didaktische hausapotheke band 13 methoden für den hf 1 …...befähigt lehrpersonen so, ethische...

24
Methoden für den Ethikunterricht Ein Leitfaden für die Sekundarstufe II Erika Langhans Didaktische Hausapotheke Band 13

Upload: others

Post on 12-Aug-2020

6 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Methoden für den EthikunterrichtEin Leitfaden für die Sekundarstufe II

Erika Langhans

Didaktische HausapothekeBand 13

Wie kann die moralische Urteilskompetenz von Lernenden an Berufsfachschulen gefördert werden?

Diese didaktische Hausapotheke gibt konkrete Antworten darauf – mit vier Methoden, die im

Ethikunterricht grosse Wirkung erzielen: Dilemmadiskussion, Fallanalyse, Gedankenexperiment und

Begriffsanalyse. Wer guten Ethikunterricht machen will, findet hier zahlreiche Anregungen und

Beispiele aus der Praxis.

Zehn Handlungsfelder ( HF )von Lehrpersonen in der Berufsbildung

HF 1 Das Fach und seine Didaktik meistern

HF 2 Entwicklung und Lernen unterstützen

HF 3 Heterogenität berücksichtigen

HF 4 Vielfältige Methoden zur Kompetenzförderung einsetzen

HF 5 Selbstgesteuertes Lernen fördern

HF 6 Wirkungsvoll kommunizieren

HF 7 Verschiedene Beurteilungsverfahren einsetzen

HF 8 Berufliches Handeln reflektieren und weiterentwickeln

HF 9 Zusammenarbeit pflegen

HF 10 Eine berufspädagogische Perspektive einnehmen

www.hep-verlag.ch/didaktische-hausapotheke-13

Eine Publikation der PH Zürich

UG_Methoden_Ethikunterricht_1A_18.indd Alle Seiten 17.01.19 07:22

Page 2: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Inhalt

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Die Dilemmadiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111.1 Die Dilemmadiskussion: Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111.2 Wirkungsweise und Ziele der Dilemmadiskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.3 Durchführung der Dilemmadiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.4 Dilemmadiskussion im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.5 Dilemmageschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.6 Musterfoliensatz zur Dilemmadiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2 Fallanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.1 Die Fallanalyse: Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.2 Wirkungsweise und Ziele einer Fallanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.3 Durchführung der Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.4 Unterrichtsbeispiel Fallanalyse: Rettungsfolter ja oder nein?. . . . . . . . . . . . 35

3 Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.1 Gedankenexperiment: Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.2 Wirkungsweise und Ziele eines Gedankenexperiments . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.3 Durchführung des Gedankenexperiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.4 Gedankenexperimente – Unterrichtsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

4 Begriffsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.1 Begriffsanalyse: Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.2 Wirkungsweise und Ziele einer Begriffsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.3 Durchführung der Begriffsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

5 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465.1 Ethik – Fachwissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465.2 Ethik – Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465.3 Methoden des Ethikunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 5 28.01.19 11:03

Page 3: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Vorwort des Herausgebers

Eine gut ausgestattete Hausapotheke gehört in jeden Haushalt, um kleinere Verletzun-gen oder Erkrankungen selbstständig zu behandeln. Auf diesem Grundgedanken basie-ren die «didaktischen Hausapotheken», welche die Pädagogische Hochschule Zürich zu-sammen mit dem hep verlag konzipiert hat. Doch unsere Hausapotheken sind nicht für Notfälle im Unterricht gedacht. Sie sind vielmehr Anleitungen zur Selbsthilfe bei der Ent-wicklung der eigenen Berufskompetenz.

Die Hefte greifen aktuelle Herausforderungen aus der Unterrichtspraxis und dem Schul-alltag auf. Sie beziehen sich auf die typischen Handlungsfelder1, in denen Lehrpersonen im Beruf tätig sind.Wer sich mit ihren Inhalten auseinandersetzt, erhält einen Mix aus nützlichem Hinter-grundwissen, Anstössen zur Reflexion und praktischen Empfehlungen – eine Rezeptolo-gie im besten Sinne des Wortes.

Die vorliegende Hausapotheke ist eine Weiterentwicklung von Band 6 («Ethikunterricht an Berufsfachschulen»), in dem die fachlichen und fachdidaktischen Grundlagen zum Thema gelegt werden. Dieses Heft stellt vier in der Praxis bewährte Methoden vor und befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft zu kurz kommt. Wer die Hausapotheke liest, wird moti-viert sein, sich für ethische Fragen bewusst Zeit zu nehmen, und merken, dass sie sich geschickt und sinnvoll mit Themen der Lehrpläne verknüpfen lassen.

Prof. Dr. Christoph StädeliLeiter der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung der Pädagogischen Hochschule Zürich

1 Die Ausbildungen an der PH Zürich beruhen auf einem vom Dozierendenteam entwickelten Modell, das die Tätigkeit von Lehrpersonen in der Berufsbildung in zehn Handlungsfelder und knapp vierzig Kompetenzen aufgliedert. Die Themen der einzelnen Handlungsfelder sind auf dem Heftrücken der «didaktischen Hausapotheken» abgedruckt. In diesem Heft liegt der Fokus auf den Handlungs-feldern 1 und 4: «Das Fach und seine Didaktik meistern» und «Vielfältige Methoden zur Kompetenz-förderung einsetzen».

7

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 7 28.01.19 11:03

Page 4: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Einleitung

Die Förderung ethischer Kompetenzen hängt nicht zuletzt von der Wahl geeigneter Me-thoden und deren angemessener Umsetzung im Unterricht ab. Dieser Band stellt vier Methoden vor, die im Ethikunterricht grosse Wirkung erzielen: die Dilemmadiskussion, die Fallanalyse, das Gedankenexperiment und die Begriffsanalyse. Mit allen vier Metho-den kann auf unterschiedliche Weise die moralische Urteilskompetenz effektiv gefördert werden. Sie stehen gleichwertig nebeneinander und sind im Sinne eines Sowohl-als-auch für die Förderung ethischer Kompetenzen zu verstehen.

Die Lehrperson erfährt in diesem Band zu den vier ausgewählten Methoden, welche Vorbereitungen sie zu treffen und wie sie bei der Durchführung vorzugehen hat. Die einzelnen Kapitel sind mit Tipps aus der Praxis und Stolpersteinen zu jenen Fragen und Problemstellungen angereichert, welche die Studierenden in den Modulen der Autorin in den vergangenen Jahren zutage gefördert haben.

Die Dilemmadiskussion ist eine klassische und auch eine der bekanntesten Methoden des Ethikunterrichts. Die Diskussion moralischer Dilemmata stellt eine sehr leistungs-fähige Methode zur Förderung moralischer Kompetenzen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen dar. Sie ist jedoch in ihrer Durchführung anspruchsvoll und verlangt von der Lehrperson gute Kenntnisse moralischer Fragestellungen und moralischer Entwick-lung, von Moderation und Gesprächsführung wie auch der Begleitung von Gruppenpro-zessen. Aus diesem Grund wird die Dilemmadiskussion in diesem Band in den Mittel-punkt gestellt und Schritt für Schritt in Vorbereitung und Durchführung vorgestellt.

Die Fallanalyse greift einen realen oder semirealen Fall aus der angewandten Ethik auf, zu dem eine moralisch abgestützte pragmatische Lösung erarbeitet werden soll. Der Fall wird in einem strukturierten Prozess analysiert und ausgewertet. Die Analyse verlangt sowohl Recherchen zu relevanten Fakten (vgl. dazu «Didaktische Hausapotheke» Band 6) und moralischen Normen als auch eine saubere Argumentation, um die Entscheidungs-findung zu begründen. Die Lehrperson stellt je nach Lerngruppe mehr oder weniger Vor-leistungen und Arbeitshilfen zur Verfügung.

Das Gedankenexperiment stellt die Frage «Was wäre, wenn …» zu einer erfundenen oder semirealen Situation. Hier müssen Hypothesen ausformuliert werden, was hohe Anfor-derungen an die Analysefertigkeiten der Lernenden stellt. Die sinnvolle Hypothesen-bildung lässt die Teilnehmenden Kernfragen einer Problemstellung herausarbeiten und fördert so das logische Denken in Zusammenhängen.

