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3/2011 40 Vegetarisches Gericht mit Zucchini und Radieschen Deutschland ERNÄHRUNG Eine Welt ohne Wurst Der Dioxin-Skandal gibt dem Trend zur fleischlosen Kost Auftrieb. Millionen Vegetarier träumen von einem Land, in dem Tiere nicht mehr für Kochtöpfe, sondern nur noch an Altersschwäche sterben. Hat die Utopie eine Chance – oder siegt die Macht der Gewohnheit?

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D E R S P I E G E L 3 / 2 0 1 140

Vegetarisches Gericht mitZucchini und Radieschen

Deutschland

E R NÄ H R U N G

Eine Welt ohne WurstDer Dioxin-Skandal gibt dem Trend zur fleischlosen Kost Auftrieb. Millionen Vegetarier träumen

von einem Land, in dem Tiere nicht mehr für Kochtöpfe, sondern nur noch an Altersschwäche sterben. Hat die Utopie eine Chance – oder siegt die Macht der Gewohnheit?

An den Tag, an dem Bettina JungVegetarierin wurde, erinnert siesich noch genau. Hasenbraten soll-

te es zu Mittag geben. Zwei Tage lang inButtermilch gebeizt, dann mit feinenSpeckscheiben bardiert und im Backofenin einer Rotwein-Salbei-Sauce geschmort,kann er eine Köstlichkeit sein.

Doch dann kippte die Festtagsstim-mung. Die damals Zwölfjährige hatte inder Küche das tote Tier gesehen, bevores gewürzt und in den Ofen geschobenwurde. Das Fell war abgezogen, entblößtlag der blassrote Körper da. Es war einSchock für sie, der zum Schlüsselerlebniswurde. Bettina Jung weigerte sich, amTisch Platz zu nehmen. Denn ein paarTage zuvor hatten die Eltern ihr einenanderen Hasen geschenkt. Liebevoll füt-terte sie ihn mit Möhren, Äpfeln und Bir-nen, meistens erzählte sie ihm etwas. „Als ich den toten Hasen im Ganzen

sah und ein gebratenes Stück von ihmauf dem Teller, da wurde mir zum erstenMal klar, dass man nicht Fleisch isst, son-dern Tiere“, sagt Bettina Jung, heute 39Jahre alt.„Nie wieder“, so schwor sie sich da-

mals, wollte sie „etwas essen, was eineMama hat“. Es gab schlimmen Streit, alssie sich ihren Eltern offenbarte: nie wie-der Schnitzel, nie wieder Hähnchen, niewieder Fisch und nie wieder Sonntags-braten. Niemals mehr Wurst aufs Pausen-brot.

Der Vater „versuchte, mich zu bre-chen“, wenigstens ihre Mutter versuchte,ihr zur Seite zu stehen. Doch ihrenSchwur hat die Tierheilpraktikerin ausdem niedersächsischen Flecken Dierstorfin der Lüneburger Heide nicht gebrochen.Die alleinerziehende Mutter, in HamburgLandesvorsitzende der Partei für Mensch,Umwelt und Tierschutz, ist seit 27 JahrenVegetarierin. Sie hat für ihre frühere„Herzensentscheidung“ eine Fülle vonGründen gefunden – lange bevor von derRinderseuche BSE, von Gammelfleischund Dioxin die Rede war. Ihr Sohn Phi-lipp-Niclas, 16, folgt ihrem Beispiel.„Der Dioxin-Skandal hat uns wieder

einmal gezeigt, dass unser Weg richtigist“, sagt Jung.

Die Zeiten haben sich geändert. Werheute, bald drei Jahrzehnte später, zumVegetarier konvertiert, hat es zumeistleichter. „Wir haben bei der Ernährung unserer

Familie viel von unseren Töchtern ge-lernt“, sagt der Richter Axel Enderlein,52, aus dem schleswig-holsteinischenReinbek. Als Tochter Nora, 14, vor fünfJahren kein Fleisch mehr essen wollte,weil dafür Tiere getötet werden, re -spektierten seine Frau Friederike, 47, under die Entscheidung und kochten für Norafleischlos. Später sah die ältere TochterFranka, 16, im Erdkundeunterricht einenfurchtbaren Film über Hühnermast, „bei

dem der Lehrer uns verbot, die Augenzu schließen“. Danach wurde auch sie Vegetarierin. Die jüngste Tochter Ricarda,7, darf Würstchen essen, wenn ihr danachist.

Buchhändlerin Friederike Enderleinund ihr Mann essen, angeregt von ihrenTöchtern, selbst kaum noch Fleisch. „Er-ziehung von unten“ nennen sie das.

Mutter Jung und die Enderleins stehenlängst nicht mehr allein. Und seit Staats-anwälte ermitteln, wie das hochgiftige,krebserzeugende Dioxin erst ins Tierfut-ter kam und dann Millionen Hühner undAbermillionen Eier belastete, stellenwohl noch mehr Verbraucher die Frage,ob nicht ein Ende gefunden werden mussfür die oft tierquälerische Massentierhal-tung – und ob eine vegetarische Ernäh-rung zur Alternative werden kann.

Die Antworten sind eindeutig. Es gibtkaum noch vernünftige Zweifel daran,dass die Ernährungsgewohnheiten der

Deutschen – und die von Menschen ausden übrigen Industrieländern – ein Irrwegsind. Es ist nicht mehr zu bestreiten, dassdie überdimensionierte Fleischproduk -tion fatale Auswirkungen auf das Welt-klima hat. Es ist nachgewiesen, dass derdurchschnittliche Fleischkonsum hierzu-lande etwa doppelt so hoch ist, wie esder Gesundheit guttut. Und es macht sichzunehmend die Überzeugung breit, dasses moralisch nicht zu vertreten ist, Tierein der Mast zu quälen und zu töten, damitsie zu Braten oder Frikadellen verarbeitetwerden können.

