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THOMAS MEURER Die Berufung im Garten Struktur und Komposition von Ri 6 „Erzählungen greifen auf die Vergangenheit zurück, um Licht auf die Gegenwart zu werfen. Es ist genau dieses Licht, das für die Zeitge- nossen Struktur in die Ereignisse bringt.“ 1 Diese von Jan Assmann formulierte Maxime gilt nicht nur für den auf die Vergangenheit zu- rückgreifenden Erzähler, sie trifft in gleichem Maße für den Rückgriff der Leserinnen und Leser auf dessen „Produkte“, für den Umgang mit dem bereits Erzählten zu. Jede Lektüre ist ja immer auch ein Rück- griff auf die Vergangenheit. Auf die Vergangenheit der Entstehungs- situation und damit auf die Vergangenheit dessen, dem sich der Text und dem ich den Text verdanke. Da ich dem Text allein unter den Gestalten von Druckerschwärze und Papier begegne, er seine Interpre- tation also in keinem Geheimfach, seine Nutzanwendung in keiner Gebrauchsanweisung bei sich trägt, muß ich bei oder doch nach mei- nem Umgang mit ihm der Frage Rechenschaft geben: Wie habe ich diese literarische Vergangenheit erinnert, und welche literarische Ver- gangenheit? 2 – Wohl nur so wird es möglich, das Licht des Textes für die Ereignisse der Gegenwart zum Leuchten zu bringen. Es ist aber gerade die Frage nach dem „Wie“ der Erinnerung „wel- cher“ Vergangenheit, die den Finger in eine ständig schmerzende Wunde der Hermeneutik legt. 3 Jede Erinnerung einer Vergangenheit 1 Assmann, Jan, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München/Wien 1996, 23. 2 Assmann, Ägypten, 23, stellt die Frage „Wie wird Vergangenheit erinnert, und welche Vergangenheit?“ ins Zentrum seiner Theorie von den sogenann- ten „Kohärenzfiktionen“. Damit kehrt er das herkömmliche Denken der Wis- senschaften, durch die Erinnerung hindurch der Vergangenheit ansichtig zu werden, um und versucht zu ergründen, welche Aussagen über eine Gegen- wart daraus abzuleiten sind, welche Vergangenheit diese Gegenwart wie erin- nert. 3 Meine im folgenden ausgebreiteten Überlegungen sind durch die ebenso kritischen wie instruktiven Rückfragen von Prof. Dr. Winfrid Cramer ange- stoßen worden, der in der gemeinsamen Lehrveranstaltung „Parallela sacra – alttestamentliche Gestalten in frühchristlicher Deutung“ im Wintersemester

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Page 1: Die Berufung im Garten - ph-karlsruhe.de filesens“, wie der New Yorker Literaturwissenschaftler Harold Bloom gezeigt hat. 4 Die gesamte Literaturgeschichte (und ließe sich das nicht

THOMAS MEURER

Die Berufung im Garten

Struktur und Komposition von Ri 6

„Erzählungen greifen auf die Vergangenheit zurück, um Licht auf die Gegenwart zu werfen. Es ist genau dieses Licht, das für die Zeitge-nossen Struktur in die Ereignisse bringt.“1 Diese von Jan Assmann formulierte Maxime gilt nicht nur für den auf die Vergangenheit zu-rückgreifenden Erzähler, sie trifft in gleichem Maße für den Rückgriff der Leserinnen und Leser auf dessen „Produkte“, für den Umgang mit dem bereits Erzählten zu. Jede Lektüre ist ja immer auch ein Rück-griff auf die Vergangenheit. Auf die Vergangenheit der Entstehungs-situation und damit auf die Vergangenheit dessen, dem sich der Text und dem ich den Text verdanke. Da ich dem Text allein unter den Gestalten von Druckerschwärze und Papier begegne, er seine Interpre-tation also in keinem Geheimfach, seine Nutzanwendung in keiner Gebrauchsanweisung bei sich trägt, muß ich bei oder doch nach mei-nem Umgang mit ihm der Frage Rechenschaft geben: Wie habe ich diese literarische Vergangenheit erinnert, und welche literarische Ver-gangenheit?2 – Wohl nur so wird es möglich, das Licht des Textes für die Ereignisse der Gegenwart zum Leuchten zu bringen. Es ist aber gerade die Frage nach dem „Wie“ der Erinnerung „wel-cher“ Vergangenheit, die den Finger in eine ständig schmerzende Wunde der Hermeneutik legt.3 Jede Erinnerung einer Vergangenheit

1 Assmann, Jan, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München/Wien 1996, 23. 2 Assmann, Ägypten, 23, stellt die Frage „Wie wird Vergangenheit erinnert,

und welche Vergangenheit?“ ins Zentrum seiner Theorie von den sogenann-ten „Kohärenzfiktionen“. Damit kehrt er das herkömmliche Denken der Wis-senschaften, durch die Erinnerung hindurch der Vergangenheit ansichtig zu werden, um und versucht zu ergründen, welche Aussagen über eine Gegen-wart daraus abzuleiten sind, welche Vergangenheit diese Gegenwart wie erin-nert.

3 Meine im folgenden ausgebreiteten Überlegungen sind durch die ebenso kritischen wie instruktiven Rückfragen von Prof. Dr. Winfrid Cramer ange-stoßen worden, der in der gemeinsamen Lehrveranstaltung „Parallela sacra – alttestamentliche Gestalten in frühchristlicher Deutung“ im Wintersemester

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und mithin jede Lektüre eines Textes birgt die Gefahr des „Fehlle-sens“, wie der New Yorker Literaturwissenschaftler Harold Bloom gezeigt hat.4 Die gesamte Literaturgeschichte (und ließe sich das nicht auch mutatis mutandis für die Theologiegeschichte behaupten?) ist für Bloom nichts anderes als eine Geschichte der Einflüsse, d.h., „daß es keine Texte gibt, nur Beziehungen zwischen Texten.“5 Texte und ihre Produzenten „erinnern“ Texte, die ihnen voraufliegen: „Eine Einfluß-Relation leitet somit das Lesen ebenso wie das Schreiben, weshalb jede Lektüre zugleich ein Fehlschreiben ist und alles Schreiben ein Fehllesen.“6 Damit insinuiert Bloom jedoch nicht, daß es ein „Recht-lesen“ gäbe. Vielmehr gilt: Textus est ineffabilis – und damit auch: es gibt keinen Text aus voraussetzungslosem Anfang. Texte handeln notwendig von anderen Texten; ein Text ist eine Antwort auf einen Text, „so wie ein Dichter die Antwort auf einen Dichter ist oder ein Mensch die Antwort auf die, von denen er abstammt.“7 In dem von Harold Bloom skizzierten Sinne lassen sich auch viele patristische Texte als Antworten auf alttestamentliche Texte lesen. Und natürlich spielen auch hier die beiden von Assmann aufgeworfe-nen Fragen eine zentrale Rolle: Wie wird literarische Vergangenheit erinnert, und welche literarische Vergangenheit? Aus der Fülle der von den Kirchenvätern ausgelegten und – in Blooms Terminologie – „fehlgelesenen“ alttestamentlichen Texten habe ich das Eröffnungskapitel der Gideon-Erzählungen (Ri 6–8) ausgewählt. Die meisten Kirchenväter haben sich in ihrer literarisch-theologischen Produktion eher von der Berufungserzählung Gideons (Ri 6) ansprechen lassen als von den übrigen Episoden innerhalb von Ri 6–8. So greifen sie auf die literarische Vergangenheit des Eröff-

1997/98 nicht müde wurde, vor einer Beurteilung der patristischen Bibel-auslegung aus exegetischer Sicht die kritische Selbstreflektion der exegeti-schen Methoden zu fordern. Ihm ist dieser Beitrag zur Vollendung seines 65. Lebensjahres in Dankbarkeit – nicht zuletzt für die vielfältigen Anregungen in Münsteraner Studienjahren – zugeeignet.

4 Vgl. Bloom, Harold, Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M. 1997, und Ders., Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung, Basel/Frankfurt a.M. 1995.

5 Bloom, Topographie, 9. 6 Bloom, Topographie, 9. 7 Bloom, Topographie, 28.

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nungskapitels der Gideon-Erzählungen zurück, um damit ihren Zeit-genossen ein „Licht“ bereitzustellen, das „Struktur in die Ereignisse bringt“. Die Kirchenväter nehmen Ri 6 mit Vorliebe in pneumatologi-schen Kontexten auf. Cyrill von Jerusalem etwa bemüht sich in seiner sechzehnten Taufkatechese darum, zu zeigen, daß der am Pfingsttag auf die Kirche ausgegossene Geist auch vor diesem Ereignis bereits auf Viele herabgekommen sei. Wohl unter Rückgriff auf Ri 6,34 hebt Cyrill hervor, daß auch Gideon von diesem Geist gestärkt worden sei (Cat. XVI, 26-28 [28!]). Auch Irenäus von Lyon bringt Ri 6 mit der Geistsendung in Verbindung (Adv. haer. III, 17,3). In prophetischer Vorausschau habe Gideon die Gottesprobe (Ri 6,38-40) nach dem Eintreffen der ersten Bedingung umgekehrt. In der trockenen Woll-schur, um die herum sich nach der zweiten Bedingung der Tau legen solle, sieht Irenäus einen typus populi, denn auch auf das Volk des alten Bundes würde nach Jes 5,6 nicht mehr der Geist Gottes herab-kommen. Jedoch, so deutet Irenäus das Motiv der zweiten Gottespro-

be (lv hjhj Yr>h lk l<w [Ri 6,39bb]), sei der Geist Gottes, wie ihn Jes 11,2 vor Augen habe, durch Jesus Christus der ganzen Kirche gegeben. Da mit dem Geist aber auch der Teufel wie ein Blitz herab-gefahren sei, sei der Tau Gottes notwendig, damit die Kirche von diesem Blitz nicht verbrannt werde. In vergleichbarer Weise deutet auch Ambrosius die Gottesprobe (Ri 6,38-40) vor dem Hintergrund der Verhältnisbestimmung von Ekklesia und Synagoge (De vid. 3,18-19). Die Umkehrung der Gottesprobe sei nachgerade ein vorausdeu-tender Fingerzeig für das Wachstum der Kirche. Sei nämlich der Tau des göttlichen Wortes zunächst auf Judäa herabgekommen, so mit der Kirche in die gesamte Welt. Die Beispiele einer „Einfluß-Relation“ zwischen dem Eröffnungska-pitel der Gideon-Erzählungen und einzelnen Vertretern der patristi-schen Literatur ließen sich noch vermehren. Die Frage nach dem „Wie“ der Erinnerung der literarischen Vergangenheit Ri 6 wie der Gideon-Erzählungen insgesamt soll jedoch den spezifischen Untersu-chungen zur Väterexegese vorbehalten bleiben. Statt dessen möchte ich in diesem Beitrag der Frage nach der Erinnerung welcher literari-schen Vergangenheit nachgehen. Dazu wähle ich eine synchron-