Mit der Begriffsanalyse können sich Lernende komplexen Begriffen und ihren Konzep-ten nähern. Auch wenn diese Arbeit nur selten zu einheitlichen Ergebnissen führt, leistet sie dennoch einen wichtigen Beitrag zur Förderung der ethischen Kompetenzen. Begriffe wie «Menschenwürde», «Freiheit» oder «Glück» haben zahlreiche Dimensionen und wer-den auch ganz unterschiedlich definiert. Die Begriffsanalyse kann helfen, die Vielschich-

9

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 9 28.01.19 11:03

Page 5: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

tigkeit solcher Konzepte auszuleuchten und zu begreifen, wie wichtig es für das Zusam-menleben ist, sich immer wieder über deren Inhalte zu verständigen.

Die Förderung ethischer Kompetenzen an berufsbildenden Schulen findet nicht im luft-leeren Raum statt und steht nicht in Konkurrenz zum Pflichtstoff, sondern kann einfach und komplementär in eine Lerneinheit integriert werden. Ethikunterricht basiert daher auf solidem Sach- und Fachwissen. Idealerweise verknüpft er die Inhalte des Lehrplans mit den dazugehörigen ethischen Fragen. In diesem Sinne sind die hier vorgestellten Methoden für alle Schulfächer geeignet.2

2 Vgl. dazu Langhans (2017).

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 10 28.01.19 11:03

Page 6: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

1 Die Dilemmadiskussion

1.1 Die Dilemmadiskussion: Begriff

Von einem moralischen Dilemma sprechen wir dann, wenn wir uns in einer Entschei-dungssituation sagen: «Wie man es macht, ist es falsch.» Wir stehen in diesem Moment vor mindestens zwei moralischen Normen, die nicht gleichzeitig erfüllt werden können. Mit anderen Worten: Wird eine moralische Norm erfüllt, so wird dadurch mindestens eine andere verletzt und umgekehrt.3

Die Dilemmadiskussion fördert die moralische Urteils- und Entscheidungsfähigkeit. In einer Gruppe wird eine Geschichte mit einem moralischen Dilemma in einer moderierten Diskussion und in einem strukturierten Ablauf erörtert. Eine Besonderheit dieser kon-trollierten Dialogform besteht darin, dass sich die Gruppe aus den echten Grundüber-zeugungen der Teilnehmenden heraus in zwei ungefähr gleich grosse Meinungslager tei-len lassen muss und sich die beiden Seiten abwechselnd unter sich und dann wieder im Plenum mit dem moralischen Dilemma auseinandersetzen.Die Dilemmadiskussion geht auf den Erziehungswissenschaftler Lawrence Kohlberg zu-rück, der ab den 1960er-Jahren in Chicago und Harvard die moralische Entwicklung des Menschen erforschte. Dabei stützte er sich auf Jean Piagets Theorie der kognitiven Ent-wicklung der Menschen und entwickelte diese weiter. Bis zum heutigen Tag bildet Kohl-bergs Stufenmodell der Moralentwicklung trotz Kritik von verschiedenen Seiten4 eine bedeutsame Grundlage für die Moralerziehung in der Schule.Die hier vorgestellte Form der Dilemmadiskussion lehnt sich an der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) an, die von Georg Lind an der Universität Konstanz ent-

3 Zum Begriff des Dilemmas vgl. Langhans (2017).4 Die heftigste Kritik kam von feministischer Seite, namentlich von Carol Gilligan, die Kohlberg in den

frühen 80er-Jahren zu Recht vorgeworfen hatte, sich bei seinen Studien auf eine kleine Gruppe von männlichen Probanden gestützt zu haben und daher die weibliche Moralentwicklung nicht erforscht zu haben. Ihre Untersuchungen ergaben, dass Mädchen und Frauen eher eine Fürsorgemoral vertre-ten, während Jungen und Männer eher den Standpunkt einer Gerechtigkeitsmoral einnehmen. Ger-trud Nunner-Winkler hat in den frühen 90er-Jahren in ihren Studien die interessante Erkenntnis ge-funden, dass Frauen und Männer sowohl die Fürsorge- als auch die Gerechtigkeitsperspektive einnehmen. Die Wahl des Standpunkts hängt von der persönlichen Betroffenheit und den krisenhaf-ten Erfahrungen ab. Die bei Mädchen und Frauen überwiegende Fürsorgemoral ist gemäss Nun-ner-Winkler also eine Rollenmoral aus der Sozialisation und keine geschlechtsspezifische Prägung aus der Biologie.Ohne hier weiter auf diese Debatte einzugehen, soll festgehalten werden, dass Kohlbergs Modell nicht grundlegend widerlegt werden konnte, wir bei seiner Anwendung, namentlich in der Formulierung der Dilemmageschichten, aber die Erkenntnisse von Nunner-Winkler durchaus berücksichtigen sollten. So werden Männer in Fragen zu Abtreibung und Reproduktionsmedizin mehrheitlich eine andere Pers-pektive einnehmen als Frauen, weil sich ganz einfach die Betroffenheit unterscheidet. Ähnliches kann in unserer Gesellschaft in Fragen der Armee und der Kriegsführung beobachtet werden.

11

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 11 28.01.19 11:03

Page 7: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

wickelt wurde. Linds Forschung hat gezeigt, dass die strikte Einhaltung eines bestimm-ten Ablaufs im Wechselspiel von Herausforderung und Unterstützung der Lernenden zur Weiterentwicklung ihrer moralischen Urteilsfähigkeit beiträgt.5

Die Dilemmadiskussion ist eine anspruchsvolle Methode, die gute Kenntnisse morali-scher Fragestellungen, moralischer Entwicklung, von Moderation und Gesprächsführung wie auch der Begleitung von Gruppenprozessen erfordert. Wer in diesen Bereichen über keine fundierten Fertigkeiten verfügt und in der eigenen Lehrerbildung nicht in der Di-lemmadiskussion geschult wurde, sollte sich in der Durchführung nicht bloss auf diesen Band stützen, sondern unbedingt Weiterbildungen zur Dilemmadiskussion nutzen.6

Achtung StolpersteinEine Dilemmadiskussion kann nur dann durchgeführt werden, wenn die Teilnehmenden in ein echtes moralisches Dilemma geführt werden, das

heisst, wenn sie sich persönlich zwischen zwei moralischen Normen entscheiden müssen und damit eine der beiden Normen verletzen.Die Lehrperson muss demnach selbst ein moralisches Dilemma erkennen und von ande-ren Ziel- oder Interessenkonflikten unterscheiden können. Erfahrungsgemäss werden moralische Fragen oft mit rechtlichen, politischen, strategischen oder empirischen Fra-gen verwechselt.6

1.2 Wirkungsweise und Ziele der Dilemmadiskussion

Die Dilemmadiskussion fördert die moralische Urteils- und Entscheidungskompetenz, in-dem sie innere und verinnerlichte Werte und Prinzipien, nach denen die Teilnehmenden urteilen, entscheiden und handeln, an die Oberfläche holt. Diese zum Teil unbewussten moralischen Werte, Prinzipien, Normen oder Maximen werden sichtbar und bewusst ge-macht, sodass sie überprüft und reflektiert werden können.Nach Kohlbergs Modell geschieht dies am ehesten, indem die Lernenden durch eine höhere Stufe der moralischen Entwicklung herausgefordert werden als jene, auf der sie sich gerade befinden.7 Da die Argumente der aktuellen Stufe nicht ausreichen, um ein moralisches Pro-blem zu lösen, werden die Teilnehmenden angeregt, sich für Argumente der nächsthöheren Stufe zu öffnen und diese in ihr moralisches Denken und Handeln aufzunehmen.Das Konstanzer Modell setzt demgegenüber stärker auf die allgemeine Auseinanderset-zung mit den Gegenargumenten aus der Gruppe und weniger auf die Herausforderung durch eine höhere Stufe. Das Wechselspiel zwischen den Phasen der Herausforderung und der Unterstützung ist dabei zentral, weshalb die Phasen an sich und deren Abfolge nicht verändert werden sollten.Es soll an dieser Stelle der Lehrperson überlassen sein, von welchem Gedanken sie sich in der Umsetzung im Unterricht eher leiten lassen will. Für beide Varianten ist bei der Vorbereitung jedoch wichtig, dass die Geschichte die Lernenden stufengerecht abholt

5 Wer sich für die wissenschaftlichen Studien und Begründungen des Konstanzer Modells interessiert, kann diese nachlesen in: Lind (2015).

