die lebens- prozesse des menschen und die resilienz · die lebensprozesse des menschen und die...

73
1: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz

Upload: others

Post on 12-Sep-2019

17 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

1:

Die Lebens-prozesse des Menschen und die Resilienz

Page 2: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Inhalt Inhalt ____________________________________________________________________ 2

TEIL 1: DIE LEBENSPROZESSE ________________________ ______________ 3

Einleitung _________________________________________________________________ 3

Die Lebensprozesse im Leib __________________________________________________ 4

Die Lebensprozesse in den Sinnen ________________________________________ 8

Die Lebensprozesse im Immunsystem _____________________________________ 9

Lebensprozesse in der Seele _________________________________________________ 11

Die Lebensprozesse und die menschliche Biographie ____________________________ 15

Die Lebensprozesse und Erkrankungsmöglichkeiten ____________________________ 21

Die Lebensprozesse im Sozialen ______________________________________________ 29

Die Lebensprozesse in Kunst und Leben ______________________________________ 35

TEIL 2: SALUTOGENESE UND SELBSTREGULATION _________ __________ 38

Die Salutogenese – oder warum man auch gesund sein kann ______________________ 38

Kann man das Kohärenzgefühl verbessern? ___________________________________ 45

Die Selbstregulation nach Reinhard Grossarth-Maticek _________________________ 47

Abschlussbemerkung ______________________________________________________ 53

TEIL 3: RESILIENZ _________________________________ _______________ 54

Akzeptanz ________________________________________________________________ 60

Flexibilität _______________________________________________________________ 61

Verlassen der Opferrolle ___________________________________________________ 63

Verantwortung übernehmen ________________________________________________ 65

Netzwerke und Freundschaften und daraus resultierendem Gefühl irgendwo dazu zu gehören („Belonging“) _____________________________________________________ 67

Aktive Zukunftsplanung mit der Bereitschaft sich zu verändern („Transformationsbereitschaft“) _____________________________________________ 69

Transzendenz, wie religiöser Glaube, Phantasie oder Kunst. ______________________ 71

Optimismus und Pessimismus _______________________________________________ 72

Zusammenfassung _________________________________________________________ 73

Page 3: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Teil 1: Die Lebensprozesse

Einleitung

Die Lebensprozesse des Organismus sind die Tätigkeiten der Lebensorganisation, des Äther-leibes. Nach Rudolf Steiner ist die Lebensorganisation dasjenige, was den Leib am Leben erhält, ihn wachsen, gedeihen und reproduzieren lässt, sein Milieu aufrechterhält und ihn regeneriert. Alle physiologischen und chemische Prozesse, die der Aufrechterhaltung der Vi-talfunktionen dienen, die in der Ernährung, dem Stoffwechsel und im Wachstum diesen Funk-tionen dienen, sind Lebensvorgänge, die von den leiblich-statischen Elementen des physi-schen Leibes und den psychischen Vorgängen zu unterscheiden sind und einer einheitlichen Organisation angehören, die solange wirksam sind, wie der Organismus lebt, bzw., deren Aussetzen zum Tode führen.

Ein wesentliches Element der anthroposophischen Menschenkunde ist aber auch, dass diese Lebensorganisation zunächst ganz leibgerichtet arbeitet und, sobald sie im Organismus, auf-grund dessen Reifung nicht mehr in demselben Maß erforderlich ist, zunehmend frei wird ihre Tätigkeit nicht mehr nur im Leib verrichten muss, sondern nun der Seele zur Verfügung steht. Wenn der Leib ausgebildet ist, stehen die Tätigkeiten der Lebensorganisation einem seeli-schen Bildungsprozess zur Verfügung, denn nicht nur der Leib, sondern auch die Seele lebt.

Die Tätigkeiten dieser Lebensorganisation sind die Lebensprozesse. Rudolf Steiner beschreibt sie als sieben Prozesse, die in sich eine Ganzheit bilden.

Es handelt sich um ein System, das selber nicht bewusst wird, aber gleichwohl dem Bewusst-sein dient, besonders in den seelengerichteten Anteilen. Man kann den Eindruck haben, dass diese Lebensprozesse bei früheren Generationen stabiler arbeiteten. Leiblich durch andere Ernährungsformen, rhythmischer Lebensweise, andere Bedingungen in der Kindheit (mehr kindliche Lebensräume, mehr Bewegung, mehr Einbettung in Großfamilien, mehr fieberhafte Erkrankungen). Auch seelisch war man mehr durch Rituale, Feste, Kirche in seinem Erleben kanalisiert, hatte nicht die Flut von Wahrnehmungen und Eindrücken, nicht die Stressoren ungeliebter Art (Arbeit, Familie, Steuererklärung), sondern auch die „angenehmen Stresso-ren“ der Vergnügungsindustrie, der Schnelllebigkeit nicht. Hier soll keinesfalls alten Zeiten nachgetrauert werden, sondern festgestellt werden, dass der Lebenskräfteorganismus des Menschen unter den geänderten Bedingungen leidet, sich immer mehr aus den leiblichen Zu-sammenhängen löst und immer mehr für andere Funktionen zur Verfügung steht. Darin liegt auch eine Chance. Mehr der Seele und dem Geist zur Verfügung stehende Lebensprozesse ermöglichen ein individuell und frei ergriffenes geistiges Leben. Aber es ist auch eine Gefahr, was im Verlauf der Darstellung deutlich wird.

So werden erst die Lebensprozesse im Leib beschrieben, dann ihr Auftreten in der Seele und als Motoren für die menschliche Biographie. Daran wird auch die Entgleisungsmöglichkeit in der Erkrankung beschrieben. Es folgt ein Blick auf das Auftreten der Lebensprozesse im So-zialen und in der Kunst. Im Kapitel Wohlbefinden, Lust und Sicherheit, wird auf das Erleben des Lebenssinnes, einem Sinneswerkzeug, aufmerksam gemacht, der die ordentlich arbeiten-den und die destruierten Lebensprozesse anzeigen kann, ferner wird entwickelt, wie man sich hindern kann, das wahrzunehmen. In einem angehängten Aufsatz werden diese Lebensprozes-se noch in einer speziellen Situation beschrieben: für die Bewegungsentwicklung des Kindes

Page 4: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

im Vorschulalter und in einem weiteren werden sie verglichen mit den sieben Säulen der Resilienz.

Damit soll gezeigt werden, wie genial Rudolf Steiner in seinem knappen Entwurf der Lebens-prozesse ein System entwickelt hat, unter dem man Verständnis für kranke und gesunde Vor-gänge im Menschen gewinnen kann. Es wird aber auch deswegen beschrieben, da man den Eindruck gewinnen kann, dass in dem Maße, in dem die Lebensprozesse gefährdet werden, man auch ein Bewusstsein dafür entwickeln kann, aus dem heraus man lenkend und positiv eingreifen kann: Nicht nur körperlich medikamentös (was hier vernachlässigt wurde, es darf aber erwähnt werden, dass hier die Metalltherapie, insbesondere die der vegetabilisierten Me-talle eine große Rolle spielt), sondern auch durch die Pflege der eigenen Seele, des Sozialen Umganges, im Umgang mit den eigenen Lebensprioritäten und – beim Kind – durch die Be-wegungserziehung.

Die Lebensprozesse im Leib

Die Lebensprozesse sind die Werkzeuge der Lebensorganisation, des „Ätherleibes“.

1. Den ersten Prozess nennt Rudolf Steiner „Atmung“. Er beschreibt ihn als einen Pro-zess, bei dem der Organismus imperativ die Außenwelt benötigt, weil er ohne sie nicht weiterleben kann. Das in der Atmung am deutlichsten, gilt aber für alle Vorgänge, bei denen wir etwas aus der Außenwelt aufnehmen müssen, nur ist das Erlebnis nicht ganz so kurzfristig und sensationell, wie wenn wir Mund und Nase zuhalten und nach weni-gen Minuten nicht mehr können. Beim Trinken bemerken wir etwas Vergleichbares erst nach Stunden, beim Essen oft erst nach Tagen. Dieser Vorgang, allgemeiner ge-fasst ist es das Aufnehmen.

Dabei nehmen wir von außen das Fremde nach Innen auf. (Milieuwechsel)

2. Den zweiten Lebensprozess nennt Rudolf Steiner die „Wärmung“. Wir beobachten diesen Vorgang, wenn wir das Temperaturmilieu wechseln und uns an neue Tempera-turen adaptieren, also anpassen müssen. Das findet für den gesamten Organismus statt, aber auch z.B. mit der Atemluft, deren Temperatur, Feuchtigkeitsgehalt und Staubbe-ladenheit an die Bedingungen der Lunge angepasst werden müssen, auch das kühle Getränk wird an den Temperaturbedarf des Magens angeglichen, wie auch das heiße Getränk, die Speise wird eingespeichelt, zerkaut und portioniert geschluckt, weil sonst der Magen es nicht toleriert. Es sind alles Anpassungsvorgänge, bei denen wir die Substanzen der Umgebung nicht so aufnehmen, wie sie draußen sind, sondern sie – ohne sie stofflich zu verändern, an die Bedingungen angleichen, die im Innern des Or-ganismus herrschen. Allgemeiner benennen wir diesen Vorgang als „Angleichen“.

Dabei wird das Fremde Äußere an das innere Milieu angepasst. (Qualitative Verände-rung)

3. Den dritten Lebensprozess nennt Rudolf Steiner die „Ernährung“. Dabei schaut er auf den Vorgang der Verdauung, bei dem die aufgenommene Nahrung einer vollständigen Veränderung unterworfen wird. „Butterbrot“ wird nicht aufgenommen, sondern es wird zerstört, zerkleinert, mazeriert und enzymattisch zerlegt in seine Bestandteile, bevor im oberen Dünndarm die Kohlehydrate, im mittleren Teil die Eiweiße und im letzten Teil die Fette in Blut und Lymphe aufgenommen werden, um in der Leber in körpereigenen Substanzen eingebaut oder verwandelt werden. Die Nahrung wird also

Page 5: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

zuerst aufgenommen (erster Lebensprozess), dann durch Kauen, Einspeicheln und por-tioniertes Schlucken an das Milieu des Verdauungstraktes angeglichen (zweiter Le-bensprozess), bevor sie chemisch und enzymattisch verdaut wird. Diesen dritten Le-bensprozess können wir daher von seiner Prozessqualität her auch „Zerstören“ nen-nen.

Dabei wird das fremde Äußere im Innern ganz zerstört. (substanzielle Veränderung)

4. Folgt nach 7.

5. Den fünften Vorgang nennt Rudolf Steiner „Erhaltung“. Dabei schaut er auf die Fä-higkeit des Organismus trotz Arbeit, Abbau, Erschöpfung, Verbrauch und Belastung nicht immer weniger zu werden, sondern ein gleichbleibendes inneres Milieu („Milieu interieur“) zu wahren und eine konstante biologische Einheit zu bleiben, trotz wech-selnder Umwelt-, Nahrungs- und Belastungssituationen. Dabei zeigt das genauere Be-trachten, dass es sich hier um einen rhythmischen Vorgang handelt, in dem innerhalb relativ kleiner Grenzen Abbau zugelassen wird, dieser aber durch eine Aufbauantwort immer wieder ausgeglichen wird. Diese Aufbauantwort ist der aktive Vorgang, den wir „ Wiederherstellen“ nennen können und dem wir unsere Erhaltung verdanken. Dieses Wiederherstellen erfolgt in jedem Organ in einem anderen Rhythmus; für den Gesamtorganismus ist das am besten am Schlaf- Wachrhythmus nachzuvollziehen, durch den wir den Abbau des Tages im Schlaf ausgleichen durch den wiederherstel-lenden Aufbau der Regenerationsvorgänge.

Dabei wird das eigene Innere des Organismus nach dem eigenen Bild wiederherge-stellt.

6. Den sechsten Vorgang nennt Rudolf Steiner „Wachstum“, durch den wir nicht bleiben, wie wir sind, sondern uns wandeln können. Dabei bedeutet Wachstum nicht größer und dicker werden, sondern auch eine artspezifische Anpassungsreaktion. Der Kno-chen z.B. folgt einem inneren Bauplan, mit dem er auf Belastung so reagiert, dass er mit dem geringsten Materialaufwand die größtmögliche Stabilität aufbaut. Bei fehlen-der Belastung entkalkt daher der Knochen innerhalb kurzer Zeit, auf neue, größere Be-lastungen stabilisiert er sich durch Kalkeinlagerung und Stabilitätszuwachs. Ebenso der Muskel, wie man bei Trainingseffekten oder bei einer Inaktivitätsatrophie feststel-len kann. Auf wechselnde Außenbelastung antwortet der Organismus mit Wachstum, ohne sich der Außenwelt anzupassen, aber so, dass er die Außenwelt besser beherr-schen kann. Dabei ist es ein Wachstum, wenn ein untrainierter Mensch durch portio-nierte und rhythmisch sich steigernde Belastung zum Holzfäller werden kann, ebenso aber auch, wenn ein Holzfäller durch das Erlernen des Leierspiels geschmeidigere und feingliedrigere Hände bekommt. Wir nennen diese Tätigkeit der Lebensorganisation „Wachsen“.

Dabei wächst das eigene Innere nach dem eigenen Gesetz an der sich wandelnden Au-ßenwelt zu einem fähigeren Organismus heran.

7. Den siebten Vorgang nennt Rudolf Steiner „Reproduktion“. Dabei ist ein Erneue-rungsvorgang gemeint, mit dem sich der Organismus kontinuierlich austauscht. Häu-tung, Zahnwechsel etc. sind dabei die augenfälligsten Beispiele, die im Tierreich zahl-reicher sind (Geweihwechsel bei Rotwild, Schwanzwechsel bei Eidechsen, Panzer-wechsel bei Hummern sind nur einige). Beim Menschen sind die meisten Erneue-

Page 6: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird. Der größte Erneuerungsvorgang ist die Schwangerschaft. Hier bringt der eigene Organis-mus nach dem eigenen Bild einen neuen hervor, wobei der Organismus sich im Zwei-felsfall einer Krise so entscheidet, dass das Leben des Mutterorganismus für den des heranwachsenden Organismus in Frage gestellt wird. Am Ende wird das neue nach außen abgegeben, und dessen Leben beginnt dann. Hier wendet der Organismus eine Kraft um des neuen willen auf, er wendet sich an das Neue und nicht primär an sich um es hervorzubringen. Wir können diesen Vorgang „Reproduzieren“ oder „Hervor-bringen“ nennen.

Dabei wird ein Neues der Außenwelt präsentiert, das nach dem Bild des eigenen Or-ganismus gebildet wurde.

Hier haben wir zwei Dreiergruppen von Prozessen, die sich polar aufbauen: In den ersten drei Lebensprozessen wendet sich der Organismus nach Außen und nimmt Außenwelt auf, gleicht sie dem inneren Milieu an und zerstört sie. In den Prozessen 5-7 wendet er sich nach Innen, erhält sich, wächst und reproduziert sich. Bei den ersten dreien kommt eine gewordene Au-ßenwelt in uns zu einem Ende, in den letzten drei Prozessen fängt im Innern immer etwas neues an: Im Wiederherstellen, z.B. im Schlaf regeneriere ich mich für den nächsten Tag, im Wachsen um den neuen Anforderungen gerecht werden zu können (neue Fähigkeiten entwi-ckeln) und im Reproduzieren beginnt ein neues Leben.

Das Gewordene kommt in Das Neue (neue Anforderungen) uns zu einem Ende erzeugt neues Leben

aus Vergangenheit aus Zukunft

Lebensprozess

4. In dieser Mitte, in der sich die beiden Dreiergruppen von Lebensprozessen begegnen, lebt der vermittelnde vierte Lebensprozess. Diesen nennt Rudolf Steiner „Sondern“.

a. Die ersten drei Lebensprozesse werden unterhalten durch einen Sonderungsvor-gang, nämlich literweisem Sekretfluss. Allein in der Verdauung, vom Mund bis in den unteren Dünndarm werden täglich 7 Liter Verdauungssäfte sezerniert, ohne die nicht aufgenommen, angeglichen und zerstört werden kann. Das ist auch, wenn-gleich nicht dieser Menge, bei der Atmung der Fall (Schleimhautsekret) und auch bei der Wärmung (z.B. Schweiß).

b. Die letzten drei Lebensprozesse werden ebenso von einem Sonderungsvorgang un-terhalten: statt literweise nach Außen, werden hier milligrammweise Hormone nach Innen (in das Blut) sezerniert, denn alle Erhaltungsvorgänge, Wachstums- und Re-produktionsvorgänge sind hormonell gesteuert.