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leserorientierte Beschreibungsebene, deren Beobachtungen zur Erhe-bung einer möglichen Kompositionsstruktur von Ri 6 dienen sollen.8 1. Beobachtungen zur Segmentierung von Ri 6 Was wird erzählt? Diese Frage bildet bekanntlich den Auftakt der Er-zähltextanalyse; und – wie bei jeder Vergewisserung über den Inhalt eines Textes – bedeutet das zugleich auch, systematische Strukturie-rungskriterien aus dem Text herauszulesen, um so seinen Erzählinhalt zu skandieren. Erzählt wird in Ri 6 die Berufung Gideons, des Sohnes des Joasch, im Garten seines Vaterhauses9 zum Retter Israels aus der Fremdherr-

8 In der Forschung haben, wenn ich recht sehe, bislang ausschließlich die in Ri

6 herrschenden Spannungen und Doppelungen Beachtung gefunden (vgl. da-zu Beyerlin, Walter, Geschichte und heilsgeschichtliche Traditionsbildung im Alten Testament. Ein Beitrag zur Traditionsgeschichte von Ri VI–VIII, in: VT 13 [1963] 1-25; Richter, Wolfgang, Traditionsgeschichtliche Untersu-chungen zum Richterbuch, Bonn, 2. Aufl. 1966 (BBB 18), 112-246; Becker, Uwe, Richterzeit und Königtum. Redaktionsgeschichtliche Studien zum Rich-terbuch, Berlin/New York 1990 (BZAW 192), 140-184; aber auch zuvor schon Whitley, C.F., The sources of the Gideon Stories, in: VT 7 [1957] 157-164; einen instruktiven Überblick über die Diskussion der Entstehungsge-schichte der Gideon-Erzählungen bietet Fritz, Volkmar, Die Entstehung Isra-els im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1996 (BE 2), 41-43; speziell zur Entstehung der Berufungsszene Ri 6,11-24 vgl. Weimar, Peter, Die Beru-fung des Mose. Literaturwissenschaftliche Analyse von Ex 2,23 – 5,5, Frei-burg/Göttingen 1980, (OBO 32), 171-178), während die Ri 6 durchziehenden Kompositionslinien, die das Verhältnis der verschiedenen Spannungseinhei-ten zueinander in einem anderen Licht erscheinen lassen, weitgehend unbe-rücksichtigt geblieben sind. – Meine hier vorgelegten Beobachtungen durften von kritischen Diskussionen in einem Seminar zu Ri 6–8 im Wintersemester 1997/98 profitieren.

9 Den zwischen Kelter und Terebinthe sich erstreckenden Ort als „Garten“ zu bezeichnen kann mit Recht kritisch hinterfragt werden und setzt eine gewisse interpretatorische Freiheit voraus, die mich auch in der Wahl der Artikelüber-schrift geleitet hat. Bestärkt hat mich bei dieser Entscheidung die Überlegung von Knauf, Ernst Axel, Eglon and Ofrah: Two toponymic notes on the Book of Judges, JSOT 51 (1991) 25-44 (36ff!), der die Lokation des Ortes Jinsâfûæ („garden of judgment“; „garden of the judge“; „garden of the chief“), dessen

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schaft der Midianiter. Dieser Berufung ist eine Skizze der historisch-politischen Situation vorangestellt, in der die Erzählungen um Gideon angesiedelt sind. Gideon bringt, gleichsam als Reaktion auf seine Be-rufung, ein Opfer dar und baut für JHWH einen Altar. Als sei er durch diese Reaktion Gideons dazu angeregt, beauftragt JHWH Gide-on, das Heiligtum Baals und seiner Konsortin Astarte niederzureißen. Gideon, der diesen Auftrag unmittelbar erfüllt, wird von den Einwoh-nern seiner Stadt bei Joasch, seinem Vater, der Gotteslästerung be-schuldigt: Auf solch ein Verhalten steht der Tod! Mit der geschickten theologischen Ausflucht, daß Baal schon selber das Vergehen an sei-nem Altar zu bestrafen vermag, gelingt es Joasch, seinen Sohn der Lynchjustiz der Bürger Ofras zu entziehen. Als die Midianiter wie-derum gegen Israel zu Felde ziehen, bündelt Gideon die strategischen Kräfte zum Gegenschlag. Am Vorabend der Schlacht versichert er sich in einer inszenierten Zeichenhandlung10 des Beistands JHWHs und somit des siegreichen Ausgangs der Schlacht. Schon bei einer ersten Orientierung über diesen Inhalt des Eröff-nungskapitels der Gideon-Erzählungen lassen sich sich zwei Erzähl-schwerpunkte gegeneinander abheben: ein erster (Ri 6,1-24), der im weitesten Sinne als „Berufung Gideons“ bezeichnet werden kann11, und ein zweiter (Ri 6,25-40), der das Bild des „Gottesstreiters Gide-on“ entwirft.12 Für den auf diese Weise zu vermutenden zentralen Erzähleinschnitt zwischen Ri 6,24 und Ri 6,25 sprechen eine Reihe weiterer Erwägungen:

Name vor 500 v. Chr. aufgekommen sein muß (38), mit dem Ofra der Abies-riter identifiziert.

10 Die Bezeichnung „Zeichenhandlung“ ist bekanntlich einem bestimmten, zumeist prophetischen Handlungsmuster vorbehalten, das auf die Initiative Gottes zurückgeht. Daß dieses Muster im Blick auf Gideon umgekehrt wird, ist für die Interpretation der Gideon-Gestalt fraglos zu berücksichtigen. Vgl. zum Phänomen generell Fohrer, Georg, Die symbolischen Handlungen der Propheten, Zürich, 2. Aufl. 1968 (AThANT 54).

11 So auch Görg, Manfred, Richter, Würzburg 1993, (NEB 31), 36-38. 12 Görg, Richter, 39-41, geht demgegenüber von einer Dreiteilung der Gideon-

Erzählungen (Ri 6,1-24 I 25-32 I 33-40) aus, wobei neben der Berufung Gi-deons (Ri 6,1-24) die Zerstörung des Baal-Astarte-Altars (Ri 6,25-32) sowie das Vlieswunder (Ri 6,33-40) tragende Primärsegmente bilden.

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(1) Mit Ri 6,24 geht fraglos eine Erzählbewegung zu Ende. Dies nicht nur, weil mit der Notiz vom Bau und der Benennung des in Ri 6,24 angesproche-nen Altars ein Schlußpunkt gesetzt wird, wie er in vielen alttestamentlichen Erzählungen begegnet13, sondern auch, insofern mit dem Erzählerkommentar

jrz<h jb> trp<b wndw< hzh Mwjh d< (Ri 6,24b) aus der erzählten Welt in die Welt des Erzählers zurückgeführt und so eine unleugbare Distanz zwi-schen dem geschaffen wird, was bisher erzählt wurde und dem, was im fol-genden erzählt wird.14 – (2) Wie mit Ri 6,24 eine Erzählbewegung endet, so beginnt mit Ri 6,25 ein freilich auf das bisherige Erzählgeschehen referieren-

der, aber doch neuer Erzählbogen. Dafür spricht nicht nur der mit jhjw + Zeitbestimmung (Ri 6,25aa) markierte Erzähleinsatz, sondern auch die (vermutlich entstehungsgeschichtlich begründbare) inhaltliche Differenz zwischen Altarbau (Ri 6,24) und JHWH-Beauftragung zur Zerstörung des Baal-Astarte-Altars und Errichtung eines Altars für JHWH aus den Trümmern desselben (Ri 6,25-26). – (3) Der Eindruck, daß zwei Segmentkomplexe an der Textgrenze zwischen Ri 6,24 und Ri 6,25 aneinanderstoßen, wird darüber hinaus noch durch deren kompositorische Geschlossenheit unterstützt. Der

schon erwähnte Erzählerkommentar jrz<h jb> trp<b wndw< hzh Mwjh d< (Ri 6,24b) greift mit der Nennung Ofras auf die Einführung des Hauptpro-tagonisten in Ri 6,11 zurück und erlaubt es somit, einen Bogen zum Erschei-nen des JHWH-Boten unter der Terebinthe in Ofra zu schlagen, das den An-fang jenes Erzählgeschehens bildet, das nur unzureichend als „Berufung“ Gideons qualifiziert werden kann und mit dem Altarbau Gideons in Ri 6,24 als Reaktion auf diese Begegnung mit dem JHWH-Boten abgeschlossen wird.

Demgegenüber bietet die Zeitangabe >whh hljlb (Ri 6,25a) am Anfang des zweiten Segmentkomplexes die Möglichkeit, einen Bogen zum Ende des Eröffnungskapitels Ri 6 zu schlagen, handelt doch JHWH auch im sogenann-

ten „Vlieswunder“ zu einem Zeitpunkt, den der Erzähler mit >whh hljlb (Ri 6,40a) ansetzt. Aufgrund dieser über Orts- bzw. Zeitangaben sichtbar zu ma-chenden Verbindungslinien kann zwar kaum die kompositorische Geschlos-senheit der beiden Segmentkomplexe behauptet werden, beide zeigen jedoch an, daß von der zwischen Ri 6,24 und Ri 6,25 einzutragenden Segmentierung offensichtlich Kompositionssignale in den zurück- bzw. voraufliegenden Textraum gesendet werden, die zumindest auf eine kompositorische Ge-schlossenheit der jeweiligen Komplexe hindeuten. – (4) Die Annahme dieser Segmentierung erfährt über die hier ausgebreiteten literarisch-stilistischen

13 Vgl. nur Gen 12,8; 28,18f. 14 Eine solche Erzählgrenze zwischen Ri 6,24 und Ri 6,25 nimmt auch Rich-

ter, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen, 114-116, an.

