Los-gerissenheit von aller Welt gefühlt haben und eineNacht lang Aug in Auge mit dem Nichts gestandensein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf denbraunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm istein anderer Ausweg aus dem Engpaß des Nichts be-stimmt, als dieser Sturz in das Gähnen des Abgrunds.Der Mensch soll die Angst des Irdischen nicht von sichwerfen; er soll in der Furcht des Todes – bleiben.

Er soll bleiben. Er soll also nichts andres, als was erschon will: bleiben. Die Angst des Irdischen soll vonihm genommen werden nur mit dem Irdischen selbst.Aber solang er auf der Erde lebt, soll er auch in derAngst des Irdischen bleiben. Und die Philosophie be-trügt ihn um dieses Soll, indem sie den blauen Dunstihres Allgedankens um das Irdische webt. Denn frei-lich: ein All würde nicht sterben und im All stürbenichts. Sterben kann nur das Einzelne, und alles Sterb-liche ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelneaus der Welt schaffen muß, diese Ab-schaffung desEtwas ist auch der Grund, weshalb sie idealistisch seinmuß. Denn der „Idealismus“ mit seiner Verleugnungalles dessen, was das Einzelne vom All scheidet, ist dasHandwerkszeug, mit dem sich die Philosophie den wi-derspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis er der Um-nebelung mit dem Ein- und Allbegriff keinen Wider-stand mehr entgegensetzt. Einmal in diesen Nebel alleseingesponnen, wäre freilich der Tod verschlungen,wenn auch nicht in den ewigen Sieg, so doch in dieeine und allgemeine Nacht des Nichts. Und es ist derletzte Schluß dieser Weisheit: der Tod sei – Nichts.Aber in Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondernein

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VOM ALL5

DIE

PHILOSOPIE

DES ALL

erster Anfang, und der Tod ist wahrhaftig nicht, was erscheint, nicht Nichts, sondern ein unerbittliches, nichtwegzuschaffendes Etwas. Auch aus dem Nebel, mitdem ihn die Philosophie umhüllt, tönt ungebrochensein harter Ruf; in die Nacht des Nichts mochte sie ihnwohl verschlingen, aber seinen Giftstachel konnte sieihm nicht ausbrechen, und die Angst des vor dem Stichdieses Stachels zitternden Menschen straft allezeit diemitleidige Lüge der Philosophie grausam Lügen.

Indem aber die Philosophie die dunkle Vorausset-zung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Todnicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichtsmacht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraus-setzungslosigkeit. Denn nun hat alles Erkennen des Allzu seiner Voraussetzung – nichts. Vor dem einen undallgemeinen Erkennen des All gilt nur noch das eineund allgemeine Nichts. Wollte die Philosophie sichnicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit dieOhren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen – undmit Bewußtsein ausgehen -: daß das Nichts des Todesein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immerneu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzu-schweigendes Etwas ist. Und an Stelle des einen undallgemeinen, vor dem Schrei der Todesangst den Kopfin den Sand steckenden Nichts, das sie dem einen undallgemeinen Erkennen einzig vorangehen lassen will,müßte sie den Mut haben, jenem Schrei zu horchen undihre Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit nicht zuverschließen. Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas.Im dunkeln Hintergrund der Welt stehen als ihre uner-schöpfliche Voraussetzung tausend Tode, statt des ei-nen Nichts, das wirklich Nichts wäre, tausend Nichtse,die, eben weil viele, Etwas sind. Die Vielheit desNichts, das von der Philosophie vorausgesetzt wird, dienicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des To-des, die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei sei-ner Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken derPhilosophie, den Gedanken des einen und allgemeinenErkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist.Das dritthalbtausendjährige Geheimnis der Philoso-phie, das Schopenhauer an ihrem Sarg ausgeplauderthat, daß der Tod ihr Musaget gewesen sei, verliert überuns seine Macht. Wir wollen keine Philosophie, diesich in die Gefolgschaft des Todes begibt

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG6

und über seine währende Herrschaft uns durch den All-und Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollenüberhaupt keine Täuschung. Wenn der Tod Etwas ist,so soll uns fortan keine Philosophie mit ihrer Behaup-tung, sie setze Nichts voraus, den Blick davon abwen-den. Schauen wir doch jener Behauptung näher ins Au-ge.

War die Philosophie denn nicht schon durch jene ih-re „einzige“ Voraussetzung, sie setze nichts voraus,selbst ganz voller Voraussetzung, ja selber ganz Vor-aussetzung? Immer wieder lief doch das Denken denAbhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan;immer wieder ward an diese Frage alles andere etwanoch Fragwürdige angeschlossen; immer wieder end-lich wurde die Antwort auf die Frage im Denken ge-sucht. Es ist, als ob diese an sich großartige Vorausset-zung des denkbaren All den ganzen Kreis sonstigerFragmöglichkeiten verschattete. Materialismus undIdealismus, beide – nicht bloß jener – „so alt wie diePhilosophie“, haben gleichen Teil an ihr. Was ihr ge-genüber Selbständigkeit beanspruchte, wurde entwederzum Schweigen gebracht oder überhört. Zum Schwei-gen gebracht wurde die Stimme, welche in einer Of-fenbarung die jenseits des Denkens entspringendeQuelle göttlichen Wissens zu besitzen behauptete. Diephilosophische Arbeit von Jahrhunderten ist dieserAuseinandersetzung des Wissens mit dem Glaubengewidmet; sie kommt zum Ziel in dem gleichen Au-genblick, wo das Wissen vom All in sich selber zumAbschluß kommt. Denn als einen Abschluß muß manes wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloßseinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selberrestlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchenund in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift.Das ist geschehen in Hegels Einziehung der Philoso-phiegeschichte ins System. Weiter scheint das Denkennicht mehr gehen zu können, als daß es sich selber alsdie innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als ei-nen Teil des Systembaus, und natürlich als den ab-schließenden Teil, sichtbar hinstellt. Und eben in die-sem Augenblick, wo die Philosophie ihre äußerstenformellen Möglichkeiten erschöpft und die durch ihreeigene Natur gesetzte Grenze erreicht, scheint nun, wieschon bemerkt, auch die große vom Gang der Weltge-schichte ihr aufgenötigte Frage nach dem Verhältnisvon Wissen und Glauben gelöst zu werden.

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VOM ALL7

HEGEL

KIERKEGAARD

Wohl schien auch bisher schon mehr als einmal derFriede zwischen den beiden feindlichen Mächten ge-schlossen, sei es auf Grund einer reinlichen Scheidungder beiderseitigen Ansprüche, sei es in der Weise, daßdie Philosophie in ihrem Arsenal die Schlüssel zu be-sitzen meinte, vor denen die Geheimnisse der Offenba-rung sich auftaten. In beiden Fällen ließ also die Philo-sophie die Offenbarung für Wahrheit gelten, im einenfür eine ihr unzugängliche, im andern für eine von ihrbestätigte Wahrheit. Aber beide Lösungen genügten niefür lange. Gegen die erste erhob sich stets sehr bald derStolz der Philosophie, der es nicht ertragen konnte, einTor als verschlossen anzuerkennen; gegen die zweiteLösung aber mußte umgekehrt der Glaube aufbegeh-ren, dem es nicht genügen konnte, so im Vorbeigehnvon der Philosophie als eine Wahrheit unter andernerkannt zu werden. Etwas ganz andres aber war es, wasnun die Hegelsche Philosophie zu bringen verhieß.Weder Scheidung noch bloße Übereinstimmung wurdebehauptet, sondern innerlichster Zusammenhang. Diewißbare Welt wird wißbar durch das gleiche Denkge-setz, das auf der Höhe des Systems als oberstes Seins-gesetz wiederkehrt. Und dieses eine Denk- und Seins-gesetz ist in der Offenbarung weltgeschichtlich zuerstverkündet, so daß die Philosophie gewissermaßen nurdie Erfüllerin des in der Offenbarung Verheißenen ist.Und hinwiederum übt sie dies Amt nicht gelegentlichbloß oder etwa nur im Höhepunkt ihrer Bahn, sondernin jedem Augenblick, gewissermaßen mit jedem Atem-zug, den sie tut, bestätigt die Philosophie unwillkürlichdie Wahrheit dessen, was die Offenbarung ausgesagthatte. So scheint der alte Streit geschlichtet, Himmelund Erde versöhnt.

Doch es war nur Schein, die Lösung der Glaubens-frage so gut wie die Selbstvollendung des Wissens. Einsehr scheinbarer Schein allerdings; denn wenn jeneersterwähnte Voraussetzung gilt und alles Wissen aufdas All geht, in ihm beschlossen, aber auch in ihm all-mächtig ist, dann freilich war jener Schein mehr alsSchein, dann war er Wahrheit. Wer hier noch Wider-spruch erheben wollte, der mußte einen Archimede-spunkt außerhalb jenes wißbaren All unter seinen Fü-ßen spüren. Von einem solchen Archimedespunkt ausbestritt ein Kierkegaard, und er nicht allein, die Hegel-sche Einfügung der Offenbarung ins All. Der Punktwar das eigene,

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG8

NEUE

PHILOSOPHIE

SCHOPEN-

HAUER

Sören Kierkegaardsche oder sonst irgendwie mit Vor-und Zunamen gezeichnete, Bewußtsein der eigenenSünde und eigenen Erlösung, das einer Auflösung inden Kosmos weder bedürftig noch zugänglich war;nicht zugänglich: denn mochte auch alles an ihm insAllgemeine zu übersetzen sein, – die Behaftetheit mitVor- und Zunamen, das Eigene im strengsten und eng-sten Sinn des Worts blieb übrig, und gerade auf diesEigene kam es, wie die Träger solcher Erfahrungenbehaupteten, an.

Immerhin stand hier Behauptung gegen Behauptung.Die Philosophie wurde einer Unfähigkeit, genauer ei-ner Unzulänglichkeit geziehen, die sie selber nicht zu-geben, weil nicht erkennen konnte; denn falls hierwirklich ein ihr jenseitiger Gegenstand vorlag, so hattesie sich eben selbst, gerade in der abschließenden Ge-stalt, die sie unter Hegel annahm, den Blick in dieseswie in jedes jenseits verschlossen; der Einwand bestrittihr Recht auf ein Gebiet, dessen Existenz sie leugnenmußte; er griff nicht ihr eigenes Gebiet an. Das mußteauf andere Weise geschehen. Und es geschah in demphilosophischen Zeitalter, das mit Schopenhauer an-geht, über Nietzsche weiterführt und dessen Ende nochnicht gekommen ist.