Page 7: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

c. Alle zerstörte Nahrung, Atemluft und alles andere, was der Organismus aufge-nommen, angeglichen und zerstört hat, wird in das Innere des Organismus einge-sondert, wo es ihm als Grundlage zum Erhalt, zum Wachsen und Reproduzieren dient.

So bindet der vierte Lebensprozess die beiden Gruppen der anderen Lebensprozesse zu-sammen und bildet deren Mitte. Jedes Organ, das lebt und in Arbeit ist, sondert (CO2 ge-gen O2, Abbauprodukte gegen Nahrungsstoffe aus dem Blut etc.) Der vierte Lebensprozess ist daher derjenige, der nicht nur die funktionelle Mitte der übrigen darstellt, sondern auch das eigentliche „Leben“ erst ermöglicht. Mit dem Wort „Sondern“ ist seine Prozessquali-tät bereits beschrieben.

Hier findet Ausgleich von Außen und Innen, vergangenheits- und zukunftsgerichteten Pro-zessen, Abbau und Aufbau statt.

Aufnehmen Außen � aufnehmen � Innen � abgeben � Außen Hervorbringen

Angleichen Äußeres an das Innere angleichen

Inneres für die Außenwelt befähi-

gen Wachsen

Zerstören Äußeres � Inneres wie- zerstören derherstellen

Wiederherstellen

Literweise nach außen Sondern

Austausch � milligrammweise nach Innen

An der Tabelle erkennen wir, wie die Lebensprozesse in sich polar aufgebaut sind und so ei-nen inneren Bezug zueinander aufnehmen. Auch ein weiteres zeigt einen anderen Bezug:

Aufnehmen geht in Sekunden

Angleichen in Minuten

Zerstören geht in Stunden

Wiederherstellen folgt einen 24-Stunden-Rhythmus

Wachsen folgt einen Monatsrhythmus

Reproduzieren folgt einem Jahresrhythmus

So erscheint die Gesamtheit der Lebensprozesse als eine in sich geordnete und aufeinander bezogene Einheit eines Organismus, dessen Gesamtheit wir Lebensorganisation oder „Äther-leib“ nennen, der diese Werkzeuge benutzt. Sie bilden einen Organismus, dessen Organe die einzelnen Lebensprozesse sind.

Page 8: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Die Aufnahme ist mit den Sinnen verbunden. Denn sowohl das Atmen, als auch das Aufneh-men von Speise ist von Geruch und Geschmack begleitet. Angenehmer Geschmack und ange-nehmer Geruch befördern die Aufnahme, unangenehme Sinneseindrücke behindern sie. Auch die Art, wie die Speise auf dem Teller arrangiert ist, wie der Tisch gedeckt ist, fördert oder behindert diesen Vorgang. Die Angleichung ist ein rhythmisches Geschehen. Kauen, Einspei-cheln, portioniertes Schlucken sind rhythmische Vorgänge. Auch die Wärmung ist ein rhyth-mischer Vorgang. Die Durchblutung folgt nicht nur über den Puls einem Rhythmus, sondern auch die Durchblutungsveränderung ist ein rhythmisches Geschehen. Die Angleichung der Atemluft an die Bedingungen der Lunge erfolgt durch das Ein- und Ausatmen, die rhythmi-sche Flimmerhaarbewegung etc. Die Zerstörung ein Stoffwechselgeschehen, bei dem altes vergeht und neues entsteht, Milieuwechsel und Substanzveränderung geschieht. Die Wieder-herstellung bezieht sich auf den eigenen Organismus, der Nacht für Nacht regeneriert, das Wachsen auf das Verhältnis des eigenen Organismus zur Außenwelt, die Hervorbringung auf ein Neues Leben.

Nicht nur im Gesamten des Menschen können wir sie nachvollziehen, auch im Einzelnen:

Die Lebensprozesse in den Sinnen

An den Sinnesorganen finden wir sie ebenso, wie in jedem anderen in sich geschlossenen Vorgang.

Am Auge

1. wird das Licht aufgenommen. Die Haut wird zur Hornhaut gewandelt, aus der sich das Leben so weit zurückgezogen hat, dass sie nicht mehr durchblutet ist und wir ein klares Bild sehen können (sonst wäre es rot...).

2. Die Helligkeit wird durch Pupillenweite an das Innere des Auges angeglichen, da das Auge den mäßig erhellten Raum braucht um scharf sehen zu können: bei zu hellem Licht verengt sich die Pupille und das zu helle wird abgedunkelt, bei dunklen Räumen erweitert sich die Pupille und wir sehen das dunkle heller. Entfernungen werden „angeglichen“ durch die Linsenkrümmung, so dass stets ein scharfes Bild entsteht.

3. das Licht zerstört den Sehpurpur und der Sehpurpur zerstört das Licht

4. der Sehpurpur wird dem Licht entgegengesondert und ein elektrischer Impuls wird über den Nerv vom Auge an das Gehirn gesondert

5. Im Sehzentrum wird das Bild hergestellt

6. das mit meiner Erfahrung verstanden wird und meine Erfahrungen mehrt und

7. als Vorstellung oder Erinnerung hervorgebracht werden kann.

Im Auge selbst sind die Lebensprozesse zu nahezu physikalischen Vorgängen reduziert. Hier sind die Lebensprozesse „fast tot“ und in dem selben Maße aber bewusstseinsnahe. Betont sind hier Aufnahme und Bewusstwerdung, also erster und siebter Lebensprozess. In der Leber finden auch alle statt, hier ist der vierte Prozess betont und die Vorgänge bleiben im Unbe-wussten.

Page 9: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Die Lebensprozesse im Immunsystem

Auch unser Immunsystem arbeitet so. Auch hier finden wir eine nach außen und eine nach innen gerichtete Seite. Nach außen wird Fremdes abgewehrt und nach innen wird das Eigene erhalten. In der Regel kennen wir nur die Abwehrseite als „Abwehrsystem“. Aber es ist nur die Hälfte des Ganzen. Das wissen wir, seit bekannt ist, dass z.B. die fieberhaften Erkrankun-gen des Kindesalters, wenn sie kräftig durchgemacht werden, die Wahrscheinlichkeit verrin-gern, dass in der zweiten Hälfte der Biographie bösartige Erkrankungen, wie Krebs auftreten. Die letzteren sind der Verlust der Erhaltung des eigenen Gewebes. Die immunologischen Pro-zesse sind folgende:

1. Das Fremde wird aufgenommen und als Fremdes erkannt. Wir nennen es „Phagozytose“: Ein Fremdorganismus hat andere Merkmale auf seiner Oberfläche, als der eigene Orga-nismus, vom dem sie unterschieden werden, weswegen sie als feindlich eingestuft werden. Dieser Wahrnehmung und Aufnahme liegt der erste Lebensprozess zugrunde.

2. Der Fremdorganismus wird von sogenannten Makrophagen „zerlegt“ und die fremden Strukturen werden jetzt von dem Makrophagen an seiner Oberfläche steckbriefartig „prä-sentiert“ („Antigenpräsentation“). Zugleich sondert er Botenstoffe aus, die dem übrigen Immunsystem signalisieren: „hier ist etwas Fremdes“. So kann das Immunsystem sich auf dieses Fremde einstellen und gezielte Abwehrmechanismen erzeugen. Das Fremde, das von außen gekommen ist, wird für die Arbeitsweise des Immunsystems zurechtgemacht, er wird an das Immunsystem angeglichen: der zweite Lebensprozess.

3. Jetzt beginnt die „Lyse“, die Zerstörung und Verdauung des eingedrungenen Keimes mit Fieber und Krankheitszeichen. In diesem spürbaren und die seelischen Vorgänge einbezie-henden Prozess der Zerstörung offenbart sich der dritte Lebensprozess.

4. der vierte Lebensprozess wird unter Ziffer 8. behandelt.

Nach innen wendet sich der „major histocompatibilitätscomplex“ (MHC) in drei Stufen: MHC1, MHC2 und MHC3. Histocompatibilität bedeutet Gewebeverträglichkeit. Es sind Merkmale, die ausgebildet werden, um eigenes Gewebe als eigenes erkennen zu können. Un-ter den mehreren Millionen an Möglichkeiten solcher Ausprägungen wird jeweils nur eines zugelassen, die anderen werden kontinuierlich unterdrückt. Dies ist die wohl umfangreichste Arbeit des Immunsystems.

5. Der MHC3 dient der Blutgruppenausprägung. Über das System von Blutgruppe A, B, AB und Null hinaus haben wir noch viele andere Untergruppen. Diese bestehen aus einem Merkmal z.B. „A“ und gleichzeitig dem Merkmal „Anti B“. Erst dann ist die Blutgruppe komplett. Diese vollständige Ausbildung findet erst statt, wenn der Darm sich mit den richtigen Keimen besiedelt, die er für eine richtige Verdauungstätigkeit benötigt. Verdau-ung (dritter Lebensprozess) und Blutgruppenbildung ist aufeinander bezogen!). Die Blut-gruppenbildung ist erforderlich, um im Blut ein gleichbleibendes inneres Milieu zu erhal-ten („Milieu interieur“). Dieses gleichbleibende Milieu ist lebenswichtig. Erhalten, Wie-derherstellen, entgegen allen wechselnden Umwelteinflüssen, das ist der fünfte Lebenspro-zess.

6. Der MHC2 stellt die Oberflächenmarkierung der Immunzellen selber her. Kommunikation der einzelnen Strukturen des Immunsystems ist dadurch möglich. Das Immunsystem ist ein „System im System“. Es kann unabhängig vom übrigen Organismus für sich arbeiten und

Page 10: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

benötigt daher eigene Kommunikationsstrukturen, wie bei der Antigenpräsentation (Le-bensprozess 2). Dadurch ist es möglich, dass das Immunsystem auf Außenwelt reagieren kann, sich neue Fähigkeiten erwerben kann und dadurch wachsen kann. Denn ein Virus, das vorher noch nicht da war, auf das wird mit einer neuen Abwehrsubstanz reagiert (Anti-körper) und dafür wird neue Erbsubstanz im Immunsystem gebildet. Diese Fähigkeit bleibt als Immunität für den Rest des Lebens bestehen. Jedes neue Lernen ist eine Erweiterung der Fähigkeiten durch Konfrontation mit der Außenwelt (sechster Lebensprozess).

7. Der MHC1 ist die Fähigkeit eigene Gewebemerkmale für die vielen anderen Gewebe des Organismus zu bilden. Von denen wird beim ersten immunologischen Lebensprozess das Oberflächenmerkmal des eingedrungenen Keimes unterschieden. Diese Merkmalsausbil-dung schreitet voran, je mehr fremde Keime ich aufnehme und es scheint mit diesem Vor-gang die Identitätsbildung mit dem eigenen Leib zu korrelieren. Das „ankommen im eige-nen Haus“, das man so eindrücklich nach einer fieberhaften Kinderkrankheit erleben kann, das wachere Aussehen, der Entwicklungsschub, der dann einsetzt, sind davon beredtes Zeugnis. Wir können diese Merkmalsausbildung und fortschreitende Identitätsbildung auch „Inkarnation“ nennen. Je schwächer sich dies ausbildet, nämlich, wenn wenig fieber-hafte Infekte stattfinden im Kindesalter, desto leichter kann das Gewebewachstum außer Kontrolle geraten und Exkarnation bewirken. Diese Inkarnation ist das Wachwerden im eigenen Leib, der siebte Lebensprozess.

8. Zwischen beiden Seiten der außenweltgerichteten Seite der Abwehr und der innenweltge-richteten Seite des MHC liegt die eigentliche Schaltzentrale des Immunsystems. Es ist das System der Helfer- und Supressorzellen. Das spezifischste System des Immunsystems sind die Lymphozyten und darunter sind es die weit entwickelten T-Lymphozyten (T bedeutet: in der Thymusdrüse markiert). Von diesen entwickeln sich zwei Zellstämme zu Koordinie-rungsstellen, die steuernde Funktionen für das gesamte Immunsystem haben. Die Helfer-zellen regen die nach außen gerichtete Immunabwehr an. Die Supressorzellen steuern das MHC-System. Die Helferzellen aktivieren die Abwehr, die nie enden würde, wenn die Su-pressorzellen nach getaner Arbeit nicht die Abwehr wieder zurückführen würden. Auf das MHC-System wirken die Supressorzellen so, dass die falschen Merkmale an ihrer Ausbil-dung gehindert werden. Ausprägen tun sich aber die richtigen Merkmale, wenn ordentlich nach außen abgewehrt wird (durch die Helferzellen vermittelt). So vermitteln beide inei-nandergreifend das Zusammenarbeiten der übrigen Lebensprozesse und nehmen so eine Mittelstellung ein. Bei einer Erkrankung wie AIDS wird gezielt dieses System zerstört. Darum ist es eine der zentralsten Erkrankungen des Systems der Lebensprozesse.

Page 11: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

11:

Lebensprozesse in der Seele Eine der Grundlagen der Menschenkunde Rudolf Steiners ist der Gesichtspunkt, dass diejeni-gen Vorgänge, die insbesondere in der Kindheit im Leib gebunden sind um ihn heranreifen zu lassen, nach und nach in der Seele zur Verfügung stehen. Nachdem sie den Leib gebildet ha-ben, stehen sie nun der Seele zum Bildungsprozess zur Verfügung. Herausragend ist dabei der Schritt, der mit dem ersten vollständigen Gestaltwandel und Organerneuerung verbunden ist: der Moment der Schulreife mit Proportionsumkehr und Zahnwechsel, mit dem der Ätherleib „geboren“ wird. Dies ist aber eine Etappe auf einem längeren Weg.

Nur wenn die Lebensorganisation (Ätherleib) so nun einem seelischen Prozess zur Verfügung steht, sollten wir überprüfen, inwieweit wir dieselben Prozesse, die dabei leiblich als Tätigkei-ten der Lebensorganisation festzustellen waren, nicht auch in der Seele zu finden sind.

Auch die Seele hat eine Seite, die sich der Außenwelt zuwendet und eine, die sich auf die Ausbildung innerer Qualitäten bezieht.

Der Außenwelt wenden wir uns als Wahrnehmungswelt seelisch zu und der Innenwelt im Ideenbilden. Auch die Wahrnehmungswelt wird in einem Dreischritt „verarbeitet“:

1) Das erste Gegenüberstehen und Gewahrwerden der seelisch rezipierbaren Außenwelt nen-nen wir „Wahrnehmen“. Dieser Vorgang ist auf dem Feld der Seele ein Aufnahmevor-gang.

2) Die „Angleichung an das innere Milieu“ findet statt, wenn aus dem Tausenderlei an Wahr-nehmungen, die an uns vorbeirollen, Einzelnes in uns auf „fruchtbaren Boden“ fällt. Insbe-sondere alles das, was aus der Wahrnehmungswelt dem entspricht, was wir auch wahrzu-nehmen erwarten, uns die Orientierung erleichtert, gewohnt ist und, kaum zu Bewusstsein kommend, in unser Bild von der Welt passt, fliegt nicht an uns vorbei, sondern „lebt“ in uns weiter. Anderes, was unerwartet kommt, durchbricht die Abfolge und engagiert uns bereits hier primär seelisch, während wir jetzt auf die Lebensvorgänge in der Seele schau-en und nicht auf die seelischen Vorgänge selber. Mit dem beschriebenen Vorgang aber er-scheint uns die Sinneswelt wie ein Teppich, als eine Grundlage, dass wir uns in ihr bewe-gen können. Im immer wieder wahrnehmen des Gleichen oder des Gewohnten oder im rhythmischen Wechsel von Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Laut und Leise, Wald und Wiese, Stadt und Land, Schönem und Interessantem, Anziehendem und Neutralem, be-kommt die Welt etwas Vertrautes, kommt mir durch diesen Prozess noch nicht zum Be-wusstsein, aber potentiell wird es an die Bewusstseinsschwelle herangehoben und steht mir zur Verfügung. Das Gespräch in einer fremden Sprache gibt mir wohl die Vertrautheit von Sprache, aber nicht die Verfügbarkeit für das Bewusstsein. Das Gespräch anderer Fahrgäs-te im Zugabteil aber sehr wohl, auch wenn ich nicht zuhöre. Sobald es für mich interessant wird, tritt der nächste Lebensprozess ein. Aber dieses Verfügbarmachen, Gewohnheitsbil-den, Vertrautmachen der Welt, das Grundlage der Erinnerung ist, ist der Inhalt dieses zweiten Lebensprozesses. Wir können ihn „Merken“ oder „Aufmerken“, „Vertraut ma-chen“ „In Beziehung treten“ oder „Aufmerksam werden“nennen. Hier wird auf dem Feld der Seele das Aufgenommene dann das Milieu der Seele angeglichen.

