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DEUTSCHLAND UND DER OSTEN Author(s): HERMANN AUBIN Source: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft / Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 100, H. 4. (1940), pp. 385-411 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40747030 . Accessed: 04/10/2013 14:33 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft / Journal of Institutional and Theoretical Economics. http://www.jstor.org This content downloaded from 129.186.1.55 on Fri, 4 Oct 2013 14:33:02 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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DEUTSCHLAND UND DER OSTENAuthor(s): HERMANN AUBINSource: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft / Journal of Institutional andTheoretical Economics, Bd. 100, H. 4. (1940), pp. 385-411Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40747030 .

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DEUTSCHLAND UND DER OSTEN*) Von

HERMANN AUBIN

Wie soll man in einem kurzen Vortrag einem so ungeheuren Thema gerecht werden wie dem der Auseinandersetzung Deutsch- lands mit dem Osten und ihrem zwölf hundert jährigen Ablauf?

Und doch ist es nicht überhebliche Vermessenheit, dieses Thema in so weitem Rahmen abzustecken, sondern die dringendste Not- wendigkeit und Gegenwartsaufgabe, vor die wir gestellt sind. Wir spüren es alle, daß wir uns mitten im Beginn einer neuen Ära unseres Verhältnisses zu den benachbarten Ostvölkern befinden. Wollen wir die außerordentliche Verantwortung erkennen, welche damit unserer Generation auf die Schultern gelegt ist, dann gibt es nur einen Weg dazu. Wir müssen uns der Voraussetzungen der heutigen Lage in ihrer ganzen geschichtlichen Tiefe bewußt werden. Niemand zweifelt daran, daß sich die Zeiten wandeln und vergangene Konstellationen niemals genau wiederkehren. Doch Sind wir zugleich überzeugt: wie in der Vergangenheit werden auch an der Gestaltung unserer Zukunft neben dem schaffenden Willen der Gegenwart die tiefwurzelnden Gegebenheiten von Erd- raum, Volksart, Lage und Wirtschaft ihren Anteil haben. Diese Grundkräfte in ihrer besonderen Wirkung bloßzulegen, vermag allein historische Analyse. Wir gewinnen jedoch solche Einsicht nicht, wenn wir nur Einzelabschnitte betrachten. Sie kann nur aus der Erforschung des Gesamtablaufs der Völkerschicksale er- wachsen, einzig und allein aus einer über Höhen und Tiefen bis zur Gegenwart führenden Betrachtung.

* Vortrag, gehalten in der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur in Breslau am 8. Dezember 1939.

Für das Schrifttum darf ich auf meine Schrift : Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung, 1939, verweisen.

Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. 100. 4. 25

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Das ist der Grund, weshalb ich es wage, in einem einzigen Vor- trag von dem mehr als tausendjährigen Verhältnis Deutschlands zu dem nahen Osten als einer Gesamt erscheinung zu sprechen. Es darf uns gegenüber dieser Grundaufgabe nicht schrecken, daß ich da nicht mehr als Umrißlinien zu bieten und einige wesentliche Punkte zu beleuchten vermag. Denn ich halte es für einen genü- genden Gewinn, wenn nur die eine Tatsache erkannt wird, daß unsere Auseinandersetzung mit den östlichen Nachbarvölkern ein Phänomen ist, das aus ferner Vergangenheit durch alle Jahrhun- derte trotz mannigfach wechselnder Formen ununterbrochen hin- durchlaufend in unsere Zeit hineinragt.

Die nachbarlichen Berührungen der Völker führen mehr oder minder stets zu Grenzkämpfen und zu Auseinandersetzungen auf den verschiedensten Lebensgebieten, die sich manchmal durch lange Perioden hinziehen oder nach Ruhepausen neu aufbrechen können. Bald geht es um das politische Übergewicht, bald um An- nahme oder Ablehnung geistiger Güter. Das Verhältnis der Deut- schen zu den nächstwohnenden Ostvölkern aber hat sich an Dauer, Intensität und Bedeutung für die ganze Existenz unserer Nach- barn weit darüber hinaus vertieft. Es stellt sich als ein unablässiges Ringen dar, das durch fast alle Daseinsbereiche hindurch, wenn auch mit wechselnder Verteilung des Gewichts auf dieses und jenes, länger als ein Jahrtausend angehalten hat und erkennbar in die Zukunft weiterwirken wird.

Will man sich diese Tatsache in ihrer Eigenart mit einem kurzen Blick an einem augenfälligen Zuge vergegenwärtigen, so vergleiche man unsere Volksgrenze im Osten mit jener im Westen: Auch hier ein historisches Mischungsgebiet, hervorgegangen aus dem Anprall der Germanen auf die Romanen; hier aber hat sich schon ums Jahr 1000 eine eindeutige linienhafte Sprach- und damit Volks- tumsgrenze herausgebildet, die seitdem kaum merkbare Schwan- kungen erlebte. Wohl hat es über diese Grenze hinweg einen säku- laren Machtkampf gegeben. Aber es waren allein die Staatsgewal- ten, die einander Raum und Menschen streitig machten, niemals die Volkstümer, die vielmehr unbewegt in klarer Scheidung hüben und drüben bestehen blieben. Der Ostrand des deutschen Sprach- und Volksbodens hingegen hat dauernd die größten Veränderungen durchgemacht und befindet sich noch heute in einem völlig un- fertigen Zustand. Er stellt sich als ein Grenzstreifen von unerhörter Tiefe dar. Das geschlossene deutsche Sprach- und Volksgebiet

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wölbt sich in weiten Vorsprüngen vor und zieht sich in großen Buchten zurück. Die Grenze ist auch im Einzelverlauf mannigfach zerlappt und von fremden Einschüben zerrissen. Große und kleine Volkstumsinseln sind bis ans Schwarze Meer, an die Wolga, ja nach Sibirien hin vorgelagert. Umgekehrt sitzen fremdsprachige Bevölkerungsteile (Wenden, Polen, Kaschuben) in Horsten inner- halb des geschlossenen deutschen Volkstums. Entlang der Sprach- grenze aber ziehen sich stellenweise mehr oder weniger breite, mancherorts sehr volkreiche Gürtel von ehemals Fremdvölkischen dahin (Windische in Kärnten, Schlonsaken, Polen, Masuren), die den Übergang zum Deutschtum begonnen, aber noch nicht in jeder Hinsicht (kulturell, politisch, sprachlich) vollendet haben.

Diese innige räumliche Verzahnung der Deutschen und ihrer Angrenzer im Osten und die offenbare Unfertigkeit der Volkstümer dort sind das Ergebnis vornehmlich von zwei großen, aufeinander- folgenden Wellen deutscher Ostwanderung in Mittelalter und Neu- zeit und der ihnen begegnenden Gegenstöße der Ostvölker. Die deutsche Ansiedlung, namentlich die große mittelalterliche Koloni- sation ist es auch, die uns meist zuerst vors Bewußtsein tritt, wenn wir an die Geschichte unseres Verhältnisses zum nahen Osten denken, und sie bildet zweifellos einen Kern desselben. In- dessen dürfen wir nie übersehen, daß sie selber nur Folge- und Begleiterscheinung von viel mannigfacheren Berührungen gewesen ist, die sich von unserer Seite als Machtauswirkung wie als Kultur- ausstrahlung fast auf jedem Felde von den höchsten Gütern der Religion, der Kunst und Wissenschaft über jene der Wirtschaft und Technik bis zum bescheidensten Gebrauchsgut oder der täglichen Lebensgewohnheit vollzogen haben. Diese Berührungen sind den Wanderungen vorausgegangen und haben auch in Zeiten ange- halten, in denen diese abebbten, sie sind freilich auch von den Wanderungen aufs stärkste gefördert, ja zum guten Teil getragen worden; sie verbinden sich mit ihnen zu dem, was wir mit dem Gesamtbegriff der deutschen Ostbewegung bezeichnen.

Wir können kaum Zeitpunkte nennen, in denen nicht auf dem einen oder anderen wesentlichen Lebensgebiete ein entschiedener deutscher Zug nach dem Osten zu erkennen ist, wenn auch um- gekehrt sehr augenfällige Gegenerscheinungen, Macht ausbreitung oder Volksbewegung der Ostnationen nach dem Westen hin im Gange sind. So bedeutet Ostbewegung in dieser oder jener Form einen Dauerzustand unserer Geschichte.