Für die Deutschen wird es nicht leichtumzudenken. Das Grillhähnchen, dasCordon bleu, die Currywurst, das Steakund Frikadellen gehören gleichsam zu ih-rem kulturellen Erbe – Fleisch ist denmeisten auf eine gewisse, nicht religiöseWeise heilig. Und: Kaum jemand hat esgelernt, vegetarisch zu kochen. Selbst vie-

le Berufsköche sind überfordert, wennVegetarier sich beim Restaurantbesuchnicht mit Gemüsebeilagen abspeisen las-sen wollen.

Eher gedankenlos hat die große Mehr-heit der Bevölkerung Fleisch gegessenund das Töten von Tieren als eine ArtKollateralschaden verstanden. Der Bauerund frühere Bundeslandwirtschaftsminis-ter Karl-Heinz Funke (SPD) ist in seinerGrundeinstellung nicht zu bekehren:„Die Bestimmung eines Schweins ist dasKotelett.“

Wollen Fleischpropagandisten wie Fun-ke ihr Gewissen beruhigen, berufen siesich gern auf das christliche Menschen-bild: Gottgegeben seien Menschen dieKrone der Schöpfung, die Tiere sollen ih-nen untertan sein. In ihrem Hunger aufFleisch fühlen sie sich auch von der deut-schen Bischofskonferenz ermutigt. „WirMenschen sind berechtigt, Leistungenund Leben der Tiere in Anspruch zu neh-men“, hielten die obersten Katholiken1980 in ihrer Erklärung zur „Zukunft derSchöpfung“ für moralisch vertretbar.

Andere Fleischesser denken noch ein-facher. Sie nehmen gern eine Art Natur-recht in Anspruch: Große Tiere fressenkleine Tiere, der Mensch ist ein Tier ausder Familie der Menschenaffen und darfdas auch.

Bisher.Doch es tut sich etwas im Land. Nach

der Öko-Welle der achtziger Jahre unddem Bioboom des vergangenen Jahr-zehnts gewinnt eine dritte große Ernäh-rungsdebatte an Bedeutung. Es geht dabeinicht mehr allein um die Frage, was ge-sund ist. Gestritten wird mit großer Lei-denschaft darüber, ob es moralisch zurechtfertigen ist, Tiere zu züchten, um siezu töten und zu verspeisen.

Geführt wird diese Debatte von Men-schen, die Fleisch von ihrer Speisekartegestrichen haben: den Vegetariern. SechsMillionen Frauen und Männer, Mädchenund Jungen, so verkündet der Vegetarier-bund Deutschland (Vebu), haben demFleisch abgeschworen. Die Zahl decktsich mit dem Ergebnis der Nestlé-Studie2009 zu den Ess- und Trinkgewohnheitender Deutschen. Demnach achten acht Pro-zent darauf, kein Fleisch zu essen undsich vegetarisch zu ernähren.

In den Großstädten, den Hochburgender Veggies, ist der Trend sichtbar. Vege-tarische Restaurants mit phantasievollenNamen wie „Tassajara“ und „Hin undVeg!“ in Hamburg, „La Mano Verde“ inBerlin, „Vegelangelo“ in München und„Oh Bio Mio“ in Trier sind gut gebucht.Auf ihrer Speisekarte führen sie den Be-weis, dass fleischfreie Ernährung nichtsmit lustfeindlicher Askese zu tun habenmuss: Zur Auswahl stehen etwa Wasser-melonen-Tomaten-Suppe mit Mozzarellaund Parmesan, Käseknödel im Wirsing-blatt, Penne mit Fenchel-Orangen-Sauce

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MastschweinLeben, um Kotelett zu werden?

und Shiitake-Pilze an gegrilltem Tofu aufZitronengras-Ingwer-Sauce.

Pioniere der Veggie-Branche wie derPotsdamer Catering-Betrieb „GovindasHigher Taste“ staunen selbst über denBoom. Die Gemüseköche liefern pro Jahrrund 350 fleischlose Buffets für Firmen-und Geburtstagsfeiern aus, vor zehn Jah-ren waren es noch um die 30. In den bei-den Filialen der Hamburger Edeka-KetteStruve im noblen Stadtteil Eppendorfwuchs die Nachfrage nach vegetarischenProdukten im vergangenen Jahr um gut30 Prozent. Lieferanten wie die Firma To-pas aus dem schwäbischen Mössingen mel-den Umsatzsprünge von über 20 Prozent.

Und selbst vor den Fleischklops-Tem-peln von McDonald’s hat die Veggie-Wellenicht haltgemacht. 2005schien die Welt für einen ve-getarischen „Gemüsemac“noch nicht reif, die Nachfra-ge von aufs Jahr gerechnetfünf Millionen Stück inDeutschland war dem US-Konzern zu mickrig. Seitder „Veggie-Burger“ im Fe -bruar 2010 ins Angebot kam,verkauft die Fast-Food-Ket-te Monat für Monat rund 2,2Millionen Stück.

Die Veggie-Welle hat so-gar die Top-Gastronomie er-fasst. Selbst Sterne-Köche,die eigentlich auf Gänse-stopfleber, Salzwiesenlammund bretonischen Hummerschwören, beugen sich demwandelnden Geschmack.Im Oktober kürte das Fach-blatt „Feinschmecker“ Mi-chael Hoffmann, 43, den Kü-chenchef des Berliner Gour-metrestaurants Margaux,zum „Koch des Jahres“.Hoffmann hatte die Kritikermit einem vegetarischenAcht-Gänge-Menü begeis-tert. „Das ist Avantgarde“,schwärmt Chefredakteurin Madeleine Ja-kits. Auch wer schon fast alles, was gutist, probiert habe, werde von dem Gemü-semenü für 140 Euro „absolut überraschtund beglückt“.