6 Zum Training der Unterscheidung von moralischen und nichtmoralischen Fragen wird die Lektüre von Bleisch/Huppenbauer (2014) empfohlen. Beispiele für moralische Dilemmata finden sich in Cohen (2011).

7 Zu den Stufen der moralischen Entwicklung vgl. z. B. Kohlberg in: Edelstein et al. (2001), S. 35–61.

12

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 12 28.01.19 11:03

Page 8: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

und die Lehrperson während der Durchführung keine Argumente verlangt, welche die Lernenden nicht selbst hervorbringen können.Die vertiefte Beschäftigung mit einer Dilemmasituation verlangt nach einer differenzier-ten Reflexion der eigenen Normen. Da in einer Dilemmasituation jede Lösung falsch ist, ist es für die Teilnehmenden nicht primär das Ziel, die anderen vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Die Dilemmadiskussion zielt vielmehr darauf hin, die inneren Widersprü-che und oft auch die eigene Zerrissenheit im Hinblick auf moralische Normen sichtbar zu machen. Diese inneren Widersprüche können Menschen in der Regel nicht gut aushalten. Die Dilemmadiskussion zwingt aber, sich eine Weile dieser unangenehmen Situation aus-zusetzen, weil sie eine schnelle, unreflektierte Antwort nicht zulässt. Sich 90 Minuten herausfordernden Argumenten und Zweifeln auszusetzen, geht nicht spurlos an uns vor-bei. Die Hirnforschung kann nachweisen, dass alle Hirnregionen während eines solchen Dialogs aktiv sind. Die roten Wangen, die wachen Augen und die angeregte Erschöpfung der Teilnehmenden, wie nach einem sportlichen Wettkampf, geben der Lehrperson einen Hinweis darauf, dass die Dilemmadiskussion erfolgreich umgesetzt wurde. Dies ist eine Besonderheit der Dilemmadiskussion: Sie schafft eine affektive und emotionale Betrof-fenheit, die eine Voraussetzung für die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz darstellt. Eine emotionale Berührung ist auch bei anderen Methoden möglich, doch ist es den Teilnehmenden dort eher möglich, sich durch eine Reduzierung auf die kognitive Arbeit dem affektiven Aspekt zu entziehen.

HäufigkeitWer sich regelmässig mit seinen moralischen Werten auseinandersetzt, kann sich die eigenen Maximen einfacher und rascher bewusst machen und diese dadurch auf ihre Gültigkeit hin prüfen und reflektieren. Georg Lind empfiehlt eine bis zwei Dilemmadis-kussionen pro Semester. Häufigere Durchführung kann zu einer Ermüdungserscheinung bei den Lernenden führen und in der Folge kontraproduktiv sein. Wenn wir an berufs-bildenden Schulen eine Dilemmadiskussion pro Schuljahr durchführen, tragen wir den speziellen Bedingungen der Berufsfachschulen Rechnung. Eine Absprache mit den Lehr-personen der anderen Fächer ist sehr zu empfehlen. Schon eine Dilemmadiskussion im Jahr leistet einen bedeutenden Beitrag zur moralischen Entwicklung.

13

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 13 28.01.19 11:03

Page 9: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Tipps aus der PraxisViele angehende Lehrpersonen haben in den letzten Jahren in ihren Reflexionen von didaktisch- pädagogischen Ausgestaltungen berichtet, die in ihren Absichten zwar nachvollziehbar und lobenswert waren, für die Wirkung der Dilemmadiskussion aber eher kontraproduktiv sind. Im Folgenden sind Massnahmen beschrieben, von denen eher abzuraten ist, und die Gründe dafür aufgeführt:

→ Um die Aktivität aller während 90 Minuten zu sichern, werden während der Durchführung schriftliche Sequenzen eingefügt.In Anlehnung an das Konstanzer Modell werden keine Phasen weggelassen oder hinzugefügt.

→ Die Lehrperson zwingt mit eigenen Diskussionsregeln alle dazu, sich in den Plenumsphasen zu äussern.In den Plenumsphasen müssen sich nicht zwingend alle äussern. Die aktive Teilnahme ist in den Meinungsgruppen ausreichend gewährleistet.

→ Die Dilemmadiskussion wird zur schriftlichen Sicherung von Zwischenschritten unterbrochen.Die zusätzliche Verschriftlichung auf Arbeitsblättern stört den Fluss und damit die Wirkungs-weise der Dilemmadiskussion. Die vollumfänglichen Hirnaktivitäten werden durch solche Aktionen wieder auf die Aktivität einzelner Hirnregionen zurückgebunden, womit der Tragweite der Methode entgegengewirkt wird.

→ Um «produktorientiert» zu arbeiten, lassen Lehrpersonen die Lernenden die Ergebnisse der Dilemmadiskussion schriftlich festhalten und in einer Erörterung noch einmal wiederkäuen.Die Dilemmadiskussion wirkt ohne Verschriftlichung nach.

→ Um anstrengende Phasen zu entlasten, werden Pausen eingefügt.Pausen stören den Fluss der Diskussion und damit den gesamten Prozess der Diskussion.

→ Störungen werden von der Lehrperson direkt aufgenommen, und die Dilemmadiskussion wird zugunsten einer spontanen Intervention unterbrochen. Eine solche Intervention kann sich beispielsweise auf Kommunikationsregeln oder die erneute Erarbeitung beziehungsweise Repetition nicht verstandener Fakten beziehen.Die Dilemmadiskussion soll nicht unterbrochen werden. Die Lehrperson signalisiert je nach Bedarf, dass ein Thema nach der Diskussion in einem bestimmten Personenkreis noch einmal aufgenommen wird.

Achtung StolpersteinAn sich kann eine Dilemmadiskussion auf allen Schulstufen und in jeder Klasse durchgeführt werden. In Klassen, in denen akute soziale Spannun-

gen herrschen und sich verschiedene verfeindete Gruppen gegenüberstehen, kann es sein, dass sich das Abstimmungsverhalten nicht an der persönlichen Meinung, sondern an der eigenen Peergroup orientiert. In diesem Fall werden nicht authentische Argumen-te vorgebracht, sondern es werden aktuelle Konflikte in der Diskussion fortgesetzt. Dann kann es sinnvoller sein, im Moment auf eine Dilemmadiskussion zu verzichten und die sozialen Spannungen anders anzugehen.

1.3 Durchführung der Dilemmadiskussion

VorbereitungDie Dilemmadiskussion ist für die meisten von uns im Hinblick auf die Diskussionskultur Neuland. Das bedeutet, dass die Lehrperson mit den Lernenden vor einer ersten Durch-führung ein paar wichtige Punkte besprechen muss. Dazu gehören:

→ Was ist ein Dilemma? → Was ist eine Dilemmadiskussion?

14

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 14 28.01.19 11:03

Page 10: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

→ Warum führen wir in der Schule eine Dilemmadiskussion durch? Was sind der Zweck und die Ziele?

→ Wie unterscheidet sich eine Dilemmadiskussion von einer politischen Debatte oder einem anderen Streitgespräch?

Checkliste für die Vorbereitung der Dilemmadiskussion � Einführung zur Dilemmadiskussion vorbereiten und planen. Eventuell eine Woche im Voraus

ankündigen und die Klasse in einem Informationsblock einstimmen. � Eine stufengerechte, angemessene Geschichte auswählen. � Die für die Beurteilung des Dilemmas notwendigen Fakten und Sachverhalte vorher

erarbeiten (lassen). � Das erwartete Abstimmungsergebnis sollte 50 zu 50 bis 40 zu 60 Prozent betragen. � Gegebenenfalls Beobachtungsaufträge bereitstellen, damit die stärkere Gruppe etwas

verkleinert werden kann. � Verschärfung vorbereiten. � Alternative Lektionen vorbereiten.