Schopenhauer fragte als erster unter den großen Den-kern nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wertder Welt. Eine höchst unwissenschaftliche Frage, wennsie wirklich so gemeint war, daß nicht nach dem ob-jektiven Wert, dem Wert für irgend „etwas“, dem„Sinn“ oder „Zweck“ der Welt, gefragt sein sollte –was ja nur ein andrer Ausdruck für die Frage nach demWesen wäre -, sondern wenn die Frage auf den Wertfür den Menschen, vielleicht gar für den MenschenArthur Schopenhauer ging. Und so war es gemeint.Bewußt zwar wurde wohl nur nach dem Wert für denMenschen gefragt, und selbst dieser Frage wurden dieGiftzähne ausgebrochen, indem sie schließlich dochihre Lösung wieder in einem System der Welt fand.System bedeutet ja ohne weiteres schon unabhängigesallgemeines Gelten. Und so fand die Frage des vorsy-stematischen Menschen ihre Antwort durch den sy-stemerzeugten Heiligen des Schlußteils. Immerhin auchdies schon etwas in der Philosophie Unerhörtes, daßein Menschentyp und nicht ein Begriff den Systembo-gen schloß, wirklich als Schlußstein

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VOM ALL9

NIETZSCHE

schloß, nicht etwa als ethisches Schmuckstück oderAnhängsel ergänzte. Und vor allem, die ungeheureWirkung erklärt sich doch nur so, daß man fühlte, wasauch wirklich so war: hier stand ein Mensch am An-fang des Systems, ein Mensch, der nicht mehr im Zu-sammenhang der Philosophiegeschichte und gewisser-maßen als ihr Beauftragter, als Erbe des jeweiligenStandes ihrer Probleme philosophierte, sondern der„sich vorgesetzt hatte, über das Leben nachzudenken“,weil es – das Leben – „eine mißliche Sache ist“. Diesstolze Wort des Jünglings im Gespräch mit Goethe –schon daß er „Leben“ sagt und nicht „Welt“, ist be-zeichnend - findet seine Ergänzung in dem Brief, mitdem er das vollendete Werk dem Verleger anbot. Daerklärt er für den Inhalt der Philosophie den Gedanken,mit dem ein individueller Geist auf den Eindruck, dendie Welt auf ihn gemacht, reagiere. „Ein individuellerGeist“ – es war eben doch der Mensch Arthur Scho-penhauer, der hier die Stelle einnahm, die nach dergeltenden Auffassung vom Philosophieren das Problemhätte einnehmen müssen. Der Mensch, das „Leben“,war das Problem geworden, und weil er es in Form ei-ner Philosophie zu lösen „sich vorgesetzt“ hatte, somußte nun der Wert der Welt für den Menschen in Fra-ge gestellt werden – eine, wie schon zugegeben, höchstunwissenschaftliche Fragestellung, aber eine um somenschlichere. Um das wißbare All hatte sich bisheralles philosophische Interesse bewegt; auch derMensch hatte nur in seinem Verhältnis zu diesem AllGegenstand der Philosophie sein dürfen. Nun trat die-ser wißbaren Welt selbständig ein andres gegenüber,der lebendige Mensch, dem All das jeder Allheit undAllgemeinheit spottende Eins, der „Einzige und seinEigentum“. Nicht in dem so überschriebenen Buch, daseben doch nur Buch war, sondern in der Tragödie desNietzscheschen Lebens wurde dann dies Neue unaus-reißbar in das Flußbett der Entwicklung des bewußtenGeistes eingerammt.

Denn nur hier war es ja etwas Neues. Die Dichterhatten immer schon vom Leben gehandelt und vonder eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht. Und dieHeiligen hatten immer schon das Leben gelebt und dereigenen Seele. Aber wieder die Philosophen nicht. Hieraber kam einer, der von seinem Leben und seiner Seelewußte, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte,wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war. Bei-nahe gleich-

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG10

DER MENSCH

gültig ist es schon heute, was er erphilosophierte. DasDionysische und der Übermensch, die blonde Bestie,die ewige Wiederkunft – wo sind sie geblieben? Aberer selber, der in den Wandlungen seiner Gedankenbil-der sich selber wandelte, er selber, dessen Seele keineHöhe scheute, sondern dem tollkühnen Kletterer Geistnachkletterte bis auf den steilen Gipfel des Wahnsinns,wo es kein Weiter mehr gab, er selber ist es, an demnun keiner mehr von denen, die philosophieren müs-sen, vorbei kann. Das furchtbare und fordernde Bilddes bedingungslosen Gefolgschaftsverhältnisses derSeele zum Geist, das war nun nicht mehr auszulöschen.Bei den großen Denkern der Vergangenheit hatte dieSeele etwa die Amme und allenfalls die Erzieherin desGeistes spielen dürfen; eines Tags aber war der Zöglingerwachsen und ging seine eigenen Wege und freutesich der Freiheit und unbegrenzten Aussicht; nur mitGrauen gedachte er noch der engen vier Wände, in de-nen er groß geworden war. So genoß der Geist geradesein Freisein von der seelenhaften Dumpfheit, in wel-cher der Ungeist seine Tage verbringt; die Philosophiewar dem Philosophen die kühle Höhe, auf die er vorden Dünsten der Niederung entwichen war. Für Nietz-sche gab es diese Scheidung zwischen Höhe und Nie-derung im eigenen Selbst nicht; ganz ging er seinenWeg, Seele und Geist, Mensch und Denker eine Einheitbis ans Letzte.

So wurde der Mensch – nein, nicht der Mensch,sondern ein Mensch, ein ganz bestimmter Mensch, zueiner Macht über die – nein, über seine Philosophie.Der Philosoph hörte auf, quantité négligeable für seinePhilosophie zu sein. Der Ersatz, den die Philosophiedem, der ihr seine Seele verkaufte, in Form von Geistzu geben versprach, wurde nicht mehr für voll genom-men. Der Mensch, nicht der ins Geistige umgesetzte,sondern der beseelte, demHauch seiner lebendigen Seele war, - er als Philosophie-

sein Geist nur erstarrter

render war der Philosophie mächtig geworden; siemußte ihn anerkennen, ihn anerkennen als etwas, wassie nicht begreifen, dennoch, weil mächtig gegen sieselbst, nicht leugnen konnte. Der Mensch in derschlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, inseinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trataus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem Allder Philosophie heraus.

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VOM ALL11

DAS META-

ETHISCHE

Die Philosophie hatte den Menschen, auch den Men-schen als „Persönlichkeit“, in der Ethik zu fassen ge-meint. Aber das war ein unmögliches Bestreben. Dennindem sie ihn faßte, mußte er ihr zerrinnen. Die Ethik,mochte sie noch so sehr grundsätzlich der Tat eineSonderstellung allem Sein gegenüber geben wollen, rißin der Ausführung gleichwohl mit Notwendigkeit dieTat wieder hinein in den Kreis des wißbaren All; jedeEthik mündete schließlich wieder in eine Lehre von derGemeinschaft als einem Stück Sein. Offenbar bot esnicht genügend Gewähr gegen dieses Einmünden,wenn man bloß die Besonderheit des Handelns gegen-über dem Sein auszeichnete; man hätte einen Schrittweiter zurück tun müssen und das Handeln in derseinshaften Grundlage eines dennoch von allem Seinabgetrennten „Charakters“ verankern; so allein wäre esals eine eigene Welt gegenüber der Welt zu sicherngewesen. Aber von dem einzigen Kant abgesehn ist dasniemals geschehen, und gerade bei Kant hat durch dieFormulierung des Sittengesetzes als der allgemeingül-tigen Tat wieder der Begriff des All über das Eins desMenschen den Sieg davongetragen; so versank das –wie er den Freiheitsbegriff genial bezeichnete – „Wun-der in der Erscheinungswelt“ mit einer gewissen histo-rischen Folgerichtigkeit bei den Nachkantianern wiederin dem Wunder der Erscheinungswelt; Kant selbst stehtbei Hegels Weltgeschichtsbegriff Pate, nicht bloß inseinen Staats- und geschichtsphilosophischen Ansät-zen, sondern schon in den ethischen Grundbegriffen.Und Schopenhauer hat zwar Kants Lehre vom intelli-gibeln Charakter in seiner Lehre vom Willen aufge-nommen, aber ihren Wert, und in entgegengesetzterRichtung wie die großen Idealisten, entwertet. Indem erden Willen zum Wesen der Welt machte, ließ er zwarnicht den Willen in die Welt, aber die Welt in denWillen aufgehen und vernichtete so die in ihm selbstlebendige Unterscheidung zwischen dem Sein desMenschen und dem Sein der Welt.

Jenseits also des Kreises, den die Ethik beschrieb,mußte das von Nietzsche dem Denken erschlosseneNeuland liegen. Gerade wenn man nicht in blinder Zer-störungsfreude die geistige Arbeit der Vergangenheitzerstören, sondern sie vielmehr in dem, was sie gelei-stet hat, voll gelten lassen will, muß diese Jenseitigkeitder neuen Frage allem gegenüber, was unter dem Be-griff Ethik bisher

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG12

DIE WELT

allein verstanden war und allein verstanden werdendurfte, anerkannt werden. Der Weltanschauung trittgegenüber die Lebensanschauung. Ein Teil der Weltan-schauung ist und bleibt die Ethik. Das besondere Ver-hältnis der Lebensanschauung zur Ethik ist nur das desbesonders intimen Gegensatzes, gerade weil sich beidezu berühren scheinen, ja gegenseitig immer wieder denAnspruch erheben, die Fragen der andren mitzulösen.In welchem Sinn das wirklich der Fall ist, wird sichnoch zeigen. Aber der Gegensatz der Lebensanschau-ung zur Weltanschauung jedenfalls spitzt sich so scharfauf den Gegensatz zum ethischen Teil der Weltan-schauung zu, daß man die Fragen der Lebensanschau-ung geradezu als metaethische bezeichnen möchte.

Ein solches Heraustreten dessen, was man mehr oderweniger deutlich als persönliches Leben, Persönlich-keit, Individualität bezeichnet – lauter durch ihre Ver-wendung in der Weltanschauungsphilosophie belasteteund für uns also nicht ohne weiteres brauchbare Begrif-fe – ein solches Heraustreten also der „metaethischen“Fragen heraus aus dem Bereich des Weltwissens kannauch an diesem selbst nicht spurlos vorübergehen. Mitdieser Befestigung einer, man möchte sagen, unver-daulichen Tatsächlichkeit außerhalb der großen geistigbewältigten Tatsachenfülle der wißbaren Welt ist ein,ja der Grundbegriff dieser Welt entthront. Sie bean-spruchte, das All zu sein; „Alles“ heißt das Subjekt desersten Satzes, der bei ihrer Geburt ausgesprochen wur-de. Nun hat gegen diese Allheit, die das All als Einheitumschließt, eine eingeschlossene Einheit gemeutertund sich als eine Einzelheit, als Einzelleben des Ein-zelmenschen, den Abzug ertrotzt. Das All kann alsonicht mehr behaupten, Alles zu sein; es ist seiner Ein-zigkeit verlustig gegangen.

Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurdedenn die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warumgerade als Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraus-setzung und wieder jene ersterwähnte: die der Denk-barkeit der Welt. Es ist die Einheit des Denkens, diehier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durch-setzt in der Behauptung der Allheit der Welt. Die Ein-heit des Logos begründet die Einheit der Welt als einerAllheit. Und hinwiederum bewährt jene Einheit ihrenWahrheitswert in dem Be-

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VOM ALL13

gründen dieser Allheit. Darum bedeutet ein erfolgrei-cher Aufstand gegen die Allheit der Welt zugleich eineLeugnung der Einheit des Denkens. In jenem erstenSatz der Philosophie, dem „Alles ist Wasser“, stecktschon die Voraussetzung der Denkbarkeit der Welt,wenn auch erst Parmenides die Identität von Sein undDenken aussprach. Denn es ist keine Selbstverständ-lichkeit, daß man mit Aussicht auf eindeutige Antwortfragen kann: „was ist Alles?“ Man kann nicht fragen:„was ist Vieles?“; darauf wären nur mehrdeutige Ant-worten zu erwarten; dagegen ist dem Subjekt Allesschon ein eindeutiges Prädikat vorweggesichert. DieEinheit des Denkens also leugnet, wer, wie es hier ge-schieht, dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzenehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonienbis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut.