140 Euro für Gemüse. Ein buntes Völkchen ist da herange-

wachsen, dessen Fraktionen von ange-nehmen Pragmatikern, aber auch nerv-tötenden Dogmatikern geprägt werden.Wer sich Vegetarier nennen will, mussden Verzehr von Fleisch und Fisch ableh-nen – das ist der Grundkonsens, doch esbleibt genügend Raum für Streit um diereine Lehre.

Sogenannte Ovo-Vegetarier erlaubensich den Verzehr von Eiern, Lacto-Veg-gies nehmen Milchprodukte zu sich, Ovo-Lacto-Vegetarier beides. Doch wahr-scheinlich nicht einmal jeder zehnte Ve-

getarier ernährt sich vegan. Veganer sinddie Konsequentesten der Bewegung.Manche von ihnen nehmen es sich aller-dings heraus, Ovo-Veggies als „Massen-mörder“ zu beschimpfen – weil die Eieressen. Die Anklage der Veganer: Wer Eierverzehrt, unterstützt die tierfeindlicheHühnerproduktion. Denn nach demSchlüpfen werden nahezu alle männli-chen Legerassenküken zu Tiermehl ge-schreddert. Kauft niemand mehr Hühneroder Eier, so die Logik der Veganer,bricht der Markt zusammen.

Veganer trinken keine Milch und leh-nen den Verzehr von Käse ab. Sie haltenes für Tierquälerei, dass Kühe ständig ge-schwängert werden, um viel Milch zu ge-ben. Veganer tragen weder Gürtel noch

Schuhe aus Leder, weil auch dafür Tieresterben müssen.

Zur Spezies der Vegetarier zählen zudem zwei eher kleine Populationen.Fruktarier wie der Berliner IngenieurBert Rutkowsky, 40, ernähren sich nurvon Pflanzen, die nicht für den Verzehr„getötet“ werden müssen. Er will „durchNachdenken“ darauf gekommen sein,dass „Pflanzen und Bäume auch Lebe-wesen sind“. Auberginen, Zucchini, Nüs-se und Samen sind Fruktariern erlaubt,Kartoffeln und Möhren verboten.

Eher seltsam präsentieren sich soge-nannte Rohköstler, die das Erhitzen vonLebensmitteln als widernatürlich empfin-den. Auf ihrer Messe „Rohvolution 2010“verbreiteten sie allen Ernstes die Über-zeugung, „friedfertiger und überlegter“zu sein als Fleischesser. Kann Größen-

wahn eine Folge von Mangelerscheinun-gen sein?

Das Interesse der Deutschen am Vege-tarismus allgemein ist immens – auch dasder Hobby-Köche. So verkauften der ehe-malige Fernsehmann Alfred Biolek, vonjeher mit einer feinen Nase für Trendsund Märkte ausgestattet, und der vonGastrokritikern als „Jahrhundertkoch“ titulierte Eckart Witzigmann ihre Fleisch-losfibel „Unser Kochbuch“ mehr als300000-mal.

Als im August die Streitschrift „Tiereessen“ des Amerikaners Jonathan SafranFoer hierzulande erschien, stürmte dasleidenschaftliche Plädoyer für eine dras-tische Reduzierung des Fleischkonsumsin der zweiten Woche auf Platz drei der

SPIEGEL-Bestsellerliste. Foer, lange ZeitFleischesser, bevor er Vegetarier wurde,wies anhand von Recherchen in den USAnach, wie tierfeindlich die Fleischproduk-tion ist.

Foers deutsche Kollegin Karen Duverückte mit ihrem Buch „Anständig essen“in die Reihe der vielgefragten Talkshow-gäste und Interviewpartner auf. Sie hattejahrzehntelang Fleisch gegessen, ehe siesich einem Selbstversuch unterwarf. Sieaß jeweils zwei Monate Biokost, dann vegetarisch, vegan und fruktarisch. Siewurde im Laufe der Recherche zur Vege-tarierin – und sie ist ehrlich genug, einzu-gestehen, wie „stark“ sie sein muss, wennihr „der Duft von Bratwurst in die Nasesteigt“.

Duve wusste schon vor Beginn ihrerRecherche, dass in Tierfabriken Schlim-

Deutschland

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Margaux-Chef Hoffmann: Mit vegetarischem Acht-Gänge-Menü „Koch des Jahres“

mes geschieht. Vegetarierin wurde sie, alssie ihr Wissen nicht mehr beiseiteschob.Tierschützer berichten seit langem vonGänsen, die in den Ställen viel zu schwerwerden für ihre kleinen Beine, und vonGliedmaßen, die unter der Last brechen.Sie wissen auch, dass etwa jedes hunderts-te Schwein im Siedebad noch bei Be-wusstsein ist, weil der Schlachter dieHauptschlagader nicht richtig getroffenhat. Sie wissen, dass die Tiere dann mit-erleben, wie sie gehäutet werden.