3) Sobald wir auf dem Feld des Vertrauten einen gezielten Zugriff des Interesses tätigen, tritt eines aus dem Zusammenhang heraus und der Rest blasst ab, tritt zurück. Meist erregt ein Gegenstand mein Interesse und dimensioniert sich größer, wird lauter, lichter, heller. Dabei wird das Gesamte zerstört und der Zusammenhang geht verloren. Mehrere Menschen se-hen in ein und derselben Sache unterschiedliches: In einer Wiese sieht der Grundstücks-spekulant einen hohen Freizeitwert für ein zu bauendes Hotel, der Botaniker sieht die Sel-

Page 12: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

tenheit, dass ein Salomonssiegel mitten auf der Wiese steht und schon Ende April blüht, der Landwirt sieht wie viel Doppelzentner Getreide er ernten kann, der Künstler sieht die Farben und das spielende Kind die optimale Rodelbahn für den Winter.... Alle sehen sie das Selbe, jeder aber mit seinem Auge und durch ein anderes Interesse gelenkt. Diesen Zu-griff ruft ein Signal, eine Erinnerung, ein auffallender Gegenstand, eine ungewohnte oder unvorhersehbare Situation oder ein Interesse hervor, ein Engagement meiner Seele. Dieser Zugriff zergliedert und zerstört das ganze. Wenn ich etwas begreifen will, von einer Pflan-ze wissen will, welche sie ist, muss ich vom Gesamteindruck zum Speziellen übergehen, Staubgefäße zählen, Blattformen beachten etc. Der Blick zergliedert. Entnimmt dem Gan-zen Teile, oft nacheinander. Wir können diesen Vorgang „Individualisieren “ oder auch „Konzentrieren“ nennen. Hier wird auf dem Niveau der Seele zerstört.

4) Der vierte Lebensprozess in der Seele wird wieder an letzter (achter) Stelle als Bindeglied beschrieben.

5) Die Wiederherstellung erfolgt in der Seele mit einer viel größeren Freiheitsspanne. Neh-men wir als Beispiel den Begriff von den sieben Lebensprozessen. Wir können die einzel-nen der sieben Prozesse auswendig lernen. Die dahinterstehende Idee, das Erlebnis von der Gesamtheit des Prozessorganismus entsteht nicht aus der Erinnerung, sondern ist nur da, wenn es in dem Moment als Erlebnis wiederhergestellt wurde. Das kann aus der Abfolge der Lebensprozesse und deren Spiegelungen erfolgen, muss aber in dem Moment neu ent-stehen. Die Idee ist nicht erinnerbar und wird aus den erinnerbaren oder herleitbaren Be-griffen neu aufgebaut. Die Einzelheiten einer Wahrnehmung sind der Welt entnommen und gerinnen in Begrifflichkeit. So auch der Begriff „Kreuzgegenständige Blätter am vier-kantigen Stängel“ beim Betrachten einer Pflanze. Der Gesichtspunkt sie zu ordnen zu einer Gesamtheit: hier der Lebensprozessorganismus, dort z.B. „Lippenblütler“ ist nicht Wahr-nehmung, sondern kommt aus der Ideenwelt, aus meinem Innern, weil es sich als fruchtbar erwiesen hat, so zu ordnen. Der Wahrnehmung gegenüber kann ich skeptisch bleiben, weil ich nie weiß, wie vollständig die Erfahrung, wie trüb mein Auge oder wie verfälscht sich mir die Welt dargeboten hart. Was ich aber aus der mir zur Verfügung stehenden Summe an Erfahrungen an Ideen bilden kann, dazu habe ich ein anderes Verhältnis, weil ich es bin, der die Idee hervorbringt. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“ kann man nur sagen, wenn man sich seiner selbst sicher ist, wozu ein direkteres Verhältnis besteht, als zur Welt. Diese Idee verblasst, wenn ich sie nicht immer wieder neu erlebend denke. Nach Jahren ist man überrascht, wenn man erneut etwas liest, was man seinerzeit an Ideen niedergeschrieben hat.

Diese Ideen leben am deutlichsten in Bildern, denn der Ideengehalt lässt sich darin am bes-ten „einfangen“, nicht so sehr die Begriffe, die umso klarer erkennbar sind, je präziser sie dargestellt sind, z.B. als wissenschaftliche Beschreibung. Solche Bilder sind z.B. Märchen: die Bremer Stadtmusikanten als Bild der 4 Wesensglieder: Am Anfang vereinzelt, alt, schwach, krank, ohne Nahrung und müde; am Ende zusammen, zueinander geordnet, wie-der kräftig, gesund und ausreichend ernährt. Ein Bild für Gesundheit und Krankheit, als Idee, wie die zusammenhangslosen Wesensglieder zur Krankheit, die zusammenarbeiten-den Wesensglieder zur Gesundheit führen. Daran ist das Bild angemessen, prozessual, also dynamisch und direkter aufbaubar, als durch das Bearbeiten der Begriffe. Die Begriffe füh-ren nicht zur Idee, sondern an eine Mauer, an der man nicht ohne weiteres weiterkommt. Das Bild lebt seiner Natur nach mehr in der Welt der Ideen selber. Die Idee ist nicht die Summe der Begriffe, sondern ist in dem, was zwischen den Begriffen verbindend lebt. Dieses Verwobensein der Begriffe zu einer Idee hat bei Göbel zu der Namensgebung „verwebendes Denken“ geführt, weil die Tätigkeit dieses seelischen Lebensprozesses darin

Page 13: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

besteht, dieses Verweben zu leisten. Da es bildschaffend ist und diese Bilder einer Ideen-welt oder einer Urbildwelt (Archetypen) angehören, in die wir hineinwachsen mit einer Erkenntnismethode, die Rudolf Steiner „Imagination“ nennt, kann man es auch „imagina-tives Denken“ nennen. Diese Ideen sind nicht erinnerbar. Wenn sie wieder in der Seele gegenwärtig sein sollen, müssen sie wieder aufgebaut werden.

6) Eine einmal gefasste Idee ist schön und die Seele kann angesichts ihrer ins Schwärmen kommen, der Bildcharakter macht sie rund, alles ist auf alles bezogen, es wirkt stimmig und rund. Wachsen kann die Idee dadurch nicht. Oben haben wir den Wachstumsvorgang als ein Reifen an der Welt nach einem inneren Gesetz beschrieben. Auch Ideen können an der Welt reifen, wenn wir sie der Welt aussetzen, indem wir mit ihnen in der Welt arbeiten. Pflanzen betonen die Lebensprozesse unterschiedlich. Die Keimzuppe „Bryophyllum“ be-tont den Reproduktionsvorgang, indem sie nicht nur in der Blüte sich vermehrt, sondern an den Blatträndern lauter Tochterpflanzen wachsen lässt, die sich schier unendlich vermeh-ren. Ist bei einem Menschen der reproduktive Lebensprozess geschwächt, kann Bryo-phyllum als Heilmittel helfen. Wenn es das tut, bestätigt sich die Idee, wenn es nicht hilft, bedarf sie einer Korrektur. „Was fruchtbar ist, ist wahr“ sagt Goethe. Dieses Erlebnis von Fruchtbarkeit, diese Bestätigung am Erfolg ist vergleichbar der Stabilisierung des Kno-chens bei Belastung: Die Idee wird stabil, bekommt Konsistenz, wird belastbar und durch Erfahrung gesättigt.

Das was aber im Zuge der Betrachtungen immer deutlicher wird, ist, dass die Lebenspro-zesse, die wir zuerst am Leib kennengelernt haben, nun auch in der Seele wiederzufinden sind. Die Idee bleibt die selbe, aber sie erobert immer mehr Felder. Wir werden sie im Hinblick auf die Biographie, in Hinblick auf soziale Vorgänge noch betrachten. Die Le-bensprozesse bleiben die selben, aber das Feld, auf dem sie auftreten, wechselt. Auch dies ist ein Wachsen! Sie wird voller und reicher.

Beide Wachstumsvorgänge verlassen das imaginative Denken, das in sich selber ruht und sich selber genug ist. Besonders die Konfrontation mit der „Wirklichkeit“ wird gerne ge-scheut – sie tut weh. Die Welt und meine Idee – zwei gleich starke Wirklichkeiten, eine Konfrontation: wir nennen es „inspiratives Denken“

7) Lebensprozesse gelten nur in Zusammenhängen, die von einem Lebensorganismus gestal-tet werden und nur in Bezug auf sie. Stehen wir vor einem Problem, das nicht durch Le-bensprozesse erklärt werden kann, so benötigen wir eine andere Idee. Diese neue Idee kommt intuitionsgleich, wenn sie kommt, oft nach langen Irrwegen. Dieser fruchtbare Moment, wo plötzlich alle bislang widersprüchlichen Teilaspekte sich in einem gemein-samen Gesetz lösen, ist einer, in dem ich mit dem Ergebnis ganz eins bin und gänzlich verbunden. Dieses Hervorbringen einer neuen Idee ist ein Lebensprozess, den wir „intuiti-ves Denken“ oder „kreatives Denken“ nennen können.

Wieder stehen sich zwei Dreiergruppen von Prozessen gegenüber: diejenigen, die die Wahr-nehmungswelt verarbeiten und Erlebnisse „verdauen“ und diejenigen, die produktiv in der Seele neues schaffen. Die ersteren verarbeiten die Wahrnehmungswelt, die letzteren bilden in der Seele nach eigenem Muster und eigenen Gesetzen eine eigene Welt auf. Der vierte Le-bensprozess verbindet diese zwei Seiten wieder miteinander:

8) Der vierte Lebensprozess vertieft zur einen Seite hin die Fähigkeiten der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung und zur anderen Seite den Ideenaufbau. Der Sonderungs-vorgang im Leib tat dies durch die Sekrete, in der Seele geschieht dies durch das fragende Interesse. Die vertiefte Frage an die Wahrnehmungswelt vertieft die Wahrnehmung, deren

Page 14: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Einbeziehung zum Erfahrungs- und Gewohnheitshorizont und vertieft das Interesse an den Einzelheiten, die klarer und isolierter gesehen werden können. Die Frage an den Zusam-menhang, in den das Wahrgenommene einzuordnen ist, ist die Frage an meine Ideenwelt, ihre Imaginations- Inspirations- und Intuitionskraft. Einen Kranken stellen wir diese Fra-gen: „Was hast Du?“ und „Was fehlt Dir?“ Gegensätzlicher kann man kaum fragen und dennoch werden sie synonym gebraucht. Frage ich, was der andere hat, will ich verstehen, was zu sehen und zu erleben ist. Die Frage ist beantwortet, wenn man weiß, was der andere hat und wie die Erkrankung entstanden ist. Die Frage nach dem, was fehlt, setzt voraus, dass man am anderen wahrnimmt, dass etwas, was man vermuten könnte, nämlich eine In-tegrität der Kräfte, nicht wahrnehmbar ist. Diese Frage basiert darauf, dass ich etwas nicht wahrnehme, was ich wahrzunehmen erwartet hatte. Diese Erwartung, das Bild von einer Ganzheit und einer Komplettheit der Kräfte, kommt aus mir, aus meiner Ideenwelt – und die Wahrnehmung ist demgegenüber reduziert. Ich nehme wahr, dass ich etwas nicht wahrnehme! Somit nehme ich etwas nichtsinnliches wahr, eine simple Form der übersinn-lichen Wahrnehmung... Mit „was fehlt Dir?“ frage ich nach diesem Defizit. Es ist eine Frage, die erst befriedigt ist, wenn ich weiß, was der andere braucht, um wieder ganz wer-den zu können. Es ist eine therapeutische Frage. Die erste richtet sich an die Wahrneh-mung, nach außen, die zweite nach Innen an die eigene Ideenwelt.

In der folgenden Graphik werden die bislang beschriebenen Zusammenhänge schematisch dargestellt und die leiblichen Lebensprozesse (unten) den seelischen Lebensprozesse (oben) gegenübergestellt:

Frage

Individualisie-

ren

Imaginatives Denken

Merken

Inspiratives Denken

Wahrnehmen

Intuitives Den-ken

Aufnehmen Reproduzieren

Angleichen Wachsen

Zerstören Wiederherstel-

len

Sondern

Page 15: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

15:

Die Lebensprozesse und die menschliche Biographie

Die für die menschliche Seele besprochenen Lebensprozesse stehen als intentional benutzbare Werkzeuge innerhalb der Biographie erst nacheinander zur Verfügung.

1) In den ersten Lebensjahren bis zum Erwerb der Schulreife ist die hervorstechendste Tätig-keit des Kindes das Wahrnehmen. Alles was Nachahmen ist, ist die hervorstechendste Entwicklungsleistung in den Jahren bis zur Schulreife. Und Nachahmung ist in erster Linie Wahrnehmung! In dieser Hinsicht ist für eine gesunde Entwicklung auf die Bedeutung der Sinnesentwicklung zu verweisen, die an anderer Stelle für die basalen Sinne beschrieben worden ist. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, kann die Wahrnehmungsbetonung der ersten Jahre daran nachvollzogen werden, wie ein Kind immer wieder wahrnehmen will: „Papa, noch mal“, wenn eine Geschichte vorgelesen wurde; es will das Gewohnte wieder und wieder wahrnehmen! „Wenn ich mal groß bin, gehe ich auch in die Praxis, habe auch eine Brille und auch Haare in der Nase“. Das Kind sieht die Dinge holistisch, das Einzelne wahrgenommene steht für das Ganze! Beim Versteckspielen will das kleine Kind gefunden werden: „kuckuck, hier bin ich!“ ist attraktiver, als das Nichtgefundenwerden. Weiter ist das jetzt erlebte total: „Du bist doof, du bist überhaupt immer doof – du bist lieb, du bist sowieso immer lieb“ sind Äußerungen, die im Minutentakt wechseln können, denn die jetzt erlebte Wirklichkeit ist alles, sie steht für alles und sie ist total.

Dabei ist die Entwicklung davon abhängig, dass sich das Kind mit einem großen Vertrau-ensvorschuss der Wahrnehmung hingeben kann. Die Neugier, das Wahrnehmenwollen sind davon abhängig, dass das Kind vorbehaltlos diese Wahrnehmungen machen kann, denn sonst, wenn es Gefahr vermutet, hält es sich zurück, ahmt nicht nach und ist an der Ausübung einer wesentlichen Entwicklungsleistung gehindert. Das gilt natürlich nicht für das Detail, denn die Verarbeitung negativer Erfahrungen ist für die Entwicklung nötig („gebranntes Kind scheut Feuer“), aber für das gesamte Wahrnehmungsambiente. Dazu bringt das Kind eine Grunderwartung mit, die uns jedes Mal erschaudern lassen kann: Eine grundsätzliche Erwartung an die Welt, dass sie gut sei! Das ist die Voraussetzung für eine engagierte Wahrnehmung. Ist diese Erwartung enttäuscht, hält sich das Kind mit dem Wahrnehmen zurück, ahmt nicht mehr nach und bildet seinen Organismus nicht in dem Maße aus, wie es für eine gesunde Entwicklung erforderlich ist.

Der erste Lebensprozess ist das Werkzeug, mit dem das Vorschulkind in der Zeit bis zur Schulreife seine seelische Entwicklung dominant und intentional führt. (Die anderen Le-bensprozesse stehen auch, aber nicht selbstgesteuert zur Verfügung.) Im ersten Jahrsiebt tritt der erste Lebensprozess in der Seele auf und lenkt die Entwicklung. Um dies zu kön-nen, braucht das Kind die Erwartung und die Erfahrung: „die Welt ist gut“. Kommt es nicht zu diesem Erleben, ist die Ausprägung dieses Lebensprozesses behindert und die bi-ographische Entwicklung problematisiert.