Unsre Zeit hat es getan. Die „Kontingenz der Welt“,ihr Nuneinmalsosein, hat man wohl immer gesehen.Aber diese Kontingenz galt es eben zu bewältigen.Dies war ja gerade die eigentlichste Aufgabe der Philo-sophie. Im Gedachtwerden verwandelte sich das „Zu-fällige“ in ein Notwendiges. Wieder erst nach demvollendeten Abschluß, den dieses Streben des Denkensdurch den deutschen Idealismus erreichte, kam mitSchopenhauer und in der Schellingschen Spätphiloso-phie eine entgegengesetzte Richtung auf. Der „Wille“,die „Freiheit“, das „Unbewußte“ konnte, was die Ver-nunft nicht gekonnt hatte: über einer Welt von Zufallwalten. So schienen gewisse Richtungen des Mittelal-ters wieder aufzuleben, welche die „contingentia mun-di“ behaupteten, um die verantwortungslose Willkürdes Schöpfers sicher zu stellen. Aber eben diese ge-schichtliche Erinnerung führt auf das Bedenkliche jenerAuffassung. Erklärt wird gerade das nicht, was erklärtwerden soll: wie die Welt zufällig sein kann, obwohlsie doch als notwendig gedacht werden muß. Diese, umes ganz kraß zu formulieren, Nichtidentität von Seinund Denken muß am Sein und am Denken selber her-vortreten und nicht durch ein als deus ex machina hin-zukommendes Drittes, den Willen, der weder Seinnoch Denken ist, geschlichtet werden. Und da derGrund der Einheit von Sein und Denken im Denkengesucht wird, so müßte zunächst im Denken der Grundder Nichtidentität aufgedeckt werden.

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG14

DAS META-

LOGISCHE

Die Überlegung, in der das geschieht, geht etwa die-sen Weg: Zugegeben, daß das Denken die ein und all-gemeine Form des Seins ist, so hat doch das Denkenselber einen Inhalt, ein Soundnichtanders, das dadurch,daß es rein gedacht wird, um nichts weniger sound-nichtanders ist. Gerade diese seine „Spezifikation“,diese seine Verzweigung, gibt ihm die Kraft, sich mitdem ebenfalls verzweigten Sein zu – identifizieren. DieIdentität von Denken und Sein setzt also eine innereNichtidentität voraus. Das Denken, zwar durchweg aufdas Sein bezogen, ist, weil zugleich auch auf sich sel-ber bezogen, zugleich eine Mannigfaltigkeit in sich.Das Denken also, selber die Einheit seiner eigenen in-neren Vielheit, begründet außerdem, und zwar nichtinsofern es Einheit, sondern insofern es Vielheit ist, dieEinheit des Seins. Damit aber fällt die Einheit des Den-kens, als unmittelbar nur auf das Denken, nicht auf dasSein gehend, aus dem Kosmos Sein=Denken heraus.Dieser Kosmos selbst in seiner Verflochtenheit vonzwei Vielheiten hat also jetzt die Einheit ganz jenseits.In sich ist er nicht Einheit, sondern Vielheit, keinallumschließendes All, sondern ein eingeschlossenesEins, das in sich wohl unendlich, aber nicht abge-schlossen ist. Also, wenn das Wort erlaubt ist, ein aus-schließendes All. Man könnte das Verhältnis, in das sodie Einheit des Denkens und die Einheit von Denkenund Sein miteinander treten, etwa vergleichen mit einerWand, auf der ein Gemälde hängt. Der Vergleich istsogar in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Betrach-ten wir ihn näher.

Jene übrigens leere Wand versinnbildlicht nichtübel, was von dem Denken bleibt, wenn man seineweltbezogene Vielheit abtrennt. Durchaus kein Nichts,aber doch etwas ganz Leeres, die nackte Einheit. Mankönnte das Bild nicht aufhängen, wenn die Wand nichtda wäre, aber mit dem Bild selber hat sie nicht dasmindeste zu tun. Sie hätte nichts dagegen einzuwenden,wenn außer dem einen noch andre Bilder, oder statt deseinen ein andres Bild auf ihr hinge. Wenn nach der vonParmenides bis Hegel herrschenden Vorstellung dieWand gewissermaßen al fresco bemalt war, Wand undBild also eine Einheit ausmachten, so ist nun die Wandin sich Einheit, das Bild in sich unendliche Vielheit,nach außen ausschließende Allheit, das heißt aber:nicht Einheit, sondern Eins, – „ein“ Bild.

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VOM ALL15

Wo jene Einheit, auf der nun allein noch der alteBegriff der Logik haftet, jene nichts außer sich ken-nende noch anerkennende Einheit hingehört, kann nochnicht erörtert werden. Die Welt jedenfalls hat, geradeweil und insofern sie die Welt „von Parmenides bisHegel“ ist, jene Einheit nicht innerhalb, sondern außer-halb ihrer Mauern. Das Denken ist in ihr heimatsbe-rechtigt, sie selber aber ist nicht das All, sondern eineHeimat; das Denken wiederum will und darf seine vor-nehmere Herkunft, die es weiß, ohne sie doch im ein-zelnen bestimmt nachweisen zu können, nicht verges-sen, – darf es nicht, sogar um der Welt willen; dennseine Leistungen in ihr für das Sein beruhen auf derKraft jener vornehmeren Herkunft. So ist die Welt demeigentlich Logischen, der Einheit, gegenüber ein Jen-seits. Die Welt ist nicht alogisch; im Gegenteil, dasLogische ist ein wesentlicher, ja recht eigentlich, wiewir sehen werden, ihr „wesentlicher“ Bestandteil: sieist nicht alogisch, aber – mit dem von Ehrenberg auf-gebrachten Wort metalogisch.

Was das bedeutet, wird, soweit es in diesen vorbe-reitenden Andeutungen überhaupt möglich und erfor-derlich ist, klarer werden, wenn wir einen vergleichen-den Blick rückwärts werfen auf das, was wir beimMenschbegriff das Metaethische nannten. Auch me-taethisch sollte ja mitnichten aethisch bedeuten. Nichtdie Abwesenheit des Ethos sollte darin ausgesprochensein, sondern einzig seine ungewohnte Einordnung,also jene passive statt der ihm sonst gewohnten impe-rativischen Stellung. Das Gesetz ist dem Menschen,nicht der Mensch dem Gesetz gegeben. Dieser durchden neuen Begriff des Menschen geforderte Satz läuftdem Begriff des Gesetzes, wie er im Bereiche der Weltals ethisches Denken und ethische Ordnung auftritt,zuwider; und deswegen muß dieser Menschbegriff alsmetaethisch bezeichnet werden. Ein ähnliches Verhält-nis liegt nun auch bei dem neuen Begriff der Welt vor.Auch hier soll die Welt nicht als alogisch bezeichnetwerden. Im Gegenteil: die Stellung, die dem Denkenseit den Joniern in aller Philosophie, die den Namenverdient, zukommt – je méprise Locke, fertigte Schel-ling Frau von Stael ab, als sie ihm englisch kam -, dieseStellung wird von uns unbedingt aufrecht erhalten.Aber am Denken selbst, insofern es auf die Welt geht,wird ein Charakter entdeckt, der es aus der geltendenzur seienden Form

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG16

GOTT

der Welt macht: die Spezifikation, ja, man könntesagen, die Kontingenz; das Denken wird so – wir habenden krassen Ausdruck nicht gescheut – ein „Bestand-teil“ der Welt, und zwar der wesentliche Bestandteil,genau wie zuvor das Ethos als wesentlicher Bestandteildes Menschen erkannt war. Die Einheit des Logischen,auf der, so lange man auch sie und gerade sie notwen-dig in die Welt hineinziehen zu müssen glaubte, dieAuffassung der Logik als Form, Gesetz, Geltendes be-ruht hatte, diese Einheit wird nur noch als bestimmendfür die Logik, und zwar nicht „logisch“ bestimmend,angesehen. Wohin damit die ihrem Begriff gemäßeLogik falle, wird hier nun freilich dahingestellt gelas-sen; im Gegensatz zu vorhin, wo der begriffsgemäßePlatz für die Ethik wegen der geschichtlichen Vollen-dung der Weltphilosophie leicht festzulegen war. Nurdaß die Welt, die denkbare Welt, gerade in ihrer Denk-barkeit metalogisch ist, ergibt sich schon mit Sicherheitaus diesem Heraustreten des Logischen aus ihr einer-seits und dem sich Einordnen des Logischen in sie and-rerseits. Die Wahrheit ist für die Welt nicht Gesetz,sondern Gehalt. Die Wahrheit bewährt nicht die Wirk-lichkeit, sondern die Wirklichkeit bewahrt die Wahr-heit. Das Wesen der Welt ist diese Bewahrung (nichtBewährung) der Wahrheit. Nach „außen“ entbehrt dieWelt so des Schutzes, den die Wahrheit dem All vonParmenides bis Hegel gewährt hatte; sie ist, da sie ihreWahrheit in ihrem Schoße birgt, nach außen ohne die-sen Gorgonenschild ihrer Unberührbarkeit; sie muß anihrem Leibe geschehen sein lassen, was daran gesche-hen sein mag, und wäre es seine – Schöpfung. Ja, rechtvollkommen würden wir vielleicht den Begriff derWelt in diesem neuen, metalogischen Sinn fassen,wenn wir sie anzusprechen wagten als Kreatur.

Aus dem All war die Einheit gewichen; dem Kunst-werk vergleichbar war es nach außen ein einzelnes Einsund nur nach innen noch All. So ließ es Platz nebensich. Das Logische hatte mit dem Ethischen einst in,wie es schien, unaufhörlichem Kampf um die Vorherr-schaft gestanden: das Metalogische gab dem Metaethi-schen neben sich Raum. Die zum einzelnen Eins ge-einte Vielheit und der von Haus aus einzelne Eine, alswelche sich jetzt Welt und Mensch gegenüberstanden,konnten nebeneinander atmen.

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VOM ALL17

DAS META-

PHYSISCHE

So war die Forderung, die wir zuvor im Interesse desMetaethischen stellen mußten, erfüllt; das Gemäldehatte sein Desinteressement aussprechen können fürden Fall, daß etwa an die gleiche Wand auch noch einRelief gehängt werden sollte; das Fresko hätte das nichtgekonnt; aber das Gemälde interessierte sich für nichts,was außerhalb der vier Leisten seines Blendrahmenslag. Dieser kühle Gleichmut des Gemäldes gegen dieWand, ohne die es doch keinen Platz gefunden hätte,ist nun freilich der Preis, um den die Miteinanderver-träglichkeit von Bild und Relief erkauft wird. Das Me-talogische konnte nur deshalb gegen das Metaethischeduldsam sein, weil es dem Logischen zuvor den Stuhlvor die Tür gesetzt hatte. Und zwar war das Logischedabei zunächst in schlimmerer Lage als das Ethischegegenüber dem Metaethischen. Denn während dasEthische sofort wußte, wo es seine Unterkunft zu su-chen hatte, war das Logische zunächst heimats- undwohnungslos. Die Welt hatte es, sofern es sich nicht ihreinfügte, also sofern es „Absolutes“, schlechthinnigeEinheit zu sein beanspruchte, seiner Dienste entlassen.Die Welt war schlechthin unabsolut geworden. Nichtbloß der Mensch, nein auch Gott konnte außer ihrenGrenzen, wenn anders er wollte, Platz finden. Diesemetalogische Welt bot aber, gerade weil sie gottloswar, keinen Schutz gegen Gott. Der Kosmos von Par-menides bis Hegel war securus adversus deos gewesen.Er war es, weil er selber das Absolute einschloß, wieebenfalls schon Thales in seinem andern überliefertenWort über das „Alles“, es sei voller Götter, aussprach.Der nachhegelsche Kosmos genoß diese Sekuritätnicht. Die Kreaturhaftigkeit, die wir für die Welt bean-sprucht hatten, um die Selbsthaftigkeit des Menschenzu retten, läßt so auch Gott aus der Welt entweichen.Der metaethische Mensch ist der Gärstoff, der die lo-gisch-physische Einheit des Kosmos zerfällt in diemetalogische Welt und den metaphysischen Gott.