Vorschlag für die Formulierung operationalisierter LernzieleDie Lernenden analysieren ein moralisches Dilemma, indem sie

→ in einem konkreten Dilemma die moralische Frage formulieren. → die zur Debatte stehenden moralischen Werte mit den korrekten Fachbegriffen benennen. → in einer Diskussion moralische Argumente formulieren, begründen und verteidigen. → Argumente der Gegenseite gewichten und in die eigene Entscheidungsfindung einbeziehen.

Fakten – und wenn ja, wie viele und welche?In Modulen zum Ethikunterricht taucht immer wieder die Frage auf, wie viele Fakten not-wendigerweise zuerst erarbeitet und vermittelt werden müssen, um eine Dilemma-diskussion durchführen zu können.Grundsätzlich unterscheidet sich die Dilemmadiskussion zum Beispiel von einer Fallana-lyse gerade dadurch, dass sie an sich voraussetzungslos geführt werden kann. Das be-deutet, dass eine Geschichte thematisch in sich geschlossen ist, wenn sich daraus ein moralisches Dilemma herausarbeiten lässt, das alle Teilnehmenden als solches begreifen. Die Teilnehmenden argumentieren folglich während der Diskussion auf der Basis an Wis-sen zu Fakten und moralischen Normen, die ihnen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung steht. Der Reflexionsprozess wird durch die Auseinandersetzung mit den Beiträgen der anderen Teilnehmenden angeregt. Die Dilemmageschichte an sich muss also ohne zu-sätzliches Wissen sinnvoll durchgeführt werden können, damit der Ablauf nicht durch Interventionen auf der fachlichen Ebene unterbrochen werden muss. Ausserdem wird ja ein moralisches Problem diskutiert und kein juristisches, politisches oder wirtschaftli-ches. Empirische Fragen aus anderen Disziplinen spielen für die Beurteilung einer mora-lischen Frage keine Rolle.Steht die Dilemmadiskussion als Abschluss einer Unterrichtssequenz, dann baut sie auf den zuvor erarbeiteten Lerngegenständen auf. Die Lehrperson muss im Vorfeld – wie bei jeder anderen Lerneinheit auch – die Lernvoraussetzungen genau analysieren und eine Geschichte entsprechend auswählen.

15

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 15 28.01.19 11:03

Page 11: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

1.4 Dilemmadiskussion im Unterricht8

Vorphase: Vorbereitung auf die DilemmadiskussionAnhand eines Bildes oder einer kurzen Geschichte veranschaulichen und diskutieren wir den Begriff des Dilemmas. Wir sprechen mit der Klasse über den Sinn und Zweck, das heisst, warum und mit welchen Zielen wir eine Dilemmadiskussion durchführen, und wir bereiten sie darauf vor, dass diese Arbeit anstrengend und zeitweise unangenehm sein kann.

Tipps aus der PraxisDiese Vorbereitung kann gut in Lektionen eine Woche vor der Durchführung der Dilemmadiskus-sion stattfinden.Die Unterscheidung eines politischen Streitgesprächs und der Dilemmadiskussion muss immer wieder betont werden:

→ In der politischen Auseinandersetzung werden Interessen vertreten. Jede Partei versucht, Mehrheiten zu gewinnen, um für die eigene Interessengruppe ein Maximum herauszuholen.

→ Die Dilemmadiskussion macht Orientierungspunkte in moralisch schwierigen Situationen sichtbar. Durch das Ausformulieren eigener moralischer Normen und die Gegenüberstellung mit moralischen Normen anderer werden diese herausgefordert. Die Teilnehmenden müssen ihre moralischen Grundlagen durch die Methode der Diskussion überprüfen.

Die Wahl der Methode muss während der Vorbereitungszeit abgeschlossen werden – so-bald die Dilemmadiskussion begonnen hat, wechseln wir die Methode nicht mehr (ausser die Klasse möchte auch nach einer Verschärfung in der Dilemmadiskussion keine unter-schiedlichen Standpunkte einnehmen und ist sich einig. Dann kann stattdessen eine Fall-analyse zum Einsatz kommen, siehe Phase 2). Das heisst, es werden keine Inputs mehr gegeben oder zusätzliche Inhalte oder Elemente eingeführt beziehungsweise eingescho-ben. Ebenso lassen wir keine der Phasen aus.Die Reflexion der Methode mit den Lernenden erfolgt am Schluss. Sie braucht bei den ersten Malen der Durchführung in einer Klasse etwas mehr Zeit. Sobald eine Klasse mit der Methode vertraut ist, können wir rascher zur Befindlichkeit und zu den inhaltlichen moralischen Fragen zurückkommen.

Phase 1: Vorstellen der Dilemmageschichte – UnterstützungZu Beginn dieser ersten Phase wird den Lernenden eine Dilemmageschichte vorgestellt. Diese kann als eigenständige Geschichte präsentiert oder aus aktuellen Unterrichts-medien (Film, Literatur, Hörspiel, Zeitungsartikel …) abgleitet werden. Wichtig ist, dass die Geschichte in maximal zwei bis drei Minuten dargestellt werden kann und sich aus der Perspektive einer Person XY beurteilen lässt.

8 Nach Lind (2015).

16

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 16 28.01.19 11:03

Page 12: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Checkliste für eine gute DilemmageschichteEine gute Dilemmageschichte

� ist kurz, einfach und verständlich (maximal drei Folien). � bietet eine moralische Zwickmühle mit echten Handlungsalternativen, jedoch keine

absoluten Notlagen in der Art von «Sophie’s Choice». � ist aus der Perspektive einer Person mit Namen formuliert, für die die Teilnehmenden

Empathie aufbringen können. � ist (semi-)realistisch und glaubwürdig. � ist für niemanden aus der Gruppe im eigenen Leben real. � löst bei den Teilnehmenden keine Angst aus. � weckt Interesse und Neugier. � stellt eine moralische Frage, die für die Zielgruppe relevant ist.

Sobald die Geschichte bekannt ist, wird gemeinsam der moralische Kern herausgearbei-tet. Über die Frage, ob die Entscheidung der Person XY wohl richtig war, werden die Teilnehmenden an die sich widersprechenden moralischen Normen, Pflichten oder Prin-zipien herangeführt.Nach wenigen Voten leitet die Lehrperson zur Herausarbeitung des moralischen Prob-lems über. Die Lehrperson visualisiert die Argumente stichwortartig für alle gut sichtbar. In dieser Phase muss die Lehrperson besonders darauf achten, dass alle die Rahmenbe-dingungen der Geschichte anerkennen. Da ein Dilemma an sich für uns Menschen nichts Angenehmes ist, suchen die Teilnehmenden natürlicherweise nach einem Ausweg. Die Lehrperson erkennt das Bestreben, dieser Situation zu entkommen, an alternativen Vor-schlägen für die Hauptperson, die aus dem Dilemma herausführen. Hier muss auf den Rahmenbedingungen und auf der Dringlichkeit einer Entscheidung beharrt werden. Erst wenn keine Vorschläge mehr geäussert werden, mit denen aus dem Dilemma geflüchtet wird, kann die Lehrperson zur nächsten Phase weitergehen.

Tipps aus der PraxisDie moralischen Prinzipien müssen von der Lehrperson im Vorfeld sorgfältig vorbereitet werden, damit die Meldungen der Lernenden effizient und mit fördernden Rückfragen aufgenommen werden können, wie zum Beispiel:

→ «Darf ich Ihre Meldung mit den Worten (…) zusammenfassen?» → «Meinen Sie damit (…)?»

Die Lehrperson verwendet eine korrekte Fachsprache, zwingt den Lernenden jedoch nichts auf. Die Rückfragen sind ernst gemeint. Es wird nur aufgeschrieben, was von den Teilnehmenden bestätigt wird.Bei der Vorbereitung der Pflichten oder Prinzipien ist es notwendig, eine realistische Einschätzung der erwarteten moralischen Entwicklungsphasen der Lernenden vorzunehmen. Die Lehrperson kann mithilfe des Stufenmodells von Kohlberg die zu erwartenden Argumente zur Dilemma-geschichte bereits antizipieren. Mit diesem Vorbereitungsschritt baut die Lehrperson gleich drei Sicherungen ein:

→ Die stufengerechte, angemessene Ansiedlung des moralischen Dilemmas wird überprüft. → Die zu erwartenden Prinzipien können bereits in verständlicher Fachsprache vorbereitet werden. → Die Erwartungen der Lehrperson fokussieren auf die Stufen der Lernenden und nicht auf den

Entwicklungsstand der Lehrperson.