Die Umstände der Massentierhaltungentsetzen auch Fleischfreunde wie Wolf-ram Siebeck, den Altmeister der deut-schen Restaurantkritik. Für Billigfleisch-Esser hat er nur noch Verachtung übrig,„denen sind die Käfige der Hühnerfabri-

kanten genauso egal wie die Gefängnis-zellen der Schweine“. Hauptsache, zürntSiebeck, der Preis der täglichen Kotelettserlaube „noch den Urlaubstrip nach Thai-land“.„Seit es das Internet gibt, kann sich nie-

mand damit herausreden, nichts gewusstzu haben“, sagt die Düsseldorfer Vega -nerin Daniela Kaufmann. Die 27-Jährigeist aufgewachsen wie Millionen andere Kinder auch. Daheim gab es traditionelledeutsche Küche: Linsensuppe mit Speck,Eisbein, Würstchen mit Kartoffelsalat. Mit14 wurde die heutige Tierarzthelferin Vegetarierin, zwei Jahre später Veganerin.

Sie hat recht: Es genügen ein paarKlicks, um sich ein Bild von den Massa-

* Axel, Ricarda, Franka, Friederike und Nora Enderleinbeim Gemüseschneiden in Reinbek bei Hamburg.

kern in der Massentierhaltung zu machen.Wer es aushält, kann auf YouTube dasTöten von Rindern vom Bolzenschuss biszum Ausbluten beobachten und die angst-vollen Schreie der Tiere hören. Wer eserträgt, kann Zeuge sein, wie Hühner, aufengstem Raum zusammengepfercht, ge-mästet werden.

Und man kann erfahren, was das deut-sche Tierschutzgesetz Zwei- und Vierbei-nern zumutet: Ferkeln dürfen kurz nachder Geburt ohne Betäubung die Schwänzekupiert und die Eckzähne abgeschliffenwerden. Rindern, Schafen und Ziegenwerden, ebenfalls ohne Betäubung, dieHoden herausgerissen, damit ihr Fleischbesser schmeckt. Das Gesetz verlangt nur,dass die Tiere jünger als vier Wochen sind.

Wer ein Stück vom Schweinenackengrillt oder in einen knusprigen Hähnchen-schenkel beißt, ist zweifellos ein Nutznie-ßer dieser Grausamkeiten. Immer mehrMenschen aber möchten diese Schuldnicht auf sich laden und lehnen den Ver-zehr von Fleisch und Fisch ab.

Wer aber wird Vegetarier? Aus wel-chen Teilen der Gesellschaft rekrutierensich die Menschen, die von einem Para-dies auf Erden träumen, in dem alle Tierean Altersschwäche sterben?

Der typische Vegetarier ist „weiblich,jung, überdurchschnittlich gebildet undlebt in einer Großstadt“, fanden Forscherder Jenaer Friedrich-Schiller-Universitätbei einer repräsentativen Umfrage unter2517 Verfechtern dieser Ernährungskulturheraus. Zwei Drittel der Verächter vonFisch und Fleisch sind „moralische“ Ve-

getarier, sie wollen nicht, dass für ihr Es-sen Tiere sterben müssen.

Das Soziotop der Vegetarier scheint nahezu deckungsgleich mit dem der Grü-nen-Wähler zu sein. 70 Prozent sind lautder Jenaer Studie Frauen, nur 30 ProzentMänner. Das mag auch daran liegen, dassFleisch für Frauen laut Forschungen derGießener Ernährungsökologin IngridHoffmann „weniger Symbolcharakter“hat, während es „für Männer mit Kraftund Potenz verbunden ist“.

Es sind beileibe nicht die Dümmsten,die nur noch Gemüse essen: Fast drei vonzehn Vegetariern haben einen Hochschul-abschluss, gut jeder fünfte studiert gerade,und fast jeder vierte hat Abitur. Knapp16 Prozent haben die Schule mit dem

Realschulabschluss verlas-sen. Rund 2,5 Prozent sindHauptschüler.

An seinem GöttingerLehrstuhl für Lebensmittel-und Agrarmarketing hatAchim Spiller ähnliche Be-obachtungen gemacht. Erst-mals in der Ernährungs -geschichte werde, so derGöttinger Ordinarius, „inden unteren Schichten mehrFleisch gegessen als in denoberen“.

Doch überzeugte Vegeta-rier mögen solche Erkennt-nisse kaum beruhigen. 2009wurden in Deutschlandrund 600 Millionen Hühner,56 Millionen Schweine, 3,8Millionen Rinder, gut eineMillion Schafe und Lämmersowie fast 28000 Ziegen ge-schlachtet.

Die Zahlen dokumentie-ren das zutiefst wider-sprüchliche Verhältnis derDeutschen zu Tieren. „Quä-le nie ein Tier zum Scherz,denn es spürt wie du denSchmerz“, bläuen Eltern

Kindern ein, die Käfern aus Langeweilegerade die Beine ausgerissen haben. Er-wachsene verhätscheln ihre Katze undihren Hund und zählen sie zur Familie,aber sie stören sich nicht daran, die „Kadaver“ (Veggie-Terminologie) vonRindern und Hühnern zu essen. Sie blättern in Kochbüchern nach Rezeptenfür Ente in Orangensauce, wiewohl siein Kindertagen mit großer Anteilnahmedie Abenteuer von Donald Duck beglei-tet haben.

Es hat einen Anschein von Schizophre-nie: Kinder verehren die Tiere mit demWatschelgang, Erwachsene schmoren sie.

Und das, obwohl es längst nicht alleinethische Aspekte sind, die für einen Ver-zicht auf Fleisch und Fisch sprechen. GuteGründe gibt es noch mehr, zum Beispieldie Tatsache, dass durch die Fleischpro-

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Vegetarier-Familie Enderlein*: Viel von den eigenen Töchtern gelernt

Ernährung ohne Fleisch und Milchprodukte

biologischekonventionelleErzeugung

Ernährung ohne Fleisch

Allesesser

281 km

629 km

1978 km

2427 km

4377 km

4758 km

*entsprechend dem CO2-Ausstoß eines BMW 118d mit 119 g CO2/km

Quelle: Foodwatch

Klimakiller LandwirtschaftTreibhauseffekt verschiedener Ernährungsweisen, pro Kopf und Jahr, dargestellt in Autokilometern*

siko“ für Darmkrebs, hieß es da. Der Ver-zehr sollte auf 300 Gramm pro Woche,also 15,6 Kilogramm im Jahr, reduziertwerden.