Von Gott hat es längst eine Wissenschaft „Metaphy-sik“gegeben. Unsre beiden Begriffe metalogisch undmetaethisch sind ja nach der Bedeutung gebildet, diejenes Wort im Laufe der Geschichte angenommen hat-te. Noch mehr als bisher schon in dieser notwendiger-weise nur andeutenden Einleitung müssen wir also hierdie Verwechslung mit den uralten philosophischen Be-griffen

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG18

fürchten, und noch schwerer können wir sie vermeiden.Schon bei den Bemerkungen über das metaethischeSelbst war es schwer gewesen, seine Verwechslung mitdem Begriff der sittlichen Persönlichkeit zu vermeiden.Wir hatten gleichnisweise auf den Lyriker und denHeiligen hingewiesen; wir hätten etwa auch auf denTheaterbösewicht mit seinem „So bin ich nun einmal,und so will ich denn auch sein“ hindeuten können, umdie hier gemeinte völlige Befreitheit von der Ordnungeines sittlichen Reichs der Zwecke anschaulich zu ma-chen. Aber das war, wie uns wohl bewußt ist, auf dieGefahr der Unklarheit und selbst des Verdachts desphilosophischen Dilettantismus hin geschehen. Es warnicht zu vermeiden, auch nicht durch den Versuch, dieFäden zwischen unserm Begriff und der nachhegel-schen Revolution der Philosophie aufzuzeigen. Eben-sowenig war es zu vermeiden, daß der metalogischeWeltbegriff etwa der Verwechslung mit dem Naturbe-griff unterlag; ja diese zweite Verwechslung drohte fastals notwendige Folge jener ersten; denn wenn der me-taethische Mensch trotz des Namens mit der sittlichenPersönlichkeit gleichgesetzt wurde, so blieb für denmetalogischen Kosmos nur die Gleichsetzung mit demkritischen Naturbegriff. Auch hier mußten wir zu dembedenklichen Mittel des Vergleichs greifen - bedenklichauch hier, weil wir die tiefere Wahrheit, dasMehr-als-Vergleich-sein des Vergleichs hier noch nichtklarstellen konnten. Wir wiesen gleichnisweise auf dieinnere Abgeschlossenheit und Allheit und gleichwohläußere Vereinzeltheit des Kunstwerks hin; wir wiesenauch, im Gleichnis der Wand, auf der das Gemäldehängt, auf seine äußere Bedürftigkeit, wie sie allenthal-ben, in der Notwendigkeit der Aufführung, der Veröf-fentlichung, letzthin eben in der Notwendigkeit desBetrachters für eine vollendete Existenz des Werks,zutage tritt; wir wagten endlich den besonders gefährli-chen, weil weit vorgreifenden Hinweis auf den theolo-gischen Begriff der Kreatur. Durch alle diese Hinweisesuchten wir unsern Weltbegriff zu scheiden von demkritischen Naturbegriff, dem gegenüber er der weit um-fassendere ist; denn er umschließt grundsätzlich allemöglichen Inhalte eines philosophischen Systems, so-weit sie sich nur der Bedingung fügen, nicht als Ele-mente „des“, sondern nur „eines“ All auftreten zu dür-fen. Erneut und verstärkt begegnen uns nun dieseSchwierigkeiten bei dem jetzt zu besprechenden meta-physischen Gottesbegriff.

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VOM ALL19

Metaphysisch – nicht aphysisch. Aller Akosmismus,alle indische Leugnung, alle spinozistisch-idealistischeAufhebung der Welt ist nichts als ein umgekehrterPantheismus. Und gerade den pantheistischen Allbe-griff der Philosophie haben wir ja abtun müssen, umunsern metaphysischen Gottesbegriff auch nur sichtenzu können. So wie das Metaethische des Menschen ihnzum freien Herrn seines Ethos macht, auf daß er es hat,nicht es ihn; und so wie das Metalogische der Welt denLogos zu einem ganz in die Welt ausgegossenen „Be-standteil“ der Welt macht, daß sie ihn habe und nicht ersie; so macht das Metaphysische Gottes die Physis zueinem „Bestandteil“ Gottes. Gott hat eine Natur, seineeigene, ganz abgesehen von dem Verhältnis, in das eretwa zu dem Physischen außer ihm, zur „Welt“, tritt.Gott hat seine Natur, sein naturhaftes, daseiendes We-sen. Das ist so wenig eine Selbstverständlichkeit, daßvielmehr die Philosophie ihm bis zu Hegel hin dieseEigenexistenz stets bestritten hat. Die sublimste Formdieser Bestreitung, nichts andres, ist der ontologischeGottesbeweis, - auch ein Gedanke, der so. alt ist wie diePhilosophie. Immer wenn die Theologen mit ihremDrängen auf Gottes Existenz den Philosophen lästigwurden, wichen diese auf das Geleise jenes „Beweises“aus; die Identität von Denken und Sein wurde demhungrigen Kindlein Theologie von der Wärterin Philo-sophie als ein Schnuller in den Mund gesteckt, damit esnicht schrie. In Kant und Hegel geschieht ein doppelterAbschluß dieses jahrhundertealten Betrugs. Kant ist einAbschluß, indem er den Beweis durch die scharfeScheidung von Sein und Dasein zerkritisiert; Hegelaber lobt ihn, weil er ja zusammenfalle mit demGrundbegriff der philosophischen Weltansicht über-haupt, mit dem Gedanken der Identität von Vernunftund Wirklichkeit, und also von Gott genau so gut gel-ten müsse wie von allem andern; und gerade durch dieNaivität dieses Lobes versetzt er ihm, ohne es, Philo-soph der er ist, zu ahnen, in den Augen der Theologieden Todesstoß. So ist die Bahn frei für die philosophi-sche Erstellung des göttlichen Daseins unabhängig vonGedachtwerden und Sein des Alls; Gott muß Daseinhaben vor aller Identität von Sein und Denken; wennhier Ableitung vorliegen soll, dann noch eher die desSeins vom Dasein, als die in den ontologischen Bewei-sen immer wieder versuchte Ableitung des Daseinsvom Sein. Es ist die Schellingsche

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG20

Spätphilosophie, in deren Bahn wir uns mit solchenBetrachtungen bewegen.

Aber mit diesem natürlichen Element in Gott, dasihm erst die wahre Selbständigkeit gibt gegen allesNatürliche außer ihm – denn so lange Gott nicht seineNatur in sich schließt, ist er letzthin wehrlos gegen dieAnsprüche der Natur, ihn in sich zu schließen -, mitdiesem Natürlichen in Gott also ist der Inhalt des meta-physischen Gottesbegriffs noch nicht ganz umschrie-ben. So wie der metaethische Begriff des Menschennicht darin erschöpft ist, daß er sein eigenes Ethos,noch der metalogische Weltbegriff darin, daß sie ihreneigenen Logos in sich hat, so wenig der metaphysischeGottesbegriff darin, daß Gott eine – seine – Natur hat.Sondern so wie beim Menschen erst das, seis trotzige,seis demütige, seis selbstverständliche Aufsichnehmendieser seiner ethischen Erbschaft und Be-gabung ihnzum Menschen rundet: und wie bei der Welt erst dieFülle und Verzweigtheit und Unaufhörlichkeit ihrerGestalten, nicht schon ihre Denkbarkeit durch denwelteigenen Logos, die Welt zur kreatürlichen Weltmachen: so wird auch Gott nicht schon dadurch leben-dig, daß er seine Natur hat. Sondern es muß noch jenegöttliche Freiheit hinzukommen, die wir mit Wortenwie jenem danteschen „dort, wo man kann, was manwill“ oder dem goetheschen Getansein des Unbe-schreiblichen beinahe mehr verhüllen als erleuchten;erst indem dies Etwas als das eigentlich Göttliche hin-zukommt, verwirklicht sich Gottes Lebendigkeit. Wiewir für Gottes „Natur“ auf Schelling weisen durften, sokönnen wir für Gottes „Freiheit“ den Spuren Nietz-sches folgen.

Einen Atheismus wie den Nietzsches hatte die Ge-schichte der Philosophie noch nicht gesehen. Nietzscheist der erste Denker, der Gott – nicht verneint, sondernrecht eigentlich nach dem theologischen Gebrauch desWortes: ihn „leugnet“. Noch genauer: der ihm flucht.Denn einen Fluch, gewaltig wie jener Fluch, mit demKierkegaards Gotteserlebnis anhub, bedeutet jener be-rühmte Satz: „wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus,nicht Gott zu sein“. Noch nie hatte ein Philosoph soAuge in Auge mit dem lebendigen Gott gestanden, umso zu sprechen. Der erste wirkliche Mensch unter denPhilosophen war auch der erste, der Gott von Ange-sicht zu Angesicht sah - wenn auch nur, um ihn zuleugnen. Denn jener

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VOM ALL21

MATHEMATIK

UND ZEICHEN

Satz ist die erste philosophische Gottesleugnung, in derGott nicht mit der Welt unlöslich verbunden ist. ZurWelt hätte Nietzsche nicht sagen können: wenn sie wä-re, wie hielte ich es aus, nicht sie zu sein. Dem leben-digen Menschen erscheint der lebendige Gott. Das trot-zige Selbst schaut mit ingrimmigem Haß die alles Trot-zes ledige göttliche Freiheit, die ihn, weil er sie fürSchrankenlosigkeit halten muß, zur Leugnung drängt, –denn wie hielte er es sonst aus, nicht Gott zu sein.Nicht Gottes Sein, Gottes Freiheit treibt ihn zu dieserSelbstverwahrung; über Gottes bloßes Sein, auch wenner daran „glaubte“, könnte er lachend hinwegschreiten.So stößt das Metaethische, wie zuvor das Metalogi-sche, das Metaphysische aus sich ab und macht es ge-rade dadurch als göttliche „Persönlichkeit“, als Einheit– nicht wie die menschliche Persönlichkeit als Eins –sichtbar.

Doch es mag genug sein an vorbereitenden Bemer-kungen. Sowohl die zeitgeschichtlichen wie die be-grifflichen Zusammenhänge ließen sich noch weiterausspinnen, ohne daß dadurch mehr erreicht würde als– Vorbereitung. Indem wir das Voraussetzungsvolledes Gedankens, das Denken habe das All zu denken,erkannten, zersplitterte uns unversehens der bishergrundsätzlich einfache Inhalt der Philosophie, das Alldes Denkens und Seins, in drei getrennte, sich gegen-seitig in verschiedener, noch nicht näher faßbarer Wei-se abstoßende Stücke. Von diesen drei Stücken – GottWelt Mensch – wissen wir, soviel wir schon in freierAnknüpfung an das allgemeine Bewußtsein der gegen-wärtigen Zeit davon geredet haben, im strengen Sinnenoch gar nichts. Es sind die Nichtse, in die Kant derDialektiker die Gegenstände der drei „rationalen Wis-senschaften“ seiner Zeit, der rationalen Theologie,Kosmologie und Psychologie, zerkritisiert hat. Nichtals Gegenstände rationaler Wissenschaft denken wir siewiederherzustellen, sondern gerade umgekehrt als „ir-rationale“ Gegenstände. Als Mittel zur ersten Abstek-kung ihrer Orte diente uns die Methode, die in der Vor-silbe „meta“ bezeichnet ist: nämlich die Orientierungan dem rationalen Gegenstand, von dem sich der ge-suchte irrationale abstößt, um sein irrationales Sein zugewinnen: also für den Menschen die Orientierung andem Menschen, welcher Gegenstand der Ethik, für dieWelt die an der Welt, welche Gegen-

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG22

DER

URSPRUNG

stand der Logik, für Gott die an dem Gott, welcher Ge-genstand der Physik ist. Das konnte wirklich nichtsweiter als Mittel der ersten Absteckung sein. Die Er-schließung der so abgesteckten Gebiete muß andersgeschehen. Von den Nichtsen des Wissens stößt unsereEntdeckerfahrt vor zum Etwas des Wissens. Wir sindnoch nicht sehr weit, wenn wir beim Etwas angekom-men sind. Aber immerhin: Etwas ist mehr als Nichts.Was jenseits des Etwas liegen mag, das können wir vonda aus, wo wir jetzt uns finden, vom Nichts her, über-haupt noch nicht ahnen.