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Erwägungen hinaus noch Zustimmung durch die Tatsache, daß MT vor Ri 6,25 ein Petucha verzeichnet. Dieses Spatium deutet fraglos darauf hin, daß die für die teilweise schon früh vorgenommene Paraschen-Einteilung Verant-wortlichen hier ebenfalls einen Erzählabsatz verspürten. Bei Annahme eines zentralen Erzähl- und Texteinschnitts nach Ri 6,24 stehen sich zwei Textkomplexe (Ri 6,1-24 I 25-40) gegenüber, die weitere Segmentierungen ermöglichen. Zunächst kann im Hin-blick auf Ri 6,1-24 eine inhaltlich begründete Zweiteilung vorge-nommen werden. Erzählt Ri 6,1-16 die Vorgeschichte und Beauftra-gung Gideons, so schließt Ri 6,17-24 die Erzählung von der Opfer-darbringung Gideons an. Auch der Textkomplex Ri 16,25-40 läßt eine solche inhaltlich begründbare Zweiteilung zu. Während nämlich Ri 6,25-32 die Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums und die sich für Gideon daraus ergebenden Konsequenzen thematisiert, bietet sich Ri 6,33-40 als Szene am Vorabend des Krieges dar, in der Gideon nach der Mobilmachung der Feinde eine Zeichenhandlung als Kriegsorakel über den Ausgang des Kampfes inszeniert. Für diese aus inhaltlichen Motiven vorgenommenen Segmentierungen sprechen jedoch noch weitere Argumente: (1) Die innerhalb von Ri 6,1-24 begegnenden Segmentkomplexe Ri 6,1-16 und Ri 6,17-24 treffen an einer vergleichsweise unauffälligen Stelle aufeinan-der. Für den inmitten eines Dialogs zu markierenden Erzähleinschnitt spre-chen, über den thematischen Wechsel hinaus, folgende Gründe: (a) In Ri 6,16 gibt JHWH Gideon eine bedingungslose Zukunftszusage, die als Schlußpunkt dieses Gesprächsverlaufs wie des Erzählbogens der Berufung Gideons insge-

samt angesehen werden kann. Die Zusage dx> Cj>k Njdm t> tjkhw (Ri 6,16b) ist nicht nur der Zielpunkt des Gespräches JHWHs mit Gideon, sie baut zugleich eine Leseerwartung auf, deren Einlösung in den folgenden Ka-piteln noch ansteht.15 – (b) Die Rolle von Ri 6,16 als Schlußpunkt des Ge-

15 Demgegenüber geht Kutsch, Ernst, Gideons Berufung und Altarbau (Jdc

6,11-24), in: Ders., Kleine Schriften zum Alten Testament, herausgegeben von Ludwig Schmidt und Karl Eberlein, Berlin / New York 1986, (BZAW 168), 99-109 (100!); (= ThLZ 81 [1956] 75-84) von der Einheit Ri 6,11-24 als in sich geschlossener Berufungsgeschichte Gideons aus. Zu Ri 6,11b-17 als Beispiel einer vorprophetischen Berufungserzählung vgl. auch Richter, Wolfgang, Die sogenannten vorprophetischen Berufungsberichte. Eine litera-

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sprächsverlaufs und des Erzählbogens der Berufung Gideons wird darüber

hinaus daran erkennbar, daß die Zusage des Mitseins JHWHs aus Ri 6,16ab

(Km< hjh>) unmittelbar zurückgreift auf den Gruß des JHWH-Boten aus Ri

6,12bb (Km< hwhj) und die nachgerade mit der Vehemenz einer Theodi-

zeefrage vorgebrachte Reaktion Gideons darauf in Ri 6,13ab (wnm< hwhj cjw). Die Beistandszusage JHWHs an Gideon in Ri 6,16 ist insofern die Erneuerung und Verstärkung des Grußes, mit dem der JHWH-Bote Gideon im Garten entgegentritt.16 Nicht zuletzt erklärt sich so auch der Sprecher-wechsel vom JHWH-Boten (Ri 6,12) zu JHWH selber (Ri 6,14) hin. Die von Gideon in Ri 6,13 vorgetragene Infragestellung des Mitseins JHWHs fordert JHWHs eigenes Eingreifen. Daß Ri 6,16 als Schlußpunkt des gesamten Er-zählbogens anzusehen ist, läßt sich aufgrund dessen behaupten, daß das

Stichwort Njdm im gesamten Segmentkomplex Ri 6,1-16 häufiger und in Ri 6,16 zum letzten Mal nachzuweisen ist. Dieser Abbruch der Stichwortkette

Njdm kann zugleich als Hinweis auf die thematische Geschlossenheit von Ri 6,1-16 bzw. auf die Aufnahme eines neuen Erzählfadens in Ri 6,17 verstan-den werden. – (c) Ein weiteres, thematisch bestimmtes Argument für die Möglichkeit, die Segmentkomplexe Ri 6,1-16 und Ri 6,17-24 gegeneinander abzuheben, dürfte in der thematischen Divergenz zu suchen sein, die das Verhältnis beider ausmacht. Redet im ersten Segmentkomplex JHWH selber

turwissenschaftliche Studie zu 1 Sam 9,1 - 10,16, Ex 3f. und Ri 6,11b-17, FRLANT 101, Göttingen 1970, 134-135.

16 Ganz anders beurteilt diesen Sachverhalt allerdings Kutsch, Berufung, 103f, der in Ri 6,11-24 den Prototyp des von ihm herausgearbeiteten formge-schichtlichen Schemas einer vorprophetischen Berufungsgeschichte ausma-chen will, wie es sich ebenfalls in Ex 3,10-12; Jer 1,5-10 und 1 Sam 10,1-7 verwirklicht. Zur Fortführung dieses Gedankens vgl. auch: Schmitt, Hans-Christoph, Das sogenannte vorprophetische Berufungsschema. Zur „geistigen Heimat“ des Berufungsformulars von Ex 3,9-12; Jdc 6,11-24 und I Sam 9,1 - 10,16, in: ZAW 104 (1992) 202-217. Demgemäß muß auf die Mitteilung des Auftrags durch JHWH der Einwand des Berufenen folgen, worauf sich wie-derum die Abweisung des Einwands anschließt, die ein Zeichen als Bestäti-gung nach sich zieht. Allerdings funktioniert dieses Berufungsschema im Hinblick auf Ri 6,11-24 nur, wenn man von der Problematik abstrahiert, daß – wie Kutsch selber einschränkend zugibt (103) – das Zeichen in diesem Fall erbeten und nicht „automatisch“ von JHWH hinzugegeben wird. Gerade die Dynamik, mit der Gideon aber dieses Zeichen einfordert, läßt es m.E. zu, das von Kutsch erkannte Schema als ein im Hintergrund wirksam werdendes, der Kompositionsstruktur in gewissem Sinne entgegenlaufendes Strukturmuster anzusehen.

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mit Gideon und sagt ihm seinen Beistand zu (Ri 6,16), so fordert Gideon im zweiten Segmentkomplex ein Zeichen, daß JHWH mit ihm gesprochen hat

(Ri 6,17-18).17 Zwar weist das Personalpronomen der 2.Pers.Sg. (jm< rbdm ht>c tw> jl tjc<w [Ri 6,17b]) auf JHWH als den am Ende des Segmen-tes Ri 16,1-16 Redenden zurück und stiftet so unweigerlich eine Verbindung beider Segmente, die ausdrückliche Bitte Gideons um eine Bestätigung der soeben an ihn ergangenen JHWH-Rede schafft aber zugleich einen unleugba-ren Abstand zu eben diesem Erzählgeschehen. (2) Als weitaus auffälliger kann die Textgrenze bezeichnet werden, an der die beiden Segmentkomplexe Ri 6,25-32 und Ri 6,33-40 innerhalb des umgrei-fenden Textgebildes Ri 6,25-40 aufeinandertreffen. Folgende Gründe spre-chen (außer dem auch hier im MT zu konstatierenden Spatium Petucha) für einen Erzähleinschnitt zwischen Ri 6,32 und Ri 6,33: (a) Neben der themati-schen Divergenz der beiden Teile Ri 6,25-32 und Ri 6,33-40 (Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums I Konflikt mit Midian und den Amalekitern) fällt vor allem die Funktion von Ri 6,32 ins Auge, den Erzählbogen abzuschließen, der bei der Beauftragung JHWHs in Ri 6,25, das Baal-Astarte-Heiligtum einzu-reißen, ansetzt.18 Eine Namengebungsnotiz signalisiert – wie schon der Text-einschnitt zwischen Ri 6,24 und Ri 6,25 gezeigt hat – ohnehin in den meisten Fällen eine Textgrenze, hier jedoch wird diese Funktion noch dadurch unter-strichen, daß der gesamte Komplex der Heiligtumszerstörung und ihrer Kon-sequenzen für Gideon in dieser Namengebung zusammenläuft. – (b) Ein wei-teres Argument für die Abgrenzung des Segmentkomplexes Ri 6,25-32 gegen Ri 6,33-40 wird durch den Auftakt des Segments Ri 6,33-40 bereitgestellt.19

17 Es ist durchaus spannend zu fragen, ab wann und ob Gideon weiß, daß es

JHWH ist, mit dem er sich hier im Gespräch befindet. Für die Leserin und den Leser ist die Frage durch die Redeeinleitung in Ri 6,14a eindeutig ent-schieden; Gideon scheint sich seines Gesprächspartners erst in Ri 6,22 sicher

zu sein, da er ihn hier (anders als in Ri 6,13!) erstmals mit hwhj jnd> (Ri 6,22a) anredet (vgl. dazu auch Kutsch, Gideons Berufung, 103). Die nächste Frage wächst aber sofort nach: Wie läßt sich dann erklären, daß Gideon zwar

das Sehen des JHWH-Boten Mjnp l> Mjnp (Ri 6,22b) fürchtet, mit JHWH selber aber von Skrupeln gänzlich unbelastet im Gespräch ist? Drückt sich darin möglicherweise die Unmittelbarkeit, ja Frechheit aus, die den Gottes-streiter Gideon JHWH gegenüber auszeichnet? Standaert, Adonai Shalom, 197, deutet übrigens den plötzlichen Wechsel als narrative Auslegung der Of-fenbarung des Gottesnamens (Ex 3,14).

18 Vgl. Becker, Richterzeit, 151-160. 19 Als eigenständiges Segment wird Ri 6,33-40 auch angesehen von Becker,

Richterzeit, 160-162.