17

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 17 28.01.19 11:03

Page 13: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Achtung StolpersteinUm sich selbst in der Moderation zu entlasten, setzen Lehrpersonen Ler-nende beim Herausarbeiten des moralischen Problems oder während der

Pingpong-Phase als Protokollführende ein. Die dringende Empfehlung lautet aber, dass die Lehrperson die Prinzipien selbst notiert, weil diese Aufgabe in der Regel für die Ler-nenden zu anspruchsvoll ist.

Phase 2: Probeabstimmung – HerausforderungSobald das moralische Problem und die sich widersprechenden Normen für alle gut sichtbar visualisiert sind, schreitet die Lehrperson zur Probeabstimmung über. Im Ge-gensatz zur Einstiegsfrage sind die Teilnehmenden jetzt nicht mehr dazu aufgefordert, sich inhaltlich zu äussern, sondern sie positionieren sich per Handaufhalten für «eher richtig» oder «eher falsch».Da wir uns alle in einem moralischen Dilemma befinden, fragen wir unbedingt: Ist das Ver-halten der Person XY eher richtig oder eher falsch? Die Teilnehmenden müssen sich so nicht klar positionieren, die innere Zerrissenheit muss nicht abgelegt werden. Die Lehr-personen sollten die Lernenden aber dazu auffordern, eine innere Tendenz auszudrücken. Idealerweise ergeben sich nun zwei Meinungslager, die ungefähr gleich gross sind. Bis zu einem Ergebnis von 40 zu 60 Prozent kann die Lehrperson direkt zu Phase 3 übergehen.Sollten sich keine etwa gleich grossen Gruppen ergeben, so muss das Dilemma verstärkt werden. Eine Verschärfung bedeutet, die Dilemmageschichte so zu verändern, dass sich an den Voraussetzungen der Hauptperson etwas wesentlich verändert, sodass die Seite der kleineren Gruppe gestärkt wird.

Tipps aus der PraxisIst die Gruppe nach der ersten Probeabstimmung nicht innerhalb des tolerierten Verhältnisses von maximal 40 zu 60 Prozent, so gibt es verschiedene Massnahmen für die Lehrperson: → Die Verschärfung wird eingesetzt. → Sollte es Lernende geben, die sich mit einer Entscheidung offensichtlich sehr schwertun, können

sie gefragt werden, ob sie bereit sind, sich zur schwächeren Gruppe zu setzen und einmal eher diese Position einzunehmen. Wir können dabei noch einmal darauf hinweisen, dass es lediglich um eine Tendenz geht und niemand die richtige Lösung kennt, weil das in der Natur eines Dilemmas selbst liegt. Wir zwingen aber auch hier niemanden in eine Rolle oder dazu, eine andere Meinung zu vertreten.

→ Um die stärkere Gruppe zu verkleinern, können Beobachter mit gezielten Aufträgen eingesetzt werden. Wichtig ist, dass die Beobachterinnen in der Diskussion keine aktive Rolle übernehmen. Sie können gut beauftragt werden, bestimmte Dinge zum Beispiel auf einem Beobachtungsbo-gen schriftlich festzuhalten. Die Beobachtungen können sich auf die Kommunikation zwischen den Lernenden oder die Inhalte der Argumente beziehen. Sie können chronologisch oder thematisch gegliedert werden.

Wenn sich die Klasse auch mit einer Verschärfung absolut einig ist, ist die Dilemmageschichte wahrscheinlich auf einer falschen Stufe (zu hoch oder zu tief) angesiedelt. Dann kann die Diskus-sion sehr einfach durch eine Fallbearbeitung ersetzt werden.

18

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 18 28.01.19 11:03

Page 14: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Dilemmadiskussion oder Fallanalyse?Je nach Lerngruppe kann sich die Beurteilung einzelner Fragen erheblich unterscheiden. Dabei spielen Alter, Geschlecht, soziales Umfeld und Lehrberuf der Lernenden eine grosse Rolle. Geht es wie in «Terror – Ihr Urteil» (Ferdinand von Schirach, Buch und Film) um den Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs zur Vermeidung eines Terroranschlags oder bei Hans Magnus Gäfgen (nach der wahren Geschichte aus Frankfurt im Jahr 2002) um Folter zur Rettung eines unschuldig entführten Kindes, so ist in den meisten Klassen ein eindeutiges Ergebnis in Richtung Zustimmung zum Abschuss oder zur Rettungsfolter zu erwarten. Die Lernenden werden sich eher mit den Angehörigen und damit den interpersonellen Argumenten als mit den rechtsstaatlichen Argumenten identifizieren. Letztere sind bezüglich der moralischen Entwicklung sehr voraussetzungsreich und können von Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch nicht erwartet werden. Einzelne können diesen Standpunkt durchaus einnehmen, doch ein ausgewogenes Verhältnis ist in der Altersgruppe der Sekundarstufe II eher selten. Das bedeutet für die Lehrperson, die mit solchen Fällen eine Dilemmadiskussion wagen will, dass sie die Geschichte auch als Fallanalyse vorbereitet und nötigenfalls die Methode kurzerhand wechselt.

Achtung Stolperstein → Wenn sich partout, das heisst selbst mit den erlaubten Kniffs, zum Beispiel die stärkere Gruppe durch Abzug von Beobachtungspersonen zu

verkleinern, kein Abstimmungsverhältnis von 40 zu 60 Prozent herstellen lässt, setzt die Lehrperson die Dilemmadiskussion fort.Wenn das passiert, soll die Lehrperson die Dilemmadiskussion vor dem eigentlichen Beginn an diesem Punkt abbrechen und eine alternative Lektion durchführen.

→ Um befreundete Lernende für eine Weile zu trennen, werden diese entgegen ihrer Meinungsäusserung einer Gruppe zugeteilt.Die Teilnehmenden müssen ihre eigene Meinung vertreten dürfen. Das Übernehmen einer anderen Meinung verhindert die authentische, affektive und emotionale Teilnahme, und der moralische Lernprozess wird gestört.

→ Um die (argumentativ) schwächere Gruppe zu unterstützen, schaltet sich die Lehrperson in die Diskussion ein. Sie gibt Hinweise oder stellt suggestive Fragen. In den Plenumsphasen der Dilemmadiskussion bringt die Lehrperson keine Inhalte ein, dies ist höchstens beim Begleiten der Meinungsgruppen möglich. Doch auch hier sollte sich die Lehrperson nur begrenzt einbringen, damit die Lernenden ihre eigenen Prinzipien reflektieren können.

Phase 3: Diskussion in Meinungsgruppen – UnterstützungDie Lehrperson teilt den Gruppen jeweils eine Seite im Klassenzimmer zu. Auf jeder Seite werden nun Untergruppen von drei bis vier Personen gebildet. Dabei ist die räumliche Nähe innerhalb der Kleingruppen von grosser Bedeutung. Die Lernenden sitzen idealer-weise um einen Tisch, auf jeden Fall aber so, dass sie miteinander bequem Augenkontakt aufnehmen und auch Notizen verfassen können.Sie tauschen sich jetzt zu ihren Gründen für beziehungsweise gegen das Verhalten der Person im Dilemma aus und suchen weitere Argumente. Zum Schluss ordnen sie ihre Argumente nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung.

Phase 4: Diskussion von Pro und Kontra im Plenum – HerausforderungIm Anschluss an den Austausch der Gründe in den Kleingruppen innerhalb des eigenen Meinungslagers folgt nun die Diskussion von Pro und Kontra im Plenum.