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Die Ostbewegung besteht, seit die germanische und die ihr am Ende nachfolgende slawische Völkerwanderung die Grundlagen der heutigen Völkerordnung in Europa geschaffen haben. Sie ist aus der geschichtlichen Lage - in Verbindung mit der Veran- lagung der Völker - erwachsen, welche damit gegeben war und sich in ihren Hauptzügen nicht mehr verändert hat. Seit damals grenzen in der ganzen Breite von der Ostsee bis beinahe an die Adria östliche Jungvölker an die germanischen Stämme, aus denen das deutsche Volk hervorgegangen ist. Nur schmal war dagegen die Berührungsfläche der Ostvölker mit Italien, breiter auf dem Balkan und übers Schwarze Meer die mit Byzanz. Aber dort verfiel die ur- alte orientalisch-hellenische Kultur der Erstarrung und vermochte nur in der griechischen Kirche einen letzten, auch bald verknöchern- den, wenig werbekräftigen Trieb hervorzubringen. Wieviel mehr boten da die deutschen Stämme, welche die starken Anregungen, die sie aus dem Erbe der antiken Welt und der Berührung mit den Romanen empfingen, mit ihrer überlieferten Gesittung und hohen Veranlagung verbanden ! Was immer in Zukunft die Slawen, Magy- aren oder baltischen Völker an Fortschritten ihrer Kultur und Zi- vilisation auch erzielen mochten, die Eigenentwicklung und die Lernfreude der Deutschen waren zu allen Zeiten so groß, daß sie ihren klaren Vorsprung vor den Nachbarn bewahrten. Man stelle sich diese Lage lebendig vor, um sogleich zu verstehen : allein schon durch die Nachbarschaft in breitester Front waren die Ostvölker der steten Einwirkung des deutschen Wesens ausgesetzt, ja bei dem Streben nach Vervollkommnung ihrer eigenen Zustände ge- radezu auf das höhere Beispiel der Deutschen hingewiesen, und sollte es selbst nur um die äußeren Mittel dazu gehen. Was immer auch der Völker verkehr inzwischen an Hilfen ausgebildet hat, Verbindungen selbst auf weiteste Entfernungen zu pflegen und also die Bindungen des nachbarlichen Verhältnisses abzuschwächen, bis heute gilt, daß die unmittelbare Berührung in breitester Front die Ost Völker in einer natürlichen Lage erhält, in der sie der lang- gewohnten Einwirkung Deutschlands nicht entgehen können.

Es gehört zu den Spannungen, welche aus einem so engen Ver- hältnis entspringen müssen, daß manche der Ostvölker diese Na- turgegebenheit in alter und junger Zeit als Gewalttat der Deut- schen angeprangert haben. Kein Zweifel, daß fast durch alle Jahr- hunderte die politisch-militärische Überlegenheit auf deutscher Seite war. Hier spielt das höhere geschichtliche Alter unseres Vol-

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kes und dadurch unseres Staatswesens entscheidend mit. Die spä- teren deutschen Stämme traten, nach vorangegangenen Grenz- berührungen, den Ostvölkern zum ersten Male in großem Stile aktiv unter Karl dem Großen entgegen, als die ganze Macht des fränkischen Großreiches hinter ihnen stand. Als dessen Erben gelangten seine germanischen Stämme dann früh schon zu einem eigenen Großstaat, der allen damaligen europäischen Staaten- bildungen überlegen war, um wieviel mehr also den Ostvölkern, die noch nicht über eine primitive Verfassung in kleinen Völker- schaften hinausgekommen waren. Der ruhmvolle Großstaat trug aber auch das meiste dazu bei, daß die deutschen Stämme jetzt zu einem Volke verschmolzen. Damit war für alle Zeiten das Sub- strat für einen Nationalstaat in Mitteleuropa in Gestalt eines Menschenblocks gegeben, der nach Millionen zählte, während die östlichen Völkerschaften noch nach Zehn- oder höchstens Hundert- tausenden gemessen wurden. Dann traten freilich auch sie in jenes Entwicklungsstadium ein, da Völkerschaften zu Stämmen zu- sammenwachsen und diese sich zu Völkern auszuweiten beginnen. Doch vermochten sie auch auf diesem Gebiete niemals mehr den Vorsprung einzuholen, über welchen die Deutschen verfügten. Wir können nicht sagen, wohin eine ungestörte Entwicklung der be- nachbarten Slawen gediehen wäre. Das späte Einsetzen ihrer Volk- werdung, die großen landschaftlichen Unterschiede zwischen Nord und Süd und die Einsprengung der Magyaren, der erbitterte Wett- bewerb zwischen Tschechen und Polen um die Führung, alles das läßt der Annahme kaum mehr Raum, daß bei den Slawen ein Drang zur Vereinigung aller hätte aufkommen und ein Einheits- volk wie das deutsche und ihm an Zahl ebenbürtig hätte ent- stehen können. Sicher aber ist, daß das deutsche Eingreifen das Erwachsen von Groß Völkern überhaupt unmöglich gemacht hat. Der Vormarsch der deutschen Kolonisten durchbrach die Land- verbindung zwischen den Süd- und Westslawen, indem er das Donautal hinab den Magyaren die Hand reichte. Was an Sla- wen in die Ostalpen eingedrungen war (und sie saßen ja über das Mur- und Drautal bis in das Enns- und Pustertal), wurde von den Deutschen aufgesogen. Das gleiche Schicksal erlitten mit einem zeitlichen Abstand die Kleinstämme nördlich der Sudeten bis an die Ostsee zwischen Elbe und Oder und die Küste entlang bis zur Weichsel. Nur die böhmischen und mähri- schen Völkerschaften behaupteten sich unter Führung der Tsche-

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chen als ein rings umspülter Fels in der deutschen Brandung; und im Schutz ihrer östlichen Abgelegenheit gelang den Piasten die Einigung der Gauvölker um Warthe und Weichsel unter dem Namen der Polen. Jenseits des Bugs setzte die Bekenntnisgrenze zwischen Katholiken und Griechisch-Orthodoxen ihrem Wachs- tum für alle Zeiten ein Ziel. Die polnische Wissenschaft hat, mit besonderer Betonung in den letzten Jahren, diese Vorgänge so dargestellt, als ob die deutsche Gewalt dem Polen volk die Ein- verleibung von Volksgenossen und deren Land zwischen Oder und Elbe vorenthalten hätte, auf welche es ein unverlierbares Anrecht besessen. Doch so haben die Dinge niemals gelegen. Die Eib- slawen waren keine Polen, ja, es ist sicher, daß sie die deutsche Herrschaft der polnischen vorzogen, als diese ihnen im n. Jahr- hundert zeitweise drohte. In freiem Entschlüsse haben alle slawi- schen Fürsten, einschließlich der tschechischen Przemysliden und der polnischen Piasten - gleich den Königen von Ungarn - die Deutschen als Siedler und Kulturvermittler jeden Standes ins Land gerufen. In freiem Entschlüsse sind die Herren von Mecklen- burg, Pommern und Schlesien samt ihrem Adel und Volk allmäh- lich zum Deutschtum übergetreten. Freilich, das Ergebnis steht fest. Es spricht sich in den mehr als 80 Millionen geschlossen woh- nender Deutscher aus, denen die Slowaken etwa 2, die Tschechen keine 8, die Polen als stärkstes dieser Völker nur wenig mehr als 21 Millionen Volksangehörige ihrer eigenen Zählungen gegenüber- zustellen haben. Keine der westslawischen Nationen reicht in eine Größenklasse hinein, die mit jener der Deutschen in einem Atem genannt werden könnte. Erst bei den Großrussen ist dies der Fall. Fügen wir noch hinzu, daß die Magyaren, als ein abgetrennter Volkssplitter, niemals die Menschenzahlen für ein Großvolk be- saßen, wie auch den baltischen Völkerschaften in ihrer Einkeilung zwischen Slawen und dem Meer und in ihren ewigen Bruderkriegen alle Entwicklungsmöglichkeiten dazu fehlten, dann wird deutlich, daß in dem ganzen zwischen Deutschen und Russen liegenden Ostraum der Baustoff für große Staatsnationen fehlte und damit von Anfang an ein Machtübergewicht der Deutschen jedem ein- zelnen der Ostvölker gegenüber wiederum durch natürliche Ge- gebenheiten bedingt war.

Solange das Deutsche Reich alle seine Kräfte ins Spiel brachte, solange blieb es überlegen ; und es hat anfangs nicht gezögert, sie zielbewußt einzusetzen. Dabei hat es in der Tat einem großen Teil

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des Ostraumes seine Selbständigkeit genommen und ihn seiner Oberhoheit unterworfen. Es ist auch gar nicht zu leugnen, daß die Lust an Sieg und Beute in mancher kriegerischen Einzeltat im Grenzraum mitgesprochen hat. Den sächsischen Herren war es im 11. und 12. Jahrhundert gar nicht recht, wenn ihre Priester den Eibslawen das Evangelium predigten ; denn dann konnten sie die nun christlichen Brüder drüben nicht mehr durch Sklaven Jagden und Tribute ausnützen. Die sog. Litauerreisen des deutschen Ordens im 14. Jahrhundert waren militärisch harmlose, aber ver- wüstende, protzenhafte Schaustellungen einer sonst nirgends mehr in Europa zu beweisenden Rittertugend, der Heidenbekämpfung. Aber es würde der geschichtlichen Pflicht nicht gerecht, wollte man das ganze politische Verhältnis der Deutschen zu ihrem öst- lichen Nachbarn unter solchen persönlichen Gesichtspunkten sehen. Die großen Führer unseres Volkes haben stets aus einem Verantwortungsgefühl für weit allgemeinere und höhere Aufgaben gehandelt.