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Mit dem Themenwechsel (Mdq jnbw qlm<w Njdm lkw [Ri 6,33a]) geht zugleich ein Subjektwechsel einher, der den erzählerischen Neueinsatz an dieser Stelle unübersehbar macht.20 Mit dem Themen- und Subjektwechsel verbindet sich zugleich ein Wechsel des Schauplatzes, der das Erzählgesche-hen von Ofra zunächst in die Jesreel-Ebene hinein verlagert, wenngleich die

in Ri 6,37 angesprochene Nrg wohl eher im Kontext des Vaterhauses Gide-ons in Ofra zu lokalisieren sein wird (was freilich indirekt auf die Begegnung Gideons mit dem JHWH-Boten im Garten zurückweisen würde!). – (c) Dar-über hinaus erscheint die Setzung einer Segmentgrenze nach Ri 6,32 noch

dadurch plausibel, daß die Zeitangabe >whh Mwjb (Ri 6,32a) in einem zwei-

fachen Sinne verstanden werden kann: Entweder ist mit >whh Mwjb punktu-

ell jener Tag bezeichnet, den die Erzählfiktion seit Ri 6,28a (rqbb) respekti-ve – das jüdische (und von daher auch christliche) Verständnis vom Beginn

eines Tages am Vorabend voraussetzend – seit Ri 6,25aa (>whh hljlb) vor

Augen hat, oder >whh Mwjb zielt eher generell auf die Zeit, in welcher die Erzählung angesiedelt wird, die Zeit der erzählten Welt, die zu der Zeit der

Welt des Erzählers (hzh Mwjh [Ri 6,24ab]) bewußt in Differenz tritt. In

beiden Fällen signalisiert >whh Mwjb das Ende einer Erzählführung: im ers-ten Fall dadurch, daß die in Ri 6,25 bzw. Ri 6,28 begonnene erzählte Zeit abgeschlossen wird, im zweiten Fall dadurch, daß in Parallelität zu Ri 6,24 eine Distanz zum vorangegangenen Erzählstoff geschaffen werden soll, aus der heraus der Erzähler seine Leser das bis hierher Erzählte zu betrachten auffordert. Mit den vorangehend ausgebreiteten Beobachtungen habe ich mich zu zeigen bemüht, daß das Eröffnungskapitel der Gideon-Erzählungen aus zwei Primärsegmenten (Ri 6,1-24 I 25-40) besteht, die beide wie-derum in zwei Sekundärsegmente zu differenzieren sind (Ri 6,1-16 I 17-24 II 25-32 I 33-40). Damit nicht genug, lassen sich auch in diesen Segmenten weitere Textgrenzen markieren, die eine Segmentierung auf tertiärer Ebene ermöglichen: (1) Für Ri 6,1-16 legt sich schon nach einer ersten Lektüre eine Aufteilung in drei Tertiärsegmente (Ri 6,1-6 I 7-10 I 11-16) nahe. – (a) Der Erzähleinschnitt zwischen Ri 6,6 und Ri 6,7 wird (neben dem auch hier vor Ri 6,7 zu konsta-

tierenden Petucha) zunächst durch das erzähleinleitende jhjw angezeigt.

20 So auch Standaert, Adonai Shalom, 199 („In v. 33 the real battle starts“).

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Dieses Signalwort stiftet vor allem dadurch eine Textgrenze, daß es mit einem Erzählinhalt verbunden wird, der den Abschluß des vorangehenden Segments

aufgreift.21 Wird mit hwhj l> l>rcj jnb wq<zjw Njdm jnpm d>m l>rcj ldjw (Ri 6,6) nämlich Ri 6,1-6 abgeschlossen, so nimmt das anschließende

Segment mit Njdm twd> l< hwhj l> l>rcj jnb wq<z jk jhjw (Ri 6,7) diese Vorgabe auf.22 Indem Ri 6,7 das im folgenden Erzählte in die Zeit hin-einstellt, von der Ri 6,1-6 spricht, schafft dieser Vers zugleich Distanz zu dem vorangehenden Segment und unterstützt somit den Eindruck eines Erzählein-schnitts nach Ri 6,6.23 – (b) Textsegmente lassen sich jedoch nicht nur auf-grund der Distanz zum nachfolgenden bzw. vorangehenden Segment rechtfer-tigen, sie legen sich ebenso durch die kompositorische Geschlossenheit eines Segments nahe. Im Blick auf Ri 6,1-6 zeigt sich eine solche kompositorische Geschlossenheit besonders an den Stichwortentsprechungen, die zwischen Ri

6,1 und Ri 6,6 zu konstatieren sind. In beiden Versen begegnen die l>rcj jnb ebenso wie Njdm und hwhj, wobei diese Stichworte in Ri 6,6 nicht wahl-los wieder zum Einsatz kommen, sondern zu Ri 6,1 in ein Divergenzverhält-

nis treten (d>m l>rcj ldjw [Ri 6,6a] I l>rcj jnb wq<zjw [Ri 6,6b]), wie es für deuteronomistisches Sprechen im allgemeinen und das Richterbuch im besonderen kennzeichnend ist. Dem Fehlverhalten der Israelsöhne in Ri 6,1 steht deren Hilfloswerden in Ri 6,6 ebenso gegenüber wie ihre Preisgabe in die Hand der Midianiter durch JHWH in Ri 6,1 zu ihrem Hilfeschrei zu eben diesem JHWH in Ri 6,6. Beide Verse legen sich also wie ein Rahmen um Ri 6,1-6 herum und umschließen so die Skizze der eindrücklichen historisch-po-litischen Situation, die dieses Segment entfaltet. − (c) Der Erzähl- und Text-einschnitt zwischen Ri 6,10 und Ri 6,1124 wird in erster Linie durch die Ein-

21 „The first six verses create the framework of the story“, stellt Benoît Stan-

daert, Adonai Shalom (Judges 6–9): The persuasive means of a narrative and the strategies of inculturation of Yahwism in a new context, in: JSNT Sup 131 (1996) 195-202 (196!), heraus. Für Boling, Robert G., Judges, , New York 1975, (AncB 6A), 122f hebt sich davon Ri 6,1-2 noch als eigenständige Rahmengestaltung heraus.

22 So auch Becker, Richterzeit, 144. 23 Für Ri 6,1-6 als eigenständigen Segmentkomplex votieren auch Görg, Rich-

ter, 36; Becker, Richterzeit, 141, und Standaert, Adonai Shalom, 196. 24 Zur Einführung und zum plötzlichen Verschwinden eines namenlosen Pro-

pheten als Begründung der Geschlossenheit des Segments Ri 6,7-10 vgl. auch Standaert, Adonai Shalom, 196. Allerdings versucht Standaert, unter Rück-griff auf Ri 2,1 diese namenlose Prophetengestalt mit dem JHWH-Boten aus Ri 6,11 zu identifizieren, da die Inhalte beider Botschaften (Ri 2,1-3 I Ri 6,7-

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führung des JHWH-Boten als neuen Aktanten bestimmt (hwhj K>lm >bjw [Ri 6,11aa]).25 Zudem verbindet sich mit dieser Aktanteneinführung zugleich

eine Ortsveränderung. Ri 6,11aa siedelt das nachfolgende Erzählgeschehen

hl>h txt an. Diese hl> wird aufgrund des angefügten Relativsatzes rc>

hrp<b in Ofra zu suchen sein wird. Überhaupt wird erst durch Ri 6,11 so-wohl die Personenkonstellation als auch die Verortung der gesamten Beru-fungsszene geleistet26, wobei auf synchroner Ebene der Eindruck erweckt

wird, als bezögen sich die beiden Ortsangaben hl> und tg auf ein und das-selbe Terrain, so daß es nicht abwegig erscheint, anzunehmen, daß das Ge-spräch zwischen dem JHWH-Boten bzw. JHWH selber und Gideon im Gar-ten des Anwesens seines Vaters Joasch stattfindet.27 (2) Bei einer weitergehenden Segmentierung des zweiten Segmentkomplexes

Ri 6,17-24 auf tertiärer Ebene lassen sich zwei Segmente (Ri 6,17-21ba I

21bb-24) gegeneinander abheben, wenn allein schon inhaltliche Argumente

Berücksichtigung finden. – (a) Mit der in Ri 6,21ba begegnenden Notiz

twymh t>w rcbh t> lk>tw rwyh Nm c>h l<tw wird das Opfer, das ja

den thematischen Schwerpunkt des Segments Ri 6,17-21ba bildet, vollzo-

10) Ähnlichkeiten aufweisen, die es erlauben, beide Texte in ein kompositori-sches Gespräch zueinander zu setzen. Hier könnte eine Untersuchung zur Ge-samtkomposition des Richterbuches weitere Aufschlüsse bringen.

25 Der JHWH-Bote deutet nach Görg, Richter, 37, „eine Geschichtswendung an“ (so auch Standaert, Adonai Shalom,197). Insofern segmentiert Görg ebenfalls nach Ri 6,10, faßt demgegenüber allerdings Ri 6,11-24 als offen-sichtlich eigenständige Größe auf.

26 Garsiel, Moshe, Homiletic Name-Derivations as a literary device in the Gide-on-Narrative: Judges VI-VIII, in: VT 43 (1993) 302-317 (304!) hat darauf hingewiesen, daß sich die Stammesbezeichnung „Abieser“, die zu Beginn und Ende der Berufung Gideons (Ri 6,11 I 24) begegnet, mit dem zentralen Thema der Hilfe und Rettung für Israel in Gideon verbinden läßt.

27 Standaert, Adonai Shalom, 197, deutet die Notiz tgb Mjvx vbx wnb Nw<dgw (Ri 6,11ba) indirekt als Hinweis darauf, daß die Berufung im Kon-text der Ländereien, also gleichsam im Garten der Residenz des Joasch statt-findet. Im Gegensatz dazu vermutet Görg, Richter, 37, in der Terebinthe den Haftpunkt einer Tradition, die mit der Debora-Palme aus Ri 4,5 verglichen werden kann, damit wohl eher als lokaler Bezugspunkt der Volksgruppe der Abiesriter anzusehen ist. (Vgl. dazu auch Knauf, Ernst Axel, Eglon and Ofrah 25-44 [36ff!]).