Daß das leere Sein, das Sein vor dem Denken, indem kurzen kaum greifbaren Augenblick, ehe es Seinfür das Denken wird, dem Nichts gleich sei, das gehörtebenfalls zu den Erkenntnissen, die die ganze Ge-schichte der Philosophie von ihren ersten Anfängen inJonien bis zu ihrem Ausgang in Hegel begleiten. DiesNichts blieb ebenso unfruchtbar wie das reine Sein. DiePhilosophie hub erst an, wo sich das Denken dem Seinvermählte. Eben ihr versagen wir, und eben hier, unsreGefolgschaft. Wir suchen nach Immerwährendem, dasnicht erst des Denkens bedarf um zu sein. Deshalbdurften wir den Tod nicht verleugnen und deshalb müs-sen wir das Nichts, wo und wie es uns begegnen mag,aufnehmen und zum immerwährenden Ausgangspunktdes Immerwährenden machen. „Das“ Nichts darf unsnicht Wesensenthüllung des reinen Seins bedeuten, wiedem großen Erben der zwei Jahrtausende Philosophie-geschichte. Sondern wo immer ein seiendes Elementdes All in sich selber ruht, unauflöslich und immerwäh-rend, da gilt es, diesem Sein ein Nichts, sein Nichts,vorauszusetzen. Solchem Gang aber von einem Nichtszu seinem Etwas bietet sich zur Führerin eine Wissen-schaft, die selber nichts andres ist als ständiges Herlei-ten eines Etwas – und nie mehr als eines Etwas, einesIrgend – aus dem Nichts, und nie aus dem leeren all-gemeinen Nichts, sondern stets aus dem „seinen“Nichts grade dieses Etwasses: die Mathematik.

Daß die Mathematik nicht über das Etwas, das Ir-gend hinausführt und das Wirkliche selber, das Chaosdes Dies, von ihr höchstens noch be-, nicht mehr ge-troffen wird, das hat schon Platon entdeckt; dieser Ent-deckung verdankt sie den Respekt oder bisweilen auchdie Mißachtung, die ihr von den Philosophen seitherentgegengebracht wurde, je nachdem das „Allgemeine“

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VOM ALL23

bei der herrschenden Zeitgesinnung in Ehren oder inVerruf stand. Aber daß ihr dies Bishierherundnicht-weiter schon bei ihrer Geburt verhängt wurde, das ist,nicht zufällig, erst nach dem völligen Auslauf jenerzweitausendjährigen Bewegung erkannt worden. ErstHermann Cohen, der, gegen seine eigene Selbstauffas-sung und gegen den Anschein seiner Werke, ganz et-was anderes war als ein bloßer Nachfahr jener wahrlichabgelaufenen Bewegung, erst er entdeckte in der Ma-thematik ein Organon des Denkens, grade weil sie ihreElemente nicht aus dem leeren Nichts der einen undallgemeinen Null, sondern aus dem bestimmten, je-weils jenem gesuchten Element zugeordneten Nichtsdes Differentials erzeugt. Das Differential verbindet insich die Eigenschaften des Nichts und des Etwas; es istein Nichts, das auf ein Etwas, sein Etwas hinweist, undzugleich ein Etwas, das noch im Schoße des Nichtsschlummert. Es ist in einem die Größe, wie sie insGrößenlose verfließt, und dann wiederum hat es als„Unendlichkleines“ leihweise alle Eigenschaften derendlichen Größe mit einziger Ausnahme – dieserselbst. So zieht es seine wirklichkeitsgründende Krafteinmal aus der gewaltsamen Verneinung, mit der esden Schoß des Nichts bricht, und dann ebensosehr dochwieder aus der ruhigen Bejahung alles dessen, was andas Nichts, dem es selber als Unendlichkleines dochnoch verhaftet bleibt, angrenzt. Zwei Wege erschließtes so vom Nichts zum Etwas, den Weg der Bejahungdessen, was nicht Nichts ist, und den Weg der Vernei-nung des Nichts. Um dieser beiden Wege willen istMathematik die Führerin. Sie lehrt im Nichts den Ur-sprung des Etwas erkennen. Und so bauen wir hier,möchte der Meister es auch weit ablehnen, fort auf derwissenschaftlichen Großtat seiner Logik des Ur-sprungs, dem neuen Begriff des Nichts. Mag er sonst inder Durchführung seiner Gedanken mehr Hegelianergewesen sein als er zugab – und damit ganz so sehr„Idealist", wie er es sein wollte -, hier, in diesemGrundgedanken brach er entscheidend mit der idealisti-schen Überlieferung. An Stelle des einen und allgemei-nen Nichts, das gleich der Null wirklich nichts weitersein durfte als „nichts“, jenes wahrhaften „Undings“,setzte er das besondere Nichts, das fruchtbar in dieWirklichkeiten brach. Eben zu Hegels Gründung derLogik auf den Begriff des Seins setzte er sich da in ent-scheidendsten Gegensatz. Und damit wiederum zurganzen

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG24

Philosophie, deren Erbe Hegel angetreten hatte. Dennzum ersten Mal erkannte und anerkannte hier ein Philo-soph, der – ein Zeichen mehr für die Gewalt dessen,was ihm geschah, – selber sich noch für einen „Ideali-sten“ hielt: daß dem Denken, wenn es auszog, um „reinzu erzeugen“, nicht das Sein entgegentrat, sondern –Nichts.

Zum ersten Mal. Wenn es auch wahr bleibt, daß wieüberall so auch hier unter allen Denkern der Vergan-genheit Kant allein, und zwar, wie stets, in jenen Be-merkungen, die er hinsprach, ohne ihnen systematischeFolgen zu geben, den Weg, den wir nun gehen werden,gewiesen hat. Denn er selber, der doch jene drei „ratio-nalen“ Wissenschaften, die er vorfand, zersetzte, istvon dieser Zersetzung nicht etwa mehr zu einer einenund allgemeinen Verzweiflung am Erkennen zurück-gekehrt. Sondern er wagte, ob auch nur tastend, dengroßen Schritt und formulierte das Nichts des Wissensnicht mehr einfach, sondern dreifach. Mindestens das„Ding an sich“ und der „intelligible Charakter“ be-zeichnen zwei getrennte Nichtse des Wissens, nachunsrer Terminologie das metalogische und das metae-thische. Und die dunklen Worte, mit denen er gele-gentlich von der geheimnisvollen „Wurzel“ beiderspricht, suchen wohl auch dem metaphysischen Nichtsdes Wissens einen festen Punkt zu ertasten. Dies isthöchst bedeutsam, daß unser Denken, nachdem ihmeinstmals das All als sein einer und allgemeiner Gegen-stand vorgelegt war, sich nunmehr nicht auf ein einesund allgemeines Ignoramus zurückgeschleudert sieht.Das Nichts unsres Wissens ist kein einfaches Nichts,sondern ein dreifaches. Damit enthält es in sich dieVerheißung der Bestimmbarkeit. Und deshalb dürfenwir so gut wie Faust hoffen, in diesem Nichts, diesemdreifachen Nichts des Wissens, das All, das wir zer-stückeln mußten, wiederzufinden. „Versinke denn! ichkönnt‘ auch sagen: steige!“

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ZWEITES BUCH

OFFENBARUNG

ODER

DIE ALLZEIT ERNEUERTE GEBURT DER SEELE

STARK wie der Tod ist Liebe. Stark wie der Tod? Ge-

gen wen denn erweist der Tod seine Stärke? Gegen

den, den er ergreift. Und die Liebe – gewiß, sie ergreift

beide, den Liebenden wie die Geliebte. Aber die Ge-

liebte anders als den Liebenden. Im Liebenden nimmt

sie ihren Ursprung. Die Geliebte wird ergriffen, ihre

Liebe ist schon Antwort auf das Ergriffensein, Anteros

des Eros jüngerer Bruder. Der Geliebten zunächst gilt

es, daß Liebe stark ist wie der Tod. Wie nur dem Wei-

be, nicht dem Manne die Natur es gesetzt hat, an der

Liebe sterben zu dürfen. Was von der zwiefachen Be-

gegnung des Menschen mit seinem Selbst gesagt wur-

de, gilt streng und allgemein nur dem Manne. Dem

Weibe, und gerade dem weiblichsten am meisten, kann

auch Thanatos in des Eros süßem Namen nahen. Des-

wegen, um dieses fehlenden Gegensatzes willen, ist ihr

Leben einfacher als das des Mannes. Ihr Herz ist schon

in den Schauern der Liebe festgeworden; es bedarf der

Schauer des Todes nicht mehr. Ein junges Weib kann

reif zur Ewigkeit sein, wie ein Mann erst wenn Thana-

tos seine Schwelle beschreitet. Den Tod der Alkestis

stirbt kein Mann. Das Weib, einmal von Eros gerührt,

ist, was der Mann erst in Fausts hundertjährigem Alter:

bereit zur letzten Begegnung, - stark wie der Tod.

Das ist, wie alle irdische Liebe, nur ein Gleichnis.

Dem Tod, der als Schlußstein der Schöpfung allem Ge-

schaffenen erst den unverwischbaren Stempel der Ge-

schöpflichkeit, das Wort „Gewesen“, aufdrückt, ihm

sagt die Liebe Kampf an, sie, die einzig Gegenwart

kennt, von Gegenwart lebt, nach Gegenwart schmach-

tet. Der Schlußstein des dunkeln Gewölbes der Schöp-

fung wird zum Grundstein des lichten Hauses der Of-

fenbarung. Die Offenbarung ist der Seele das Erlebnis

einer Gegenwart, die auf dem Dasein der Vergangen-

heit zwar ruht, doch nicht darin haust, sondern im

Lichte des göttlichen Antlitzes wandelt.