Hinzu kommt: Der Konsum von verar-beitetem Fleisch wie geräuchertem Schin-ken, gesalzenen oder gepökelten Warensei, so die Studie, wegen des Krebsrisikosstrikt „zu vermeiden“.

Den Deutschen wird es nicht leicht -fallen, den Empfehlungen zu folgen. Sieaßen laut Bundesernährungsministerium2009 pro Kopf 8,5 Kilogramm Rind- und39 Kilogramm Schweinefleisch – nach die-ser Statistik mithin das Dreifache der vonden Experten als unschädlich geschätztenMenge.

Die Autoren der Studie sind keineswegsausgemachte Gegner der carnivoren Er-nährung. Fleisch, so schreiben sie, könnewegen seines Anteils an Protein, Eisen,Zink und dem Vitamin B12 „eine wert-volle Quelle für Nährstoffe“ sein. Wer al-lerdings viel Fleisch zu sich nehme, werdeeher dick, weil diese Nahrung einen ho-

hen Energiegehalthabe. Der wiederumerhöhe angesichtsder weitverbreitetenBewegungsarmut

die Wahrscheinlichkeit einer Gewichtszu-nahme – mit dem Risiko, an Krebs, Blut-hochdruck, Schlaganfall, Diabetes und ko-ronaren Herzkrankheiten zu leiden.

Auch das Deutsche Krebsforschungs-zentrum in Heidelberg hat festgestellt,dass Vegetarier länger leben. Allerdingsfällt es den Wissenschaftlern schwer, diesallein auf den Verzicht von Fisch undFleisch zurückzuführen. Veggies nämlichfrönen auch weniger anderen Lastern. Sierauchen kaum oder gar nicht, sie trinkenkeinen oder wenig Alkohol. Entsprechendwaren Experten der Universität Gießennicht überrascht, als sie herausfanden,dass Vegetarier die geringste Krankheits-anfälligkeit, das günstigste Körpergewichtund beste Laborparameter hatten.

Eine Umfrage des Veggie-Portals „vi-tavegetare“ unter Vegetariern bestätigtden Befund. 61 Prozent gaben an, einenBody-Mass-Index (BMI) zwischen 19 und24,9 zu haben, einen Normalwert. Nur 14Prozent der Gemüsefreunde leben mit ei-nem BMI von 25 bis 29,9 an der Schwellezum krankhaften Übergewicht.

Für Claus Leitzmann, den langjährigenLeiter des Instituts für Ernährungswissen-schaft an der Universität Gießen, stehtaußer Frage, dass eine pflanzliche Kost

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Rinderherde in Kalifornien: Treibhausgase für die Umwelt, Krebsrisiken für die Menschen

duktion mehr klimaschädliche Gase frei-gesetzt werden als durch den Autover-kehr. Oder die Erkenntnis, dass Fleisch-genuss eine Hauptursache für Krankhei-ten wie Arteriosklerose, Herz-Kreislauf-Probleme, Gicht und Krebs ist.

Etliche Ernährungswissenschaftler war-nen vor allzu regelmäßigem Fleischkon-sum. Für Aufsehen sorgte im März 2009eine amerikanische Studie, in der Datenvon rund 550000 Männern und Frauenim Alter von 50 bis 71 Jahren erhobenworden waren. Mehr als zehn Jahre langhatten die Mitarbeiter Rashni Sinhas, desLeiters der Studie, Bürger befragt. DasErgebnis war für Fleischfreunde nieder-schmetternd. Wer viel rotes Fleisch undWurstwaren gegessen hatte, lebte risiko-reicher. Solche Männer hatten eine um31 Prozent, Frauen eine um 36 Prozenthöhere Sterberate. Aßen die Teilnehmerder Studie mehr Geflügel als rotes Fleisch,sank die Sterberate.

Das Bundesinstitut für Risikobewer-tung, das vom Bundeslandwirtschafts -ministerium finanziert wird, räumte trotzmancher Kritik ein, dass die Sinha-Studiein einer Reihe mit einer Vielzahl empi -rischer Berichte etwa aus den USA, ausJapan, Finnland, Norwegen und Schwe-den stehe. Auch dort sei „ein statistischsignifikanter Zusammenhang zwischenhohen Verzehrmengen von Rotfleischund Krebserkrankungen nachgewiesen“worden, vor allem bei Darmkrebs.

Vor dieser Krebsursache haben derWorld Cancer Research Fund, ein unab-hängiges, weltweites Netzwerk zur Krebs-prävention, und das amerikanische Krebs-forschungsinstitut schon 2007 gewarnt.Die beiden Institutionen hatten 22100 wis-senschaftliche Veröffentlichungen ausge-wertet. Der Genuss von rotem Fleischführe zu einem „überzeugend hohen Ri-

„erheblich dazu beitragen kann, ernäh-rungsassoziierten Erkrankungen vorzu-beugen“. Wahr sei freilich aber auch, dassVegetarier, vor allem Veganer, ihre Kostsehr bewusst zusammenstellen sollten. ZuMangelerscheinungen könne es beiSchwangeren, Stillenden, Kindern, Ju-gendlichen und Leistungssportlern kom-men – und bei Embryonen. Bei Lakto-und Ovo-Veggies sei, so Leitzmann, einDefizit von Eisen, Jod, Vitamin D, Zinkund Omega-3-Fettsäuren möglich, bei Ve-ganern dazu noch ein Mangel an VitaminB12, Kalzium und Vitamin B2.