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gen.28 Auf diese Weise kommt fraglos der in Ri 6,17 begonnene Erzählfaden

an ein Ende. – (b) Wie in Ri 6,21ba ein Schlußpunkt gesetzt wird, so setzt

der Weggang des JHWH-Boten in Ri 6,21bb (wjnj<m Klh hwhj K>lmw) eine neue Erzählbewegung in Gang, in der es gleichsam um das „Danach“, die Verarbeitung der Begegnung Gideons mit dem JHWH-Boten geht. Die Gedanken, die Gideon in Ri 6,22 beschäftigen, sind einzig und allein durch den Weggang des JHWH-Boten motiviert und verständlich. (3) Auch das Segment Ri 6,25-32 läßt sich auf tertiärer Ebene in zwei Sub-segmente (Ri 6,25-27 I 28-32) aufgliedern. – (a) Für die Annahme einer Text-grenze nach Ri 6,27 spricht zunächst eine kompositorische Auffälligkeit: Das Tertiärsegment Ri 6,25-27 wird nämlich umschlossen von der Stichwortent-

sprechung jhjw (Ri 6,25aa I 27b), zu der in beiden Fällen im näheren bzw.

weiteren Kontext eine vergleichbare Zeitangabe hinzutritt (>whh hljlb [Ri

6,25aa] I hljl [Ri 6,27b]). Diese das Segment Ri 6,25-27 umgreifende Klammer wird noch deutlicher sichtbar, wenn die Beobachtung hinzugenom-

men wird, daß die Eröffnungsnotiz hwhj wl rm>jw (Ri 6,25aa) in dem Satz

hwhj wjl> rbd rc>k c<jw (Ri 6,27ab) unmittelbar ein die Erfüllung der Weisung JHWHs betonendes Echo findet. – (b) Deutet diese kompositorische Auffälligkeit schon auf die Geschlossenheit des Segments Ri 6,25-27 hin, so erscheint dies auch deshalb plausibel, weil der inhaltliche Zusammenhang von Zerstörungsbeauftragung (Ri 6,25-26) und deren Ausführung (Ri 6,27) the-matische Geschlossenheit anzeigt.29 – (c) Daß Ri 6,25-27 ein inhaltlich wie kompositorisch in sich geschlossenes Segment darstellt, dürfte auch aufgrund

des erzählerischen Neueinsatzes in Ri 6,28 einleuchtend sein. Mit rj<h jcn> (Ri 6,28aa) wird nicht nur ein neues Subjekt eingeführt, vielmehr

deutet sowohl die dem Lexem Mkc eigene Dynamik als auch die Zeitangabe

rqbb auf den Einschnitt hin, der zwischen Ri 6,27 und Ri 6,28 einzutragen ist. – (d) Das verbleibende zweite Subsegment Ri 6,28-32 weist einen weite-ren Texteinschnitt nach Ri 6,29 auf, wofür zunächst die neuerliche explizite

Anführung des Subjekts rj<h jcn> (Ri 6,30aa), sodann aber auch der thematische Wechsel sprechen. Während nämlich die Männer der Stadt in Ri 28 In der Forschung ist immer wieder diskutiert worden, wie das Stichwort hxnm

(Ri 6,18) zu deuten ist (vgl. Richter, Traditionsgeschichtliche Untersuchun-gen, 124; Kutsch, Berufung, 106). Alles hängt daran, ob Gideon JHWH schon in Ri 6,14 erkennt und sich damit zur Darbringung eines Opfers veran-laßt sieht oder dem Boten ein Geschenk oder eine Stärkung anbieten möchte (vgl. Gen 18,2-5; Gen 19,2).

29 Vgl. auch Standaert, Adonai Shalom, 198.

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6,28-29 noch nach dem Attentäter suchen, können sie ihn in Ri 6,30-32 be-reits zur Verantwortung ziehen. Dieser Wechsel zwischen Fahndung und Anklage wird aus dialoganalytischer Perspektive auch dadurch angezeigt, daß das Informationsgespräch nach der eindeutigen Benennung des Täters keine weitere Intervention mehr zuläßt. Ein weiterer Gesprächszug, der sich über-dies an Joasch richtet (Ri 6,30), muß auf der Ebene des bis hierher erreichten Erzählstandes neu ansetzen. Für die Abgeschlossenheit des vorangehenden Gesprächszugs spricht aber nicht nur der Neueinsatz in Ri 6,30, sondern zu-dem die dialoganalytisch entscheidende Auffälligkeit, daß die Antwort in Ri

6,29b (hzh rbdh hc<) die Frage (hzh rbdh hc< jm [Ri 6,29a]) aufnimmt, womit fraglos ein Gesprächszug und sein Gegenzug als kleinste Einheit eines Dialogs an ihr Ende kommen. – (e) Kann diese Aufnahme der Frage in der Antwort in Ri 6,29 als Signal für eine Erzähl- und Textgrenze ausgewertet werden, so gilt dies in vergleichbarer Weise auch für den Abschluß des Seg-

ments Ri 6,30-32. Die Motive des Streitens (brj) sowie des Einreißens des

Baal-Astarte-Heiligtums (wxbzm t> Ytn jk) begegnen sowohl in der Inter-

vention des Joasch (Ri 6,31bb) als auch in der kommentierenden Einschal-

tung des Erzählers (Ri 6,32bb). Es spricht m.E. vieles dafür, die am Schluß beider Segmente (Ri 6,25-27 I 28-32) anzutreffende Wiederholung ganzer Wortkomplexe als bewußt parallel angelegte Endgestaltungen anzusehen, die im Verhältnis von Anklage Gideons und Verehrung seiner Taten zueinander in Differenz zu stellen sind. (4) Auch die verschiedenen Erzähletappen des letzten Segmentkomplexes Ri 6,33-40 innerhalb von Ri 6 verleiten dazu, zwei inhaltlich bestimmte Segmen-tierungen tertiärer Art vorzunehmen; eine erste nach Ri 6,35 (Angriffsbelage-rung der Feinde und Mobilisierung der Truppen Gideons), sowie eine zweite nach Ri 6,38 (erste Gottesprobe); mit der dritten Erzähl- und Textgrenze nach Ri 6,40 (zweite Gottesprobe) ist zugleich das Kapitelende gegeben. Freilich mag man bei solch einer Ausgangsbeschreibung sehr schnell dazu neigen, Ri 6,33-35 (Angriffsbelagerung und Mobilmachung) gegenüber Ri 6,36-40 (Got-tesproben) abzuheben. Zu einer anderen Lösung kommen jedoch folgende

Überlegungen: (a) Problematisch gestaltet sich v.a. das Nk jhjw aus Ri

6,38aa. Ist diese Floskel als bestätigender Abschluß der ersten Gottes-probe zu lesen oder als Eröffnung des Erzählgeschehens, das in Ri 6,38 als Wahrheitsbeweis des Eintretens der ersten Gottesprobe entworfen wird? Stiehlt man sich angesichts solcher Alternativen auch gern aus

der Entscheidung, indem Nk jhjw eine „Scharnierfunktion“ zugesprochen wird, so möchte ich hier doch dafür plädieren, der syntaktisch auffälligen

Einleitungsnotiz Nk jhjw aus Ri 6,38aa die Funktion eines Trenners zweier

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Textteile anzusehen. – (b) Wenn ein zentraler Erzähl- und Texteinschnitt zwischen Ri 6,37 und Ri 6,38 angenommen werden kann, dann ist jedoch auch das Eintreten der Gottesprobe in Ri 6,38 von der Gottesprobe in Ri 6,36-37 selber abgetrennt. Ist das aber angesichts der zu erwartenden zweima-ligen Abfolge von Gottesprobe und Eintreten derselben, von Rede und Durch-führung nicht ein kontraproduktiver Segmentierungsvorschlag? Dieser Be-fürchtung kann entgegnet werden, daß das Eintreten der zweiten Gottesprobe in Ri 6,40 weitaus lakonischer erzählt wird, als das Eintreten der ersten. Au-ßerdem wird beim Eintreten der ersten Gottesprobe Gideon selber aktiv, um dem Zeichen zu seiner vollen Wirkmächtigkeit zu verhelfen (Ri 6,38). Eine solche Beteiligung Gideons bleibt bei der zweiten Gottesprobe aus, so daß nur schwerlich beide Gottesproben und ihr jeweiliges Eintreten als Parallel-strukturen nebeneinandergestellt werden können. Vielmehr ist die Prägnanz, mit der die prüfende Aktivität Gideons in Ri 6,38 vorgeführt wird, unleugba-

rer Hinweis darauf, daß mit dem einleitenden Nk jhjw eine neue Erzählbe-wegung angestoßen wird, zu der sich dieses wie ein Doppelpunkt lesen läßt. – (c) Deutet also alles darauf hin, daß entgegen inhaltlich festzulegender Er-zähletappen offenbar Ri 6,33-37 und Ri 6,38-40 je für sich als Entitäten anzu-sehen sind, so lassen sich weitere Beobachtungen kompositorischer Art an-führen, die diesen Eindruck verstärken. Da ist zunächst die Geschlossenheit, mit der die Rede Gideons (Ri 6,36-37) gebaut ist: Der die Rede eröffnende

Halbsatz trbd rc>k l>rcj t> jdjb <jcwm Kcj M> (Ri 6,36b) wird

zum Ende der Gideon-Rede mit trbd rc>k l>rcj t> jdjb <jcwt jk

(Ri 6,37bb) wieder aufgenommen. Beide legen sich so wie ein Rahmen um den gesamten Redekorpus und schließen die Skizzierung des ersten Zeichens ein, das Gideon fordert. Diese fällt wiederum durch die kompositorische

Anlage der zentralen Nomina auf (hzg I lv I hzg I brx), welche so die Begriffe „Tau“ und „Trockenheit“ als die Grundsignatur des das geforderte Zeichen referierenden Gegensatzpaares einander gegenüberstellen. – (d) Geschlossen-heit kann auch für Ri 6,38-40 behauptet werden, so daß sich an der Schnitt-stelle zwischen Ri 6,37 und Ri 6,38 zwei in sich abgeschlossene Entitäten berühren. Geschlossen wirkt Ri 6,38-40 schon aufgrund des Zeitraums, der

mit den beiden Zeitangaben trxmm [Ri 6,38aa] und >whh hljlb [Ri 6,40a]

abgesteckt wird. Das Wortpaar hzg und lv, das im Mittelpunkt der Rede Gi-deons (Ri 6,36-37) steht, durchzieht außerdem das Schlußsegment des Eröff-nungskapitels der Gideon-Erzählungen (Ri 6,38-40) und stiftet so einen kom-positorischen Zusammenhalt. Dieser wird noch unterstützt durch die dichte Verzahnung, die beim Bau der zweiten Gideon-Rede (Ri 6,39) angezielt wird. Diese kompositorische Dichte wird nicht nur durch die an Ri 6,36-37 erin-

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nernde Anlage der zentralen Nomina (hzg I brx I hzg I lv) herbeigeführt30,

sondern durch die skandierende Funktion der Angaben M<ph K> und

M<ph qr >n in gleicher Weise (Ri 6,39ab I 39ba) erreicht, die der Rede zugleich etwas Forcierendes verleiht. Die vorgängig indizierten vier sekundären Erzählbausteine (Ri 6,1-16 I 17-24 II 25-32 I 33-40) lassen sich demnach auf tertiärer Ebene in jeweils drei bzw. zwei weitere Segmente gliedern (Ri 6,1-6 I 7-10 I

11-16 II 17-21ba I 21bb-24 sowie Ri 6,25-27 I 28-29 I 30-32 II 33-37 I 38-40). Da die Segmentierung eines Textes als analytischer Methodenschritt angesehen werden kann, welcher der synthetischen Erarbeitung seiner Komposition zwingend vorausgehen muß, wird es im folgenden dar-um gehen, auf der Basis der bislang gewonnenen Erkenntnisse die Kompositionslinien nachzuzeichnen, welche die gegeneinander abge-hobenen Segmente miteinander verbinden. 2. Beobachtungen zur Komposition von Ri 6 „Bis zu seiner Beschreibung hat ein Text also ebensowenig Kohärenz wie beliebige Punkte, bevor wir sie mit einem Diagramm verbin-den.“31 – Dieses Zitat des amerikanischen Philosophen Richard Rorty will nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, die Komposi-tionskritik in ihrem Anliegen unterstützen, die Struktur und Komposi-tion eines Textes herauszuarbeiten. Ganz im Gegenteil mißtraut Rorty ausdrücklich solch strukturalistischen Ideen, „vor allem die Textme-chanismen“ zu erforschen, von denen eben auch die Kompositionskri-tik maßgeblich geleitet wird.32 Mit unverholener Ironie legt Rorty dem

30 Eine besondere Strukturauffälligkeit liegt darüber hinaus darin, daß dieser

Nomencluster in der ersten Gideon-Rede (Ri 6,36-37) am Anfang, in der zweiten Gideon-Rede (Ri 6,39) hingegen am Ende steht, so daß sich beide Reden auf diese Weise zu einer kompositorisch geschlossenen Größe verbin-den lassen.