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OFFENBARUNG 181

DER

LIEBENDE

Es ist die Liebe, auf die alle hier an den Begriff desOffenbarers gestellten Forderungen zutreffen, dieLiebe des Liebenden, nicht die der Geliebten. Nur dieLiebe des Liebenden ist diese jeden Augenblick er-neute Selbsthingabe, nur er verschenkt sich in der Lie-be. Die Geliebte empfängt das Geschenk; dies, daß siees empfängt, ist ihre Gegengabe, aber im Empfangenbleibt sie bei sich und wird ganz ruhend und in sichselige Seele. Aber der Liebende – er entringt seine Lie-be dem Stamm seines Selbst, wie der Baum sich seineZweige entringt, jeder Ast entbricht dem Stamm undweiß nichts mehr von ihm, den er verleugnet; aber derBaum steht da im Schmuck seiner Äste, die zu ihm ge-hören, ob sie gleich ein jeder ihn verneinen; er hat sienicht freigelassen, er ließ sie nicht zu Boden fallen wiereife Früchte; jeder Zweig ist sein Zweig und ist dochganz Zweig für sich, an eigener, nur ihm allein eigenerStelle hervorgebrochen und dieser Stelle dauernd ver-bunden. So ist die Liebe des Liebenden in den Augen-blick ihres Ursprungs eingewachsen, und weil sie dasist, muß sie alle andern Augenblicke, muß sie das Gan-ze des Lebens verleugnen; sie ist treulos in ihrem We-sen, denn ihr Wesen ist der Augenblick; und so muß siesich, um treu zu sein, jeden Augenblick erneuen, einjeder Augenblick muß ihr zum ersten Blick der Liebewerden. Nur durch diese Ganzheit in jedem Augenblickkann sie ein Ganzes geschaffenen Lebens ergreifen,aber dadurch kann sie es auch wirklich; sie kanns, in-dem sie dieses Ganze mit immer neuem Sinn durch-läuft und bald dies, bald jenes Einzelne darin bestrahltund belebt, – ein Gang, der, alle Tage neu beginnend,nie an sein Ende zu kommen braucht, der jeden Au-genblick, weil er ganz in diesem Augenblick ist, aufder Höhe zu sein meint, über die nichts mehr hinaus-liegt, und dennoch mit jedem neuen Tag erfährt, daß erdas Stück Leben, das er liebt, noch nie so sehr geliebthat wie heute; alle Tage hat Liebe das Geliebte ein biß-chen lieber. Diese stete Steigerung ist die Form derBeständigkeit in der Liebe, indem und weil sie dochhöchste Unbeständigkeit und nur dem einzelnen ge-genwärtigen Augenblick gewidmete Treue ist; sie kannaus tiefster Untreue so zur beständigen Treue werdenund nur daraus; denn nur die Unbeständigkeit des Au-genblicks befähigt sie, jeden Augenblick wieder fürneu zu erleben und so die Fackel der Liebe durch dasganze Nacht- und Dämmerreich des

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ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH182

GEGENWART

geschaffenen Lebens zu tragen. Sie steigert sich, weilsie immer neu sein will; sie will immer neu sein, umbeständig sein zu können; sie kann beständig nur sein,indem sie ganz im Unbeständigen, im Augenblick, lebt,und sie muß beständig sein, damit der Liebende nichtbloß der leere Träger einer flüchtigen Wallung sei,sondern lebendige Seele. So liebt Gott auch.

Aber liebt er denn? Dürfen wir ihm Liebe zuschrei-ben? Schließt der Begriff der Liebe nicht Bedürftigkeitein? Und könnte Gott bedürftig sein? Haben wir nichtdem Schöpfer abgesprochen, daß er aus Liebe schafft,um ihm nicht Bedürftigkeit zusprechen zu müssen?Und nun sollte der Offenbarer dennoch aus Liebe sichoffenbaren?

Aber weshalb haben wir dem Schöpfer Bedürftigkeitabgesprochen? Weil sein Schaffen nicht Willkür, nichtEinfall, nicht Not des Augenblicks sein soll, sondernEigenschaft und dauerndes Wesen. Und Eigenschaftund dauerndes Wesen darf allerdings die Bedürftigkeitfür Gott nicht sein. Aber das ist die Liebe ja auch nicht.Sie ist nicht Eigenschaft des Liebenden; er ist nicht einMensch, der liebt; daß er liebt, ist nicht nähere Be-stimmung eines Menschen. Sondern Liebe ist moment-hafte Selbstverwandlung, Selbstverleugnung des Men-schen; er ist gar nichts andres mehr als Liebender,wenn er liebt; das Ich, das sonst die Eigenschaften tra-gen würde, ist in der Liebe im Augenblick der Lieberestlos verschwunden; der Mensch stirbt in den Lie-benden hinüber und steht in ihm wieder auf. Bedürftig-keit wäre eine Eigenschaft. Wie aber hätte eine Eigen-schaft Platz in dem engen Raume eines Augenblicks?Ist es denn also überhaupt wahr, daß Liebe Bedürftig-sein bedeutet? Vielleicht geht es ihr voraus. Aber wasweiß sie denn, was ihr vorausgeht? Der Augenblick,der sie erweckt, ist ihr erster; mag, von außen gesehen,ihr ein Bedürfnis zugrunde liegen – was heißt das an-ders, als daß der Punkt des geschaffenen Daseins, densie noch nicht mit ihrem Blick getroffen hat, noch imDunkel, eben dem Dunkel der Schöpfung ruht? DiesDunkel ist das Nichts, das ihr als geschaffener „Grund“zugrunde liegt. Aber in ihr selbst, auf der schmalenPlanke ihrer Augenblicklichkeit, ist für kein BedürfnisRaum; sie ist, in dem Augenblick, in dem sie ist, ganzerfüllt; die Liebe des Liebenden ist

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OFFENBARUNG 183

ER ISLAM:

DIE RELIGION

DER

MENSCHHEIT

immer „glücklich“; wer wollte ihm sagen, daß er nochetwas bedürfe außer – zu lieben?

So ist Liebe keine Eigenschaft, sondern ein Ereignis,und keine Eigenschaft hat Platz in ihr. „Gott liebt“heißt nicht, daß die Liebe ihm eignet wie eine Eigen-schaft, etwa wie die Macht, zu schaffen, Liebe ist nichtdie feste unveränderliche Grundform seines Antlitzes,nicht die starre Maske, die der Former vom Antlitz desToten abnimmt, sondern das flüchtige, nie versiegendeMienenspiel, das immer junge Leuchten, das über dieewigen Züge geht. Liebe scheut davor, ein Bildnis vomLiebenden zu machen; das Bildnis ließe das lebendigeAntlitz zum Toten erstarren. „Gott liebt“ ist reinste Ge-genwart – was weiß Liebe selber, ob sie lieben wird, jaselbst, ob sie geliebt hat? Genug, sie weiß das eine, daßsie liebt. Sie geht auch nicht ins Breite der Unendlich-keit, wie die Eigenschaft es tut; Weisheit und Machtsind Allweisheit und Allmacht, Liebe ist nicht Allliebe;vom „allliebenden“ Vater weiß die Offenbarung nicht;Gottes Liebe ist stets ganz in dem Augenblick und andem Punkt, wo sie liebt, und nur in der Unendlichkeitder Zeit, Schritt für Schritt, erreicht sie Punkt auf Punktund durchseelt das All. Gottes Liebe liebt, wen sie liebtund wo sie liebt; keine Frage hat das Recht, ihr zu na-hen, denn jeder Frage wird einmal die Antwort werden,indem Gott auch ihn, auch den Frager, der sich vonGottes Liebe verlassen glaubt, liebt. Gott liebt immernur, wen und was er liebt; aber was seine Liebe voneiner „Allliebe“ scheidet, ist nur ein Nochnicht; nurnoch nicht liebt Gott alles außer dem, was er schonliebt. Seine Liebe wandelt in immer frischem Triebdurch die Welt. Sie ist immer im Heute und ganz imHeute, aber alles tote Gestern und Morgen wird in die-ses sieghafte Heute einmal verschlungen, diese Liebeist der ewige Sieg über den Tod; die Schöpfung, die derTod krönt und schließt, kann ihr nicht Stand halten; siemuß sich ihr ergeben in jedem Augenblick und darumschließlich auch in der Fülle aller Augenblicke, in derEwigkeit.

Was so als Enge des Begriffes der göttlichen Liebe er-scheint, wie ihn der Glaube faßt, nämlich daß dieseLiebe nicht wie das Licht als wesenhafte Eigenschaftnach allen Seiten strahlt, sondern in rätselhaftem Er-greifen Einzelne ergreift – Menschen, Völker,

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DRITTER TEIL: DRITTES BUCH462

DER SINN DER

BEWÄHRUNG

schaft dem Vater zurückgibt. Das Theologumen aus derUrzeit christlicher Theologie spricht aus, was wir hiererklärten: daß das Judentum in seinem ewigen Fortle-ben durch alle Zeit, das Judentum, das im „alten“ Te-stament bezeugt wird und selber von ihm lebendigzeugt, der Eine Kern ist, von dessen Glut die Strahlenunsichtbar genährt werden, die im Christentum sichtbarund vielgespalten in die Nacht der heidnischen Vor-und Unterwelt brechen.

Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Ar-beiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren.Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetztund doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinan-der gebunden. Uns gab er ewiges Leben, indem er unsdas Feuer des Sterns seiner Wahrheit in unserm Herzenentzündete. Jene stellte er auf den ewigen Weg, indemer sie den Strahlen jenes Sterns seiner Wahrheit nach-eilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende. Wirschauen so in unserm Herzen das treue Gleichnis derWahrheit, doch wenden wir uns dafür vom zeitlichenLeben ab und das Leben der Zeit sich von uns. Jenehingegen laufen dem Strom der Zeit nach, aber sie ha-ben die Wahrheit nur im Rücken; sie werden wohl vonihr geleitet, denn sie folgen ihren Strahlen, aber sie se-hen sie nicht mit Augen. Die Wahrheit, die ganzeWahrheit, gehört so weder ihnen noch uns. Denn auchwir tragen sie zwar in uns, aber wir müssen deswegenauch den Blick erst in unser eignes Innre versenken,wenn wir sie sehen wollen, und da sehen wir wohl denStern, aber nicht – die Strahlen. Und zur ganzen Wahr-heit würde gehören, daß man nicht bloß ihr Licht sähe,sondern auch, was von ihr erleuchtet wird. Jene abersind ohnehin schon in alle Zeit bestimmt, Erleuchteteszu sehen, nicht das Licht.

Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nurteil. Wir wissen aber, daß es das Wesen der Wahrheitist, zu teil zu sein, und daß eine Wahrheit, die nieman-des Teil ist, keine Wahrheit wäre; auch die „ganze“Wahrheit ist Wahrheit nur, weil sie Gottes Teil ist. Sotut es weder der Wahrheit Abbruch noch auch uns, daßsie uns nur zuteil wird. Unmittelbare Schau der ganzenWahrheit wird nur dem, der sie in Gott schaut. Dasaber ist ein Schauen jenseits des Lebens. LebendigesSchauen der Wahrheit, ein Schauen, das zugleich Le-ben ist, wächst auch uns nur aus der

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DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 463

DIE WAHRHEIT

DER EWIGKEIT

Versenkung in unser eignes jüdisches Herz und auch danur im Gleichnis und Abbild. Und jenen ist um des le-bendigen Wirkens der Wahrheit willen das lebendigeSchauen überhaupt versagt. So sind wir beide, jene wiewir und wir wie jene, Geschöpfe grade um dessentwil-len, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen. Gradedadurch bleiben wir in den Grenzen der Sterblichkeit.Grade dadurch – bleiben wir. Und wir wollen ja blei-ben. Wir wollen ja leben. Gott tut uns, was wir wollen,solange wir es wollen. Solange wir am Leben hängen,gibt er uns das Leben. Er gibt uns von der Wahrheitnur, soviel wir als lebendige Geschöpfe tragen können,nämlich unsren Anteil. Gäbe er uns mehr, gäbe er unsseinen Anteil, die ganze Wahrheit, so hübe er uns ausden Grenzen der Menschheit heraus. Aber eben solangeer das nicht tut, solange tragen wir auch kein Verlangendanach. Wir hängen an unsrer Geschöpflichkeit. Wirlassen sie nicht gerne. Und unsre Geschöpflichkeit istbedingt dadurch, daß wir nur Teil haben, nur Teil sind.Den letzten Triumph über den Tod hatte das Leben ge-feiert in dem Wahrlich, mit dem es die eigne empfan-gene zuteilgewordene Wahrheit als seinen Anteil ander ewigen bewährt. In diesem Wahrlich klammert sichdas Geschöpf an seinen Anteil, der ihm zuteil ward. Indiesem Wahrlich ist es Geschöpf. Dies Wahrlich gehtals ein stummes Geheimnis durch die ganze Kette derWesen; im Menschen gewinnt es Sprache. Und imStern glüht es auf zu sichtbarem, selbstleuchtendemDasein. Aber immer bleibt es in den Grenzen der Ge-schöpflichkeit. Noch die Wahrheit selber sprichtWahrlich, wenn sie vor Gott tritt. Aber Gott selbstspricht nicht mehr Wahrlich. Er ist jenseits von allem,was Teil werden mag, er ist noch über dem Ganzen,das bei ihm ja auch nur Teil ist; noch über dem Ganzenist er der Eine.