Zwei Ursachenreihen waren es, denen die Antriebe ihres Han- delns entsprangen. Die Geschichte lehrt die uralte Erfahrung, daß in Kultur weitab und tiefer stehende Nachbarn ständige und höchst schadenbringende Feinde sind, denn bei geringerer Bodenpflege, bescheidener Fahrhabe, wenig entwickeltem Hausbau haben sie in ewig erneutem Grenzkampfe kaum etwas zu verlieren, manches vielleicht jedoch zu gewinnen. Nur eine allmähliche Angleichung an die Lebensstufe der Höheren kann in solchem Falle der Ver- giftung des Verhältnisses der Völker durch den dauernden, räube- rischen Kampf ein Ende bereiten. Die Deutschen sahen sich der- gestalt den Angriffen der Slawen, noch mehr der manchmal schwer gefährdenden Bedrohung asiatischer Reiter, nacheinander der Awaren, Magyaren, Tataren und Türken ausgesetzt. Sie haben ihnen allen gegenüber eine besondere Verteidigung angewandt, indem sie diese nicht allein mit den Waffen führten, sondern immer wieder die Sicherung und kulturelle Hebung des oft genug ver- wüsteten Vorfeldes in die Hand nahmen. Im Mittelalter verband sich solche aufbauende Arbeit notwendigerweise mit dem christ- lichen Gebot der Heidenbekehrung, das mit unbestrittener Gültig- keit auferlegt war. Beides floß ebenso als Motiv wie in der Aus- führung zusammen, und so ist die deutsche Ostbewegung damals zu einem guten Teil Mission, zu noch größerem Staatsaufbau und Kultur Verbreitung gewesen. Ja, wir werden ihr, auch wenn wir

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sie in diesem Sinne sehen, immer noch nicht voll gerecht. Wir müssen hinzufügen, daß der Deutsche in allem zugleich als Ver- treter des ganzen Abendlandes handelte, das damals in christ- lichem Bewußtsein noch als eine Gemeinschaft empfunden wurde. Jede Abwehr der über die deutsche Ostgrenze einbrechenden Feinde bedeutete auch ihren Schutz, jeder deutsche Landgewinn im Osten auch ihre Erweiterung. Dieses Doppelmotiv in unserem Verhältnis zu den östlichen Nachbarn zieht sich als roter Faden durch unsere Geschichte. Es hat weiter bestanden, auch als der Begriff der abendländischen Kulturgemeinschaft im Laufe der Zeit verweltlicht wurde und die Völker, die als ihre Bedrohung erschienen, wechselten.

Äußerst bezeichnend treten alle geschilderten Momente vereint schon in dem ersten großen Einsatz deutscher Kräfte im Vorfeld zutage, ich meine in den Awarenkriegen Karls des Großen. Die Awaren in Ungarn bedeuteten nicht gerade eine Gefahr mehr, aber eine stete Beunruhigung des Frankenreiches, da sie sich als Nomaden der abendländischen Ordnung nicht einfügen wollten. Die dazwischen sitzenden Slawen waren bei ihrer geringen staat- lichen Entwicklung nicht nur nicht imstande, sie aufzuhalten, die Stämme in Böhmen, Mähren und den Ostalpen hatten vielmehr schon einige Male aus dem Frankenreich Hilfe gegen die sie schwer bedrückenden Awaren erbeten. Sie waren gar nicht Subjekt, son- dern Objekt der Geschichte, und es fragte sich lediglich, ob sie unter awarischer oder fränkischer Hoheit leben sollten. Karl mußte über sie hinweggehen, wollte er das Übel an der Wurzel ausbrennen. Beide, Slawen und Awaren, wurden dem fränkischen Machtbereich einverleibt. Damals hat Karl hier zum ersten Male jene Formen der deutschen Ostausbreitung geschaffen, welche seitdem durch Jahrhunderte gültig blieben und in der geschmei- digen Verbindung von Markenland unter deutscher Herrschaft, durchsetzt mit deutscher Siedlung, und von Vasallengebieten fremder Gauvölker bestanden, die durch die christliche Mission der abendländischen Kulturgemeinde angegliedert wurden. Die Marken wurden zu den großen Schulstuben für die Nachbarvölker, welche diese durchlaufen mußten, um den vollen Eintritt in die deutsche Gemeinschaft zu erringen, und dann traten die vorliegen- den Vasallenstaaten in ihre Rolle ein, einen Vorhof für Mittel- europa zu bilden.

Otto der Große übertrug das gleiche System auf den nördlichen

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Abschnitt an Saale und Elbe, wenn auch noch ohne Siedlung. Dafür plante er weit darüber hinausgehend eine Organisation aller Ostvölker in einem christlichen, von Deutschland aus geleiteten Kirchenverbande. Zeitweise spielte selbst Rußland in seine Pläne hinein.

Wer aber könnte glauben, daß die deutsche Welle hemmungs- und schrankenlos über die Ostvölker dahingehen würde ? Es ist selbstverständlich, daß die deutsche Einwirkung nicht immer als Geschenk, sondern mindestens ebensooft als ein Zwang angesehen wurde, der den Widerstand aus dem eigenen Wesen und Behaup- tungswillen unserer Nachbarn hervorrief. Wir werden noch manche Probe davon geben, daß die Gegenwirkung auf den verschiedenen Feldern der Kirche, des Staates, der Kultur oder der Wirtschaft jeweils verschieden war. Sie hing aber auch allgemein von der Art der Völker ab, von denen sie ausging. Und deshalb sei gleich vorhergesagt, daß die Ungarn sich in ihrem selbstsicheren Herren- bewußtsein am unangreifbarsten erwiesen. Die Slawen zeigten, unter sich abgestuft, im ganzen viel mehr Weichheit. Ein großer Teil von ihnen ging vollkommen im Deutschtum auf, nur die Tschechen und Polen behaupteten ihre Widerstandskraft. Von den baltischen Völkern verloren die Preußen ihre Nationalität gänzlich, um in einer deutschen Stammesart weiterzuleben, die anderen bewahrten sie vielleicht nur deshalb, weil die dort einzig als Herrenschicht auftretenden Deutschen sie nicht gefährdeten.

Die ersten Erfolge ihrer Abwehr haben die Ost Völker nun auf dem Gebiete der Kirche errungen, weil sie hier in der Kurie einen star- ken Helfer fanden, der an der Vielheit ihr selbst unterstellter Kirchen gelegen war. Ungarn und Polen genossen seit dem Jahre 1000 die Stützung durch eine eigene Nationalkirche. Nur der vor- liegende Teil, damit die Tschechen, wurde dauernd dem deutschen Kirchenverband einverleibt. Dahinter breitete sich die fremde Welt des orthodoxen Griechentums in Rußland und auf dem Bal- kan. Auf Karls Grundlagen aber wurde in dem Ausbau des Rei- ches eine Lebensform für Mitteleuropa geschaffen, die dem Macht- verhältnis entsprechend die deutschen Belange sicherte und den- noch denen der christianisierten Ostvölker in weitem Maße gerecht wurde. Ungarn freilich, das die salischen Kaiser zeitweise ihrer Lehnshoheit unterworfen hatten, entzog sich dem Reiche wieder. Aber die deutsche Abwehr hatte auch ohnedem hier ihr Ziel er- reicht. Die asiatischen Reiternomaden waren so wirkungsvoll ge-

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bannt, daß sie zur Seßhaftigkeit übergingen und, indem sie sich dadurch ihren Fortbestand sicherten, ein vollgültiges Glied der abendländischen Völkerfamilie wurden. Böhmen stieg, unter sei- nen eingeborenen Fürsten, rasch über die Tributzahlung und Lehnsabhängigkeit zu einem Kurfürstentum des Reiches empor und zeigte sichtlich die segensreichen Spuren seiner engen Verbin- dung mit Deutschland. Zwischen den Gebirgen und der Ostsee leiteten die deutschen Markgrafen hier, eingeborene Dynastien dort den vollkommenen Übergang ins Reich ein. Auch Polen wurde zum Vasallenstaat gemacht, wenn es auch, am weitesten abgelegen, immer wieder die Lösung aus dieser Bindung anstrebte und sie im Spätmittelalter erreichte.

Man kann sich vorstellen, daß die Konzeption des über das deutsche Volk hinausgreifenden, fremde Nationen in mannigfacher Abstufung angliedernden Reiches allein aus dem deutschen König- tum hätte entspringen können. Daß dieses die moralische Höhe für eine solche Aufgabe besaß, bewies Konrad II. Einmal an der Elbe hat der Kaiser, der Hort allen Rechts, dessen volles Maß auch den heidnischen Wilzen, trotz des Einspruchs glaubensstolzer Christen, zuerkannt, als sie gerichtlichen Zweikampf mit den Sach- sen verlangten, von denen sie sich zu Unrecht beschuldigt wähn- ten. Doch ist nicht zu verkennen, daß auch die mittelalterliche Vorstellung von dem einen Reich, das alle Christen umschließen sollte, einen starken Einfluß ausgeübt hat, indem es den Kaisern eine übernationale Verantwortung auferlegte.

Dieses Reich und die Überlegenheit der Deutschen hielten an, bis sich die kaiserliche Macht auflöste. Dann versagten entweder die bunt zusammengesetzten Reichsheere, wie den Hussiten gegen- über, oder es stand ein einzelnes Territorium allein östlichen Geg- nern gegenüber, wie zur selben Zeit der Deutsche Ritterorden. Er erlitt seine schweren Niederlagen durch das vereinigte Polen- Litauen, ohne daß das Reich einen Finger zu seiner Hilfe rührte. Man weiß freilich, daß in beiden Fällen noch besondere Umstände in die Waagschale fielen. Die Tschechen waren durch eine radikale, religiös-soziale Bewegung zu glühendem Nationalbewußtsein ent- facht worden, die Herrschaft des Ordens aber war von innen unter- höhlt, weil die überlebte mönchisch-ritterliche Oligarchie der Ver- wurzelung im Lande entbehrte.