19

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 19 28.01.19 11:03

Page 15: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Die Lehrperson erläutert zunächst die Diskussionsregeln.Die Diskussion folgt der Pingpong-Methode. Person A aus dem schwächeren Lager bekommt zuerst das Wort und trägt ein wichtiges Argument für oder gegen die Ent-scheidung der Hauptperson aus der Dilemmageschichte vor. Auf diese erste Äusse-rung reagieren die Teilnehmenden auf der anderen Seite mit Handaufhalten. Person A ruft eine Person B aus der anderen Gruppe auf. Nach ihrem Beitrag ruft Person B wieder eine Person aus der ersten Gruppe auf. So gehen die Voten im Pingpong hin und her.

Gesprächsregeln in der Pingpong-Phase → Die Teilnehmenden hören gut zu und gehen mit dem eigenen Argument auf das ein, was

gerade gesagt wurde. → Jedes Argument ist zulässig und darf geäussert werden. → Angriffe auf und Entwertungen von Personen sind nicht erlaubt. → Die Teilnehmenden rufen sich gegenseitig auf:

– Es werden nur diejenigen aufgerufen, die sich melden. – Wenn möglich, wird eine Person gewählt, die noch nicht gesprochen hat. – Das Wort wird nicht an diejenige Person zurückgegeben, der gerade geantwortet wird – es

soll kein Pingpong zwischen zwei Personen entstehen. → Die Teilnehmenden sprechen laut, kurz und bringen nur ein Argument pro Votum vor. → Die Lehrperson überwacht die Einhaltung der Regeln und führt das Protokoll.

Rolle der LehrpersonDie Lehrperson moderiert, soweit notwendig, und schreibt die Argumente getrennt nach Pro und Kontra mit. Lernende sollten nicht für diese Aufgabe eingesetzt werden, sie können aber einen Beobachtungauftrag übernehmen (siehe «Tipps aus der Praxis» in Phase 2).Die Lehrperson interveniert nur, wenn die Diskussionsregeln nicht eingehalten werden, und bringt die Pingpong-Diskussion möglichst reibungslos wieder in Gang. Die Lehrperson greift inhaltlich auf keinen Fall in die Diskussion ein. Dies ist besonders wichtig, damit sich die Lernenden mit den Argumenten und Überlegungen aus der Klasse selbst auseinandersetzen, die dem eigenen Entwicklungsstand entsprechen.Sobald keine neuen Argumente mehr aufkommen und die Diskussion sich erschöpft, unterbricht die Lehrperson und leitet zur nächsten Phase über.

Tipps aus der PraxisDie Pingpong-Methode führt vor allem bei aktiven und mitteilsamen Lernenden zu Widerständen, da sie hohe Anforderungen an die Frustrationstoleranz stellt. Die Teilnehmenden müssen sich oft zurückhalten, weil sie nicht mehr sofort eine Replik geben können.Die Lehrperson ist sich bewusst, dass sich diese Diskussionsform von den meisten medialen Vorbildern und den eigenen Erfahrungen der Lernenden unterscheidet. Wir geben diesen Widerstän-den nicht gleich nach, sondern muten den Lernenden diese Erfahrung bewusst zu. Um bei den Lernenden einen Denkprozess anzuregen, räumt ihnen die Lehrperson die notwendige Zeit dafür ein.Bei Themen, die der Lehrperson besonders am Herzen liegen, kann es sein, dass sie «unreife» oder «niedere» Argumente schlecht aushalten kann. Sobald die Lehrperson merkt, dass sie sich selbst emotional in die Diskussion verstrickt, muss sie sich an den Zweck der Methode und den Stand der Zielgruppe erinnern. Entwicklungs- und Lernprozesse werden eher gestört als gefördert, wenn die Lehrperson zum Beispiel eigene Argumente der postkonventionellen Stufe einbringt, während die Gruppe auf der konventionellen Stufe argumentiert.

20

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 20 28.01.19 11:03

Page 16: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Achtung Stolperstein → Die Meinungsgruppen haben zwar eine Gewichtung ihrer Argumente

vorgenommen, in der Plenumsphase müssen sie diese aber nicht der Reihe nach «abarbeiten». Vielmehr hören die Teilnehmenden gut zu und beziehen sich in ihren Voten auf das gerade geäusserte Argument.

→ Die Lehrperson darf sich auf keinen Fall einmischen, indem sie ihre eigene Position einbringt. Achtung: Das kann auch subtil geschehen, indem die Lehrperson Sugges-tivfragen stellt. Die Lehrperson moderiert, sie ist sich dieser Rolle sehr gut bewusst, und sie verfügt über Fertigkeiten, um sich selbst in der Einhaltung dieser Rolle zu kontrollieren.

→ Im Sinne der Moderation darf die Lehrperson zur aktiven Teilnahme ermuntern, sie sollte aber keine Regeln einführen, die zu Äusserungen in dieser Phase zwingen.

Phase 5: Gewichtung der Gegenargumente in den Meinungsgruppen – UnterstützungDie Teilnehmenden gehen wieder in ihre Kleingruppen zurück. Sie diskutieren nun die Argumente der Gegenseite, die in Phase 4 von der Lehrperson für alle gut sichtbar auf-geschrieben wurden. In der Diskussion fragen sich die Lernenden, ob es Argumente der Gegenseite gibt, die nachdenklich gestimmt, überzeugt oder angeregt haben. Gemein-sam diskutieren die Kleingruppen, welches der Gegenargumente am plausibelsten ist.Anschliessend berichtet jede Kleingruppe im Plenum von den Ergebnissen aus der Aus-einandersetzung mit der Gegenseite. Die Reihenfolge der Berichte kann von der Lehr-person nach eigenen Überlegungen vorgegeben werden. Wichtig ist, dass sich alle Grup-pen äussern. Die Gruppe kann sich gut durch eine Person vertreten lassen.

Phase 6: Schlussabstimmung – HerausforderungIn Phase 6 findet eine Schlussabstimmung zur Anfangsfrage statt: War das Verhalten der Person in dem Dilemma eher richtig oder eher falsch? Falls es Meinungsänderungen ge-geben hat, fragt die Lehrperson nach, welche(s) Argument(e) dafür verantwortlich war(en).Erst jetzt kann die Lehrperson sich wieder in das Geschehen einbringen. Es ist zu diesem Zeitpunkt sinnvoll, die Klasse für ihre Anstrengungen und die Selbstdisziplin während der Dilemmadiskussion zu würdigen. Die Lernenden sind nach einer engagierten Diskussion erfahrungsgemäss sowohl ausgesprochen wach und angeregt als auch müde und er-schöpft.

Tipps aus der PraxisAngesichts der ungewohnten Diskussionsform soll die Lehrperson darauf hinweisen, dass Meinungsänderungen ein Zeichen von Stärke sind und von einer intensiven Auseinandersetzung mit der moralischen Frage und mit sich selbst zeugen.

Phase 7: Auswertung – UnterstützungZum Abschluss darf die Phase 7 nicht fehlen. Die Lehrperson fragt nun nach dem Befin-den der Teilnehmenden. In dieser Phase achtet die Lehrperson darauf, dass die Lernen-den für und über sich und nicht über andere sprechen.Jetzt ist Gelegenheit, die Regeln und insbesondere die Pingpong-Methode der Phase 4 zu reflektieren. Wer sich in der Diskussion zurückhalten musste, wird hier die eigene Frus-

21

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 21 28.01.19 11:03

Page 17: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

tration ausdrücken wollen. Das ist wichtig. Die Lehrperson muss den Widerstand einen Moment lang aushalten und Geduld haben, bis Einzelne auch positive Aspekte der Ping-pong-Methode erwähnen. Das Gespräch, das sich aus diesen Beiträgen ergibt, ist beson-ders wertvoll. Ergebnisse können gut in Diskussionen in anderen Unterrichtssequenzen transferiert werden, indem die Klasse an die diskutierten Punkte (siehe Kasten) erinnert wird.Die Frage nach dem Lernzuwachs soll breit verstanden werden. Es sind hier alle Äusse-rungen willkommen, und zwar von Beiträgen zur Diskussionskultur bis zu Statements zu den Fachinhalten des moralischen Dilemmas.