Vegetarier sollten deshalb den Eisen-status regelmäßig überprüfen lassen, Ve-ganer auf eine ausreichende Jodversor-gung achten. Leinsamen und Walnüssesorgen ebenso wie daraus gewonnene Ölefür die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren.Ein Mangel an Vitamin B12 kann durchNahrungsergänzungsmittel ausgeglichenwerden.

Wissenschaftlich darf die Frage, ob derMensch dazu bestimmt ist, Vegetarieroder Fleischverzehrer zu sein, als beant-wortet gelten: Er ist ein Allesfresser.

Es sieht allerdings nicht danach aus, alswürde das der Welt guttun. Inzwischenist klar, dass Rinder zu den größten Kli-

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Kaplan, 58, ist Autor des Buchs „Ichesse meine Freunde nicht“.

SPIEGEL: Sie lehnen das Töten von Tie-ren kategorisch ab. Wann haben Siezuletzt Fleisch gegessen?Kaplan: Vor 47 Jahren. Ich war elf Jah-re alt. Mich haben die Schweinehälf-ten in den Läden abgestoßen. Spätererst las ich, dass ich in meinem Leben6 Schafen, 8 Kühen, 25 Kaninchen, 33Schweinen, 390 Fischen und 720 Hüh-nern das Leben retten würde.SPIEGEL: Bitte?Kaplan: So viele Tiere isst der Durch-schnittseuropäer in seinem Leben. SPIEGEL: Sie sind Veganer, verzichtenauf Eier und Milch und gehören zuden Hardlinern der Bewegung. Man-che von Ihnen sagen: Vegetariersind Mörder, wenn sie zum BeispielEier essen – weil in den Zuchtbetrie-ben für Legehennen alle männlichenKüken vergast oder lebend geschred-dert und zu Tierfutter verarbeitetwerden.Kaplan: Ich halte die moralische Ver-urteilung des Vegetarismus für kon-traproduktiv. Damit macht man kaumjemanden zum Veganer, verhindertaber viele Vegetarier. Das Ziel musseine vegane Gesellschaft sein, in derdie Menschen nicht mehr auf Kostender Tiere leben.SPIEGEL: Ihre grundlegende These lau-tet: Menschen dürfen Tiere nicht dis-kriminieren, quälen oder gar töten.Sie stellen Tiere auf eine Stufe mitMenschen, zumindest, was deren Lei-densfähigkeit betrifft. Woher wissenSie, wie Tiere behandelt werdenmöchten?Kaplan: Die Zugehörigkeit zu einerSpezies ist moralisch so wenig bedeu-tend wie die Rassen- oder Ge-schlechtszugehörigkeit. Machen Siesich bitte klar: Gleicher Schmerz istgleich schlecht, egal ob er von Wei-ßen, Schwarzen, Frauen oder Tierenerlebt wird. Tiere sind leidensfähig.Das ist wissenschaftlich unbestritten. SPIEGEL: Ihre Gleichsetzerei führt indie Irre. Hunde reflektieren nicht übersich selbst. Einen Plan, wie er sichsein Leben vorstellt, hat nach allem,was man weiß, kein Dackel je offen-bart. Babys und Kleinkinder könnendas lernen, Hunde nicht.

Kaplan: Ich setze Mensch und Tier kei-neswegs gleich. Schweine haben bei-spielsweise kein Interesse, ihre Reli-gion frei zu wählen. Aber sie habenein Interesse, nicht gequält zu werden.Die Menschen irren, wenn sie bei mo-ralisch relevanten Eigenschaften einescharfe Trennlinie zwischen Menschund Tier ziehen. Auch Tiere habenBewusstsein, Selbstbewusstsein, Ra-tionalität und Autonomie. Bei De-menten und geistig Behinderten sinddiese Merkmale weniger ausgeprägtals bei vielen Tieren.

SPIEGEL: Haben Tiere in Biobetriebennicht ein besseres Leben als in freierWildbahn? Vernünftig ernährt, ohnedie Gefahr, von stärkeren Tieren er-legt und gefressen zu werden?Kaplan: Wollen Sie im Ernst über einProzent der Realität reden? Und:Auch Tiere in Freilandbetrieben werden nach einem Bruchteil ihrer natürlichen Lebensspanne umge-bracht.SPIEGEL: In Indien fegen Anhänger desJainismus Fliesen, um nicht verse-hentlich Käfer totzutreten. Verkehrtsich der Respekt vor Tieren da nichtins Absurde?Kaplan: Je weniger Leiden, desto bes-ser. SPIEGEL: Wenn Sie das Töten von In-sekten konsequent verhindern wollen,können Sie wegen der Abermillionentoten Viecher auf den Windschutz-scheiben der Lkw die gesamte Güter-produktion einstellen. Kaplan: Ethische Ideale werden nichtdadurch unsinnig, dass sie nicht voll-ständig verwirklicht werden können.

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Tierschützer Kaplan „Je weniger Leiden, desto besser“

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Deutschland

„Das Interesse der Schweine“ Der Salzburger Ethiker

Helmut F. Kaplan über das Quälen und Töten von Tieren

moralischeGründe

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16

5

9

6

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gesund-heitliche

Gründe

emotionaleGründe

nichtklassifiziert

Quelle: Universität Jena

Achtung des Lebens

Die wichtigstenGründe für Vegetarismus

Angaben in Prozent

MÄNNER

FRAUEN

makillern zählen. Nach einer Studie derWelternährungsorganisation FAO entste-hen mindestens zehn Prozent der vomMenschen verursachten Treibhausgasebei der Nutztierhaltung. Forscher desWorldwatch Institute berechneten sogar51 Prozent – Kohlendioxid im Rinder -atem gilt als ebenso schädlich wie ausdem Autoauspuff. Eine besondere Gefahrgeht vom Methan aus, das sich im Ver-dauungstrakt der Wiederkäuer bildet unddann freigesetzt wird.