Die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet den Tief- punkt staatlicher deutscher Geltung im Ostraum. Böhmen ist

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selbständig geworden, Polen, erstarkt und auf Kosten des Ordens erweitert, steht an der Ostsee. Mathias Corvinus gebietet in Bres- lau und Bautzen, Wien fällt in die Hände der Magyaren. Am Ende beherrscht die eine litauische Dynastie der Jagellionen in zwei Linien hier Polen, dort Ungarn und Böhmen samt ihren Neben- ländern. Im Baltikum bereitet sich der Zusammenbruch der deut- schen Herrschaft vor. Fast überall ist damit auch ein Rückgang der vorgetriebenen deutschen Streusiedlung, überall ein Abfall auch der kulturellen Geltung des Deutschtums verbunden. Das Versagen der politischen Verfassung der Deutschen wird auch hier offenbar.

Dieser auf der ganzen Front und durch die verschiedensten Mächte geführte Gegenstoß der Ostvölker, der schon bis zum Einbruch in den geschlossenen deutschen Volksboden führte, be- ruht andererseits auf der Entfesselung ihrer nationalen Kräfte, und daran hat nicht zum wenigsten ihre Befruchtung durch das deutsche Wesen ihren Anteil gehabt. Ja, wenn man die Einwan- derung von Deutschen in allen Ständen von den führenden des Adels und der Geistlichkeit bis zu den tragenden in den städtischen und ländlichen Berufen ins Auge faßt, von der ich noch sprechen werde, dann ist es offenbar, daß die Erstarkung der Staatsgewalt bei den Ostvölkern zu einem guten Teile auf das Deutschtum zurückging. Hier zeigte sich in der Umkehr zum Schaden der Deutschen die geradezu tragische Verkettung von unserem und unserer Nachbarn Geschick.

Erst wenn man sich den geschilderten Rückschlag lebendig vor Augen stellt, kann man voll ermessen, was das Auftreten des Hauses Habsburg im Ostraum für die deutsche Sache zu bedeuten gehabt hat. Die Habsburger des 16. Jahrhunderts, tief im Reich verankert und mit ihren erdballumspannenden Verbindungen, brachten das Gewicht einer Weltmacht ins Spiel. Das ermöglichte zum ersten Male wieder einem deutschen Territorium, im Ringen um den Ostraum zu bestehen, ja bald die Führung darin zu über- nehmen.

Damit rückte das Deutschtum wieder in die Stellung ein, welche seinem natürlichen Übergewicht entsprach. Es war auch die höchste Zeit. Denn schon jagte über das niedergeworfene Ungarn ein neuer asiatischer Feind heran. Die Osmanen bedrohten mit ihrem gänzlich fremdartigen, aussaugerischen und letzten Endes sterilen Wesen ernsthaft den Bestand des Abendlandes.

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Mit der allmählichen Zivilisierung war die Verteidigungsaufgabe von der deutschen Grenze weiter nach Osten verlegt worden. Die Deutschen hatten auch daran einen guten Teil mitgeholfen. Der König von Ungarn hatte sie ad retinendam coranam nach Siebenbürgen geladen und (um 1200) zu ihrer Verstärkung den Deutschen Orden dorthin geführt. Den gleichen hatte kurz darauf der Herzog von Masowien zur Bändigung der heidnischen Preußen an die untere Weichsel gerufen, und 150 Jahre später waren von Kasimir dem Großen, um den Grenzwall gegen die Tataren zu festigen, deutsche Ritter und Bauern um Lemberg angesetzt wor- den. Solcher Einschuß genügte jetzt nicht mehr. Das Amselfeld, Nikopolis, Warna, Mohács, Kamieri Podolsk bedeuteten ebenso viele Niederlagen, welche die Moslims den Magyaren und Slawen beigebracht hatten. Die Deutschen mußten selber ganz in die Front.

Wie einst aber die Alpenslawen zwischen Deutschen und Awa- ren, die Eibslawen zwischen Deutschen und Polen, so war damit der ganze Südosten vor die Wahl zwischen der aufbauenden Ord- nung unter deutscher Führung oder der auszehrenden Unter- jochung durch die Osmanli gestellt. Vor solcher Alternative er- härtete Österreich in der großartigen Leistung der Türkenabwehr die deutsche Sendung im Ostraum. Das Wort ist nicht zu hoch gegriffen. Die Siege des Prinzen Eugen und des Türkenlouis be- freiten nicht nur Ungarn von der türkischen Herrschaft, sondern auch Polen, das eben noch seinen Beitrag dazu bei dem Entsätze von Wien geleistet hatte, vom türkischen Druck.

Über den Heeren, welche Stadt und Festung Beigerad eroberten, wehten noch die kaiserlichen Adler. In Habsburgs Lager war damals noch das Reich, wenn sich auch der österreichische Staat immer mehr an dessen Stelle schob. Ähnlich wuchs im Norden aus dem brandenburgischen Territorium der Preußenstaat hervor und übernahm Aufgaben, welche der absterbenden Reichsgewalt ent- glitten waren. Sein Eingreifen in der polnischen Frage spielte sich freilich nicht in der gleichen Sphäre heldenhaften Kampfes und sichtbarer geschichtlich-ethischer Begründung ab wie die Vertreibung des Halbmondes aus Ungarn. Aber nach seinen poli- tischen Ursachen und nach seiner kulturellen Wirkung war es ihr nahe verwandt. Die Teilung Polens sollte, von Friedrichs des Großen Seite gesehen, verhindern, daß ganz Polen von Rußland verschlungen wurde, Rußland sich bis an die Oder vorschiebe.

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Polen war in vollkommener staatlicher Auflösung begriffen, Ruß- land aber hinter der Reihe unserer nächsten Nachbarn und der hohen Scheidewand seines griechischen Bekenntnisses ebenso, wenn auch später wie die Türkei zu einer den ganzen Vorraum überschattenden Großmacht emporgestiegen und hatte den Vor- marsch nach Westen angetreten. Wenn man der deutschen Ost- bewegung die geschichtliche Funktion zugesprochen hat, einen Schutzwall gegen die turk-tatarische Bedrohung Mitteleuropas aufzurichten x) - und ich zeigte, wie viel Wahrheit in diesem Worte liegt - , so war ihr diese Aufgabe nunmehr in neuer Form gestellt. Denn Rußland war in seiner möglichen Bedeutung für Europa den turk-tatarischen Mächten anzureihen, von denen es auch aus seiner eigenen tatarischen Periode viel übernommen hat. Wieder ist also seit dem Auftreten der Russen die Frage aufge- worfen : Wem soll die Zwischenzone angehören, die, wie wir sahen, in ihren eigenen Völkersubstraten nicht die Grundlagen für eine starke Staatenbildung besitzt und uns daher auch keine Sicherheit bietet, daß sie dem Einbruch des fremden Ostens widerstehen kann. Aus solcher Lage ist die Beteiligung Preußens an der Aufteilung Polens hervorgegangen. Auch sie war im innersten Sinne ein Akt der abendländischen Grenzsicherung gegen die östliche Barbarei.

Als Ergebnis der jahrhundertelangen Auseinandersetzung sehen wir nach Rußlands Eingreifen vor uns: Jene ganze Zwischenzone, welche von Griechenland bis Finnland mit der Vielzahl der Klein- völker gefüllt ist, erscheint gänzlich zwischen vier benachbarten Großmächten aufgeteilt. Die Türkei ist dabei schon auf den Balkan beschränkt, Rußland ist mit der Einverleibung der einst deutschen baltischen Provinzen über seine religiöse und Kulturgrenze hinaus- gerückt, die es weiter südlich bis zum Schwarzen Meer im großen ganzen ausgefüllt hat. Die Mitte ist den beiden deutsch bestimmten Großmächten anheimgefallen. Noch weiter, als jemals das Deut- sche Reich sich erstreckt hatte, herrschen jetzt, aus ihnen hervor- gegangen, Österreich und Preußen und decken hier das Abendland. Österreich steht am Pruth und am oberen Bug, Preußen am unte- ren Bug und an der Memel. Der Zusammenbruch Preußens 1807 und Österreichs 1809 zwang dann allerdings, Rußland auf dem Wiener Kongreß doch noch bis fast an die Oder und bis auf weniger als 300 km an Berlin heran vorrücken zu lassen.

1) So G. Ipsen in den »Deutschen Heften für Volks- und Kulturbodenfor- schung«, 3. Jahrg. (1933)» S. 153.

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So ruhten die Dinge, vom Balkan und dem inneren Vorgang des österreichisch-ungarischen Ausgleiches abgesehen, durch ein Jahrhundert. Dann brachen die Dreikaiserreiche zusammen und machten einer gänzlich anderen Völkerordnung Platz. Wir könnten über diese, da schon nach 20 Jahren die jüngsten Ereignisse auch sie wieder zu einem großen Teil umgestoßen haben, rasch hinweg- gehen, wenn nicht in ihr Kräfte an die Oberfläche eigenstaatlichen Daseins emporgestiegen wären, die näher zu kennen für uns ganz unerläßlich ist.