2. Bei einer anstehenden Autofahrt sollten die Kinder angeschnallt werden. Der fünfjährige Sohn (Kindergartenkind) hatte anderes, in seinen Augen viel „Wichtigeres“ zu tun. Die Zeit eilte, die Stimmung war ohnehin gereizt, und als der Sohn trotz wiederholter Auffor-derung den Gurt nicht anlegte, stieg der Vater wieder aus um selbst dem Sohn den Gurt umzulegen, was diesem gar nicht gefiel und Anlass zu diversen Kraftausdrücken bot. Das Ganze gipfelte in den Worten: „Papa, du bist doof, du bist sowieso immer doof“. Die grade acht Jahre alt gewordene Tochter (Ende der ersten Klasse) korrigierte den Bruder, indem sie zum Vater sagte: „Nein, das stimmt nicht, Papa, du bist lieb, du bist immer lieb, auch

Page 16: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

16:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

dann, wenn ich dich doof finde.“ Dieser Schritt vom Kindergartenkind zum Schulkind ist nicht zu unterschätzen in seiner Dimension. Es ist der Erwerb eines seelischen Innenrau-mes, der mit der Erlangung der Schulreife stattfindet. Ein Raum, in dem einmal Erworbe-nes erhalten bleibt, auch wenn der äußere Augenschein dem entgegensteht und wider-spricht! Was vorher Wahrnehmung war, ist nun innerer Reichtum geworden oder ist die Fähigkeit inneren Reichtum zu erwerben und eine Welt zu erschaffen, mit der die Wahr-nehmungen abgeglichen werden können, was die Voraussetzungen für den zweiten Le-bensprozess in der Seele ist. Das ist die Grundlage des bewussten Lernens und darum die Voraussetzung zum Schulbesuch. Aber noch ist nicht die Fähigkeit vorhanden abstrakt und eigenschöpferisch zu lernen und zu denken. Zunächst lernt das Kind bevorzugt, was es zu sich in Beziehung bringen kann und was in dieser Innenwelt Raum findet. Und was zu die-ser Innenwelt passt, erlebt das Kind als schön, weswegen es leichter Dinge aufnehmen kann, die dieses Erlebnis mit einbeziehen. Das betrifft alle Lerninhalte, die umso besser in den ersten Schuljahren aufgenommen werden können, wenn sie zu eigenen Lebensvorgän-gen in Bezug gebracht werden können: das Rechnen zu den eigenen zehn Fingern, die Einmaleinsreihen zum eigenen gelaufenen und geklatschten Rhythmus, die Buchstaben zu innerlich nacherlebbaren Bildern usw. Diese Übereinstimmung der Welt mit seinem eige-nen Dasein erlebt das Kind als schön und wird damit eingängig und wird behalten. Die ei-gene Gestalt und der eigene Rhythmus sind dabei die wichtigsten „Innenerlebnisse“, an die die Welterfahrung „angeglichen“ werden kann, die Verwendung archetypischer Bilder das Vehikel, den Zugang zum unterbewusst empfundenem Selbsterleben zu finden und so das Gelernte tiefer zu verankern. Konstruierte Bilder bewirken das Gegenteil, denn sie sind nicht lebensvoll, sondern abstrakt. Ein altes Mittel das Gelernte tiefer zu verankern ist das Ritual, das aus solchen Bildern (Sprüchen, Liedern, Spielen) besteht und rhythmisch in ei-nem entsprechenden Sinnkontext wiederholt wird. Alles das führt zu dem Erlebnis der Übereinstimmung von Welt und Selbst – und das ist das Erlebnis von Schönheit in diesem Alter. In der Erwartung des Erlebnisses von Schönheit ist das Kind lernwillig und das Er-lebnis von Unschönem hindert das Lernen. Unschön ist nicht nur das Abstrakte, sondern ist auch die erlebte fehlende Übereinstimmung des Lehrenden mit dem, was er lehrt. Das sind insbesondere die sogenannten doppelten Botschaften, bei denen Haltung, Betonungen, Gesten etc. nicht zu dem gesprochenen Inhalt passen.

Kommt das Kind in diesem Alter zwischen Schulreife und Pubertät zu dem Erlebnis: „die Welt ist schön“, kann es den zweiten Lebensprozess voll zur Entfaltung bringen, kommt es grundsätzlich zu dem gegenteiligen Eindruck, bleibt dieser Lebensprozess in der Seele ru-dimentär. Damit tritt ein Problem für die biographische Entwicklung auf, die darauf ab-zielt, alle Werkzeuge des Lebensprozessorganismus in der Seele bereit zu stellen.

3) Setzt sich der zweite Lebensprozess in der Seele mit der Welt in Beziehung, so setzt sich der dritte Lebensprozess mit der Welt selber auseinander. Dies nach eigenen und nicht welt- oder fremdbestimmten Gesichtspunkten zu tun, ist Teil des Pubertätsdramas, wenn das, was ich sehe und sehen will, so entscheidend wird, dass man bereit ist, alle, die die Welt anders sehen, für nicht normal zu halten. Es ist eine Suche nach den eigenen Wahr-heiten, wenn auch diese Suche zunächst dazu führen kann, dass nicht ohne jeweiligen All-gemeingültigkeitsanspruch diese Wahrheiten in kurzer Frist wechseln... Meine Wahrheit ist dabei dann meine eigene, wenn sie anders ist, als die der Menschen, die für mich bis dahin Richtschnur waren. Auf der Suche nach dem eigenen Standpunkt, der das in diesem Alter notwendige Selbstgefühl erzeugt, muss man sich abgrenzen. Sich gegenüber Jemanden ab-

Page 17: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

17:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

zugrenzen, den man vorher schon abgelehnt hat, bringt für dieses Selbstgefühl keinen gro-ßen Ertrag – das gelingt besser gegenüber denjenigen Menschen, die man in Wirklichkeit liebt oder akzeptiert. Das bedeutet aber auch, dass es nicht um eine Verletzung des Ande-ren geht, so verletzend die Abgrenzung zuweilen auch sein kann, sondern um das Erlebnis: „was bleibt vom Anderen übrig, wenn ich den Lack der Konvention und seines Rollenver-ständnisses abkratze – wer ist der Andere wirklich, wenn er seiner Funktion als Erzieher, Lehrer, Mutter, Vater etc. entkleidet ist?“ Ist der Andere dann ein Nichts, der nur mit Macht auf seinem Recht beharrt und autoritär sich durchsetzt, oder ist er authentisch und zu einer Auseinandersetzung bereit? Das Ich des Anderen, das sich hinter seiner Rolle ver-birgt, die er mir gegenüber spielt, will erlebt werden! Der Pubertierende, dessen Seele in Aufruhr gerät, erlebt den Mangel seines Ich, das ihm noch nicht als selbstbewusstes We-sensglied zur Verfügung steht und erlebt in seiner Seele den Ersatz desselben als Selbstge-fühl, sucht aber als Orientierung das Ich-Erlebnis am Anderen. Es ist eine Frage nach Wahrhaftigkeit und Wahrheit.

Kommt es in diesem Alter zu dem Erlebnis: „die Welt ist wahr“, kann der dritte Lebens-prozess in der Seele voll zur Entfaltung kommen. Kommt es nicht zu diesem Erlebnis, so ist der dritte Lebensprozess geschwächt und die weitere Entwicklung problematisiert.

Der erste Lebensprozess vermittelt in der Seele die Wahrnehmungen. Zur Wahrnehmung be-nötige ich Sinne und Sinnesorgane, die diejenigen Organe sind, die nach Rudolf Steiner am stärksten Ausdruck des physischen Leibes sind. In diesem Alter der Vorschulzeit steht als „Wesensglied“ der physische Leib dem Kind als eigenständiges Wesensglied zur Verfügung. Im zweiten Lebensprozess bilden wir Erinnerung, Merkfähigkeit, Gewohnheiten und Lernfä-higkeit aus. Nach Rudolf Steiner sind das insbesondere diejenigen Fähigkeiten, welche die Lebensorganisation („Ätherleib“) besorgt, wenn sie „frei“ geworden ist. Im dritten Lebens-prozess tritt die Empfindungsorganisation („Astralleib“) in Erscheinung. Sie wird mit der Pu-bertät „geboren“, wie Rudolf Steiner es ausdrückt. Wir sehen daran, dass die Lebensprozesse auch Geburtshelferfunktion für die „Geburten“ der anderen Wesensglieder haben. Der vierte Lebensprozess bringt das „Ich“ in Erscheinung. Das geht über drei Etappen, was zur Ausbil-dung von drei Gliedern der menschlichen Seele führt: zur Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und zur Bewusstseinsseele führt:

4) Der vierte Lebensprozess dient der Hervorbringung des Ich. Deutlich kann das werden, wenn man z.B. in Goethes Biographie, die für vieles typisch ist, das entsprechende Alter anschaut.

a. Mit Anfang Zwanzig entwickelt Goethe mit einigen anderen Schriftstellern den „Sturm und Drang“. In seinen Dramen („Wenn ich nicht Dramas schrieb, ging ich zu-grund“) kommt dabei sein Wesen zum Ausdruck. In den Dramen „Urfaust“, „Die Laune des Verliebten“, „Die Mitschuldigen“, „Götz von Berlichingen“, „Satyros“, „Claudine von Villa Bella“, „Clavigo“, „Stella“, „Die Geschwister“, „Egmont“ und anderen geht es um ein Verinnerlichen der Wahrheitsfrage des dritten Lebensprozes-ses. Z.B. ist das Thema Eifersucht in allen nur denkbaren Varianten beschrieben. Oft im Liebeskummer entringt er sich Dramen oder auch Gedichte, in denen er bei allem was im äußeren Leben zerbricht, das Bleibende zu suchen. Man kann die Werke unter eine Überschrift stellen: „Wie erlebe ich die Welt und wie erlebe ich mich selber?“

Page 18: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

18:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Der vierte Lebensprozess ist in der Seele der der Frage. Hier richtet sich die Frage mehr an die Welt und die Beziehung zur Welt: Empfindungsseele.

b. Ende Zwanzig fährt Goethe nach Weimar. Unterwegs kippt seine Postkutsche wegen der schlechten Straßenverhältnisse im Herzogtum Weimar um. In Weimar wird er von Herzog Karl August bald zum Verkehrsminister gemacht. Aber das Budget ist zu schmal um die Straßen zu sanieren. Er wird dann Kriegsminister, schafft das Militär ab, spart das Geld dort ein, um es in den Straßenbau zu stecken.... Hier ordnet er die Welt. Zugleich ordnet er ein menschliches Verhältnis:

Warum gabst du uns die tiefen Blicke, unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun, Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke Wähnend selig nimmer hinzutraun? Warum gabst uns, Schicksal die Gefühle, Uns einander in das Herz zu sehn, Um durch all die seltenen Gewühle Unser wahr Verhältnis auszuspähn?

Ach so viele tausend Menschen kennen, Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz, Schweben zwecklos hin und her und rennen Hoffnungslos in unversehnen Schmerz; Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden Unerwart´te Morgenröte tagt. Nur uns armen liebevollen Beiden Ist das wechselseitge Glück versagt, Uns zu lieben, ohn uns zu verstehn, In dem andern sehn, was er nie war, Immer frisch auf Traumglück auszugehen Und zu schwanken auch in Traumgefahr.

Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt, Glücklich, dem die Ahndung eitel wär! Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt Traum und Ahndung leider uns noch mehr. Sag, was will das Schicksal uns bereiten? Sag, wie band es uns so rein genau? Ach, du warst in abgelegten Zeiten Meine Schwester oder Frau.

Kanntest jeden Zug in meinem Wesen, Spähtest, wie die reinste Nerve klingt, Konntest mich mit einem Blicke lesen, Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt; Tropftest Mäßigung dem heißen Blute, Richtetest den irren wilden Lauf, Und in deinen Engelsarmen ruhte Die zerstörte Brust sich wieder auf;

Page 19: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

19:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Hieltest zauberleicht ihn angebunden Und vergaukeltest ihm manchen Tag. Welche Seeligkeit glich jenen Wonnestunden, Da er dankbar dir zu Füßen lag, Fühlt´ sein Herz an deinem Herzen schwellen, Fühlte sich in deinem Auge gut, Alle seine Sinnen sich erhellen Und beruhigen sein brausend Blut.

Und von allem dem schwebt ein Erinnern Nur noch um das ungewisse Herz, Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, Und der neue Zustand wird ihm Schmerz. Und wir scheinen uns nur halb beseelet, Dämmernd ist um uns der hellste Tag. Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet, Uns doch nicht verändern mag!

Der ordnende Effekt einer menschlichen Begegnung, die leitend in dieser Zeit für ihn ist (Charlotte von Stein) wird hier verarbeitet. Die Frage dieses biographischen Ab-schnittes ist: „Wie ordne ich die Welt und wie ordne ich mein eigenes Selbst?“: Ver-standes- oder Gemütsseele. Die Dramen, die jetzt entstehen (z.B. „Torquato Tasso“) sind nicht mehr wild. Tasso wird in den gezähmten Versen des Hexameter geschrie-ben.

c. Mit Mitte Dreißig entflieht Goethe dem Weimarer Hofleben und erfüllt sich einen al-ten Wunsch: er reist nach Italien. Lange zuvor hatte er in Weimar Botanik studiert. In Palermo schreibt er abends in sein Tagebuch: „ich habe sie gesehen“. Er meint die Ur-pflanze, in der er das Gesetz, nach dem die Pflanzen alle gebildet sind, als Idee wesen-haft geschaut hat. Zurück in Weimar entschließt er sich zu einer Verbindung mit Christiane Vulpius, eine Verbindung, mit der er sich gänzlich den Konventionen des Hoflebens entgegenstellt und seine gesamte bürgerliche Existenz aufs Spiel stellt, wenn er mit ihr in wilder Ehe lebt und Kinder zeugt. „Was ist das Wesen der Welt und was ist mein eigenes Wesen?“ könnte die Frage sein, die für diese Zeit leitend ist: Be-wusstseinsseele.

Page 20: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

20:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

5) Die weiteren Lebensprozesse treten in den Entwicklungsepochen danach in der Seele auf. Ihre hervorbringende Potenz bezieht sich auf Wesensglieder, die nach Rudolf Steiner noch zukünftig sind. Der fünfte bringt als Wesensglied den „Geistesmenschen“ hervor, das erste Wesensglied, das über das Ich herausragt und darum bei uns allenfalls in Gemeinschaften von Menschen zu erleben ist. Imaginativ erleben wir damit das „Mehr“ als das, was die Summe der Einzelnen ist, das was Martin Buber „den Zwischen“ nennt. Was Wahrheitssu-che im dritten Lebensprozess war, wird hier zur Anerkennung anderer Wahrheiten, als der, die meine eigene ist. Es besteht eine Integrationskraft für Anderes zu einem Gemeinsamen.

6) Der sechste Lebensprozess bringt ein weiteres Wesensglied hervor, den „Lebensgeist“. Er ist ein weiteres zukünftiges Wesensglied, das nur in Abschattungen verwirklicht wird. Nicht das Gemeinsame, sondern das Andere des Anderen wird mit Toleranz erlebt.

7) Das letzte und siebte Wesensglied wird durch den siebten Lebensprozess hervorgebracht und ist das zukünftigste. Beim älteren Menschen erleben wir es als „Güte“ der Altersweis-heit andeutungsweise.

Page 21: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

21:

Die Lebensprozesse und Erkrankungsmöglichkeiten In dem Märchen von den sieben Raben von den Gebrüdern Grimm wird von Eltern erzählt, die sieben Söhne hatten und sich sehnlich eine Tochter wünschten. Diese wurde geboren, war aber so zart, dass sie eine Nottaufe erhalten sollte. Dafür wurde einer der Brüder losgeschickt, das Taufwasser zu schöpfen. Aber es rannten alle los, jeder wollte der Schwester diesen Freundschaftsdienst leisten, aber so kam es am Brunnen zu einem Gerangel und der Krug fiel in den Brunnen. Die Brüder trauten sich nicht nach Hause, wo der Vater ungeduldig wartete. Als sie nicht kamen, sprach er einen Fluch aus: „ach, diese gottlosen Knaben, wären es doch alle Raben!“ – Kurz darauf hörte ein Schwirren über sich und sieben Raben flogen von dan-nen....