Tipps aus der PraxisAus Gruppen, für welche die Pingpong-Methode neu ist, hören wir in dieser Phase von den mitteilungsfreudigen Teilnehmenden oft die Rückmeldung, dass diese Eingrenzung den Dialog behindere, weil → sich die Diskussion nicht spontan entwickle. → man nicht direkt auf eine Replik reagieren könne. → Argumente nicht mehr passen, wenn sie erst später geäussert werden können. → usw.

Wer sich in Diskussionen gerne aktiv einbringt und gewohnt ist, das Wort zu ergreifen, wird bei der Dilemmadiskussion eher zurückgebunden. Da ist es nur zu gut verständlich, dass diese Teilnehmen-den die Pingpong-Methode eher als mühsam, einengend bis hin zu blockierend erleben. Es ist wichtig, dass diese Befindlichkeit geäussert werden darf, die Lehrperson muss ihnen eine Weile Raum geben.Sofern aus der Gruppe selbst kein Widerspruch kommt, kann die Lehrperson nach ein paar kritischen Voten durch Fragen an diejenigen, die sich in der Auswertungsrunde noch nicht gemeldet haben, nach Unterschieden zu herkömmlichen Diskussionen und allfälligen Vorteilen fragen. In der Regel werden die positiven Effekte aus der Gruppe heraus selbst formuliert:

→ Man ist gezwungen, sich gegenseitig genau zuzuhören. → Es beteiligen sich mehr verschiedene Personen an der Diskussion. → Die Teilnehmenden müssen sich kurz und prägnant ausdrücken, um Gehör zu finden. → Es spricht nur eine Person auf einmal. → Es kommt selten zu einem Stimmengewirr, in dem man nichts mehr versteht. → Unterbrechungen durch andere Teilnehmende sind selten, die Moderation greift jedoch ein,

wenn Beiträge zu lang sind oder mehrere Argumente auf einmal vorgetragen werden. → Nicht nur die Lauten, Schnellen kommen zum Zug. → Die Entschleunigung der Diskussion begünstigt die Bereitschaft, sich auf andere Argumente

einzulassen. → Die Methode schliesst ein Streitgespräch zwischen zwei Lernenden oder zwischen der Lehr-

person und wenigen Lernenden aus.Auch hier moderiert die Lehrperson. Es muss niemand überzeugt werden oder seine Frustration aus der Diskussion heraus ablegen. Das Hören der positiven Aspekte der Methode bringt die mitteilsamen Teilnehmenden normalerweise zum Nachdenken. Es lohnt sich, mit der Klasse an dieser Stelle noch einmal über die unterschiedlichen Zielsetzungen und Formen der Dilemmadis-kussion und einer politischen Debatte nachzudenken. Streitgespräche, in denen wir Interessen vertreten, für die wir möglichst viel herausholen möchten, sind also nicht falsch. Auch das soll geübt werden, jedoch nicht in einer Diskussion in der Reflexion und Tiefe angestrebt werden.Last, but not least wissen wir aus der Psychologie, dass aktives Zuhören in einer Gruppe integrativ wirkt. Menschen, denen zugehört wird, werden durchlässiger. Auch sie sind eher bereit zuzuhören. Die Gruppe ist eher bereit, kreative Lösungen zu finden. Und die Lernenden üben sich darin, zwischen Menschen und ihren Meinungen zu unterscheiden.

22

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 22 28.01.19 11:03

Page 18: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Achtung Stolperstein Die Wirkung der Dilemmadiskussion kann durch den Einbau einer schrift-lichen Sequenz gestört werden. Falls die Lehrperson Ergebnisse schriftlich

festhalten lassen will, so keinesfalls während der Diskussion, sondern frühestens nach Abschluss aller Phasen.In der Literatur finden sich viele Dilemmageschichten, die für die Dilemmadiskussion in der angegebenen Form nicht geeignet sind. Zu den Mängeln gehören beispielsweise, dass → die Entscheidungsfragen aus der Perspektive mehrerer Personen gestellt werden. → es sich nicht um moralische, sondern um politische Fragen handelt. → die Entscheidungsfrage nicht aus der Perspektive einer Person mit einem Namen

gestellt wird.Die Lehrperson kann gut und gerne solche Geschichten verwenden, doch muss sie diese entsprechend anpassen.

Nach sauberem Abschluss der Dilemmadiskussion darf die Lehrperson ihren Unterricht nach allen Regeln der Kunst fortsetzen. Das bedeutet, dass die Diskussion selbst als End-produkt einer Sequenz betrachtet oder aber ein bestimmtes Thema daraus nach einer anderen Methode noch weiter vertieft oder gesichert werden kann. Es ist also durchaus denkbar, im Anschluss an eine Dilemmadiskussion einen Text verfassen zu lassen, aber es ist für den erfolgreichen Abschluss der Sequenz nicht zwingend notwendig.

1.5 Dilemmageschichten

Hier folgt nun ein Beispiel einer Dilemmageschichte. Den Einsatz im Unterricht muss die Lehrperson nach den eben besprochenen Gesichtspunkten vorbereiten. Die Lehrperson

→ entscheidet, ob der Fall für die Klasse geeignet ist, → analysiert die Lernvoraussetzungen und bestimmt die vorbereitend zu erarbeiten-

den Lerninhalte, → ist mit Verschärfungen darauf vorbereitet, dass die Entscheidung in der Klasse

einseitig ausfallen kann, → ist vorbereitet, den Fall anstelle einer Dilemmadiskussion als Fallanalyse zu bearbei-

ten, wenn sich das Stimmenverhältnis auch mit Verschärfungen nicht zu mindestens 40 zu 60 Prozent verschiebt (oder sie hat eine alternative Dilemmageschichte vorbereitet),

→ hat im Vorfeld das moralische Problem analysiert, → hat die Argumente für sich aufgearbeitet, → hat neben den eigenen Argumenten auch stufengerechte Argumente der Lernenden

antizipiert.

23

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 23 28.01.19 11:03

Page 19: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Der Fall Murat KurnazMurat Kurnaz (*1982 in Bremen) wächst in Deutschland auf und macht eine Lehre als Schiffsbauer. In seiner Ausbildungszeit beginnt Kurnaz, sich mit dem Islam zu beschäftigen, und heiratet in der Türkei.Im Oktober 2001 verreist er nach Pakistan, um dort eine Koranschule zu besuchen. Nur wenige Wochen vorher hat die Bombardierung Afghanistans begonnen, dies als Reaktion auf die Anschläge des 11. September. Bei einer Routinekontrolle der pakistanischen Armee wird Kurnaz festgenommen und 2002 an die US-Streitkräfte überführt. Ein halbes Jahr später kann Kurnaz von deutschen Sicherheitsleuten befragt werden, die ihn für ungefährlich halten.Laut US-Sicherheitskräften weist Kurnaz jedoch charakteristische Merkmale einer Radikalisie-rungsbiografie auf: seine Beschäftigung mit den Schriften des Islam, der regelmässige Besuch der Moschee sowie Kontakte mit der (friedlichen) religiösen Gruppierung «Jama at al-Tabligi». Die US-Streitkräfte verdächtigen ihn, dass er in Afghanistan ein Ausbildungslager für Terroristen besucht habe und nun als Spitzel arbeite. Einem Mann aus seinem Bekanntenkreis wird ausserdem vorgeworfen, Anschläge in der Türkei ausgeübt zu haben.

Der zuständige Befehlshaber der US-Streitkräfte Jack entscheidet, Murat Kurnaz ins Militärge-fängnis nach Guantánamo bringen zu lassen, wo er unter Folter zu mehr und genaueren Aussagen über seine Verbindungen zur islamistischen Terrorszene befragt werden soll, auch um weitere Anschläge zu vereiteln.

Hat Jack → (eher) richtig entschieden? → (eher) falsch entschieden?

Für den Verlauf der Geschichte sei hier empfohlen, den tatsächlichen Ausgang der Ge-schichte erst nach der Dilemmadiskussion bekannt zu geben. Nur so werden die Lernen-den in das Dilemma von Jack hineinversetzt: Jack empfängt zu diesem Zeitpunkt von deutscher Seite eine Entwarnung, während von US-amerikanischer Seite eine terroristi-sche Gefährdung gemeldet wird, die allerdings nicht bewiesen werden kann. Selbstver-ständlich ist bei diesem moralischen Problem zu berücksichtigen, dass ganz unabhängig von der Schuld oder Unschuld ein absolutes Folterverbot besteht und die körperliche und psychische Unversehrtheit eine unabdingbare Voraussetzung für die Würde eines Menschen darstellt.