Und das ist nur ein Teil des Öko-Pro-blems. Werden etwa in Südamerika Re-genwälder abgeholzt, dienen die neuge-wonnenen Flächen oft der Fleischproduk-tion: Ein Drittel nutzen die Großbetriebefür die Viehzucht, zwei Drittel für denAnbau von Futtermitteln. Obwohl Mil-lionen Menschen noch immer hungern,fressen die Masttiere 35 Prozent der Ge-treideernte dieses Planeten. Für die Her-stellung eines Kilogramms Fleisch wer-den mindestens zwei Kilo Getreide oderSojafrüchte benötigt.

Fachleute sind sich einig, dass dieseEntwicklung gestoppt werden muss.Wenn die Weltbevölkerung bis 2050 tat-sächlich, wie befürchtet, um ein Drittelzunimmt, müsse es „eine radikale Ände-rung der Ernährungsgewohnheiten wegvon tierischen Produkten geben“, sagtErnst-Ulrich von Weizsäcker, Nachhaltig-keitsexperte des Uno-Umweltprogramms.

Das Potsdam Institut für Klimafolgen-forschung plädiert für einen stark redu-zierten Verzehr von Fleisch und Milch-produkten. Dann würde, errechneten dieWissenschaftler, der Ausstoß von Methanund Lachgas im Jahr 2055 um mehr als80 Prozent niedriger ausfallen. Einenpraktikablen Weg schlug Andreas Troge,der frühere Präsident des Umweltbundes-amts, dazu vor: Er empfahl „die Rück-kehr zum Sonntagsbraten“ – und mithindie fleischlose Werkwoche.

Dass sich dieser Idee immer mehrDeutsche anschließen, scheint außer Fra-ge zu stehen, seit der Vegetarismus inder Mitte der Gesellschaft angekommenist. Vorbei ist die Zeit, als Vegetarier be-

lächelt, als „Kaninchen“ oder „Gemü-seschwuchteln“ beschimpft und mit denimmergleichen Witzen traktiert wurden:Darfst du Orangensaft trinken? Da istdoch Fruchtfleisch drin. Oder: Wenn ichTiere nicht essen soll, warum sind siedann aus Fleisch?

Das unauffällige Heer der lange Zeitanonymen Vegetarier erfährt zunehmendUnterstützung durch Prominente, diedem Fleischgenuss zumindest zeitweiseabgeschworen haben. Die Bestseller-Au-torin Charlotte Link gehört ebenso dazuwie der Sänger Sting, die TennislegendeBoris Becker, die Filmdiva Brigitte Bardotund das Model Nadja Auermann. Der Co-median Dirk Bach isst kein Fleisch mehr,der Sänger Xavier Naidoo tut es ihmebenso gleich wie seine Kolleginnen NinaHagen und Nena.

Ist ein „Veggie-Topia“, in dem weit weniger oder kaum noch Fleisch gegessenwird, also realisierbar? Wäre es möglich,sieben Milliarden Menschen vegetarischzu ernähren? US-Autor Jonathan SafranFoer hält diese Fragestellung für „absurdund geradezu grotesk“ angesichts einerNutztierhaltung, die Jahr für Jahr rund770 Millionen Tonnen Mais und Getreideverbrauche – eine Menge, von der jene1,4 Milliarden Menschen ernährt werdenkönnten, die in völliger Armut leben.

Viele Fleischverächter hatten einSchlüsselerlebnis, das sie zum Vegetarierwerden ließ. Ex-Beatle Paul McCartneyerzählte Journalisten, ihm sei beim An-geln bewusst geworden, dass er einenFisch nur zu seinem Vergnügen tötenwollte: „Als ich den Fisch nach Luft japsen sah, begriff ich, dass sein Lebenfür ihn genauso viel Bedeutung hat wiemeins für mich.“ Daraufhin wurde er Vegetarier. Man dürfe „nichts essen, wasein Gesicht hat“, findet er.

Der Vegetarier Albert Einstein sah ei-nen größeren Zusammenhang. Nichts wer-de „die Chancen für ein Überleben aufder Erde so steigern wie der Schritt zu einer vegetarischen Ernährung“. Und Wil-helm Busch fand, es werde „wahre mensch-liche Kultur“ erst geben, „wenn nicht nur

die Menschenfresserei, sondernjede Art des Fleischgenusses alsKannibalismus gilt“.

Die Utopie vieler Künstler,so scheint es, wird allmählich

Wirklichkeit. Die Gesellschaft für Kon-sumforschung hat ermittelt, dass die Zahlder vegetarischen Ein-Personen-Haushal-te zwischen 2005 und 2010 um etwa dieHälfte gestiegen ist. Volkshochschulen ha-ben reagiert und bieten vielerorts vege-tarische Kochkurse an: „Kürbis – die Me-lone des Nordens“ und „Tofu und Tem-peh – Power-Eiweiß aus der Sojabohne“sind 2 von 13 Kursen, die etwa in Mün-chen gehalten werden.