Wir betreten den Boden der Volkstumsfragen und müssen wei- ter ausholen. Zwar sprach ich schon von jenem umfassenden Vor- gang der deutschen Ostsiedelung, der das Vorrücken der deutschen Staatsmacht nach dem Osten begleitet und unterbaut hat. Aber er bedarf jetzt einer zusammenfassenden Zeichnung. Denn nur, wenn wir die Bewegung nach ihrem ganzen Zeitmaß, ihrem Raum, ihrem Inhalt voll begreifen, gewinnen wir die genügende Vorstellung ihrer Mächtigkeit und der Rolle, welche ihr in unserer Auseinander- setzung mit den Ostvölkern zugefallen ist.

Wir wollen also nicht in der Verengung stecken bleiben, die heute überwunden sein muß, und unter der deutschen Kolonisation nur die Besiedlung des preußischen Ostelbiens verstehen. Dann sehen wir, daß auch diese Bewegung schon unter dem großen Karl in Österreich angefangen und, sich allmählich auch nach Norden fortpflanzend, ununterbrochen fast bis in den Ausgang des Mittel- alters angehalten hat. An den Spitzen blieb sie noch im 15. und selbst bis ins 16. Jahrhundert hinein in Fluß, während sie dahinter schon abgeebbt war. Doch zeitlich beinahe anschließend sprang in den Randländern Polens eine zweite Welle von deutscher Bauernsiedlung auf, setzte sich in den nachkommenden Geschlech- tern in steter Vorschiebung nach Osten fort und stand am Beginn des Weltkrieges in den Wäldern Wolhyniens und den Weiten Bessarabiens. Längst aber hatte sie Verstärkung und Verbreiterung erfahren, Religionsflüchtige, namentlich Handwerker, rückten ihr seit dem Dreißigjährigen Krieg nach und dann überhaupt in wieder- holten Schüben in den Osten ein, der staatliche Wille der Habs- burger, Hohenzollern und später der Zaren zur Auffüllung ihrer dünn besiedelten Länder zog aus Deutschland immer wieder starke Menschengruppen dahin, und auch die Nachkommen dieser Siedler drangen ζ. Τ. weiter und weiter, bis nach Sibirien und Amerika. Zwischen den Hauptperioden und nebenher lief mehr

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oder weniger stets eine Einzelwanderung, namentlich eine Aus- lesewanderung .

Soviel über den zeitlichen Umfang. Auch hier steht eine zwölf - hundertjährige Auseinandersetzung der Deutschen mit ihren Nach- barn um den Ostraum vor uns. Wir fassen noch genauer die räum- liche Erstreckung ins Auge. Die Basis reicht von der Adria bis zur Ostsee. Manche Namen, die ich nannte, haben schon eine Vorstellung von der Tiefe des Vormarsches vermittelt. Das Gottscheer Länd- chen auf der Hochfläche des Karst, der Banat in der Donauebene und die Dobrudscha, Siebenbürgen im Karpathenbogen, Bessara- bien jenseits, Wolhynien am Rande der Pripietsümpfe, die Herren- hut ersiedlung um Saratow an der Wolga, die Städte Narwa und Re- wal oben am finnischen Meerbusen, sie stecken allein in Europa die Zone ab, in welche die Deutschen eingedrungen sind und sich dauernd wenigstens in Inseln und Gruppen niedergelassen haben. Dazu kommt noch das Streudeutschtum der Einzelwanderer, das ζ. Τ. mit der Heimat wirtschaftlich in enger Verbindung geblieben ist. Wahrlich, der ganze Raum voller fremder Völker ist in ge- wissem Sinne zu einem Lebensraum auch der Deutschen gemacht worden. Die genannten Namen haben freilich verschiedenes Ge- wicht für unsere Frage, und wichtiger als der äußerste Rand der deutschen Ausbreitung ist uns das Gebiet des geschlossenen Volks- bodens, das den Deutschen durch die Ostwanderung zugewonnen worden ist. Den Umfang dieses Gebiets hat uns das Kartenbild, das in den letzten Jahren immer wieder zunächst als Wunsch, dann als Erfüllung vor unsere Augen gestellt wurde, genugsam einge- prägt. Ich brauche nur von seiner Bedeutung zu sprechen. Es hat den zusammenhängenden Wohnraum unseres Volkes in Mitteleuro- pa fast verdoppelt. Wer bedenkt, wie schmal dieser Raum zwischen der Slawen- und der Romanengrenze am Ende der Völkerwande- rung geworden war, wird ermessen, was diese Erweiterung bedeu- tete. Die Deutschen haben sich durch ihre Ostwanderung in uner- hörter Arbeit Luft gemacht und die Raumbasis für die Existenz eines Großvolks geschaffen. Was aber war die Wirkung auf die Nachbarn ? Sie haben auch von diesen Vorgängen gesagt, sie hät- ten sie vergewaltigt. Indem ich zu dieser Frage Stellung nehme, kann ich oben schon gezeichnete Linien nachziehen.

Die deutsche Siedlung ist in den Markengebieten zunächst durch das Verlangen ausgelöst worden, den Besitz des eroberten Bodens zu festigen. Sie hat dabei hier und dort nachweislich einmal an-

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sässige Eingeborene verdrängt. Doch sind das nebensächliche Aus- nahmen, wie überhaupt das Markengebiet nur einen Teil des gan- zen Landgewinnes umfaßt. In der Hauptsache haben sich die Deutschen den Boden, auf dem sie sich niederließen, durch ihrer Hände Arbeit aus Sumpf und Wald in friedlichem Kampfe erobert. Deshalb sollten sie heute noch allgemein, wie es die Sudetendeut- schen tun, zur Erinnerung an ihre Vorväter das Wort Kolonisten als ihren Ehrennamen und Rechtstitel ansehen. Die Deutschen sind auch, das kann nicht genug betont werden, fast überall als geladene Gäste eingezogen. Vielleicht fragt man, wie denn Zu- wanderer so viel Land ohne Kampf besetzen konnten. Die Ant- wort ist einfach : Die Ostvölker hatten den inneren Landesausbau noch gar nicht in Angriff genommen. Den Deutschen und ihrer höheren Technik, ihrem größeren Fleiße fiel im Ostraum zu einem guten Teil jene Arbeit zu, welche sie daheim schon geleistet hat- ten : die Erweiterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Waldrodung u. a. m. bis zur Grenze der Anbaufähigkeit. In der Neuzeit handelte es sich in erheblichem Maße daneben um die Wiederbesiedlung der durch Ostfeinde und andere Kriege zer- störten Landschaften.

Der Deutsche kam aber nicht allein als Bauer. Als Bergmann erschloß er zum erstenmal die Bodenschätze der Ostländer und dies in solchem Umfange, daß Bevölkerung und Wohlstand weit über die Zahl der Zuwanderer ansteigen konnten. Der Deutsche ist für die Ostlande der Bergmann geblieben und als solcher mancher- orts, am Balkan, über seine sonstige Wandergrenze hinausge- drungen. Der Deutsche hat dem Osten vor allem das Städtewesen gebracht, das dieser noch nicht kannte, und damit erst eine voll arbeitsteilige Marktwirtschaft. Er hat Gewerbe eingeführt, die dort kaum oder gar nicht in Gebrauch waren, und ein Handelsnetz gespannt, das erst die Naturerträge der Ost lande zur Geltung brachte. Das bedeutet alles in allem eine reichlichere Güterversor- gung in solchem Maße, daß auch die Einwanderung von Hundert- tausenden von Deutschen noch keine Schmälerung des Nahrungs- raumes der Eingeborenen, sondern dessen Erweiterung bewirkte.

Die Erschließung der Bergwerke und die Städtegründung ge- hören fast ausschließlich dem Mittelalter an. Aber auch die Rode- arbeit ist in der Hauptsache damals vollbracht worden. Die Neuzeit fand, soweit sie nicht inzwischen gerissene Siedlungslücken aus- füllte, nur noch eine Nachlese zu halten, besonders auf Sonderland

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und schlechten Böden. Die mittelalterliche Kolonisation hebt sich von der neuzeitlichen überhaupt dadurch ab, daß sie nach jeder Richtung vollständiger war. Das Mittelalter sah in manchen Land- schaften geradezu eine Verpflanzung deutschen Lebens in der To- talität aller Berufe und ihres gewohnten Zusammenwirkens in Stadt und Land aus dem Altreich nach dem Jungland sich voll- ziehen. Kein Wunder, daß der größte Teil des Gewinnes an ge- schlossenem Volksboden bereits im Mittelalter zu buchen ist. Die Neuzeit hat nur hier und da noch die Ränder gefestigt, namentlich durch die Bruchkolonisation Friedrichs des Großen an Bartsch, Oder, Warthe und Netze und durch die Salzburgeransiedlung seines Vaters in Ostpreußen.