In Märchen sind die Eltern (von denen wir unseren physischen Leib haben) Bilder des Leibes. Töchter, Mädchen, Prinzessinnen, Dornröschens, Aschenputtels etc. sind Bilder der Seele. Hier waren Eltern, die hatten bereits sieben Söhne und ersehnten sich eine Tochter. Es war ein Leib, der hatte sieben Eigenschaften, ein belebter Leib mit sieben Lebensprozessen, und die Seele wurde erwartet. Das ist der lebendige Leib, der kurz vor der Geburt in dem Zustand ist, dass mit der Geburt die Seele Einzug hält. Wenn die Seele auftritt mit der Geburt, ist sie noch zart. Einer der Lebensprozesse wird ausgesandt das Taufwasser zu schöpfen, schöpferisch das Wasser, in dem alles Leben sich abspielt, zu etwas zu gebrauchen, das der Seele zum Leben hilft. Ein Lebensprozess wird vom Sohn der Eltern zum Bruder der Schwester. (Wir hatten gesehen, dass alle Lebensprozesse beides sind – leibgerichtet sind sie „Söhne“ der Eltern, seelengerichtet sind sie „Brüder“ der Schwester – biographisch gesehen findet dies in einem Nacheinander statt.) In den ersten Jahren ist es der erste Lebensprozess, den wir „Aufnehmen“ im Leib und „Wahrnehmen“ in der Seele genannt haben. Aber es ist bedrohlich, wenn alle sieben ihre Dominanz im Leib aufgeben und gleichzeitig in der Seele präsent sind.

Wenn wir in den ersten Jahren nicht zu dem Erfahrungsergebnis gekommen sind, dass die Welt gut ist, entsteht ein Problem: Gewalt, Elend, mangelnde Zuwendung, fehlende Sinneser-fahrungen etc. lassen dieses Erlebnis nicht zu, besonders wenn damit ein Maß überschritten ist, dass sich dieser Lebensprozess nicht in der Seele voll entfalten kann. Dann kommt es zu dem Ergebnis, dass die Welt ungut ist. Diese Erfahrungen werden aufgrund von Erlebnissen gemacht, die sich als unschön eingeprägt haben. Um sie zu vermeiden, werden kindliche Stra-tegien entwickelt, die mit Unwahrheit verbunden sind. Gibt es Prügel, wenn man etwas be-gehrtes, aber verbotenes getan hat, dann kommt es zu unguten und unschönen Szenen, die gemerkt werden. Um sie zu vermeiden, lügt man: „das war ich nicht“. „Die Welt ist gut“ ist das Erlebnisziel des ersten Jahrsiebtes, „die Welt ist schön“ ist das Erlebnisziel des zweiten Jahrsiebtes, „die Welt ist wahr“ ist das Erlebnisziel des dritten Jahrsiebtes. Durch dominante ungute Erlebnisse kommt es bereits im ersten Jahrsiebt zu den Erlebnisergebnissen: „die Welt ist ungut, unschön und unwahr“. Durch eine traumatische Erfahrung kann es bereits im ersten Jahrsiebt dazu kommen, dass nicht nur ein, sondern (mindestens) drei Lebensprozesse in der Seele Auftreten und sich in ihr Gegenteil verkehren!

Damit verlieren sie ihre ursprünglich menschliche Qualität – sie werden zu Raben.

Als das Mädchen – so berichtet das Märchen weiter – groß geworden war, erfuhr es, dass es eigentlich Brüder habe. Es macht sich auf den Weg, sie zu suchen. Die Sonne und der Mond halfen dem Mädchen nicht, waren sogar feindlich eingestellt. Das Gestirn des Tages und das Gestirn der Nacht halfen nicht. Die Lebensprozesse in der Seele sind aktiv, wenn wir wachen, also am Tage. Die Sonne kann nicht helfen, wenn die Lebensprozesse in der Seele nicht, oder nicht aktiv angekommen sind. Die Lebensprozesse im Leib arbeiten im Dunkeln, im Verbor-genen, bevorzugt in der Nacht, wenn die Lebensvorgänge im Leib nicht von dem aktiven See-

Page 22: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

22:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

lenleben dominiert sind. Der Mond kann nicht helfen, wenn die Lebensprozesse nicht oder nicht im vollen Umfange im Leib tätig sind. Nur der Morgenstern hilft und sagt dem Mäd-chen, wo die Brüder zu finden sind: im Glasberg. Der Glasberg ist ein ähnliches Bild, wie der Morgenstern: Ein Zwischenreich bezeichnend zwischen gleißender Helligkeit des Tages und Finsternis der Nacht in der Farbenwelt der Dämmerung (Morgenstern) oder zwischen Verbor-genheit (Berg) und Sichtbarkeit (Glas), wie das „offenbare Geheimnis“ Goethes: Zwischen tagheller Seele und nachtfinsterem Leib: Im Bereich des Lebens. Statt im Leib und in der See-le zu arbeiten, sind die Lebensprozesse weder hier, noch dort: statt zur rechten Zeit am rech-ten Ort und im rechten Maße tätig zu sein, vagabundieren sie zur unrechten Zeit am unrechten Ort im unrechten Maß:

1. Statt im Leib zur rechten Zeit am rechten Ort im rechten Maß zu verdauen (erste drei Le-bensprozesse) verdauen sie den Leib: chronische Entzündung

2. Statt in der Seele zur rechten Zeit am rechten Ort im rechten Maß Erlebnisse zu verarbeiten (erste drei Lebensprozesse) verarbeiten sie die eigene Seele: Neurose

3. Statt in der Seele zur rechten Zeit am rechten Ort im rechten Maß produktiv in der Seele an dem Aufbau der Ideenwelt tätig zu sein (letzte drei Lebensprozesse) reproduzieren sie sich selber in bildschaffenden Halluzinationen (5. Lebensprozess), in sich selbst bestätigenden Zwängen (6. Lebensprozess) oder reproduzieren sich ständig in den manisch depressiven Erkrankungen (7. Lebensprozess): Psychose

4. Statt zur rechten Zeit am rechten Ort im rechten Maß den Leib zu erhalten, wachsen zu lassen und ihn zu reproduzieren, vollziehen sie diese Tätigkeiten am Leib, wenn ein Tu-mor sich auf Kosten des Gesamtorganismus erhält, Organgrenzen sprengend wächst, und sich in Metastasen reproduziert.

Frage Individualisieren Imagenieren Merken Inspirieren

Wahrnehmen Intuitieren Neurose

Psychose

Chron. Entzündung Tumor

Aufnehmen Reproduzieren

Angleichen Wachsen Zerstören Wiederherstellen Sondern

Nach Rudolf Steiner sind leibliche Erkrankungen primär durch die seelische und psychosozia-le oder biographische Geschichte bedingt und viele seelische Erkrankungen von der leiblichen Konstitution abhängig. Was also an leiblichen Lebensprozessen vom Leib freigegeben wor-den ist im Zuge der biographischen Gesetzmäßigkeit und durch die Schicksale, Erziehungs- und Selbsterziehungsbedingungen nicht in der Seele aktiviert worden ist oder traumatisch

Page 23: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

23:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

zurückgewiesen wurde und so nicht in der Seele „angekommen“ ist, fällt sekundär auf den Leib zurück und arbeitet statt im Leib an dem Leib. Was der Leib aufgrund seiner Konstituti-on nicht „abgibt“ oder zu stark „abgibt“, fehlt oder „vagabundiert“ in der Seele.

Tumorerkrankungen entstehen oft auf dem Boden von chronischen Entzündungen: Das Bron-chialcarzinom auf dem Boden der chronischen Raucherbronchitis, das Magencarzinom auf dem Boden der chronischen Gastritis, der Dickdarmkrebs z.B. auf dem Boden der chroni-schen Colitis ulcerosa usw. So gehören chronische Entzündung und Tumoren oft zusammen.

In den letzten Jahrzehnten ist von vielen Forschern die seelische Prädisposition der Krebser-krankung beschrieben worden, die sich z.B. bei Lawrence LeShan decken mit der verminder-ten Präsenz der Lebensprozesse in der Seele! So beschreibt er einige Kriterien, die er an 10.000 Versuchspersonen eruiert hat. Er ließ sie nach einem festgelegten Protokoll von seinen Mitarbeitern interviewen, nach 10 Jahren wurde geschaut, wer von den 10.000 Menschen ei-nen Krebs bekommen hat und was ihre Interviews von denen der nicht erkrankten Menschen unterschied. Dabei fielen insbesondere sechs Eigenschaften auf:

1. Die Tumorpatienten hatten oft eine „Wahrnehmungsstörung“. Die Welt erschien ihnen fremd, kalt und feindlich, wie ein kaltes Uhrwerk. Dadurch entstand das Gefühl: „die Welt würde ohne mich genauso sein, wie mit mir. Ich bin austauschbar“. Das Verhältnis zur Welt wurde durch den Wahrnehmungsakt keine „Aufnahme“, sondern die Welt blieb au-ßen, blieb fremd und unbeteiligt. Der erste Lebensprozess war nicht voll in der Seele ange-kommen.

2. Die Tumorpatienten hatten oft eine „Beziehungsstörung“ zur Welt. Beziehungen zu Ge-genständen, Menschen, Haustieren und Ideen oder Idealen waren eingeschränkt. Das Ge-fühl: „es lohnt sich nicht eine zu tiefe Beziehung aufzunehmen, denn der wahrscheinlich auftretende Verlust ist schmerzlicher, als eine illusionäre Beziehung Freude machen kann“. Oft herrscht eine solche Grundstimmung begründeter Weise seit der Kindheit vor – be-gründet durch Verlusterlebnisse, die diese Stimmung erzeugt haben. Dann aber kommt der „Märchenprinz“ oder die „Märchenprinzessin“ doch. Die Zurückhaltung wird aufgegeben. Wenn dann doch ein Verlust auftritt, ist die Verletzung groß, die vorherige Grundhaltung wird nicht nur bestätigt, sondern ist jetzt stärker als zuvor und begleitet von einer tiefen Frustration. Oft gehen solche Erschütterungen der Ausbildung eines Tumors unmittelbar voraus. Damit ist der zweite Lebensprozess in der Seele wie abgestorben.

3. Tumorpatienten sind oft sehr angenehme Zeitgenossen. Sie sind sehr aggressionsarm. Le-Shan beschreibt sie so, dass sie zwar Emotionen empfinden, aber sie nicht ausleben. („Mein Tumor, das sind meine nicht geweinten Tränen“ schreibt ein Betroffener unter dem Pseudonym Fritz Zorn in seinem Buch „Mars“). Ein Aggressionsstau oder Emotionsstau sorgt dafür, dass die entsprechenden Emotionen nicht gelebt und nicht artikuliert werden. Ein solcher Mensch haut nicht mit der Faust auf den Tisch, wenn er sich verletzt fühlt, sondern „versteht“ den Anderen, der ihn verletzt hat, noch, tröstet ihn vielleicht sogar. Diese „vornehme“ Zurückhaltung, angepasste Lebensweise ist nicht etwa nur normierte Angepasstheit. Es kann sogar als ideal empfundenes Bemühen in der Selbstwahrnehmung erlebt werden. Das kann ein Waldorflehrer sein, der dem Mythos der heilen Kindheit zu entsprechen versucht und seine Aggressionen, Frustrationen und sein Burnout sich selber nicht eingestehen kann, weil das Selbstbild darunter zu sehr leiden würde. Stattdessen ver-

Page 24: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

24:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

sucht er dem Schein nach eine Rolle zu spielen, die er als ideal ansieht, während das emp-fundene Selbst als entwicklungsbedürftig und minderwertig erlebt wird und sich schamvoll vor dem empfundenen Ideal degradiert. Der Aggressions- und Emotionsstau wird zur inne-ren Verpflichtung und zum Beleg dafür, dass man ja doch auf dem richtigen Weg ist. Dann ist der dritte Lebensprozess in der Seele nicht voll realisiert.

4. Diese drei zuvor und die drei folgenden Phänomene können nur entstehen, wenn z.B. ein traumatischer Prozess den mittleren Lebensprozess korrumpiert hat, den des Fragens, des Interesses, des Lebenshungers und der Motivation.

5. Wer den fünften Lebensprozess innerlich realisiert hat, hat mit seinen eigenen Ideen ein Gut erworben, dessen er sich sicher sein kann und sein Selbstbewusstsein elementar stärkt. „Hier stehe ich und kann nicht anders“, wie Martin Luther sagte oder die innere Sicherheit, für die Märtyrer gestorben sind, zeugen davon. Wer solches nicht hat, eine Orientierung im Leben nicht so stark hat, dass es sich dafür zu leben und zu sterben lohnt, sei es ein Traum, eine Vision, ein Ziel oder eine Überzeugung religiöser ethischer, politischer oder sonstiger Art, den durchzieht eine Hoffnungslosigkeit dem Leben gegenüber, die LeShan für den Tumorpatienten beschreibt. Es ist der nicht realisierte fünfte Lebensprozess in der Seele.

6. Der sechste Lebensprozess in der Seele bedeutet Wachstum, Entwicklung, Bereitschaft aus Irrtümern zu lernen. Inspiration ist auch das Lernen aus dem Widerspruch, das Lernen aus dem Scheitern, die Bereitschaft die gebildete Idee der Welt zu konfrontieren, damit in der Welt zu arbeiten und sich durch die neuen Erfahrungen korrigieren zu lassen. Das bedeutet Entwicklungsbereitschaft. LeShan beschreibt den Tumorpatienten als Jemanden, der sagt: „ich kann mich beugen und ich kann zerbrechen, aber ich kann mich nicht ändern“. Das wäre der nicht in der Seele realisierte sechste Lebensprozess.

7. Der siebte Lebensprozess in der Seele ermöglicht es uns ein Ideal haben zu können, das unser Handeln und unsere Biographie leitet und lenkt. Kreativ wird es, wenn wir das Ideal in die Handlungen des Alltages hineinwirken lassen können. Nicht kreativ ist es Ideale zu haben, die wir ja doch nicht erreichen können. „Wären nicht die Kinder da, müsste ich nicht den Lebensunterhalt verdienen, wäre nicht die Großmutter auf meine Pflege ange-wiesen, würde ich mich ja im Regenwald an einen Baum ketten um ihn zu schützen, aber...“ Ideale so hoch zu hängen, dass man sie nicht erreichen kann, „weil es die Lebens-verhältnisse unmöglich machen“ ist der nicht realisierte siebente Lebensprozess in der See-le.

Alle Lebensprozesse sind da, aber sie werden nicht kreativ genutzt. Nicht dass alle Tumorpa-tienten dadurch ihren Krebs erworben hätten – eine genügende Strahlenmenge in Tschernobyl würde auch ausreichen – und nicht, dass ein Tumorpatient auf den Feldern aller Lebenspro-zesse solche mangelnden Realisationen haben muss. Aber die Grunddynamik ist doch da: Was sich mit der biographischen Entwicklung aus dem Leib in die Seele als ein nacheinander ablaufender Prozess vollzieht, ist mehr oder weniger ins Stocken geraten. Die Seele bedient sich nicht voll der dargebotenen Werkzeuge des Lebensprozessorganismus. Aggressionen z.B. sind da, aber sie werden nicht gelebt. Die Lebensprozesse kommen nicht in der Seele an, werden dort nicht angenommen und verlieren ihre menschenbildende Potenz, werden zu Ra-ben und offenbaren sich verborgen, als Tumor.

Page 25: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

25:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Dass zwischen Leib und Seele eine Kommunikation besteht, ist im Hinblick auf Erkrankun-gen schon lange deutlich. Es gibt mehrere Wissenschaften, die sich damit beschäftigen, wie die Psychosomatik und die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie, eine Wissenschaft, die darauf basiert, dass die Überträger- oder Botenstoffe im Gehirn, im Immunsystem und im hormonellen Kreislauf zum Teil dieselben sind, oder ihnen stark ähneln. Besonders immuno-logische Erkrankungen, wie chronische Entzündungen, Tumoren, AIDS, Rheuma etc., haben, wenn nicht immer, einen solchen Hintergrund, oder doch eine hohe Beeinflussbarkeit durch das seelische Verhalten und die Selbstregulation.

Umgekehrtes kann man bei psychiatrischen Erkrankungen finden. Sind Lebensprozesse, die notwendige Prozesse im Leib steuern und an die Organe gebunden sind, dort nicht genügend gefesselt und vollziehen sie mit der selben Notwendigkeit ihre Prozesse in der Seele, so spie-len sich intentional unlenkbare Vorgänge in der Seele ab, die unerbittlich sind und sich zwanghaft dort vollziehen, ähnlich wie sie es in den Organen müssen. Rudolf Steiner macht darauf aufmerksam, wie die einzelnen Organe, aus denen sich Lebensprozesse entfesseln, ihre Art zu arbeiten in der psychiatrischen Erkrankung offenbaren.

Dabei widerspricht er der bisherigen Anschauung, die sich diesbezüglich auf das Gehirn be-schränkt insofern, als für ihn die Vorgänge des Gehirns nur synthetisierend wiederspiegeln, was im übrigen Organismus differenziert in den zerstreuten Organen autonom abläuft.