31 Rorty, Richard, Der Fortschritt des Pragmatisten, in: Umberto Eco (Hg.), Zwischen Autor und Text, München 1996, 99-119 (108).

32 Rorty, Fortschritt, 115.

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Text nach einer über ihn ergangenen strukturalistischen Analyse die Äußerung in den Mund: „Zwar verbindet dieses Diagramm die meis-ten meiner Aspekte, aber trotzdem liegt es total neben der Sache.“33 Solche – von der Exegese offensichtlich kaum wahrgenommenen – Einwände von seiten eines liberalen Pragmatismus und Konstrukti-vismus gegen alle strukturalistischen Versuche, das „Funktionieren“ eines Textes verstehen zu wollen, stellen sich natürlich jedem unbe-kümmerten Versuch entgegen, anhand weniger Beobachtungen ein Kompositionsdiagramm zu entwerfen. Darf Exegese denn überhaupt angesichts der Kritik der Konstruktivisten noch so an Texten arbeiten, wie sie es nun schon mehrere Jahrzehnte lang praktiziert? Da Rortys Pragmatismus liberal ist, akzeptiert er alle Lektürezugänge zu einem Text, sofern sich diese nur darüber klar sind, daß sie „einen neuen Kontext (ergeben), worin man den Text ansiedeln kann – ein weiteres Raster, das man ihm überstülpen kann oder ein weiteres Paradigma, an dem man ihn messen kann. (Hervorhebungen T.M.)“34 Rorty for-dert deshalb, die Unterscheidung zwischen dem Gebrauch und der Interpretation eines Textes aufzugeben und statt dessen „zwischen den Nutzungsmöglichkeiten für verschiedene Menschen mit abwei-chenden Motiven zu unterscheiden“, da ohnehin das, „was uns anregt und überzeugt, […] von jeweiligen Absichten und Bedürfnissen ab-hängt.“35 Da diese Überlegungen für alle (theologischen) Disziplinen, in deren Arbeitsmittelpunkt der Umgang mit Texten steht, und inso-fern auch für die Patristik, der es ja um die Analyse und Interpretation von Kirchenvätertexten und deren Rezeption biblischer Textvorgän-ger zu tun ist, alles andere als unerheblich sind, sollten sie zumindest dazu führen, sich über die jeweilige Absicht und das Bedürfnis der Nutzungsmöglichkeit eines Textes im Vorhinein klar zu werden. Meine Absicht und mein Bedürfnis bei dem Versuch, eine Komposi-tionsstruktur und zuvor eine Segmentierung von Ri 6 zu erheben, 33 Rorty, Fortschritt, 107. – Wie schnell Strukturbeobachtungen an einem Text

zu intellektuellem Selbstzweck ausarten können, der keinerlei wirkliche Rele-vanz für das Verständnis des Textes mehr hat, hat außerdem Umberto Eco in seiner glänzenden Parodie Drei Käuzchen auf dem Vertiko, in: Eco, Umberto, Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien, München/Wien 1990, 98-117, gezeigt.

34 Rorty, Fortschritt, 116. 35 Rorty, Fortschritt, 116.

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liegen vor allem darin, zum einen das systematische Erzählnacheinan-der von Ri 6 für mein Verständnis rekonstruieren zu können, zum anderen darin, das systemische Erzählmiteinander, mithin also die Verbindung durchaus divergenter Textbausteine in Ri 6 verstehen zu können.36 Damit werde ich dem, was eigentlich in diesem Text ge-schieht, zwar nur bedingt näher gekommen sein, ich werde aber mög-licherweise über die Erarbeitung dieser Komposition anders vom Text hingerissen und möglicherweise sogar aus dem Gleichgewicht ge-bracht worden sein, als dies allein durch seine Lektüre der Fall sein wird.37 Hat nun die Segmentierung von Ri 6 zu einer Differenzierung der gegeneinander abgehobenen Segmente geführt, so suchen die im fol-genden vorzutragenden Überlegungen zur Kompositionskritik nach Beziehungen zwischen den solchermaßen isolierten Entitäten.

36 Worum es hierbei geht, hat m.E. sehr treffend Weimar, Peter, Glauben lernen

an Jona. Ein Prophet im Widerstreit mit seinem Gott, in: Tebartz-van Elst, Franz-Peter (Hg.), Katechese im Umbruch, FS Dieter Emeis, Freiburg/Basel/-Wien 1998, 83-93 (87!) so akzentuiert: „Eine Erzählung als literarischer Text hat ihre eigenen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten, die in ihr selbst liegen und nur im Nachspüren dieser ihr immanenten Gesetzmäßigkeiten und erzäh-lerischen Bedingungen offengelegt werden können.“

37 Hier sind für mich die Überlegungen Romano Guardinis über das Wesen des Kunstwerks, in: Guardini, Romano, Angefochtene Zuversicht. Romano Guar-dini Lesebuch, ausgewählt von Ingeborg Klimmer, Mainz 1985, 239-241, wichtig geworden: „Die Komposition kann durchsichtig wie eine geometri-sche Figur, oder scheinbar ganz zufällig sein. Sie kann mehr in den Maßen der auf dem Bilde sich zeigenden Körper oder aber in der Atmosphäre, mehr in den dargestellten Bewegungen oder in der Stimmung liegen. Immer han-delt es sich um jenen Vorgang, durch welchen die Erscheinungen, die sonst in den allgemeinen Zusammenhang der Wirklichkeit eingewoben sind, sich zu einer lebenerfüllten Einheit zusammenschließen. Daran wird etwas fühlbar, das weit über den dargestellten Gegenstand hinausliegt, nämlich das Ganze des Daseins überhaupt.“ (240) – Für Guardini eröffnet das Kunstwerk einen Raum, „in welchen der Mensch eintreten, in dem er atmen, sich bewegen und mit den offen gewordenen Dingen und Menschen umgehen kann“ (241). Der geforderte Umgang mit dem Kunstwerk ist für Guardini darum richtig mit „Kontemplation“ umschrieben. Auch der Weg der Beobachtungen der Kom-positionsstrukturen eines Textes ist mithin schon das Ziel, mit wachen Sinnen und offener Seele zu schauen: „Dann geht die Welt des Werkes auf“ (241).

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(1) Eine erste Vergewisserung über das Ergebnis der Segmentierung zeigt ein relativ ausgewogenes Segmentierungsmodell. Diese Ausgewogenheit läßt sich vor allem aufgrund dessen konstatieren, daß sich in Ri 6 zwei Primärsegmen-te gegenüberstehen, die aus jeweils zwei Sekundärsegmenten gebildet sind, die selber wieder in ihren Tertiärsegmenten nach einem 3:2-Modus skandiert sind. Das erste Sekundärsegment des jeweiligen Primärsegments (Ri 6,1-16 I Ri 6,25-32) besteht beidemale aus drei Tertiärsegmenten, das jeweils zweite Sekundärsegment (Ri 6,17-24 I Ri 6,33-40) beidemale aus zwei Tertiärseg-menten. Eine solch ausgewogen wirkende Anlage der einzelnen Segmente kann zufällig sein, sie kann jedoch auch auf den bewußten Kompositionswil-len des Erzählers bzw. des Endredaktors hinweisen. – (2) Auf der Suche nach Bezugspunkten, die eine Verbindung zwischen den einzelnen Segmenten

zulassen, fällt zunächst die Trias Mdq jnbw qlm<w Njdm (Ri 6,3b I 33a) in den Blick.38 Über diese Stichwortentsprechung verbinden sich das erste (Ri 6,1-16) und das letzte (Ri 6,33-40) Sekundärsegment in Ri 6 miteinander. Weil diese Trias bezeichnenderweise innerhalb von Ri 6 ansonsten nicht mehr

begegnet – ein Stichwort derselben übrigens wieder in Ri 8 (Mdq jnb [Ri 8,10]), was für eine Gesamtkomposition von Ri 6–8 bedeutsam sein dürfte – kann diese Stichwortentsprechung dahingehend ausgewertet werden, daß die

Segmente, in denen die Aufzählung Mdq jnbw qlm<w Njdm begegnet, sich als Rahmen um Ri 6 herum legen.39 Diese rahmende Funktion wird auch dadurch erreicht, daß in beiden Segmenten der Aufmarsch der Feinde thema-

tisiert wird, der beidemale mit dem Aufschlagen eines Lagers (Mhjl< wnxjw [Ri 6,4aa] I l><rzj qm<b wnxjw [Ri 6,33b]) verbunden ist. In Ri 6,1-6 wird dieser Aufmarsch Midians, Amaleks und der Söhne des Ostens als ein wie-derkehrender Prozeß dargestellt, der immer dann eintritt, wenn Israel seine

Felder bestellt hat (l>rcj <rz M> [Ri 6,3a]). Demgegenüber entwirft Ri 6,33-37 eine punktuelle Situation, in deren weiterem Verlauf Gideon als Ret-

ter Israels installiert wird ( Nw<dg t> hcbl hwhj xwrw [Ri 6,34a]). – (3) Wie sich das erste (Ri 6,1-16) und das letzte (Ri 6,33-40) Segment miteinan-der verbinden lassen, so auch die beiden von ihnen umschlossenen Segmente (Ri 6,17-24 I 25-32). Beide schließen jeweils mit einer Namengebung. Am

38 Nach Görg, Richter, 36 bilden Midianiter, Amalekiter und die Söhne des

Ostens „eine literarische Trias zur Gesamtschau der nomadischen Gegner Is-raels“. Mit „Söhne des Ostens“ sind – nach Görg – Nomaden der syrisch-arabischen Wüste angesprochen.