Mit diesen Bemerkungen habe ich bereits die Ursachen des grundlegenden Unterschieds zwischen dem geschlossenen und dem Streu- und Inseldeutschtum berührt. Sehen wir recht zu, so ist anfangs alle deutsche Siedlung im Osten in gewissem Sinne Streu- siedlung gewesen. Denn sie fand ja in Ländern statt, welche schon eine Bevölkerung besaßen. Wo viel Neuland zu gewinnen war, mögen die deutschen Gaue manchmal jene der Eingeborenen über- troffen haben. In Mecklenburg sind eingeborene Deutschspre- chende bis ins 16., in der hannoverschen Wendei noch bis ins 18. Jahrhundert, in Ostpommern bis ins 19. Jahrhundert vorhan- den gewesen, und was wir heute von ihnen noch in den deutschen Volksboden eingesprengt sehen, sind nur die letzten Reste eines einstmals sehr viel zahlreicheren Bestandes. Eine geschlossen deutsche Bevölkerung ist eben nirgends allein durch die Siedlung entstanden. Wir müssen einen zweiten Vorgang in Rechnung stel- len, der hier mitgewirkt hat : die Eindeutschung. Diese hat vielleicht in gleichem Maße an dem Ergebnis teil. Durch die werbende Kraft der deutschen Kultur, welche den Fürsten riet, die Deut- schen ins Land zu rufen, wurden auch die Einwohner hingezogen. Es ist selbstverständlich, daß die deutsche Gesittung dort ihre intensivste Wirkung tat, wo sie in dem Beispiel aller Stände auf- trat. Daher ist auch hierin die mittelalterliche Kolonisation die so viel wirksamere gewesen. Nur unter besonderer Bedingung ver- mochte sich eine isolierte Herrenschicht wie der baltische Adel mit einigem städtischen Anhang zu behaupten ; das Land eindeutschen zu können, war er weit entfernt. Man hat oft genug betont, daß vorgetriebene Kaufmannsgemeinden, selbst ganze städtische Vor- posten, falls nicht ständiger Nachschub aus der Heimat statt-

Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. 100. 4. 26

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findet, rasch in fremdem Volkstum untergehen, weil ihnen der natürliche Zuwachs aus bäuerlicher Umgebung mangelt. So wurde das bedeutende Deutschtum Lembergs und Krakaus aufgesogen, während sich das von Bielitz behauptete, weil die Stadt von einem Kranze deutscher Dörfer umgeben war. Man muß aber demgegen- über auch darauf hinweisen, daß nicht minder eine Stadt, wenn ihr Deutschtum selbst nur gefestigt und gesichert ist, eine sehr starke eindeutschende Kraft auf ihre Umgebung auszuüben ver- mag. In Schlesien stellen Breslau in alter und die Reihe der ober- schlesischen Industriestädte in neuester Zeit beweiskräftige Bei- spiele dar. Ich glaube überhaupt zu sehen, daß das Maß der Ein- deutschung schon im Mittelalter von dem Maß der Durchsetzung einer Landschaft mit Städten abhing. Das ist ein neuer Beweis, daß uns das Mittelalter mit seiner innigen Verbindung von städti- scher und ländlicher Siedlung, wie sie namentlich in Schlesien ausgebildet und von da verbreitet worden ist, mit seiner ständi- schen und beruflichen Totalität der Kolonisation das beste Vor- bild für eine erfolgversprechende Sicherung des ostdeutschen Volksbodens hinterlassen hat. Die reine Bauernsiedlung der Neu- zeit mußte schon deshalb in ihrem Erfolg zurückbleiben, weil ihr die eindeutschende Kraft fehlte.

Es kam freilich hinzu, daß der staatliche Absolutismus ζ. Τ. absichtlich Streusiedlung trieb, weil er Musterwirtschaften über das Land verteilen wollte, und sie ζ. Τ. herbeiführte, da er auch andersvölkische Siedler verwandte. Man hat gesagt, daß sich das deutsche Volkstum im Ostraum nutzlos verstreut und verzehrt habe, weil der großen Wanderbewegung die zielbewußte staatliche Lenkung fehlte. Soll das ein Urteil sein, dann verlangt man von der Vergangenheit etwas, was ihr völlig fernlag. Ein Gutteil der Kolonisation wurde in Mittelalter und Neuzeit von Staats wegen durchgeführt. Aber auch der absolutistischen Staatskunst kam es immer nur auf Peuplierung, niemals auf Germanisation an. Und damit sind wir, einen angeschlagenen Gedanken zu Ende führend, bei dem Satze angekommen : Die ganze deutsche Ostbe- wegung ist nie mit dem Ziele der Eindeutschung betrieben wor- den. Selbst die Ansiedlungskommission vor dem Weltkriege hat allein Festigung des deutschen Volksbodens angestrebt. Eindeut- schung ist stets nur die Folge der Anziehungskraft unserer Gesit- tung gewesen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß ihr in großem Maße Entdeutschung vorgetriebener Spitzen gegenübersteht.

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Man kann die Erscheinung des ganze Länder umfassenden fried- lichen Übergangs zum Deutschtum kaum genug als das geschicht- liche Bekenntnis der Ostvölker zu der überlegenen, das Abendland und seinen Aufstieg verkörpernden deutschen Kultur betonen. Dennoch stellt sie nur die eine Form dar, in welcher diese Völker zu der deutschen Einwirkung Stellung nahmen. Es ist natürlich, daß das massenhafte Einströmen der Deutschen in die Ostländer dort nicht allein werbende Kraft ausübte, sondern auch Reaktionen der Abwehr hervorrief. Man hat beobachtet, wie schon im Mittel- alter als Gegenwirkung gegen das Auftreten der Deutschen bei den Ostvölkern sehr früh ein Bewußtsein ihrer eigenen Volksart erwachsen ist1). Es fand sogar bei ihnen eher einen bestimmten Ausdruck als bei den Deutschen2). Es setzte zuerst bei den oberen Ständen ein, die durch- die Einwanderung in ihrer Schicht ihre Stellung bedrängt fühlten. Dahinter stand doch wohl schon da- mals wie später so oft ein manchmal ungeklärtes, dennoch mit- schwingendes und berechtigtes Angstgefühl, daß durch die deut- sche Überschwemmung das eigene Wesen verloren gehen könne. Dieses Gefühl konnte sich mit außenpolitischer Abwehr der deut- schen Machtausbreitung verbinden, trat aber auch ohnedem auf.

Am frühesten und ungezügeltesten brach es bei den am meisten Exponierten, den Tschechen hervor, bei denen es schon im Anfang des 14. Jahrhunderts die radikale und grobe Form zeigt, die ihm noch heute eigen ist. Während jener Gegenstoß des Ostens, der sich in dem polnischen Siege bei Tannenberg 1410 verkörperte, rein politischen Charakters war, hat die ursprünglich religiöse Bewegung des Hussitentums sehr bald extreme Formen zum guten Teil deshalb angenommen, weil sie durch den Haß gegen den deut- schen Eindringling, gegen die wirtschaftliche und soziale Umge- staltung, die namentlich der deutsche Bürger mit sich gebracht hatte, genährt wurde. Obwohl der Tscheche nicht einfach von den Städten, nicht einmal grundsätzlich von den Zünften ausgeschlos- sen war, obwohl er vielmehr in ihnen schon eine Schule des kul- turellen Aufstieges durchlief, tobte er gegen die seinem Wesen fremden Einrichtungen, deren er sich doch bemächtigen wollte.

Der Ansturm dieser tschechischen nationalen Welle hat ohne

1) E. Maschke, Das Erwachen des Nationalbewußtseins im deutsch-slawischen Grenzraum, 1933.

2) Diese Erscheinung erklärt sehr einleuchtend H. Zatschek, Das Volksbewußt- sein. Sein Werden im Spiegel der Geschichtsschreibung, 1936.

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Zweifel der weiteren Eindeutschung Böhmens und Mährens Ein- halt geboten. Er hat das Deutschtum bis auf geringe Reste aus den Kernen der Länder an deren Ränder zurückgeworfen. Er hat den Tschechen das Erbe der Deutschen in den Mittel- und Klein- städten der Kernlandschaften überantwortet. Es ist freilich hinzu- zufügen, daß er mit dem Verebben der deutschen Masseneinwande- rung zusammentraf.

Noch stärker machte die letztere Erscheinung sich in Polen geltend. Schon im späten 14. Jahrhundert, also unmittelbar nach dem Ende der großen Zuwanderung, begann in den vorgetriebenen Kleinstädten mit deutscher Führerschicht die Verpolung durch den Aufstieg von unten her über die Zünfte bis in den Rat. Die Mittelstädte folgten, während in den großen Emporien Lemberg, Krakau und Posen der Zuzug von Kaufleuten und Edelhand- werkern die deutschen Gemeinden bis ins 17. /l8. Jahrhundert am Leben erhielt. Hinzu trat das Aufsteigen der Adelsmacht, die in den Städten, und damit im Deutschtum, ihren Feind sah. Die glei- chen Gründe führten um die Wende zur Neuzeit auch in Ungarn zu einer Herabdrückung der Städte und des Deutschtums.