� In der Lunge, die ja nicht atmet, sondern die passiv zur Atmung vom Organismus bewegt wird, besteht eine dünne Membran, die ohne nennenswerten Energieverbrauch passiv Blutkohlensäure gegen Atemluftsauerstoff austauscht gemäß dem vorhandenen Konzentra-tionsgefälle. Die ausschließliche Spezifität für diese beiden Substanzen ist die Aufgabe der Lunge, die sie passiv erfüllt. Sauerstoff kommt zu 20% in der Atemluft vor, im Wasser zu 33%, in der Erdkruste aber zu weit mehr als 50%. Sauerstoff ist die irdischste Substanz. Als man noch nicht wusste, dass es in großer Höhe weniger Sauerstoff in der Atemluft gibt, hatte man bei den ersten Flugzeugen, die diese Höhe erreichten, keine Vorsorge ge-troffen. Es kam nicht zu Erstickungen, sondern bei den Piloten zu unkritischem und eupho-rischen Verhalten. Sie fanden es toll, dass so viele Lämpchen blinkten, machten Loo-pings... und stürzten ab. Ihnen fehlte der erdwärts gerichtete kritische und technische Ver-stand. Die passive, fast unbelebte Lunge, in der uns die Erdensubstanz Sauerstoff unmit-telbar begegnet, ist Voraussetzung für unseren sachbezogenen Verstand, den wir auf der Erde brauchen. Die Lunge, die sich in der Evolution erst mit dem Betreten der Erde und dem Verlassen des Wassers entwickelt, ist ein Erdenorgan. Hier dominiert der physische Leib. Sachbezogenheit wird vermittelt. Wird dieses Instrument des Seelenlebens im Or-chester der anderen Organe überbetont, sind wir nur noch sachbezogen und verlieren alles andere aus dem Bewusstsein: Das ist der Zwang. Fehlt dieses Instrument, sind wir illusio-när.

� Die Leber beherrscht den Stoffwechsel durch fließende, scherende Flüssigkeitsströmungen von fünf in der Leber sich begegnenden Flüssigkeiten: Pfortaderblut, Venenblut, Arterien-blut, Lymphe und Galle. Stoff-“Wechsel“ findet durch Strömung statt. Die diskontinuierli-che Unrhythmik und Unzweckmäßigkeit der Nahrungsaufnahme wird von ihr umgewan-delt in kontinuierlichen Nahrungsbedarf des Organismus, Fremdsubstanz umgewandelt in körpereigene Substanz, Gifte werden abgebaut, eigene und hochwertige Substanz wird aus fremder und niederwertiger Substanz aufgebaut. Das findet in einem flüssigen Flussmilieu

Page 26: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

26:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

statt: ausgleichend, fließend, ohne eigene Bedürfnisse. Egal ob Fastenzeit ist oder im Übermaß geschwelgt wird, es wird dem Gesamtorganismus immer dasselbe Maß an Sub-stanz zur Verfügung gestellt. Die Leber ist das Organ der Lebensorganisation, die im Flüs-sigkeitsorganismus lebt. Diesen kontinuierliche Fluss, in dem die unterschiedlichen Ein-drücke so verarbeitet werden, dass das innere Milieu sich dadurch, aber gleichbleibend er-halten kann, haben wir auch in der Seele. Wenn dieser Fluss versiegt, ist alles, was uns zu-kommt, vergiftend. (In der Leber ist das die Zirrhose, in der das Organ fest wird und der Organismus mit Giften überflutet wird). In der Seele ist das die Depression, in der nur noch das wahrgenommen wird, was negativ ist. Die Leber reagiert auf die aufgenommene Nahrung mit Gallenbildung. Gallensäuren verdauen Fette, die Nahrungsbestandteile, aus denen wir am meisten Wärme freisetzen können. In der Seele ist das die Erwärmung, die wir durch Interesse und Engagement für das Wahrgenommene empfinden. Eben das kann der Depressive nicht mehr. Depression ist der Zustand der „Losigkeit“: Interessenlosigkeit, Engagementslosigkeit, Appetitlosigkeit, Libidolosigkeit, Bewegungslosigkeit etc. Zuletzt „fließt“ nichts mehr und der Patient ist apathisch geworden. Fließt zu viel, sprudelt die Seele gewissermaßen über, so haben wir die Manie.

� Die Niere scheidet nicht aus. In den kleinen „Glomeruli“, den kleinsten Einheiten der Niere, wird passiv Flüssigkeit und in der Flüssigkeit gelöste Substanz ausgeschieden. Das sind etwa 170 Liter am Tag. Danach holt sich die Niere aktiv alles aus diesem Primärharn heraus, was für das Blut wichtig ist. Was wichtig ist, „kennt“ sie. Was nicht wichtig ist, be-lässt sie im Harn – der wird dann über das Nierenbecken, Harnleiter, Blase und Harnröhre ausgeschieden. Die Niere ist ein Einscheidungsorgan. Sie beherrscht auch den Säure-Basen-Haushalt. Ist das Blut zu sauer, werden Säuren ausgeschieden. Dabei regt die Niere die Atmung an, um das saure CO2 gegen den neutralen Sauerstoff auszutauschen. Dieser Teil der Atmung wird von der Niere beherrscht. Ebenso der Druck! Druck und Atmung sind wie das Wetter der Atmosphäre, wo zwischen den Tief- und Hochdruckzonen die Winde wehen, die über den Meeren die Flüssigkeit aufnehme, die am Gebirge niederreg-net. So ist die Niere der Wind, der den Organismus austrocknet, die Atmung beherrscht und das Drucksystem. Ferner beherrscht die Niere den Stickstoffhaushalt – Die Luft be-steht zu 80% aus Stickstoff. Die Niere ist das Zentralorgan des Luftorganismus! Stickstoff wird über Harnsäure und Harnstoff („Urate“) von der Niere ausgeschieden. Harnsäure ist dem Koffein verwandt – er macht munter. Harnstoff macht müde (Münchner Wissen-schaftler haben aus den Uraten eines Callgirls mit Namen Barbara ein Schlafmittel herge-stellt: „Barbiturat“!). Über den Stickstoffstoffwechsel beherrscht die Niere unsere Seele in ihrem Wachheitszustand. Das, was sie an „Wetter“ schafft, an atmosphärischen Schwan-kungen, spiegelt sich in der Seele und der Atmung wieder. Rudolf Steiner sagt: „Die Niere gibt der Seele Temperament“ Überwiegt dies, so wird es immer dramatisch, mindestens theatralisch und rasant. Verselbständigt sich dies, so haben wir die dramatischen Psycho-sen. Versiegt der „Sturm“, wird es „windstill“ in der Seele, so haben wir den Stupor, die Regungslosigkeit und Adynamie, die viele psychiatrischen Endzustände charakterisiert.

� Dass das Herz eine Pumpe ist, glaubt heute kein Physiologe mehr. Um das Blut durch die kleinen Kapillaren (mit einer Gesamtlänge von 120.000 km) in allen Organen hindurchzu-pressen, müsste es bei jedem Herzschlag eine Energie aufwenden, wie es für das Heben ei-nes langen Güterzuges nötig wäre. Das Blut fließt von alleine durch Kapillarkräfte. Hätten wir aber nur Kapillaren, könnten wir den Blutmehrbedarf in der Muskulatur bei plötzlicher Arbeit nicht regeln. Das Mehr an Blut in einzelnen Organen muss ausgeglichen werden.

Page 27: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

27:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Insbesondere zwischen großen und kleinen Kreislauf. Denn flösse nur pro Herzschlag ein Milliliter Blut mehr in die Lunge, so wären es 72 Milliliter in der Minute und 350 Milliliter in 5 Minuten – wir würden ersticken! Hier muss ausgeglichen und Gleichgewichte herge-stellt werden. Zwischen den Organen, zwischen kleinen und großen Kreislauf, zwischen oberen und unteren Menschen, zwischen Tat (Eingreifen der Seele) Abbau und damit Sau-erstoffverbrauch einerseits und Regeneration andererseits. Das Herz ist Ein Gleichge-wichtsorgan. Gleichgewichte stellen wir auch seelisch-geistig her. Nicht nur durch Ausge-wogenheit, sondern auch im Sinne solcher Waagen, bei denen wir nicht die Waagschalen versuchen gleichmäßig zu belasten, sondern solcher Waagen, bei denen wir das Zünglein zur schwereren Seite hinschieben. Dann interessieren wir uns für das Problem: Die Auf-merksamkeit und Präsenz unseres Ich schafft Gleichgewichte. Das Erleben von Unrecht z.B. kann entweder ins Gleichgewicht gebracht werden, indem wir uns engagieren. Reicht das nicht aus, kann Wut die Folge sein. Der „heilige Zorn“ ist eine solche stärkere Herztä-tigkeit in der Seele. Losgelöst und pathologisch wird dieser Aspekt in der Tobsucht. Das Fehlen oder Vermindertsein der Herztätigkeit in der Seele ist Kälte, Desinteresse, Gleich-gültigkeit. Was wir in der deutschen Sprache mit „Herzlichkeit“ meinen, mit „von ganzem Herzen“, „Warmherzigkeit“, „Herzenskälte“, „Herzlosigkeit“, „Beherztheit“ usw., kann man direkt wörtlich nehmen.

Wie körperliche Erkrankungen nicht selten ihre Ursachen in der Seele haben, so haben die psychiatrischen Erkrankungen ihre Wurzeln im Organismus, nicht selten sogar in einzelnen Organen.

So sind therapeutische Zugriffe immer sowohl über den Leib als Medikament, als auch see-lisch als Übung oder Kunsttherapie möglich.

Im Märchen „die sieben Raben“ bekommt das Mädchen vom Morgenstern ein Hinkelbein-chen geschenkt, mit dem es den Glasberg aufschließen kann. Am Glasberg angekommen hat es das Hinkelbeinchen verloren. Es schneidet sich dann einen Finger ab und kann damit die Brüder befreien. Im Abschneiden des Fingers liegt ein Verzicht und damit ein Eingriff der Veränderung in Gewohntes vor, das trotz Schmerzen tiefgreifende Veränderungen will.

Das ist ein Bild dafür, dass es möglich ist, auch und grade bei schweren körperlichen Erkran-kungen wie Krebs, AIDS, Rheuma und anderen autoaggressiven Erkrankungen mit primär seelisch gerichteten Therapien und Künsten, Übungen, Meditationen und anderen Methoden, die eine Eigenaktivität fördern und voraussetzen, eine Heilung zu fördern. Besonders trägt zu einer Heilung bei, wenn es gelingt biographisch zu arbeiten und Impulse aufzunehmen, die vielleicht liegengeblieben sind, besonders, wenn sie dazu führen, Lebensprozesse in der Seele zu aktivieren, die nicht gelebt worden sind. (Fritz Zorn in seinem Buch „Mars“ über seine Tumorerkrankung: „Mein Tumor, das sind meine nicht geweinten Tränen“...)

Das kommt in dem Gedicht von Rilke zum Ausdruck:

Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt, kommt irgendwann Lebendigem zugute; wenn es auch manchmal nur Gedanken sind, sie lösen sich in jenem Blute,

Page 28: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

28:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

das weiterrinnt.... Und ists Gefühl, wer weiß, wie weit es reicht Und was es in jenem reinen Raum ergibt, in dem ein kleines Mehr von schwer und leicht Welten bewegt und einen Sternen verschiebt.

Rilke

Mit der kurzen Darstellung der Entgleisungsmöglichkeiten der Lebensprozesse sollte darge-stellt werden, welches Potential in den Lebensprozessen liegt und welchen gravierenden Ein-fluss die Erziehung, das Seelenleben und die Nutzung der seelischen Ressourcen für die Ge-sundheit und die Funktion des Leibes einerseits und die Konstitution und Funktionsweise des Leibes für das Seelenleben andererseits hat. Daraus ist abzuleiten, welche Bedeutung ihrer Beachtung zukommt. Dabei handelt es sich bei den Lebensprozessen um ein Bindeglied von Seele und Leib und damit um einen Bereich, wo unsere Gesundheit von unserer Intentionalität und seelisch-geistigen Kreativität wechselseitig abhängt. Es geht um das zunehmend bedeu-tender werdende Gebiet von Psychosomatik und Entwicklung.

Als ein Feld der Lebensprozesse, das dem Bewusstsein noch näher ist, die Gestaltungsmög-lichkeit dadurch auch größer und beim Nichtgelingen der Leidensdruck erheblicher ist, ist das soziale Leben.

Entscheidend für dieses Entgleisen der Lebensprozesse scheinen Traumata zu sein, die ent-weder die Lebensprozesse aus der Seele zurück in den Leib Stoßen, oder, um das Unbegreifli-che begreifbar zu machen, sie so stark in die Seele reißen, dass sie dort nicht mehr kontrol-lierbar sind.

Page 29: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

29:

Die Lebensprozesse im Sozialen

Dass auch das soziale Leben lebendig ist und der „soziale Organismus“ ein Organismus ist, haben viele Denker gedacht, mit zum Teil allerdings katastrophalen Folgen für die Menschen, die in solchen sozialen Systemen leben mussten. Der Sozialdarwinismus Hitlers und das sozi-alkybernetische Modell Honeckers folgten letztlich Gedankengängen, die biologische Struktu-ren auf soziale Vorgänge übertrugen. Auch Goethe hatte ein Modell für die zwischenmensch-lichen sozialen Bezüge einer Zweierpartnerschaft, die er aus der Metamorphosenidee abgelei-tet hatte, die an der Pflanzenwelt gewonnen wurde. Seiner Lebensgefährtin Christiane Vulpius erläutert er die Metamorphose der Pflanze in Form eines Gedichtes:

Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; Viele Namen hörtest du, und immer verdränget Mit barbarischen Klang einer den andern im Ohr. Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern Und so deutet das Chaos auf ein geheimes Gesetz. .....

So beginnt er das biologische Phänomen des Pflanzenwachstums zu beschreiben, das sich Ausdehnen in den Blättern und sich wieder Zusammenziehen, zuletzt Blüte und Frucht, bis er folgendermaßen endet:

.....

Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug. Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig, Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.

Was bei der Pflanze gilt, gilt auch bei anderen Lebewesen. Was bei der Raupe und dem Schmetterling noch Natur ist, ist beim Menschen bereits ein kulturelles Gut. Nun spricht er sie an und verweist auf die Beziehung, die sie miteinander lebten:

O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß, Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte, Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt. Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten, Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn! Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, Gleicher Ansicht der Dinge, damit im harmonischen Anschaun Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.

Er beschreibt folgende Reihenfolge:

1. Bekanntschaft 2. Gewohnheit 3. Freundschaft 4. Liebe 5. Gemeinsame Gefühle 6. Gleiche Gesinnung

Page 30: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

30:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

7. Finden einer gemeinsamen „höheren Welt“

Auch Rudolf Steiner hat mit seinem Modell von der sozialen Dreigliederung ein System ent-worfen, das an der Arbeitsweise des menschlichen Organismus abgelesen war. Mit der Drei-gliederung des sozialen Organismus hat Rudolf Steiner dabei ein Modell entworfen, das nicht an den sieben Lebensprozessen abgelesen war, sondern an einem Gesichtspunkt, der das Zu-sammenwirken der drei großen Organgruppen betrifft und darum über das Geschehen der Lebensprozesse hinausgeht und auf eine darüberliegende Regulationsebene des Organismus schaut. Dennoch handelt es sich bei dem „Organismus“-Aspekt auch um den Aspekt eines lebendigen Organismus. Demnach muss auch die Arbeitsweise der Lebensorganisation darin nachweisbar sein, an die Goethe zumindest zum Teil mit seinem Gedichtende gemahnt.