Weiterer Verlauf des FallsEs bestehen zu keiner Zeit Beweise für Kontakte zu einer terroristischen Organisation. Bei dem Bekannten, der unter akutem Terrorverdacht steht, stellt sich rasch eine Verwechslung heraus, die belegt werden kann. Murat Kurnaz wird erst 2006 aus Guantánamo entlassen, wo er wie die meisten seiner Mithäftlinge von amerikanischen und deutschen Sicherheitskräften misshandelt und gefoltert wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte seine Unschuld längst bewiesen werden.

Für weitere Hintergründe zum Fall Kurnaz:https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2007-1/fall- murat-kurnaz [23.10.2018]

Weitere Dilemmageschichten befinden sich in den Werken in der Literaturliste, die mit einem * gekennzeichnet sind.

24

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 24 28.01.19 11:03

Page 20: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

1.6 Musterfoliensatz zur Dilemmadiskussion

Vorbereitungs- oder Einstiegsphase

Darf er auf dem Drahtseil bleiben? Wie soll ein selbst fahrendes Auto programmiert werden?

Was nicht beabsichtigt ist → Siegen. → Überzeugen. → Recht haben, recht bekommen.

Konsequenzen für die Diskussion → Es gibt keine objektiv richtige Lösung. → Niemand hat recht. → Ein moralisches Dilemma auszuhalten, ist schwer und unangenehm.

Ziele der Dilemmadiskussion → Die eigenen Entscheidungsgrundlagen in morali-schen Fragen reflektieren.

→ Die eigene moralische Urteilsfähigkeit entwickeln und festigen.

→ Die eigene Persönlichkeit weiterentwickeln.

Sinn und Zweck einer Dilemmadiskussion → Sich der eigenen moralischen Prinzipien bewusst werden und diese formulieren.

→ Die eigenen moralischen Prinzipien mit denjenigen anderer vergleichen.

→ Die von der Gruppe sichtbar gemachten moralischen Prinzipien überdenken und überprüfen.

Bild

: Key

ston

e, E

vere

tt C

olle

ctio

n

Bild

: © S

cien

ce/A

AAS

25

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 25 28.01.19 11:03

Page 21: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Die Dilemmadiskussion

Das XY-DilemmaBeschreibung des XY-Dilemmas nach dem Konstanzer Modell.

Das XY-Dilemma

Was meinen Sie?

War die Entscheidung von XY richtig?

Begründen Sie Ihre Entscheidung kurz.

Das moralische Problem

Was ist das moralische Problem?

Welche moralischen Prinzipien, Pflichten oder Normen geraten hier in Konflikt miteinander?

Welche Alternativen hätte XY gehabt?

Probeabstimmung

Wer findet die Entscheidung von XY

→ eher richtig?

→ eher falsch?

Das XY-Dilemma

Eine Dilemmadiskussion

Bild

: iSt

ockp

hoto

.com

/Ark

divn

a

26

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 26 28.01.19 11:03

Page 22: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Meinungsgruppen3 bis 4 Personen bilden eine Untergruppe.

Diskussion in Meinungs gruppen1. Tauschen Sie Ihre Gründe für/

gegen das Verhalten von XY aus.2. Notieren Sie die Gründe. 3. Ordnen Sie die Gründe nach ihrer

Wichtigkeit.

Austausch der Argumente

→ Jedes Argument ist zulässig, alles darf gesagt werden.

→ Keine Angriffe auf/Entwertungen von Personen.

→ Die Teilnehmenden rufen sich gegenseitig auf (Argumente Pingpong).

→ Kein Pingpong zwischen zwei Personen.

→ Die Teilnehmenden sprechen laut, kurz und tragen nur ein Argument vor.

→ Die Lehrperson überwacht die Einhaltung der Regeln.

Meinungsgruppen

→ Diskussion der Argumente der Gegenseite.

→ Gewichtung dieser Argumente.

→ Auswahl der besten Argumente: Welche haben mich nachdenklich gestimmt? Überzeugt? Angeregt? ...

Diskussion in den Meinungsgruppen (3 bis 4 Personen)

Berichte aus den Meinungsgruppen

Stellen Sie jene Argumente vor, die

→ Sie am ehesten zum Nachdenken gebracht haben.

→ Sie am ehesten annehmen könnten.

Bild

: iSt

ockp

hoto

.com

/ani

lakk

us

27

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 27 28.01.19 11:03

Page 23: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

Schlussabstimmung

Wer findet das Verhalten von XY

→ eher richtig?

→ eher fasch?

Gab es Meinungsänderungen?

Auswertung der Diskussion

→ Wie war die Diskussion?

→ Wie haben Sie die Diskussion erlebt? Persönliches Wohlbefinden ...?

Auswertung der Methode

→ Wie finden Sie diese Form von Unterricht?

→ Was wurde gelernt?

→ Was fanden Sie gut? Was weniger gut?

28

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 28 28.01.19 11:03

Page 24: Didaktische Hausapotheke Band 13 Methoden für den HF 1 …...befähigt Lehrpersonen so, ethische Fragestellungen im Unterricht vertieft zu behan-deln – etwas, das im Alltag oft

2 Fallanalyse

2.1 Die Fallanalyse: Begriff

Die Fallanalyse greift eine fiktive, semireale oder reale Begebenheit auf, die aus moralischer Sicht interessant und spannungsvoll ist. Der Fall wird nach einer bestimmten Systematik be-arbeitet: Dabei wird er aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und die jeweilige Argu-mentation wird analysiert. Am Schluss wird in einer Güterabwägung eine pragmatische Lö-sung gefunden. Wir bewegen uns hier vorwiegend im Bereich der angewandten Ethik, wo wir uns in der Bearbeitung nicht für eine normative Theorie oder einzelne Prinzipien entscheiden müssen, sondern einen Fall aus möglichst breiter Perspektive betrachten und analysieren.

2.2 Wirkungsweise und Ziele einer Fallanalyse

In der Fallanalyse setzen sich die Lernenden intensiv mit einem Fall auseinander. In der Analyse werden sie gezwungen, sich mit den Argumenten aller Interessengruppen und aus unterschiedlichen moralischen Blickwinkeln auseinanderzusetzen sowie die eigene Entscheidung nach einer sorgfältigen Güterabwägung zu begründen.

2.3 Durchführung der Fallanalyse

Die Fallanalyse stellt im Gegensatz zur Dilemmadiskussion weniger methodische als fachwissenschaftliche Herausforderungen an die Lehrperson. Daher ist die saubere fachliche Vorbereitung durch die Lehrperson unabdingbar. Wer eigene Fallanalysen er-stellen und durchführen will, kommt nicht umhin, sich mit den Argumenten der jeweili-gen Bereichsethik auseinanderzusetzen.9

Zu einer seriösen Vorbereitung der Lehrperson gehören folgende Schritte:10

A. Analyse des Ist-Zustandes

Zunächst werden die bekannten und bedeutsamen Fakten zusammengetragen und das geltende Recht zum Fall beschrieben. Es wird aufgelistet, welche Personen oder Perso-nengruppen von dem Fall betroffen sind – wir nennen diese Stakeholder oder Interes-

9 Für Einsteigerinnen und Einsteiger ist die Lektüre der einschlägigen Kapitel in Fenner (2010), Pfeifer (2006) oder Panza/Potthast (2011) empfohlen.

10 In enger Anlehnung an Bleisch/Huppenbauer (2014). Die Lektüre des ganzen Buches wird an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen. Die Autorin und der Autor haben als ausgewiesene Ethikfachleute ein didaktisches Werk verfasst, das es Interessierten, die nicht Ethik studiert haben, erlauben soll, seriöse ethische Entscheidungsfindungen zu betreiben.

29

Langhans_Methoden Ethik Hausapotheke_Bd 13.indb 29 28.01.19 11:03