Wie hier die innerpolitischen Momente sich gegen den Haupt- vertreter des mittelalterlichen Fortschritts, das Bürgertum kehr- ten, das den Ostvölkern ganz unbekannt gewesen war, so kennt die Neuzeit eine ähnliche Übertragung einer Gegnerschaft aus politischen Motiven auf das Deutschtum überhaupt. Es entsprang der besonderen geschichtlichen Lage, daß den Tschechen und Ungarn die Reaktion auf das staatszersetzende Ständeregiment, der fürstliche Absolutismus mit stehendem Heere und Bürokratie, durch das deutsche Haus Habsburg gebracht wurde. Bei ihm lag die Zukunft, er war die staatsschaffende Macht, welche über die Vielzahl der Kleinvölker hinweg einem großen Teil des Ostraums eine leistungsfähige politische Verfassung zu geben vermochte, so daß er der Türkengefahr standhielt und die Kräfte zur Wieder- belebung der verwüsteten Lande entwickeln konnte. Aber mit der Niederlage am Weißen Berge, mit dem Blutgericht von Éperies blieb bei Tschechen und Magyaren auf immer nicht nur der Name Habsburgs, sondern auch der Deutschen verbunden, und alle nach- folgenden Schritte zur Zentralisierung des österreichischen Staa- tes, über Josef II. bis zur Ära Bach nach 1848, die alle mit dem Mittel der deutschen Sprache unternommen werden mußten, riefen nicht nur den erbittertsten ständisch-partikularistischen Wider-

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stand hervor, sondern schürten aufs neue auch den Haß gegen das Deutschtum. Nicht anders traf die Erbitterung der Polen Preußen als den einen Totengräber ihrer Freiheit, die sie selber nicht mehr zu behaupten vermocht hatten.

Als dann im 19. Jahrhundert ein neues, im wesentlichen indivi- dualistisch-demokratisches Nationalbewußtsein zu immer be- herrschenderer Geltung emporwuchs und in der ganzen Vielvölker- zone den Weg zu seinem letzten Ziele durch die Großstaaten ver- sperrt fand, welche aus der Zeit der absolutistischen Bildungen in sie hineinragten, da wurde der Kampf gegen Österreich und Preußen zugleich ein Kampf gegen das Deutschtum auf der ganzen Linie. Am Balkan begann die Emanzipation der kleinen Völker. 1848 meldete sie sich von Budapest und Prag bis Posen an. Als Preußen 1866 Österreich im Bruderkrieg geschwächt hatte, konn- ten die Ungarn und Polen diesem Sonderrechte abtrotzen. Daß die Magyaren sie, in einem ständischen Anachronismus, gegen die anderen Völker Ungarns anwandten, stellte sie freilich in deren Augen in eine Reihe mit den Deutschen, obwohl ihr Landeszentra- lismus auch die Siebenbürger Sachsen des Schutzes ihrer uralten National Verfassung beraubte. Immer stärker drängte das erwachte Volksbewußtsein in Europa allgemein auf den Nationalstaat zu.

Der Zusammenbruch der Mittelmächte im Weltkrieg bedeutete den Durchbruch des Selbstbestimmungsrechtes der Ostnationen und lieferte ihnen einen erheblichen Teil Ostdeutschlands aus. Es war freilich eine Täuschung zu glauben, daß diesen kleinen Völ- kern eine Macht zugewachsen sei, die sie über das deutsche Volk erhoben habe. Wir wissen, diese Macht war lediglich von den West- mächten erborgt. An Stelle des Zerstörten vermochten die Erben der deutschen Staaten im Ostraum keine tragende Ordnung aus ihren eigenen Kräften zu setzen. Sie sind nicht einmal der von ihnen selbst geforderten Achtung vor dem Sonderleben jeder Na- tion gerecht geworden. Durch die Reihe suchten sie krampfhaft, ihre Territorien auf Kosten ihrer Nachbarn zu erweitern, weil die eigenen völkischen Substrate nicht ausreichten. Aber wenn sie andere Nationen oder deren Teile unter ihre Herrschaft beugten, so gaben sie ihnen dafür nicht den Ersatz, den diesen die Einreihung in die Großstaaten geboten hatte. Es wurde einfach, wie man vor- ausgesagt hatte, der ganze Gürtel bis zur Ostsee balkanisiert.

Wenn wir diese jüngste Etappe in unserer Auseinandersetzung mit den Ostvölkern genauer betrachten, dann können wir aber

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an der Beobachtung nicht vorbeigehen, daß es sich hier nicht allein um politische Kr aft Verschiebungen gehandelt hat.

Dahinter stehen biologische Volkstumsbewegungen. Ich meine damit nicht so sehr die freiwillige Abwanderung und die zwangs- weise Verdrängung von Volksdeutschen seit 1918 aus den östlichen Nachbarstaaten. Sie gehören eher ans Ende der Entwicklungs- reihe, von der zu sprechen ist. Schon lange vor dem staatlichen Zusammenbruch hatte das deutsche Volk seine Teilnahme vom Osten abgewandt. Diese Feststellung muß mit allem Nachdruck gemacht werden, damit wir uns nicht über grundlegende Tat- sachen unseres Volkslebens täuschen.

Man hat uns allerdings einen Drang nach dem Osten zugeschrie- ben. Das Wort gehört wohl dem Arsenal unserer Feinde an. Aber es ist auch in Deutschland nicht selten mit Selbstgefühl nach- gesprochen worden. Haben wir indes wirklich mit einem sol- chen Drang als einer stetigen Naturgewalt zu rechnen ? Die ge- zeigte stete Andauer der deutschen Ostbewegung in irgendeiner Form ließe es annehmen, und in der Tat hat es Zeiten gegeben, in denen reichliche Überflüsse der heimischen Bevölkerung nach dem Jungland im Osten abgeströmt sind. Zeitweise gab es gar kein anderes Ziel. Indessen läuft eine Wanderbewegung nach dem Osten jener Zugrichtung nach Westen und Süden, welche die Ger- manen und selbst die Indogermanen vor ihnen so lange beherrscht hat, geradenwegs zuwider. Karl der Große hat seinen Völkern den Kopf völlig herumdrehen müssen, um ihnen den kargen Osten als Ziel zu weisen. Am Beginn der ostelbischen Kolonisation ist nach- weislich viel Auswandererwerbung getrieben worden, und im 18. Jahrhundert steigerte sie sich im internationalen Wettbewerb um das deutsche Menschenmaterial. Auch in diesen Zeiten vollen Flusses ist die Bewegung nicht dauernd gleichzeitig von allen Gauen gespeist worden. Tief vom Westen her kommend wurde sie doch allmählich von den Randländern übernommen und dann überwiegend von den eben kolonisierten Gebieten selbst getragen. Die Kolonistenfamilien selber mit ihren außerordentlich hohen Kin- derzahlen waren es, welche die Bewegung in erster Linie speisten. Bei ihnen kann man tatsächlich von einem Drang nach dem Osten reden, wenn wir damit das Streben nach Neuland für die nach- kommenden Generationen verstehen, das nur im Osten zu finden war. Hinter diesen Spitzen aber erstarb der Pioniergeist natür- licherweise, weil es dort kein Land mehr zu gewinnen gab, und

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hielt etwa allein bei den Kaufleuten an, die noch neue Märkte erschließen mochten.

Zur Zeit des größten Andrangs war der Osten aber nicht nur das Land, in dem man sich eine Existenz gründen, sondern auch das Land, wo man leib- und grundherrliche Bindungen und gerichtsherrliche Bedrückungen abstreifen und in neuer Freiheit leben konnte. Jungland muß etwas zu bieten haben, wenn es anziehen soll.

Die Ursachen für das Einschlafen des deutschen Ostzuges seit dem 14. Jahrhundert sind noch nicht genügend geklärt, und ich verzichte hier auf die Erörterung. Aber sicher ist, daß in der Neu- zeit eine Mehrzahl von Motiven seine Wiederaufnahme herbei- führte. Am Anfang war reine Not pommerscher Bauern, welche die Bedrückung ihrer Grundherren nicht mehr aushielten, dann oft religiöser Zwang, der aus der Heimat trieb, die Ursache. Selbst in Südwestdeutschland aber, das die meisten Auswanderer stellte, herrschte kein Menschenüberfluß, sondern nur Verfall der öffent- lichen und wirtschaftlichen Zustände, was die Fremde lockend erscheinen ließ.

Schon aber war der Osten nicht mehr das einzig mögliche Ziel- land. Amerika vor allem war mit ihm in Wettbewerb getreten und hat ihn dann im 19. Jahrhundert völlig geschlagen. Aber ein noch schwererer Gegner erwuchs ihm: die Industrialisierung Deutschlands. Seitdem West- und Mitteldeutschland in der vor- wärtseilenden Entwicklung ihrer Wirtschaftskräfte begriffen wa- ren, blieb nicht nur die Zuwanderung nach dem Osten aus, sondern der Osten begann in steigendem Maße seit den siebziger bis achtziger Jahren Menschen nach dem mittleren und westlichen Deutschland abzugeben. Die Deutschen im ganzen hatten jetzt ihre Teilnahme vom Osten wieder gänzlich abgezogen. Ja, der Osten erlitt Wanderungs ver lust, er begann, sich zu entvölkern. Von einem mephistophelischen Drang der Deutschen nach Osten konnte nie die Rede sein, am wenigsten in den letzten Jahrzehnten.

Die politische Bedeutung aber dieser Wendung hat Bismarck schon 1872 scharf bezeichnet. Er schrieb damals, daß er den Boden des preußischen Staates in den polnischen Provinzen so unter- höhlt sehe, daß er einbrechen könnte, sobald sich auswärts eine polnisch-katholisch-österreichische Politik entwickle1). Bismarck

1) In einem Briefe an den Preußischen Minister des Innern, Grafen Fr. Eulen- burg (Gesammelte Werke, 14 II [Briefe Bd. 2], S. 827, Nr. 1438 vom 7. II. 1872).

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hat richtig vorausgesagt. Wir müssen feststellen: Auch der zweite große Rückschlag, den das deutsche Staatswesen im Osten erlitt, der Zusammenbruch von 1918, ist, wie jener andere an der Schwelle der Neuzeit, offensichtlich mit einem Wellental in der deutschen Volksbewegung nach dem Osten zusammengefallen.