1. Auch ein Paar muss, bevor es eine Gemeinschaft eingehen kann, sich kennenlernen („Be-kanntschaft“ bei Goethe). Diese gegenseitige Wahrnehmung ist aber keineswegs mit dem Datum der ersten Begegnung abgetan, sondern setzt sich über die ganze Beziehung hin fort. Hier liegt das erste Problem: Oft glauben Paare oder Menschengemeinschaften, sie würden sich kennen, wenn sie ein paar Daten vom Anderen wissen. Auch sein Verhalten glauben sie irgendwann zu kennen. Dann entsteht ein Bild vom anderen Menschen und man engt den anderen in diese Bilder ein. Wenn er sich anders verhält, ist es keine neue Wahrnehmung, sondern man ist irritiert, dass er jetzt „aus der Reihe tanzt“. Das Bilderka-binett vom anderen Menschen engt ihn ein und kann ihn auch gefangen nehmen. Sich zu sagen: „wenn ich das sage, sagt der andere das, also sage ich es lieber gar nicht erst“ ver-hindert Wahrnehmungen und um den anderen zu erreichen muss ich dem Bild entsprechen, das er von mir hat, also kann ich nicht so sein, wie ich bin... Erlahmt dieses Organ des Le-benskräfteorganismus, so erstirbt das gemeinsame Leben schon an einer Stelle, wo es ei-gentlich erst beginnen möchte. Solche wahrnehmungshindernden Bilder dämpfen die Ent-wicklungsfreude! Mit der Zeit entstehen bei vielen Paaren oder Gemeinschaften insbeson-dere durch die Erfahrungen des Alltages Wahrnehmungen vom Anderen, die problema-tisch sind. Es liegt etwas in der Natur des Menschen, dass diese negativen Erlebnisse in sich eine stärkere Kraft haben zu fixierten Bildern zu gerinnen, auch, wenn sich diese Er-lebnisse nur auf Kleinigkeiten beziehen, als die großen positiven Erfahrungen, wegen derer man den Anderen liebt. Im Alltag entstehen so aus vielen Kleinigkeiten schnell negative und starre Bilder vom Anderen, hinter denen das positive Bild, das einen zunächst zum Anderen hingezogen hat, langsam verblasst. Diese negativen Bilder verhindern stärker die fortgesetzte Wahrnehmung des Anderen, als positive Bilder. Das Bild vom Anderen, in dem er nicht als „gut“ erscheint, sondern als „ungut“, lässt den ersten Lebensprozess lang-sam ersterben.

2. Jedes Paar bildet Gewohnheiten (Siehe auch Goethe) aus, entweder um sich das Leben schön, kreativ und angenehm zu machen, sich aneinander zu gewöhnen - oder um einen kleinsten gemeinsamen Nenner als gefahrfreie Zone zu leben. Letzteres engt die Entwick-lungsfreude am stärksten ein, ersteres fördert sie am stärksten. Wieder taucht im Zusam-menhang des zweiten Lebensprozesses das Motiv der Schönheit auf, das Motiv des Rituals und des Rhythmus. Rhythmen stärken die Kraft und können selbst in Zeiten großer Er-schöpfung Kraft ersetzen, bieten aber auch die Gefahr zu einer seelenlosen Hülle zu wer-den, wenn z.B. er jeden Freitag Nelken mit nachhause bringt.... Neben den Gewohnheiten gehören auch die gemeinsamen Erfahrungen und die gemeinsamen Erinnerungen zu die-sem Prozess. Zu dem Gewohnheitsumkreis gehört das Wie, wie miteinander umgegangen

Page 31: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

31:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

wird, ob es einem ein Anliegen ist, dass der Andere sich wohl fühlen kann. Das Bemühen es dem Anderen schön zu machen fördert diesen Lebensprozess. Die unschönen Gewohn-heiten lassen ihn ersterben. Manche Ehen gleichen so einem bunten Bauerngarten, andere einer Spalierobstwiese. In der positiv gestimmten Gewohnheit will man sich begegnen, die geschwächte Gewohnheit organisiert oftmals, wie man sich am besten aus dem Weg gehen kann. Viele Beziehungen schöpfen daraus ihre Stabilität.

3. Der Gesichtspunkt der Individualisierung des dritten Lebensprozesses gilt genauso in einer Gemeinschaft. Denn der Andere ist und bleibt ein Ausländer für das eigene Empfinden für viele Facetten seiner Seele. Das kann man leicht unterschätzen. je mehr ich es brauche, dass der Andere auch so ist, wie ich ihn gerne hätte, desto abhängiger mache ich mich von seiner Unvollkommenheit – aber Freundschaft im Kontext von Abhängigkeit ist keine Freundschaft (Siehe Goethe)! Mit der Andersartigkeit des Anderen muss ich mich ausei-nandersetzen, wozu auch der Streit gehört. Eine Streitkultur kann aber dazu führen, den Anderen immer mehr sehen zu können in seiner Besonderheit, Größe und Einmaligkeit. Die Scharmützel des Alltags rauben dazu die Kraft und ich laufe Gefahr mich darüber zu ärgern, dass der Andere nicht so ist, wie ich oder wie ich ihn bräuchte. Dieser Ärger dar-über, dass der Andere nicht so ist wie ich macht mich blind für ihn, die Streitkultur macht mich für ihn wach. Denn Streitkultur bedeutet, dass man nicht siegen will und den anderen demütigen, sondern zu einer Lösung zu kommen, die beiden gerecht wird. Das ist dann die Verträglichkeit. Rudolf Steiner wurde mal gefragt, was er für die Voraussetzung einer Ehe halte. Es ist nicht überliefert, was der Fragende für eine Antwort erwartet hat, möglicher-weise eine esoterische. Die Antwort war einfach: „die Verträglichkeit“. Viele Ehen schei-tern daran, dass sie aus einer Harmoniesucht den Streit vermeiden oder das trennende übersehen. Das aber ist immer auch dabei und bedarf einer Pflege und die Andersartigkeit des Anderen vielleicht sogar einer Förderung! Streit um der Wahrheit willen ist fördernd für diesen Lebensprozess. Streit um zu gewinnen schwächt ihn.

4. Den vierten Lebensprozess hatten wir in der Seele das Fragen genannt. Hier würde ich es als Interesse bezeichnen, was ja auch Vorrausetzung zur Frage ist. Interesse für den Ande-ren, gemeinsame Interessen und Interesse an der Gemeinsamkeit. Habe ich Fragen an den Anderen? Was interessiert mich an ihm? Was wollen wir gemeinsam? was wollen wir nicht gemeinsam? Die Frage nach dem „Du“ und die Frage nach dem „Wir“ lässt auch hier den vierten Lebensprozess als Mitte zwischen den Prozessen, die sich auf den Anderen be-ziehen (erste drei Lebensprozesse) und den Lebensprozessen, die sich auf die Gemeinsam-keit beziehen (die folgenden Lebensprozesse). Das Interesse oder die Fragen an den Ande-ren sind der Mittelpunkt des sozialen Geschehens. Dieses sich Einlassen auf das Du und die Bereitschaft gemeinsam ein Wir zu bilden, wird Goethe mit der „Liebe“ gemeint ha-ben.

5. Der fünfte Lebensprozess ist in der Seele das imaginative Denken gewesen. Es schafft verwebend die Ideen. Ähnlich schafft dieser Lebensprozess die Erfahrung der Gemein-samkeit. Ebenso wie die Ideen in der Seele nicht erinnerbar sind, sondern immer wieder neu hergestellt werden müssen, so ist es auch mit der Erfahrung der Gemeinsamkeit, die nur da ist, wenn sie real vorhanden ist. Die Erinnerung daran, dass diese Erfahrung einmal bestand, ist nicht die Erfahrung selbst und ersetzt sie nicht. Die Gemeinsamkeit muss jedes Mal neu erworben und gemeinsam empfunden werden (bei Goethe sind es auch die ge-meinsamen Gefühle). Das kann keine Gewohnheit, das kann nur im Gemeinsamen erleben

Page 32: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

32:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

geschehen. Das „Was“ ist sowohl von Paar zu Paar, als auch von Situation zu Situation un-terschiedlich und entzieht sich dem Rezept. Es muss gefunden werden und geht daher nicht ohne den positiven und realen Willen zur Gemeinsamkeit. Sicher spielt in Paarbeziehungen für diesen Lebensprozess Sexualität eine große Rolle, kann aber genauso leicht das Gegen-teil bewirken. Hat ein solches Erlebnis von Gemeinsamkeit stattgefunden, so hält diese Er-fahrung eine Zeit lang an – aber ca. nach einer Woche ist es weg und das Erlebnis entsteht nur dann wieder, wenn eine neue Erfahrung an die Stelle tritt. Das selbe Ereignis wird es meistens nicht sein... Meist möchte Sie mehr Gemeinsamkeit als Er. Warum will man auch immer alles miteinander erleben? Bei diesem Lebensprozess geht es nicht selten um ein Problem des sich gegenseitig Vereinnahmens. Warum muss man mit einem Partner alles machen? Hier geht es auch darum sich gegenseitig frei zu geben. wer sich frei und experi-mentell in der Welt bewegen kann, kann auch was erzählen! Das Einwilligen in die vielen kleinen Abschiede baut dem drohenden großen und endgültigen Abschied vor. Gemein-samkeit ist umso stabiler, je mehr es eine Gemeinsamkeit von freien Menschen ist. Wo be-steht Gemeinsamkeit und wo nicht? Das ist für jedes Paar anders und wechselt auch im Verlauf der gemeinsamen Zeit.

6. Der sechste Lebensprozess war der des Wachstums, wo der Organismus oder die Idee sich der Außenwelt aussetzt. Auch eine Gemeinschaft oder ein Paar tut das. Es findet nicht statt, wenn alles so organisiert ist, dass er für die Steuererklärung und sie für die Kindererzie-hung zuständig ist, sondern da, wo man sich gemeinsam Aufgaben stellt, die das Leben bringt. Gemeinsames Lösen von Herausforderungen, auch im Kleinen führen zu nicht im-mer zu Bewusstsein kommenden Entwicklungsprozessen. Am stärksten ist es da, wo man vor einem Abgrund steht und man nur weiterkommt, wenn man sich auf den Anderen ab-solut verlassen muss und kann, was Goethe mit gemeinsamer Gesinnung gemeint haben mag. Dann entsteht Entwicklung. Leider ist es oft so, dass das Bedürfnis nach Entwicklung nicht immer bei den Beteiligten zur selben Zeit aufkeimt oder nicht geäußert wird und au-ßerhalb der Gemeinschaft gelebt wird. Dann entwickelt sich einer und der Andere nicht oder jeder anders, was die Gemeinschaft vor Belastungsproben großen Ausmaßes stellt. Oft wird auch ein solches Bedürfnis kompensiert mit dem Bau eines Hauses oder mit ei-nem weiteren Kind... Oft werden auch die Kinder als Alibi für Entwicklungen angeführt, was ein Missbrauch ist. Entwicklung fördert diesen Lebensprozess, Entwicklungsverhinde-rung, unterschiedliche Entwicklung und Entwicklungsalibis hindern diesen Lebensprozess.

7. Der siebente Lebensprozess ist das nicht von außen abverlangte Schaffen eines Neuen. Jeder kennt es, wenn Überschusskräfte in eine gemeinsam gewählte Aufgabe fließen. Hier wirkt ein merkwürdiger Zauber. Oft reichen die Kräfte nicht und dennoch feiert man ein Fest, besucht einen Tanzkurs, schreibt gemeinsam ein Buch oder wählt sich eine ge-meinsame Aufgabe. Dann bekommt man nicht nur oft die Kräfte, die vorher fehlten, son-dern sie wachsen dabei und werden größer. Ohne gemeinsame Projekte, gemeinsame Träume ist das gemeinsame Leben auf Dauer trübe und arm. Dieses Neue, das gemeinsam geschaffen wird ist eine neue Welt, die Goethe eine „Höhere“ nennt, denn der beschriebe-ne Zauber entsteht nur, wenn das Neue über das Gewohnte herausragt.

Coelho schreibt in seinem Buch „Auf dem Jakobsweg“ über die Träume des Einzelnen etwas, was ebenso für diese Träume und Ziele einer Gemeinschaft gilt:

Page 33: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

33:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

„Ein Mensch darf nie aufhören zu träumen. Der Traum ist für die Seele, was Nah-rung für den Körper bedeutet. Wir müssen häufig in unserem Leben erfahren, wie unsere Träume zerstört und unsere Wünsche nicht erfüllt werden, dennoch dürfen wir nie aufhören zu träumen, sonst stirbt unsere Seele.

Der gute Kampf ist der, den wir im Namen unserer Träume führen. Wenn sie mit aller Macht in unserer Jugend aufflammen, haben wir zwar viel Mut, doch wir ha-ben noch nicht zu kämpfen gelernt. Wenn wir aber unter vielen Mühen zu kämp-fen gelernt haben, hat uns der Kampfesmut verlassen. Deshalb wenden wir uns gegen uns selber und werden zu unseren schlimmsten Feinden. Wir sagen, dass unsere Träume Kindereien, zu schwierig zu verwirklichen seien oder nur daher rührten, dass wir von den Realitäten des Lebens keine Ahnung hätten. Wir töten unsere Träume, weil wir Angst davor haben, den guten Kampf zu kämpfen.

Das erste Symptom dafür, dass wir unsere Träume töten, ist, dass wir keine Zeit haben. Die meistbeschäftigten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, waren zugleich auch die, die immer für alles Zeit hatten. Diejenigen, die nichts taten, waren immer müde, bemerkten nicht, wie wenig sie schafften, und beklagten sich ständig darüber, dass der Tag zu kurz sei. In Wahrheit hatten sie Angst davor, den guten Kampf zu kämpfen.

Das zweite Symptom dafür, dass unsere Träume tot sind, sind unsere Gewisshei-ten. Weil wir das Leben nicht als ein großes Abenteuer sehen, das es zu leben gilt, glauben wir am Ende, dass wir uns in dem Wenigen, was wir vom Leben erbeten haben, weise, gerecht und korrekt verhalten. Der gute Kampf bleibt uns fremd.

Das dritte Symptom für den Tod unserer Träume ist schließlich der Friede. Das Le-ben wird zu einem einzigen Sonntagnachmittag, verlangt nichts Großes von uns, will nie mehr von uns, als wir zu geben bereit sind. Wir halten uns dann für reif, glauben, dass wir unsere kindlichen Phantasien überwunden und die Erfüllung auf persönlicher und beruflicher Ebene erlangt haben. Wir reagieren überrascht, wenn jemand in unserem Alter sagt, dass er noch dies oder das erreichen will, weil wir es in Wirklichkeit nur aufgegeben haben, um unsere Träume zu kämpfen, den guten Kampf zu führen.

Dieser Lebensprozess hat etwas mit Begeisterung zu tun. Das kommt in einem Dialog von Elias mit alten Bewohnern der Stadt Akbar zum Ausdruck in dem Roman auch von Coelho „Der fünfte Berg“:

Die Alten kamen – genau wie er vorausgesagt hatte.

„Akbar braucht Eure Hilfe“ sagte Elia. „Und deshalb könnt Ihr Euch nicht einfach dem Altsein hingeben. Wir brauchen die Jugend, die Ihr verloren habt.“

„Wir wissen nicht, wo wir sie finden können“ entgegnete einer von ihnen. „Sie ist hinter den Runzeln und den Enttäuschungen verschwunden.“

Page 34: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

34:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

„Das ist nicht wahr. Ihr hattet niemals Illusionen, und das ist der Grund, weshalb sich die Jugend verborgen hat. Jetzt ist der Augenblick gekommen, sie zu suchen, denn wir haben einen gemeinsamen Traum: den Wiederaufbau von Akbar.“

„Wie können wir etwas so unmögliches tun?“

„Mit Begeisterung.“

Auch der soziale Organismus ist ein Organismus. Wenn einzelne Organe dieses Organismus nicht arbeiten oder den gesamten Organismus destabilisieren, ist der Organismus krank. Da er aber von unseren eigenen Lebenskräften gespeist wird, entzieht er uns dann auch Kräfte. In Gemeinschaften oder Partnerschaften kann man erleben, wie die Beteiligten in ihrer Vitalität aufblühen, wenn der soziale Lebenskräftehaushalt intakt ist oder verfallen, wenn der soziale Organismus krank ist.

Zusammenlebende oder zusammenarbeitende Menschen begegnen sich in diesem Organismus als Teil eines Ganzen. Dieses Ganze hat fast wesenhaften Charakter, das Martin Buber „den Zwischen“ nennt. Dieses über die Einzelnen herausragende Gemeinsame kommt dem Nahe, was wir weiter oben das „Geistselbst“ genannt haben. Dies kann positiv oder auch negativ sein. Da es über den Menschen hinausragt, kann man es als Engel oder als Dämon bezeich-nen. Ersterer fördert die Gesundheit der zusammenlebenden Menschen, letzterer macht krank. Dieser Zusammenhang ist z.B. für Tumorkrankheiten bekannt.

Diese Lebensebene des Zusammenlebens neben der seelischen und Ichebene scheint mir im-mer wesentlicher zu werden. Hier liegt eine Schicht knapp unter der Schwelle des Bewusst-seins, die ins Bewusstsein zu heben ist und damit es möglich macht intentional Lebensvor-gänge zu steuern, die zumindest im Leib diesem intentionalen Bewusstsein so bislang nicht zugänglich waren.