39 Diese rahmende Verbindung spricht auch Standaert, Adonai Shalom, 199, an („The enemies are listed again as in the beginning of the story“).

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Ende von Ri 6,17-24 gibt Gideon dem von ihm erbauten Altar den Namen

Mwlc hwhj (Ri 6,24ab)40, am Ende von Ri 6,25-32 wird Gideon selber der

neue Name l<brj zugesprochen41, dessen Erklärung (wxbzm t> Ytn jk l<bh wb brj rm>l [Ri 6,32b]) der Erzähler sogleich nachliefert.42 Dieses gemeinsame Motiv, das beide Segmente augenfällig miteinander verbindet, bringt freilich auch die beiden Größen JHWH-Altar und Gideon in einen engeren Zusammenhang. Einerseits bilden das Opfer Gideons und sein Altar-bau (Ri 6,17-24) die eine Seite jener anderen Seite der Medaille, die in der Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums (Ri 6,25-32) gipfelt, andererseits aber tritt Gideon im kompositorischen Gefüge der Segmente Ri 6,17-24 und Ri 6,25-32 durch seinen neuen Namen gleichsam selber an die Stelle des JHWH-Altars und repräsentiert somit die wirkmächtige Gegenwart JHWHs in Israel. Die jeweils gewählten Namen lassen darüber hinaus eine deutliche

Programmatik erkennen. Daß der von Gideon erbaute Altar Mwlc hwhj (Ri

6,24ab) genannt wird, steht in deutlichem Gegensatz zu der Erläuterung des

neuen Namens Gideons (l<bh wb brj [Ri 6,32b]).43 Damit wird zugleich

40 Kutsch, Berufung, 105, vermutet, daß es sich bei der Notiz von der Errich-

tung und Namengebung des Altars um eine aethiologische Sage aus Ofra handelt, die auf Priesterkreise zurückgeht, denen an einer Legitimierung des Altars lag.

41 Görg, Richter, 40, geht davon aus, daß die nächstliegende Bedeutung des Namens „Baal möge streiten“ ist, der sodann eine Interpretation zugefügt wurde, um die Ohnmacht Baals zu manifestieren. Diese Intention weist auf ein Anliegen hin, das auch die Erzählung vom Gottesurteil auf dem Karmel (1 Kön 18) bestimmt, so daß Görg aufgrund weiterer Analogien den Gedanken anstößt, ob der Erzähler die Rolle Gideons auf diese Weise nicht zu der eines „Proto-Elija“ (39) aufzuwerten versucht.

42 Zur Ableitung dieses Namens siehe Garsiel, Name-Derivations, 307. Dabei dürfte von besonderem Interesse sein, daß das in Jerubaal verborgene Lexem

bjr im alttestamentlichen Kontext mehrfach im Zusammenhang mit

Mjnjdm begegnet und insofern im Texthintergrund eine literarische Bezie-hung zwischen Gideon und Midian knüpft.

43 Nachdenkenswert erscheint die Frage, ob die Umnamung Gideons in Jerubaal nicht den Schluß nahelegt, der Erzähler wolle Gideon als eine Art Anti-Jakob (vgl. Gen 32,29) stilisieren; zu weiteren Analogien zwischen Jakob- und Gi-deon-Erzählungen vgl. Garsiel, Name-Derivations, 313-316. Überhaupt scheint die Anspielungskette zwischen den Gideon-Erzählungen und anderen zentralen alttestamentlichen Erzählungen und Gestalten schier unerschöpf-lich, wie Auld, A. Graeme, Gideon: Hacking at the heart of the Old Testa-ment, in: VT 39 (1989) 257-267, gezeigt hat. Aufgrund dieser Analogien

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klar, welcher Gott als Garant des Friedens und welcher als Ursache des Un-friedens namhaft gemacht werden kann44; ein weiteres Kapitel in dem Ver-such deuteronomistischer Geschichtsrekonstruktion, Baal gegen JHWH aus-zuspielen. – (4) Ist die parallele Endgestaltung der Segmente Ri 6,17-24 zum einen und Ri 6,25-32 zum anderen schon durch die in beiden Fällen greifbare Namengebungsnotiz sichtbar geworden, so wird dieser Eindruck des weiteren noch dadurch unterstrichen, daß sich unmittelbar mit diesen Namengebungs-

notizen Zeitangaben verbinden, die über die Stichwortentsprechung Mwj miteinander verbunden sind. Die Altarbaunotiz verbindet sich in Ri 6,24b mit

dem Erzählerkommentar jrz<h jb> trp<b wndw< hzh Mwjh d< (Ri 6,24b) und holt so die erzählte Welt in die Welt des Erzählers zurück. In anderer

Weise kommt das Lexem Mwj am Ende des Segments zum Einsatz, das die Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums und der Gideon daraus erwachsenden

Konsequenzen entwirft. Dort wird die Umnamung Gideons mit >whh Mwjb wl >rqjw (Ri 6,32a) ausdrücklich in der erzählten Welt fixiert. So sehr sich die beiden Zeitangaben am Ende der beiden Segmente Ri 6,17-24 und Ri 6,25-32 auch unterscheiden, sie verbinden sich letztlich doch in dem gemein-samen Bestreben, einen Erzählbogen zu Ende zu bringen. – (5) Lassen es die bisher vorgetragenen Beobachtungen zu, von einer inklusorischen Anlage der Sekundärsegmente (A [Ri 6,1-16] I B [Ri 6,17-24] II B’ [Ri 6,25-32] I A’ [Ri 6,33-40]) auszugehen, so treten im folgenden Beobachtungen hinzu, welche die Verbindung der Sekundärsegmente im jeweiligen Primärsegment anzei-gen. Richtet sich der Blick zunächst auf das erste Primärsegment Ri 6,1-24, so fällt auf, daß beide Sekundärsegmente (Ri 6,1-16 I 17-24) mit einer JHWH-Rede schließen. Die JHWH-Rede am Ende von Ri 6,1-16 spricht Gideon den Sieg zu, der sich in den anschließenden Kapiteln Ri 7–8 erfüllen wird, wobei dieser Sieg in Ri 6,16 ausdrücklich auf das Mitsein JHWHs

(Km< hjh> jk [Ri 6,16ab]) zurückgeführt wird. Die JHWH-Rede am Ende von Ri 6,17-24 geht demgegenüber auf Gideons Erschrecken ein, den Boten

JHWHs Mjnp l> Mjnp gesehen zu haben. Die Zusage JHWHs in Ri 6,23

twmt >l >rjt l> weist m.E. jedoch über die Situation hinaus und bezieht sich auf das Ergehen Gideons in der Auseinandersetzung mit den Midiani-

kann freilich auch Ri 6−8 nach der Terminologie Blooms als „Fehllektüre“ li-terarischer Vorgängertexte verstanden werden.

44 Standaert, Adonai Shalom, 198, sieht im Namen des Altars Anfang und Ende der Gideon-Erzählungen miteinander verbunden: „YHWH is his name from the beginning, and means: promise of his saving proximity; […] Shalom is the expression for the end result: the fullness of salvation.“

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tern.45 Stimmt diese Lesart, so treten beide JHWH-Reden in ein Gespräch ein, dessen eine Stimme das Schicksal Midians beschreibt (Ri 6,16), während die andere das Ergehen Gideons im Blick hat (Ri 6,23). Zu dieser den Bezug der beiden Sekundärsegmente Ri 6,1-16 und Ri 6,17-24 anzeigenden Beobach-tung tritt noch eine weitere Verbindungslinie hinzu, die sich mit der Ortsan-gabe Ofra verknüpfen läßt. Erscheint der JHWH-Bote zu Beginn des dritten Tertiärsegments (Ri 6,11-16) des ersten Sekundärsegments (Ri 6,1-16) unter

der Terebinthe, die durch den Relativsatz jrz<h jb> c>wjl rc> (Ri

6,11ab) näher qualifiziert ist, so weist der Erzählerkommentar am Ende des zweiten Tertiärsegments (Ri 6,21f-24) des zweiten Sekundärsegments (Ri 6,17-24) darauf hin, daß der von Gideon erbaute Altar bis auf den heutigen

noch jrz<h jb> trp<b (Ri 6,24bb) befindlich ist. Über die jeweils in den Schlußsegmenten der beiden Sekundärsegmente innerhalb von Ri 6,1-24 anzutreffenden Ortsangaben sind Ri 6,1-16 und Ri 6,17-24 kompositorisch aufeinander bezogen und zeigen so − vor allem, da Ofra innerhalb von Ri 6 nicht wieder zur Erwähnung kommt (erst wieder, was für eine Gesamtkompo-sition nicht unwichtig ist, in Ri 8,27 als Ort, an dem Gideon den aus Kriegs-beute geschmiedeten Efod aufstellen läßt) − die kompositorische Geschlos-senheit der Berufungs-, Opfer- und Altarbauszene an. – (6) Wie die beiden Sekundärsegmente Ri 6,1-16 und Ri 6,17-24 durch die Fügung ihrer ab-schließenden Tertiärsegmente untereinander kompositorisch verbunden sind, so lassen sich in gleicher Weise Hinweise für die Zuordnung der beiden Se-kundärsegmente (Ri 6,25-32 I 33-40) zueinander zusammentragen. Auch diesmal sind es Beobachtungen, die anhand der Gestaltung des Abschlusses der jeweiligen Sekundärsegmente angestellt werden können. Am Anfang des ersten Sekundärsegments (Ri 6,25-32) des zweiten Primärsegments (Ri 6,25-40) hebt der Erzähler ausdrücklich darauf ab, daß Gideon die Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums aus Furcht vor dem Haus seines Vaters und vor den

Männern der Stadt nicht am Tag, sondern in der Nacht vornimmt (hljl C<jw [Ri 6,27b]). Auch die Beauftragung Gideons durch JHWH, das Baal-

Astarte-Heiligtum zu zerstören, erfolgt des Nachts (>whh hljlb [Ri

6,25aa])46, wobei offen bleiben muß, ob die Nacht der Altarzerstörung mit der Nacht der Beauftragung identisch ist (dann ließe sich die Determination

>whh plausibel machen), oder ob zwischen beiden Nächten ein Tag ange-

45 Normalerweise verbindet sich mit dem Schauen Gottes der Tod, wie Ri

13,22; Gen 32,31 und Ex 33,20 eindrücklich zeigen. Zur Gesamtproblematik innerhalb von Ri 6 vgl. Kutsch, Ernst, Gideons Berufung, 99f.