Wenn aber also das Wahrlich und selbst das höchsteWahrlich, das gemeinsam im Chor angesichts desSterns der Erlösung gesprochne Ja und Amen der zuewigem Leben und auf ewigem Weg Erlösten, nochdas Zeichen der Geschöpflichkeit ist und also dasReich der Natur nicht endet, auch nicht in der gestalt-gewordenen Ewigkeit der erlösten Überwelt, so sinktdas Ende in den Anfang zurück. Daß Gott schuf, diesvorbedeutungsschwere erste Wort der Schrift verliertseine Kraft nicht, bis alles erfüllt ist.

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DRITTER TEIL: DRITTES BUCH464

Nicht vorher ruft Gott dies erste Wort, das von ihmausging, wieder in seinen Schoß zurück. Schon sahenwir die ewige Wahrheit zurücksinken in die Offenba-rung der göttlichen Liebe: die Erlösung war in allemnichts als die ewige Auswirkung des in der offenbaren-den Liebe allzeit neu gesetzten Anfangs. In der Liebewar das Verborgene zum Offenbaren worden. Nunsinkt dieser allzeit erneuerte Anfang zurück in den ge-heimen immerwährenden Anfang der Schöpfung. DasOffenbare wird zum Verborgenen. Und mit der Offen-barung mündet so auch die Erlösung nun zurück in dieSchöpfung. Die letzte Wahrheit ist selber nur – ge-schaffene Wahrheit. Gott ist wahrhaftig der Herr. Alssolcher offenbarte er sich in der Macht seines Schöp-fertums. Wenn wir ihn im Licht der ewigen Wahrheitso anrufen – es ist der Schöpfer von Anfang, der Ruferdes ersten „Werde Licht“, den wir da anrufen. DieMitternacht, die hinter dem Dasein der Schöpfung un-sern geblendeten Augen in ewiger Sternenklarheit auf-schimmert, es ist die gleiche, die vor allem Dasein inGottes Busen nachtete. Er ist wahrhaftig der Erste undder Letzte. Ehe denn Berge geboren wurden und dieErde sich wand in Wehen – von Ewigkeit in Ewigkeitwarst du Gott. Und warst von Ewigkeit, was du inEwigkeit sein wirst: Wahrheit.

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TOR

RÜCKBLICK:

DAS

GESICHT DER

GESTALT

GOTTES

ANTLITZ

GOTTES TAG

Das Ewige war Gestalt worden in der Wahrheit. Unddie Wahrheit ist nichts andres als das Antlitz dieserGestalt. Die Wahrheit allein ist ihr Antlitz. Und hüteteuch sehr um eurer Seele willen: Gestalt habt ihr keinegesehn, Sprache allein vernahmet ihr, – so heißt es inder Mit- und Umwelt der Offenbarung. Aber in derNach- und Überwelt, der erlösten, die der zur rechtenZeit und am rechten Ort gesprochene Segen, höhererKräfte voll, herbeizwingt, schweigt das Wort. Von ihrder vollendet-befriedeten heißt es: Er lasse dir leuchtensein Antlitz.

Dies Leuchten des göttlichen Angesichts allein istdie Wahrheit. Sie ist keine für sich frei schwebendeGestalt, sondern allein das aufleuchtende Antlitz Got-tes. Wem er aber sein Angesicht leuchten läßt, demwendet er es auch zu. Wie er uns sein Angesicht zu-wendet, so mögen wir ihn erkennen. Und dies Erken-nen erkennt nicht uneigentlich. Sondern es erkennt dieWahrheit, wie sie ist, nämlich wie sie in Gott ist: alssein Antlitz und Teil. Sie wird nicht etwa zur uneigent-lichen Wahrheit, dadurch daß dies Antlitz uns zuge-wandt, Gottes Teil uns zuteil wird; denn auch als ei-gentliche und eigentlichste Wahrheit wäre sie nichtsandres als – Teil und Antlitz. Im Stern der Erlösung, indem wir die göttliche Wahrheit Gestalt werden sahen,leuchtet so nichts andres auf als das Antlitz, das Gottuns leuchtend zuwandte. Ja den Stern der Erlösung sel-ber, wie er uns nun endlich als Gestalt aufging, werdenwir nun wiedererkennen im göttlichen Angesicht. Underst in dieser Wiedererkenntnis vollendet sich seineErkenntnis.

Denn solange wir nur seine Bahn kannten, ohneschon seine Gestalt zu schauen, solange war die Ord-nung der ursprünglichen Elemente noch nicht fest.Wohl zwar sank längst kraftlos dahin das unbeschränkthin und her flatternde Vielleicht; Gott Welt

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TOR466

Mensch hatten sich untereinander zur sicheren Ord-nung gefügt; in der Bahn kam ihnen ihre Ordnung;durch die Folge der drei Stunden des Gottestags wardden Elementen des All ihr unverrückbares Verhältniszueinander gewiesen; so ward die Bahn als die Bahndes Gestirns erkannt, dem jene Bahnelemente ange-hörten. Aber indem so der Stern erblickt wurde, schiener sich noch um sich selber drehen zu können, also daßinnerhalb des schon fest gewordenen Ablaufs der dreiZeiten des Gottestags nun dennoch Welt und Menschihren eigenen Tag zu erleben schienen, der mit jenemnicht einfach zusammenfiel. Nur für Gott war die Erlö-sung wirklich das Letzte. Aber für den Menschen be-deutete schon seine gottebenbildliche Schöpfung, fürdie Welt schon der Niederstieg Gottes in der Offenba-rung das Erlöstsein zu aller nur möglichen Vollendung.Es schienen da die drei Stunden also nur Stunden desGottestags zu sein, der Tag des Menschen und der Tagder Welt wäre ein andrer.

Es war die ganze Aufgabe des dritten Teils, der vomEwigen der erlösten Überwelt handelte, zu zeigen, daßes nicht so ist. Jene scheinbare Vertauschungsmöglich-keit ward hier selbst in Gestalten festgebannt, die ihrenfesten Platz in der ewigen Wahrheit des Gottestags an-gewiesen bekamen. Im ewigen Leben war allerdingsder Welt die Erlösung schon in der Offenbarung, in derja alles drin ist, vorweggenommen; in der Offenbarungan das eine Volk war ewiges Leben gepflanzt, es selberverändert sich nicht mehr; jenes ewige Leben wird der-einst in der Frucht der Erlösung wiederkehren, so wiees einst gepflanzt war; so wird hier in die Welt, diesichtbare Welt, wirklich schon ein Stück Erlösung hin-eingestellt, und es wird wahr, daß von der Welt ausgesehen die Offenbarung eigentlich schon die Erlösungsei. Und andrerseits wird im ewigen Weg wirklichwieder bei der anerschaffenen Gottebenbildlichkeit desMenschen begonnen; die Erlösung geschieht hier durchden neuen Adam, den sündlosen, nicht gefallenen, undist in ihm schon da; so wird hier der Mensch, der be-seelte Mensch, indem er sich diese mit der wunderba-ren Geburt des zweiten Adam erneuerte gottebenbildli-che Geschaffenheit aneignet, schon Erbe der Erlösung,einer Erlöstheit, die ihm von uran, von der Schöpfungher eignet und nur der Aneignung harrt; also daß eswahr wird, daß vom Menschen her eigentlich schon dieSchöpfung die Erlösung sei.

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TOR 467

GOTTES ZEIT Und so fügen sich hier auch aufs genaueste die Ver-hältnisse der Zeiten. Denn der Mensch ward in der Of-fenbarung zum Menschen geschaffen, und in der Erlö-sung mochte und mußte er sich offenbaren. Und dieseinfache und natürliche Zeitverhältnis, worin das Ge-schaffenwerden dem Sichoffenbaren voranging, be-gründet nun den ganzen Verlauf des ewigen Wegsdurch die Welt, die eigene Zeitrechnung, das Bewußt-sein, das sich in jeder Gegenwart zwischen Vergangen-heit und Zukunft und auf dem Weg aus jener in diesefindet. Hingegen die eigentümliche, uns schon mehr-mals aufgefallene Verkehrung der Zeitfolge für dieWelt erhält jetzt ihre anschauliche Bestätigung. DerWelt geschieht ja in ihrer Schöpfung das Erlebnis desErwachens zum eignen offenbaren Bewußtsein ihrerselbst, nämlich zum Bewußtsein der Kreatur, und in derErlösung erst wird sie eigentlich geschaffen, erst dagewinnt sie jene feste Dauerhaftigkeit, jenes beständigeLeben statt des augenblicksgeborenen immer neuenDaseins. Diese Verkehrung der Zeitfolge, wo also fürdie Welt das Erwachen dem Sein vorhergeht, begründetdas Leben des ewigen Volks. Sein ewiges Leben näm-lich nimmt ständig das Ende vorweg und macht es sozum Anfang. In dieser Umkehrung verleugnet es dieZeit so entschieden wie nur möglich und stellt sich ausihr heraus. In der Zeit leben heißt zwischen Anfang undEnde leben. Wer außerhalb der Zeit leben wollte – unddas muß, wer in der Zeit nicht das Zeitliche, sondernein ewiges Leben will – wer also das will, der muß je-nes „zwischen“ verleugnen. Ein solches Verleugnenaber müßte tätig sein, damit nicht bloß einNicht-in-der-Zeit-Leben herauskäme, sondern ein po-sitives Ewig-Leben. Und die tätige Verleugnung ge-schähe einzig in der Umkehr. Ein Zwischen umkehrenheißt sein Hernach zum Zuvor, sein Zuvor zum Her-nach, das Ende zum Anfang, den Anfang zum Endemachen. Und das tut das ewige Volk. Es lebt für sichschon so, als ob es alle Welt und die Welt fertig wäre;es feiert in seinen Sabbaten die sabbatliche Vollendungder Welt und macht sie zur Grundlage und zum Aus-gangspunkt seines Daseins. Was aber zeitlich nur Aus-gangspunkt wäre, das Gesetz, das setzt es sich zumZiel. So erlebt es das Zwischen nicht, obwohl es dochnatürlich, wirklich natürlich, darin lebt. Es erlebt gradedie Umkehrung des Zwischen, und also leugnet es dieAllmacht des Zwischen und verleugnet so die Zeit, die-selbe Zeit, die auf dem ewigen Weg erlebt wird.