Selbst wer im Gefängnis gelandet ist,kann sich dort fleischlos ernähren – was

nach Angaben der TierrechtsorganisationPeta in Deutschland knapp fünf Prozentder Strafgefangenen tun. Karl-HeinzStrack, 50, der wegen Bankraubs in derJustizvollzugsanstalt Aachen noch zweivon sieben Jahren absitzen muss, wurdein der Haft zum Vegetarier. Wenn diecarnivoren Knastis Gulasch essen, freuter sich über Blumenkohl im Käsemantel.Strack bereitet sich die Veggie-Kost oftselbst zu: Er hat hinter Gittern eine Koch-lehre gemacht, arbeitet in der Knast -küche als Beikoch und will nach der Entlassung ein vegetarisches Bistro er -öffnen.

Fast überall, wo jüngere Leute zusam-mentreffen, ist die vegetarische Küchenicht weit: Im Berliner Stadtteil Steglitzgibt es seit dem Sommer die erste reinvegetarische Mensa Deutschlands, beim„Melt“-Festival in der Nähe von Dessaustieg die Zahl der Veggie-Imbissständeim Vergleich zum Vorjahr von zwei auffünf. Und selbst beim Fußballpublikumhaben die Vegetarier Pflöcke eingeschla-gen: Im Stadion des Bundesliga-Aufstei-gers FC St. Pauli tunken manche Fans ve-getarische Buletten in den Senf.

Den Freunden des Rinderfilets und derSchweinshaxe, so scheint es, könntenschwierige Zeiten bevorstehen. Oder wird

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Tierschützerprotest in New York 2010: Nur eine

Deutschland

gar Realität, was der ZukunftsforscherMatthias Horx den Deutschen schon inden neunziger Jahren prophezeit hat:dass die Zeit kommen werde, in der dasFleisch von getöteten Tieren „nur nochin geheimen Restaurants zu horrendenPreisen verzehrt werden wird“?

Für die deutsche Landwirtschaft unddie Fleischwarenindustrie käme das einerKatastrophe gleich. Gerade hat sie es ge-schafft, ihren Export binnen zehn Jahren

mehr als zu verdoppeln – ein Sieben-Mil-liarden-Euro-Geschäft, kräftig gefördertmit Steuermitteln. Allein das „Gut Ferdi-nandshof“ der Osterhuber Agrar GmbHin Mecklenburg-Vorpommern, einer dergrößten deutschen Rindermastbetriebe,strich 2008 für seinen Betrieb mit rund24000 Rindern 3,7 Millionen Euro EU-Subventionen ein.

Der Streit über Sinn und Unsinn dieserZahlungen entzweit die Parteien. Die tra-

ditionell bauernnahe CDU hält es für„falsch, Verzehrempfehlungen zu geben,die zu einer Verringerung der Fleisch -produktion in Deutschland führen sol-len“. Bei einer Anhörung im Landwirt-schaftsausschuss des Bundestags warntePeter Bleser, agrarpolitischer Sprecherder CDU/CSU-Fraktion, „solche einseitiggeführten Diskussionen“ könnten dem„ausgezeichneten Ruf“ der deutschenLandwirtschaft „schaden“.

Die Freidemokraten glauben, dassFleisch und Fisch „zu einer ausgewoge-nen Ernährung gehören“, der SPD-Agrar-und Ernährungsexperte Wilhelm Pries-meier unterstützt immerhin den Rat vonErnährungswissenschaftlern, Fleisch be-wusster zu essen.

Das geht den Grünen nicht weit genug.Bärbel Höhn, Vize-Fraktionschefin imBundestag, hält die bisherige Agrarpolitikfür grundlegend falsch – wegen des ver-mehrten Anbaus von Futtersoja in Bra -silien und des hohen Medikamentenein-satzes in der Massentierhaltung. Es müsse„Schluss damit sein, diese Art von Land-wirtschaft mit Steuergeldern zu fördern“,fordert die frühere nordrhein-westfälischeLandwirtschaftsministerin. Im Zuge deranstehenden EU-Agrarreform sollten För-derprogramme für eine tiergerechte Pro-duktion und für gute Ernährung in Kin-dergärten und Schulen ausgebaut werden.

Der Weg zu einer vegetarischen Mas-senbewegung, das wissen die Leute vomVegetarier-Verbund Vebu, ist steinig. Sieplädieren dafür, den Fleischkonsum miteinem Dreh an der Steuerschraube zu re-duzieren: Dazu solle der Mehrwertsteu-ersatz für Fleischprodukte von jetzt 7 auf19 Prozent erhöht werden.

Mehr noch setzt Vebu-GeschäftsführerSebastian Zösch bei der Realisierung sei-nes Traums von einer Veggie-Welt aberauf die Aufklärung der Bürger: „Diejeni-gen, die wissen, was in den Tierfabrikenpassiert, werden ganz sicher weniger oderkein Fleisch essen.“

Es gibt ein Beispiel, das Zösch Hoff-nung macht. Wer vor zehn Jahren Bio-kost zu sich nahm, wurde belächelt wieeinst auch die Vegetarier. Allmählichsprach sich jedoch herum, dass biologischproduzierte Lebensmittel in der Regel ge-sünder waren als herkömmlich hergestell-te. Immer mehr Menschen strömten inReformhäuser, immer mehr Bäckereienund Fleischereien boten Bioprodukte an,die Supermärkte zogen nach und habenheute oft große Bioabteilungen. Der Um-satz mit Biokost stieg von 2000 bis 2009in Deutschland bei überwiegend zwei -stelligen Zuwachsraten von 2,1 Milliardenauf 5,9 Milliarden Euro.„Man sieht, was aufgeklärte Verbrau-

cher verändern können“, sagt Zösch. Einesolche Entwicklung sei auch für die vege-tarische Ernährung „absolut möglich“.

CARSTEN HOLM

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Autoren Duve, Foer: Leidenschaftliches Plädoyer für eine bewusste Ernährung