46 Zum weiteren Vorkommen und zur Bedeutung dieser Zeitangabe vgl. auch Boling, Judges, 134.

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nommen werden muß.47 Jedenfalls korrespondiert die Zeitangabe >whh hljlb aus Ri 6,25aa mit der Zeitangabe am Ende des zweiten Sekundär-segments (Ri 6,33-40), dergemäß der erste Teil des Vlieswunders ebenfalls

>whh hljlb (Ri 6,40a) stattfindet. Angesichts dieser über die Zeitangabe

>whh hljlb hergestellten kompositorischen Beziehung zwischen Ri 6,25-32 und Ri 6,33-40 fällt möglicherweise auch noch eine weitere Stichwortent-sprechung ins Gewicht: Das Tertiärsegment Ri 6,25-27 wird, wie bereits

angesprochen, durch das Allerweltswort jhjw (Ri 6,25 I 27) gerahmt. Dieses

zweifache jhjw findet seine Entsprechung innerhalb des Tertiärsegments Ri

6,38-40 (Nk jhjw [Ri 6,38aa]), was aufgrund des auffälligen Einsatzes im ersten und letzten Tertiärsegment des Primärsegments Ri 6,25-40 schon kom-positorische Relevanz für sich in Anspruch nehmen kann. Ein weiteres Aller-weltswort, dessen Einsatz für die Bestimmung der kompositorischen Anlage

der in Ri 6 greifbar werdenden Segmente von Bedeutung ist, dürfte mit hc<

gegeben sein. Der das gesamte Kapitel Ri 6 abschließende Satz >whh hljlb Nk Mjhl> c<jw (Ri 6,40) weist natürlich zurück auf das Handeln Gideons hinsichtlich der Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums. Dieses Handeln wird

offenbar ausnahmslos mit hc< gefaßt (Ri 6,27.29), so daß Gideons Zerstö-rung des Baal-Astarte-Heiligtums gleichsam im Texthintergrund mit dem Vlieswunder als Zeichenhandlung JHWHs in eine Beziehung gesetzt wird. Die Zerstörung des Fremdgötterkultes und der Erweis der Wirkmächtigkeit JHWHs bilden auf diese Weise einen inhaltlichen Zusammenhang.48 Angesichts der hier ausgebreiteten Überlegungen kann festgehalten werden, daß als kompositionsbestimmendes Prinzip von Ri 6 offen-sichtlich eine parallele Gestaltung der Schlußteile einander zugeord-neter Segmente maßgeblich ist. Mit Hilfe dieses Kompositionsprin-zips wird der relativ vielschichtige Inhalt des Eröffnungskapitels der Gideon-Erzählungen annähernd skandierbar.

47 Dazu auch Standaert, Adonai Shalom, 199, Anm.7. 48 Standaert, Adonai Shalom, 200, sieht einen Zusammenhang zwischen der

Zerstörung des Heiligtums des Fruchtbarkeitsgottes Baal und der Auswahl des Vlieses als Medium der Zeichenhandlung JHWHs: „The fleece of wool may easily be considered as symbolizing the nomadic culture. So the first question Gideon asked God may have the pointed meaning: are you still with us with your benediction, even in this new cultural context? […] Do you still give us your benediction even if we leave the nomadic way of life?“

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Die so erarbeitete, Ri 6 zugrundeliegende Kompositionsstruktur lebt einerseits vom Gegenüber der beiden Primärsegmente Ri 6,1-24 (Be-rufung Gideons) und Ri 6,25-40 (Gideon als Gottesstreiter), anderer-seits aber vom inklusorisch angelegten Kompositionsmuster, in dem die vier Sekundärsegmente einander zugeordnet sind. Auf diese Wei-se stehen sich Opferdarbringung mit Altarbau (Ri 6,17-24) und Zer-störung des Baal-Astarte-Heiligtums (Ri 6,25-32) ebenso einander gegenüber, wie die Skizze der politischen Situation Israels mit der Be-rufung Gideons (Ri 6,1-16) und der Aufmarsch der Midianiter mit der Zeichenhandlung JHWHs (Ri 6,33-40). Die so beschriebene Struktur läßt sich graphisch wie folgt darstellen:

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Ri 6,1-24 Die Berufung Gideons

1-16 Vorgeschichte und Berufung

1-6 Historisch-politischer Hintergrund

7-10 Rede des namenlosen Propheten 11-16 Erscheinen des JHWH-Boten

17-24 Das Opfer Gideons

17-21ba Durchführung des Opfers

21bb-24 Altarbau Gideons

Ri 6,25-40 Gideon der Gottesstreiter

25-32 Zerstörung des Baal-Astarte-Heiligtums

25-27 Beauftragung zur Zerstörung 28-29 Reaktion der Einwohner Ofras 30-32 Anklage Gideons bei Joasch

33-40 Feindesaufmarsch und Vlieswunder

33-37 Beschreibung der Gottesprobe

38-40 Eintreten der Gottesprobe

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Liegt dieses Kompositionsdiagramm, das wenn auch nicht die meis-ten, so doch einige Aspekte des Textes verbindet, so total neben der Sache? – Wenn ich auch Rortys Bedenken hier weder zerstreuen kann noch will, so scheint mir die Erarbeitung der Komposition doch ein (theologisches) Verständnis des Textes erschlossen zu haben, das mir durch seine Lektüre allein nicht zugefallen wäre. Die hier erarbeitete Komposition stößt m.E. folgende Überlegungen für eine Interpretation von Ri 6 an: (1) Durch die kompositorische Gegenüberstellung von Opfer mit Altarbau (Ri 6,17-24) und Zerstö-rung des Baal-Astarte-Heiligtums (Ri 6,25-32), eingebettet in zwei Segmente mit der Thematik der Midianiter-Bedrohung Israels (Ri 6,1-16 I 33-40), wird deutlich, daß die – auch kompositorisch! – zentrale Aufgabe des Richters darin zu bestehen hat, den Kult Israels zuguns-ten einer uneingeschränkten JHWH-Verehrung zu bereinigen.49 Erst wenn dieser zentrale Lebensmittelpunkt gewährleistet ist, ist das Mit-sein JHWHs für die Befreiung von der Fremdherrschaft in Aussicht gestellt.50 Aber diese kompositorisch orientierte Argumentation läßt sich auch umkehren: Die Berufung eines Retters Israels von der Fremdherrschaft fordert die Entschiedenheit für JHWH als die wahre Lebensmitte Israels. – (2) Diese Funktion JHWHs wird von Gideon im ersten Sekundärsegment (Ri 6,1-16) sehr massiv in Frage gestellt

(t>z lk wnt>ym hmlw wnm< hwhj cjw [Ri 6,13bb]), wobei diese Theodizeefrage durch die Erinnerung an die Wundertaten51, von de-

49 In eine ähnliche Richtung weisen auch Standaert, Adonai Shalom, 199; Be-

cker, Richterzeit, 158, Anm. 70. 50 Gegen die Interpretation Standaerts, Adonai Shalom, 202, die dahin geht, die

Gideon-Erzählungen als Paradigma friedvoller Koexistenz unter dem Bei-stand JHWHs zu deuten. Daß die Gideon-Erzählungen wie das Richterbuch insgesamt gerade die Gefährdung durch die Fremdvölker und diese zudem anhand gefährlicher „Beziehungskisten“ thematisiert, darauf hat jüngst Guest, Pauline Deryn, Dangerous liaisons in the Book of Judges, SJOT 11 (1997) 241-269 insistiert.

51 Das hierfür verwendete Wort wjt>lpn lk (Ri 6,13) spannt eine Verbin-

dungslinie zum Einsatz der „vielumrätselten Wurzel >lp“ (R. Bartelmus) in der Opferszene der Geburtsgeschichte Simsons (Ri 13,19), was mit vie-len anderen Analogien auf die paradigmatische Bedeutung von Ri 6 für Ri 13 hindeutet und so dazu anregt, die Simson-Gestalt mit der Rich-terfigur Gideon ins Gespräch zu bringen. Dazu näherhin Bartelmus,

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nen die Väter im Blick auf das Exodusereignis gesprochen haben,

noch einmal sehr angeschärft wird (wnjtwb> wnl wrps rc> wjt>lpn lk hj>w [Ri 6,13ba]).52 Dieser Anfrage, ja Anklage (hwhj wncvn ht<w [Ri 6,13]) Gideons begegnet der Erzähler zum einen durch die

das erste Sekundärsegment abschließende JHWH-Rede (Km< hjh> jk [Ri 6,16ab]), zum anderen aber durch das Ri 6,1-16 komposito-risch zugeordnete vierte Sekundärsegment Ri 6,33-40 und die dort als Antwort auf die Gottesprobe Gideons entworfene Zeichenhandlung. So mag es für eine systematische Lektüre von Ri 6 zwar zutreffend sein, daß JHWH Gideons Frage damit beantwortet, „daß er Gideon beauftragt, selbst den Zustand der Unterdrückung zu beenden“53, für eine systemische, also die Komposition des Textes in seinen einzel-nen Teilen berücksichtigende Lektüre beantwortet JHWH diese Frage mit der in Ri 6,33-40 erzählten Zeichenhandlung. Das Mitsein JHWHs zeigt sich darin, daß er sich auf die von Gideon geforderten Bedingungen der Zeichenhandlung einläßt. Spricht man der Frage Gideons in Ri 6,13 den Rang einer Theodizeefrage zu, dann besteht unter kompositorischem Gesichtspunkt die in der Zeichenhandlung verborgene Antwort JHWHs gerade darin, sich zum Erweis seiner Wirkmächtigkeit herausfordern zu lassen, zu beweisen, daß JHWH sein Volk nicht im Stich gelassen hat (vgl. Ri 6,13). Aus diesem Blickwinkel heraus stellt sich die Frage, wer im Garten des Joasch, unter der Terebinthe wen „beruft“. Fraglos ist es Gideon, der von JHWH zur Rettung Israels aus der Hand Midians berufen wird – zugleich aber „beruft“ Gideon seinen Gott, wieder die Wunder der Vergangenheit zu wirken, deren sich die Väter erinnert haben, um Licht auf die Dunkelheiten ihrer Gegenwart zu werfen.

Rüdiger, Heroentum in Israel und seiner Umwelt, , Zürich 1979 (AThANT 65), 92f.

52 Schmitt, Berufungsschema, 207, zieht einen Vergleich zwischen der Klage Gideons (Ri 6,13) und der Volksklage in Ps 80, die sich auf die Katastrophe des Untergangs des Nordreiches zurückbezieht. „Beide konfrontieren dieses Heilshandeln [im Exodusgeschehen, T.M.] dabei lediglich mit dem jetzigen Leiden, ohne von einer Schuld als Ursache für dieses Leiden zu sprechen.“

53 Kutsch, Berufung, 102.