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TOR468

DIE EWIGEN

GÖTTER

DER GOTT

DER GÖTTER

So verfestigen sich also unter den Zeichen des ewi-gen Lebens und des ewigen Wegs die beiden „Ansich-ten“ aus dem „Gesichtspunkt“ der Welt oder des Men-schen zu selber sichtbaren Gestalten und treten unterdas eine Zeichen der ewigen Wahrheit. Und damit ver-einfacht sich nun die Frage, welche Ordnung der dreiStunden für die ewige Wahrheit selber erfordert wird.Denn da die ewige Wahrheit erkannt wurde als dieWahrheit, die am Ende sein wird und von Gott am An-fang urspringt, so zeigt sichs, daß nur die Ordnung, wiesie sich von Gott aus darstellt und in der die Erlösungwirklich das Letzte ist, der letzten Wahrheit gerechtwird. Und eben in dieser Ordnung von Gott aus findenselbst die scheinbar neben ihr immerhin noch mögli-chen Ordnungen von der Welt oder vom Menschen ausihre Wohnstatt, wo sie als notwendige und sichtbareGestalten unter der Herrschaft der ewigen Wahrheitsicher hausen und ihr Wahrlich sagen dürfen. Jeneewigen Götter des Heidentums, in denen es fortlebenwird bis zum ewigen Ende, der Staat und die Kunst,jener das Götzenbild der Sachlichen, diese das der Per-sönlichen, werden da von dem wahren Gott in Kettengeschlagen. Mag doch der Staat für die Welt den ober-sten Platz im All beanspruchen und die Kunst für denMenschen, und mag jener den Strom der Zeit an denEpochen der Weltgeschichte aufzustauen, diese ihn indas unendliche Kanalsystem der Erlebnisse abzuleitensuchen – mögen sie doch! der im Himmel sitzt, spottetihrer; er hält ihrer schon einander widerstreitenden Ge-schäftigkeit das stille Wirken der geschaffenen Naturentgegen, in deren Wahrheit die vergötterte Welt be-grenzt und gestaltet ist zu ewigem Leben, der vergöt-terte Mensch gebeugt und entboten zu ewigem Weg,und also beide, Welt und Mensch, gemeinsam GottesHerrschaft untergetan sind. Denn selbst der Kampf umdie Zeit, in dem sich Staat und Kunst gegenseitig auf-reiben müßten, weil der Staat ihren Fluß bannen, dieKunst in ihm treiben will, selbst dieser Kampf ist in dergottbeherrschten Natur geschlichtet; in der Ewigkeitdes Lebens und der Ewigkeit des Wegs finden Weltund Mensch nebeneinander Platz; da sind sie vergött-licht, ohne daß sie vergöttert würden.

Erst vor der Wahrheit also sinkt der Taumel allenHeidentums in sich zusammen. Seinem trunken blindenSich- und Nursichsehenwollen,

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TOR 469

wie es im ewigen Kampf von Staat und Kunst auf-

gipfelt, tritt die überlegen ruhige Macht der gött-

lichen Wahrheit entgegen. Sie, weil sie alles alseine einzige große Natur zu ihren Füßen liegen hat,mag einem jeden seinen Anteil zuweisen und so dasAll ordnen. Solange Staat und Kunst sich beide, jedessich, für allmächtig halten dürfen, solange nehmen sieauch jedes, und mit Recht, die ganze Natur für sich inAnspruch. Sie kennen beide die Natur nur als ihren„Stoff“. Erst die Wahrheit konnte, indem sie den Staatwie die Kunst, jenen am ewigen Leben, diese am ewi-gen Weg, begrenzte, die Natur von dieser doppeltenSklaverei befreien und sie wieder zur einen machen, inder nun Staat und Kunst sich ihren Anteil nehmen mö-gen, doch nicht mehr. Und die Wahrheit – von wosonst zöge sie ihre das All der Natur tragende Pfeiler-kraft als von dem Gott, der sich in ihr und nur in ihrGestalt gibt. Es gilt letzthin vor dem Blick der Wahr-heit nicht bloß kein Vielleicht – das entschwand längst–, sondern auch kein Möglich mehr. Der Stern der Er-lösung, in dem die Wahrheit Gestalt gewinnt, kreistnicht. Was oben steht, steht oben und bleibt oben stehn.Standpunkte, Welt- und Lebensanschauungen, Ismenjeglicher Art – das wagt sich alles unter diesem letzteneinfachen Blick der Wahrheit nicht mehr hervor. DieStandpunkte versinken vor der einen beständigenSchau. Welt- und Lebensanschauungen vergehen in dieeine Anschauung Gottes. Die Ismen verziehen sich vordem aufgehenden Gestirn der Erlösung, die, einerlei obman an sie glaubt oder nicht, jedenfalls als eine Tatsa-che gemeint ist und kein Ismus. Es gibt also ein Obenund Unten, unvertauschbar, unverdrehbar. Auch derErkennende darf nicht Wenn sagen. Auch ihn be-herrscht das So, das So-und-nicht-anders. Und ebendeswegen, weil es in der Wahrheit Oben und Untengibt, deshalb dürfen nicht bloß, sondern müssen wir siedas Antlitz Gottes heißen. Wir sprechen in Bildern.Aber die Bilder sind nicht willkürlich. Es gibt notwen-dige und zufällige Bilder. Die Unverkehrbarkeit derWahrheit läßt sich nur in dem Bilde eines Lebendigenaussprechen. Denn im Lebendigen allein ist schon vonNatur und vor aller Setzung und Satzung ein Oben undUnten ausgezeichnet. Und im Lebendigen wieder dort,wo ein Selbstbewußtsein dieses Auszeichnens wach ist:im Menschen. Der Mensch hat oben und unten an sei-ner eignen Leiblichkeit.

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TOR470

DAS MEN-

SCHENGESICHT

Und wie die Wahrheit, die sich im Stern Gestalt gibt,innerhalb des Sterns als ganze Wahrheit wiederum zuGott und nicht zur Welt oder zum Menschen zugeord-net ist, so muß sich auch der Stern noch einmal spie-geln in dem, was innerhalb der Leiblichkeit wiederdas Obere ist: das Antlitz. Es ist deshalb kein Men-schenwahn, wenn die Schrift von Gottes Antlitz undselbst seinen einzelnen Teilen redet. Die Wahrheitläßt sich gar nicht anders aussprechen. Erst indem wirden Stern als Antlitz schauen, sind wir ganz über alleMöglichkeit von Möglichkeiten hinweg und schaueneinfach.

Gleich wie der Stern in den zwei übereinanderge-legten Dreiecken seine Elemente und die Zusammen-fassung der Elemente zur einen Bahn spiegelt, so ver-teilen sich auch die Organe des Antlitzes in zweiSchichten. Denn die Lebenspunkte des Antlitzes sind jadie, wo es mit der Umwelt in Verbindung tritt, seis inempfangende, seis in wirkende. Nach den aufnehmen-den Organen ist die Grundschicht geordnet, die Bau-steine gewissermaßen, aus denen sich das Gesicht, dieMaske, zusammensetzt: Stirn und Wangen. Den Wan-gen gehören die Ohren, der Stirn die Nase zu. Ohrenund Nase sind die Organe des reinen Aufnehmens. DieNase gehört zur Stirn, sie tritt in der heiligen Sprachegradezu für das Gesicht im ganzen ein. Der Duft derOpfer wendet sich an sie wie das Regen der Lippen andie Ohren. Über dieses erste elementare Dreieck, wiees gebildet wird von dem Mittelpunkt der Stirn als dembeherrschenden Punkt des ganzen Gesichts und denMittelpunkten der Wangen, legt sich nun ein zweitesDreieck, das sich aus den Organen zusammenfügt, de-ren Spiel die starre Maske des ersten belebt: Augen undMund. Die Augen sind unter sich nicht etwa mimischgleichwertig, sondern während das linke mehr emp-fänglich und gleichmäßig schaut, blickt das rechtescharf auf einen Punkt eingestellt; nur das rechte„blitzt“, – eine Arbeitsteilung, die ihre Spuren schließ-lich bei Greisenköpfen häufig auch in die weiche Um-gebung der Augenhöhle eingräbt, so daß dann jene un-gleichmäßige Gesichtbildung auch von vorn wahr-nehmbar wird, die sonst allgemein nur an der bekann-ten Verschiedenheit der beiden Profile auffällt. Wie vonder Stirn der Bau des Gesichts beherrscht wird, sosammelt endlich sein Leben, alles was um die Augenzieht und aus den Augen strahlt, sich im Mund. DerMund

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TOR 471

AUSBLICK: DER

ALLTAG DES

LEBENS

DAS ERSTE

ist der Vollender und Vollbringer allen Ausdrucks, des-sen das Antlitz fähig ist, so in der Rede wie zuletzt imSchweigen, hinter dem die Rede zurücksank: im Kuß.Die Augen sinds, in denen das ewige Antlitz dem Men-schen leuchtet, der Mund, von dessen Worten derMensch lebt; aber unserm Lehrer Mose, der das Landder Sehnsucht lebend nur schauen, nicht betreten durf-te, versiegelte er dies abgeschlossene Leben mit einemKusse seines Mundes. So siegelt Gott und so siegelt derMensch auch.

Im innersten Heiligtum der göttlichen Wahrheit, woihm seiner Erwartung nach alle Welt und er selber sichzum Gleichnis herabsinken müßte für das, was er dorterblicken wird, erblickt so der Mensch nichts andres alsein Antlitz gleich dem eigenen. Der Stern der Erlösungist Antlitz worden, das auf mich blickt und aus dem ichblicke. Nicht Gott, aber Gottes Wahrheit ward mir zumSpiegel. Gott, der der Letzte ist und der Erste, er schloßmir die Pforten des Heiligtums auf, das in der innerstenMitte erbaut ist. Er ließ sich schauen. Er führte mich anjene Grenze des Lebens, wo die Schau verstattet ist.Denn kein Mensch bleibt im Leben, der ihn schaut. Somußte jenes Heiligtum, darin er mir sich zu schauenverstattete, in der Welt selber ein Stück Überwelt, einLeben Jenseits des Lebens sein. Aber was er mir in die-sem jenseits des Lebens zu schauen gab, das ist –nichts andres als was ich schon in der Mitte des Lebensvernehmen durfte; nur daß ich es schaue, nicht mehrbloß höre, ist der Unterschied. Denn die Schau auf derHöhe der erlösten Überwelt zeigt mir nichts andres, alswas mich schon das Wort der Offenbarung mitten imLeben hieß; und im Lichte des göttlichen Antlitzes zuwandeln, wird nur dem, der den Worten des göttlichenMundes folgt. Denn – „er hat dir gesagt, o Mensch,was gut ist, und was verlangt der Ewige dein Gott vondir als Recht tun und von Herzen gut sein und einfältigwandeln mit deinem Gott“.

Und dies Letzte ist nichts Letztes, sondern ein allzeitNahes, das Nächste; nicht das Letzte also, sondern dasErste. Wie schwer ist solch Erstes! Wie schwer ist allerAnfang! Recht tun und von Herzen gut sein - das siehtnoch aus wie Ziel. Vor jedem Ziel kann der Wille nocherst ein wenig verschnaufen zu müssen behaupten.Aber einfältig wandeln mit deinem Gott – das ist keinZiel mehr,

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das ist so unbedingt, so frei von jeder Bedingung, vonjedem Erst noch und Übermorgen, so ganz Heute undalso ganz ewig wie Leben und Weg, und darum so un-mittelbar der ewigen Wahrheit teilhaft wie Leben undWeg. Einfältig wandeln mit deinem Gott – nichts wei-ter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Ver-trauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist derSame, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen,und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allerein-fachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jedenAugenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältigwandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem

Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunder-baren Leuchten des göttlichen Heiligtums,

darin kein Mensch leben bleiben kann,herausführt. Wohinaus aber öffnen

sich die Flügel des Tors?Du weißt es nicht?

INS LEBEN.