Aber nicht genug mit mangelndem Zuzug und Wander ver lust. Hinzu kommt die Unterlegenheit der deutschen Geburtenüber- schüsse. Wir dürfen annehmen, daß sie im Mittelalter auf unserer Seite waren. Wie es heute steht, möge statt aller Einzelheiten nur eine einzige Zahlenreihe sagen. Die germanische Ländergruppe umfaßte 1930: 149 Millionen Menschen, die slawische 226. Geht aber die bisherige Entwicklung weiter, dann stehen im Jahre i960 nicht mehr als 160 Millionen schon deren 303 gegenüber1).

Damit ist unsere Betrachtung am Rande der Zukunft angelangt, welche die großen Ereignisse der beiden letzten Jahre eingeleitet haben. Der geliehene Schein des Trugbildes von Versailles ist ver- gangen. Die wahre Kräfteverteilung ist wieder sichtbar geworden, und die alten Grundkomponenten des Völkerlebens im Ostraum sind damit wieder in Geltung gesetzt. Da wir in innerer Ermannung unsere Stärke wiedergefunden haben, übernehmen wir auch unsern Teil der Verantwortung für den Ostraum. Wir sind jetzt am Zuge.

Was hat uns der Weg durch die Vergangenheit dazu mitge- geben ?

Ich glaube, wir können folgendes mit Sicherheit feststellen: Unsere Verklammerung mit dem nahen Osten ist trotz aller

Wandlungen der Zeitverhältnisse unauflöslich, auch wenn ein wesentlicher Teil des Konfliktstoffes durch Umsiedlung beseitigt wird. Es handelt sich nicht allein um die Menschenvermischung, sondern auch um die der Kulturen.

Unabwendbar scheint uns auch der Gang der Geschichte auf- erlegt, daß alle Abgaben von Menschen, von Bildungsmitteln an die östlichen Nachbarn, aller notwendige Niveauausgleich deren Kräfte stärkt, die sich gegen uns wenden können. Ludendorff soll

G. v. Heyer, Die Entwicklung des Ansiedlungsgedankens, in: 25 Jahre Ansiedlung, Zum 25. Jahrestage der Kgl. Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen in Posen, 1886 - 191 1, hrsg. von G. Minde-Ponet, 191 1, S. 5, bringt diese Worte in unmittelbare Beziehung zu der »blühenden Entwicklung und unab- lässigen Energie der polnischen »friedlichen Eroberung* des Ostens«, wovon in dem Brief nichts steht. Hey er muß hier noch andere Akten benutzt haben.

1) Fr. Burgdörfer, Volk ohne Jugend, 3. (vermehrte) Aull., 1935» ̂· 3Ö3 "·» bes. Abb. 27.

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gesagt haben : die gefährlichen Gegner im nächsten Krieg würden nicht die Polen, sondern die Tausende deutscher Soldatenkinder in Polen aus der Besetzungszeit des Weltkrieges sein. Drastisch bezeichnet das Wort ein auf allen Gebieten gegebenes Grund- problem. Um so mehr ist Deutschland an der Gestaltung des Ost- raums interessiert.

Wir haben aber erkannt : die uns nächste Ostzone besitzt in ihrer völkischen Zersplitterung nicht die Kräfte, die den Aufbau großer und starker, sich selbst genügender Nationalstaaten erlauben. Es bleibt ihr immer nur die Wahl zwischen Ost und West. Eine den Bedürfnissen einer großräumigen Gestaltung und der engen Ver- zahnung der Volkstümer gerecht werdende Regelung kann nur eine übernationale Ordnung bringen, welche zugleich Mitteleuropa sichert. Die Deutschen haben einmal schon mit ihrem mittelalter- lichen Reiche, noch einmal mit Österreich - bei freilich immer mehr geschwächter deutscher Basis - und in gewissem Umfange mit Preußen eine solche Ordnung für diesen Raum geschaffen, welche ebenso auf die große Aufgabe des Ganzen wie auf das Son- derleben der Teile abgestellt war. Wir erkannten weiter, daß die Deutschen diese Ordnung aufrechtzuerhalten vermochten, solange sie als Volk eine Richtung nach dem Osten innehielten, und daß die Perioden ihres politischen Zurückweichens mit denen zusammen- fielen, in denen sie ihre Teilnahme und ihre Menschenkräfte dem Osten vorenthielten oder entzogen.

Die Zerstreuung über den ganzen Raum, weil die Wanderung niemals nationalpolitisch gelenkt war, hat viel Deutschtum der Ent deutschung überantwortet. Wir dürfen indes auch heute, da alle Volkskräfte einheitlich geleitet werden, den Wert nicht über- sehen, den das Streudeutschtum zu allen Zeiten als Brücke zu den Nachbarvölkern besessen hat. Gerade seiner Einsprengung ist ein großer Teil der deutschen Geltung im Ostraum zu ver- danken.

Gibt es wirklich eine Brücke zu diesen Völkern, die unsere Gegensätzlichkeit einmal aufheben kann ? Das ist die Frage, die uns am Ende entgegentritt, indem auch sie eine Antwort aus der Vergangenheit verlangt. Das Bild ewigen Ringens, das ich zeich- nen mußte, läßt es uns noch Hoffnung, oder hat es uns nur das Bewußtsein der Jahrhunderte alten Gegensätze erweckt ?

Wir werden nicht auf die Hunderttausende von Ostbewohnern verweisen, welche ihren freiwilligen Anschluß ans Deutschtum

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vollzogen haben. Die Reinigung und Zuspitzung des nationalen Bewußtseins erlaubt im allgemeinen solche Vorgänge nicht mehr, ausgenommen in den heute noch unentschiedenen Randzonen, wo die Eindeutschung schon seit Generationen vorbereitet ist. Im übrigen lehnen wir den Übertritt Fremdstämmiger überhaupt ab. Wir verlangen ein klares nationales Bekenntnis und sehen in der Vollendung der immer noch nicht abgeschlossenen Entmischung eine Sicherung für uns, eine Entlastung unseres Nachbarschafts- verhältnisses.

Aber auch wenn die verständnisvolle Annäherung der Völker nicht mehr zu Umvolkung führen soll, das, was in früheren Jahr- hunderten sich vorbereitet hat, das bleibt doch bestehen. Es konnte in unserm langen Gang durch die Geschichte immer nur in den allgemeinsten Worten angedeutet werden. Es sei daher noch ein- mal kurz daran erinnert, was das deutsche Volk seinen östlichen Angrenzern unentwegt auf dem Gebiete des Staates, wo sie bis zur Gegenwart gänzlich von dem Beispiel deutscher Verwal- tung gelebt haben, der Wirtschaft, in der sie alle höheren Formen fast ausnahmslos aus oder über Deutschland übernommen haben, des geistigen und künstlerischen Lebens zu schenken vermochte. Es hat Zeiten gegeben, und das scheint mir das Wesentlichste, in denen diese Darlehen mehr als nur eine äußere Verbindung ge- schaffen haben. Die lutherische Reformation vereinigte einmal deutsche und tschechische Protestanten innig in einem Glauben, die klassische Dichtung und die idealistische Philosophie, noch mehr die romantische Gedankenwelt haben dies- und jenseits der Volksgrenzen einen wahren Gleichklang der besten Geister hervor- gerufen. Auch im Jahrhundert des zur Religion erhobenen Natio- nalismus, in dessen Zeichen uns die Ostvölker mit Haß überhäuf- ten, dürfen wir das nicht vergessen. Wollten wir die Volkstums- unterschiede allein gelten lassen, dann zerfiele gänzlich jene ge- schichtliche, in hohem Maße deutsch bestimmte Einheit, die, wie ich Ihnen zeigen konnte, Deutschland und der Gürtel seiner Ost- nachbarn immer gebildet haben, wenn man sie dem noch ferneren fremden Osten gegenüberstellt. Es darf uns darin auch nicht die Erinnerung an die Romantik irre machen, die wir eben aufriefen. Wir wissen wohl, wieviel gerade Herders und der Romantik Ge- danken dazu beigetragen haben, bei den Slawen den Nationa- lismus gegen uns zu entzünden. Dennoch bleibt bestehen, daß Deutschland den Osten immer dann am stärksten innerlich an

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Deutschland und der Osten 4II

sich gezogen hat, wenn es ihm große, zeitbestimmende Gedanken zu bieten vermochte.

Wollen wir auf die Geschichte hören, so können wir nicht im Vertrauen allein auf diese geistigen Kräfte, aber in der Erinnerung daran, daß es den Deutschen doch zeitweise gelungen ist, die immanente Antinomie unseres Verhältnisses zu den Ostvölkern in einer großen, in Stärke und Gerechtigkeit deutschen Ordnung zu überbrücken und damit Mitteleuropa und sich selbst zu sichern, an die Aufgabe der vor uns liegenden Zukunft herangehen. Dazu gehört freilich auch, daß wieder das ganze deutsche Volk an den Geschicken seiner Ostlande teilnimmt, daß es ihnen nicht nur innere Teilnahme, sondern Kraft aus seinem geistigen Reichtum und seinem wirtschaftlichen Vermögen schenkt und ihnen Men- schen, Menschen, Menschen sendet.

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