Page 35: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

35:

Die Lebensprozesse in Kunst und Leben

Kurz sei noch erwähnt, dass viele Handlungsabläufe diesen Lebensprozessen folgen. Mozart schreibt über sein Komponieren an seinen Verleger:

"Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahl-zeit beym Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: da kommen mir die Gedan-ken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht, kann auch nichts dazu. Die mir nun gefallen, die behalte ich im Kopfe, und summe sie wohl auch vor mich hin, wie mir Andere wenigstens gesagt haben. Halt' ich das nun fest, so kommt mir bald Eins nach dem Andern bey, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu machen nach Contrapunct, nach Klang der verschiednen Instrumente et cetera, et cetera, et cetera. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so dass ichs hernach mit Einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geis-te übersehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es hernach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmauß. Alles das Finden und Machen gehet in mir nur, wie in einem schönstarken Traume vor: aber das Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.")

Als erstes kommen ihm die Gedanken einfach so zu (erster Lebensprozess). Das Zweite ist ein Aneignen, das er selber nicht bewusst bemerkt, denn er erfährt es von Anderen (zweiter Le-bensprozess). Dann individualisiert er das Erlebte (dritter Lebensprozess) und dann engagiert er sich dafür. Dieser vierte Lebensprozess ist nur knapp beschrieben als „das erhitzt mir nun die Seele“. In diesem mittleren Lebensprozess greift das Ich ein mit Interesse, Fragen und Engagement, was er als Erhitzen ausdrückt. Der fünfte Lebensprozess ist auch knapp be-schrieben. Dieser ist kontemplativ. Leiblich bedarf er des Schlafes, seelisch ist es ein Wieder-herstellen der Idee, was meditativ geschehen kann, ist aber immer ein Rückzug von der Welt. Mozart drückt ihn nur dadurch aus, dass er sagt: „...wenn ich nämlich nicht gestört werde...“ Der sechste Lebensprozess wird als ein Wachsen und Heranreifen beschrieben. Interessant ist der siebte Lebensprozess als Zusammenschau und Zusammenfassung.

So ist vieles an Handlungen im Leben, was, wenn es organisch verläuft, einer solchen Pro-zessfolge folgt. Besonders in einem kreativen Prozess ist das oft nachzuerleben.

In der Erziehung von Kindern, in der Begleitung Drogenabhängiger oder psychiatrisch Kran-ker und in der Begleitung Lebenskräftegeschwächter Menschen sollte es nahe liegen, in den gemeinsamen Prozessen einem solchen Gesetz zu folgen. Aber es kann eine kreative Quelle von Kraft auch im Alltagsgeschehen „gesunder“ Menschen sein.

Mozart beschreibt es im Hinblick auf die Kunst. Sicherlich ist die künstlerisch-schöpferische Tätigkeit, die ja die Lebenskräfte besonders beansprucht, aber dadurch auch erfrischt, diejeni-ge, die hier wie eine Art Heilmittel der zivilisatorischen Destruktion der Lebenskräfte entge-genwirken kann.

Dabei fällt auf, dass die einzelnen Künste auch einzelne Lebensprozesse besonders anspre-chen:

1. Unsere Wahrnehmungswelt schaffen wir durch Architektur und Raumgestaltung. Räume umgeben uns wie ein zusätzlicher Leib und prägen unsere Wahrnehmungswelt. In der Ar-chitektur verhalten wir uns so, dass wir das Verhältnis unseres physischen Leibes zu unse-

Page 36: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

36:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

rer Umgebung, welches wir immer haben, bewusst handhaben und neu gestalten. Wenn es nicht Zweck, sondern Kunst ist, macht es uns unseren physischen Leib neu erlebbar.

2. In Beziehung zu uns und unserem eigenen Leib tritt aber die Plastik. Im Gegensatz zu der Architektur, die uns umgibt, steht uns die Plastik gegenüber, wir treten beim Betrachten zu ihr in Beziehung. Während die Architektur – von Innen gesehen – mehr oder minder pas-siv erlebt wird, wir von ihr umgeben sind und die Formen auf uns wirken, sehen wir auf die Plastik mehr nachbildend, als Gegenüber. Sie ist diejenige Kunst, die durch Oberfläche und Wuchsform am meisten „lebendig“ wird. Als Plastiker verhalten wir uns zum Materi-al, wie die Lebensorganisation zum physischen Leib.

3. Am seelischsten mit Hell und Dunkel, mit Farben und Kontrasten ist die Malerei. Beson-ders in der Aquarellmalerei, bei der wir auf der ebenen und feuchten Fläche die Farben langsam entstehen lassen, verhalten wir uns, wie die Bewusstseinslicht erzeugende Emp-findungsorganisation in Bezug auf die Lebensorganisation; im Menschen entsteht dann in-nerhalb des Flüssigkeitsorganismus die Spannung zwischen innerer Helligkeit und Dun-kelheit der Seele, zwischen Freude und Trauer, Sympathie und Antipathie, Harmonie und Dissonanz.

4. Die Musik ist demgegenüber unserem Ich näher, da sie spiritueller ist. Architektur, Plastik und Malerei sind „bildende Künste“, die im Raum fixiert werden. Dem stehen die Zeit-künste gegenüber, die nur sind, solange sie gestaltet werden. Musik ist zwar eine solche Zeitkunst. Aber Instrumentalmusik bearbeitet dennoch ein räumliches Ding außerhalb von mir, während ich beim Gesang schon selber Akteur und Instrument zugleich bin.

5. In der Sprache, z.B. in Rezitation, aber auch der Dichtkunst, wird das künstlerische Medi-um zum Träger von Ideen. Damit bekommt die Kunst etwas Geistiges, nicht im Darstellen, also indirekt, sondern unmittelbar, was durch die Form (Metrik, Poetik) künstlerisch ver-stärkt werden kann. Nicht, wie in Malerei und Plastik z.B., bei denen durch die Kunst die Farbe und die Form Geist- oder Ideentragend wird, sondern Sprache ist Ideentragend – die Kunst gibt dem eine angemessene Form.

6. In der Bewegungskunst trete ich in Beziehung zum Raum um mich herum. Anders als bei Plastik und Architektur, wo die Beziehung des Künstlers oder Betrachters zum Raum dadurch entsteht, dass ich mich darein oder davor stelle und dadurch von alleine diese Be-ziehung entsteht und mehr oder weniger bewusst wird, wird grade diese Beziehung aktiv durch die Bewegung im Raum hergestellt und durch die Bewegung kontinuierlich gewan-delt. Ich setze mich dem Raum aus! In dieser Konfrontation und Gestaltung liegt das Be-sondere. Hier tritt der Künstler aus sich heraus, aber er ist als Handelnder selber Gegen-stand der Kunst – Der Tänzer oder Eurythmist ist die –bewegte – Plastik.

7. in den sozialen Künsten wie Theater, aber auch in allen vorherigen Künsten, wenn sie gemeinsam ausgeführt werden, wächst wieder etwas zusammen zu einer neuen Einheit, in die sich der Einzelne hereinstellt, aber das Ganze von allen hervorgebracht wird. Hier ent-steht das Besondere und Neue überpersönlich und als Integral aller Akteure. Architektur ist noch außer mir, Plastik tritt mir gegenüber, Malerei wird innerlicher und ganz bei mir bin ich in der Musik. Durch die Sprache setze ich bereits etwas aus mir heraus, aber sie ist,

Page 37: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

37:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

während sie mich verlässt. Bewegung ist das Heraustreten in den Raum und seine Gestal-tung. Sozialkunst ist die Loslösung von mir und das Entstehen von etwas Neuem.

So kann ein Bild zum Abschluss entstehen:

Leben steht zwischen Abtötung einerseits und Beseelung andererseits. Das vollendedste Le-ben finden wir in der Pflanze. In Richtung Absterben geht die Pflanze in der Holzbildung. Altes Holz, das schwarz geworden ist, ist das eine Extrem, das von Lebensvorgängen in der Pflanze ermöglicht wird. Blüten sind das andere Extrem. Sie sind mit ihren Farben für sehen-de Augen, mit ihrem Duft für riechende Nasen und mit ihrem Nektar für schmeckende Mäuler gebildet, also für beseelte Tiere. Schwarzes Holz ist ein Bild für das Absterben, Blüten sind Bild der Beseelung der Lebensprozesse.

Im Menschen können die Lebensprozesse zu Krankheiten entarten, die lebensfeindlich sind. Es sind vier Erkrankungstendenzen, die wir kennenlernen konnten. Wir können sie verbildli-chen als ein schwarzes Kreuz. Die Künste sind die beseelten Lebensprozesse, die wir thera-peutisch den kränkenden, Lebenskräfte schwinden lassenden Einflüssen entgegensetzen kön-nen. Die sieben Künste können wir als sieben Blüten um ein solches Kreuz herumgruppieren. Die Rose als eine der harmonischsten Blüten wird dafür seit Jahrhunderten als Bild dafür verwendet: im Rosenkreuz.

Das Rosenkreuz ist ein Bild, in dem die Geheimnisse, Problematiken und Chancen des be-wussteren Umganges mit den Lebensvorgängen eingehen. Als Meditationsformel gehandhabt, erübt man einen Zugriff auf die Geschehnisse, die hier angesprochen sind.

Page 38: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

38:

Teil 2: Salutogenese und Selbstregulation

Die Salutogenese – oder warum man auch gesund sein kann

Die Salutogenese (Lehre von der Entstehung von Gesundheit) versteht sich als Gegensatz zur der in der Medizin verbreiteten Pathogenese (Lehre von der Entstehung von Krankheit): Statt Krankheiten zu bekämpfen, sorgt sie sich um Gesundheit. Die wesentlichen Fragen: Was ist Gesundheit? Tatsächlich nur die Abwesenheit von Krankheit oder nicht vielmehr die Anwe-senheit von Lebensqualität? Wie fördert man Gesundheit? Und wie lassen sich (gesunde und kranke) Menschen zu gesundem Leben motivieren?

Während in der Pathogenese Ursachen für Krankheiten vorwiegend als Angriff von Außen angesehen wurden (Viren, Bakterien, Finanzamt, Verletzungen etc.), wird in der Salutogenese die Ursache von Gesundheit im Menschen selber vermutet.

Man kann sich vorstellen, dass es für das Bild des Menschen, das man sich entwirft, wichtig ist, ob wir nur nach seiner Krankheit fragen und nicht nach seiner Gesundheit. Wonach wir fragen, das haben wir auch im Blick. Ist uns nur das Kranksein, die Behinderung, der Defekt, der Mangel und das Ungenügen im Blick, so erscheint uns der Mensch als ein Mangelwesen, als ein Träger von Fehlern, als ein Fehlentwurf, Problemfall und Gefahr. Fragen wir aber auch nach seiner Gesundheit, so wendet sich der Blick eher auch zu dem, was er wirklich ist, was er dennoch kann, nach dem Ideal, der Würde, dem Möglichen, das in ihm ist.

Mit dem Auftreten der Salutogenese, beschrieben erstmals von Aaron Antonovsky (1923-1994), einem amerikanischen Soziologen, der in Amerika und Israel forschte, ist das teilweise fatale defektorientierte Bild vom Menschen, wie es in den letzten 300 Jahren durch die Medi-zin entstanden ist, wieder aufgebrochen und wird neu diskutiert.

Woher kommt der Begriff Salutogenese?

Interessanterweise kommt der Begriff aus einem medizinischen Versuch, Stressfolgen zu

beobachten: In Israel wurde untersucht, wie Frauen die Menopause verarbeiten. Einem der beteiligten Forscher, Aaron Antonovsky, fiel auf, dass eine Gruppe der Frauen die Problematik des klimakte-rischen Übergangs erstaunlich gut meis-terte. Bei dieser Gruppe handelte es sich um Frauen, die den Holocaust überlebt hatten. Aaron Antonovsky hat diese Frauen genauer untersucht und festge-stellt, dass sie über ein ausgeprägtes Ko-härenzgefühl verfügen. Seine Schlussfol-gerung war: Es gibt eine ganz neue Per-spektive für Gesundheit und Gesund-heitssysteme. Er nannte sie Salutogenese: eine Antwort auf die Fragen, wie Ge-sundheit zustande kommt und welche

gesundheitsproduzierenden Faktoren es gibt.

„… meine fundamentale philosophische An-nahme ist, dass der Fluss der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Dar-über hinaus ist für mich klar, dass ein Großteil des Flusses sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Ga-belungen im Fluss, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine Arbeit ist der Auseinanderset-zung mit folgender Frage gewidmet: Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluss befin-det, dessen Natur von historischen, soziokultu-rellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer?“

Page 39: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

39:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Das Kohärenzgefühl

• Definition: Antonovsky bezeichnet das Kohärenzgefühl als

„eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Ver-trauens hat, dass

• erstens die Anforderungen aus der internalen und externalen Umwelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind,

• und dass zweitens die Ressourcen verfügbar sind, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden, und drittens,

• dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen“.

Etwas alltagssprachlicher formuliert ist mit dem Kohärenzgefühl ein Grundgefühl und zu-gleich auch eine Wahrnehmungsweise der Welt gegenüber gemeint, dass wir das, was um uns herum geschieht, ausreichend verstehen, beeinflussen können und als sinnvoll erleben. Wir sind nicht hilflos, sondern wir vertrauen auf innere und äußere Hilfsquellen, auch wenn wir sie noch nicht kennen, mit denen wir Schwierigkeiten meistern können.

• Inhaltliche Komponenten: Das Kohärenzgefühl setzt sich aus drei inhaltlichen Komponen-ten zusammen. Da ist zum einen das Gefühl von Verstehbarkeit (sense of comprehensibili-ty). Menschen, die dieses Gefühl der Verstehbarkeit haben, sehen sich in der Lage, Erfah-rungen (auch in für sie völlig neuen Situationen) als durchschaubare, geordnete und trans-parente Informationen verarbeiten zu können. Sie müssen es noch nicht können, aber das Gefühl haben, das es ihnen gelingen kann. Das setzt die Annahme voraus, dass die Welt und die Ereignisse, die mich betreffen, prinzipiell verstehbar sind, die Welt und ihre Ab-läufe also prinzipiell erkennbar geordnet abläuft. Menschen, die so empfinden, fühlen sich weniger Situationen ausgeliefert, die auf sie chaotisch, willkürlich, nicht erklärbar oder durchschaubar sind. Diese Menschen sind also in der Lage, auch Probleme oder Belastun-gen, die auftreten, in einem größeren Zusammenhang zu begreifen oder diesen größeren Zusammenhang zumindest anzunehmen. Bei Familien mit einem behinderten Kind könnte man hier vermuten, dass trotz des Schocks in Folge der Diagnose Eltern mit einem guten Gefühl von Verstehbarkeit schneller in der Lage sind, sich der Situation so zu stellen, dass sich vergleichsweise rasch Durchblick, Verständnis und Klarheit im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kindes entfalten.

Die zweite Komponente ist das Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of manageability). Menschen, die ein Gefühl von Handhabbarkeit erleben, sind davon über-zeugt, dass auftretende Schwierigkeiten im Leben lösbar sind, bzw. erwarten eine Lösbar-keit und sind offen dafür, dass es eine Lösung sein wird, die nicht meinen ersten und ein-fachsten Wünschen entspricht. Sie sind sich sicher, über genügend Kompetenzen und Res-sourcen zu verfügen, um auch mit schwierigen Anforderungen fertig werden zu können. Dabei müssen das nicht nur die eigenen Ressourcen sein, sondern es ist einfach das Ver-trauen, dass sich Probleme einer Lösung zuführen lassen, und sei es mit Hilfe anderer Per-sonen, wie Eltern, Freunde, Partner, Polizei, Regierung, Ärzte, oder auch der liebe Gott. Auch hier würde man bei Eltern mit einem behinderten Kind durchaus konstatieren, dass vorübergehend im nahen Zeitraum zur Diagnose gewisse Desorientierungen oder auch

Page 40: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

40:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Hilflosigkeit auftreten können. Aber es ist anzunehmen, dass Eltern, die sich im Leben vor der Behinderung ein Gefühl von Handhabbarkeit erworben haben, schneller einen Weg für sich sehen oder ahnen, die Situation mit dem behinderten Kind in den Griff zu bekommen.

Die dritte Komponente des Kohärenzgefühls schließlich ist das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit (sense of meaningfulness). Es geht hier vor allem darum, inwieweit ein Mensch sein Leben als emotional sinnvoll empfindet, er Ziele und Projekte im Auge hat, für die es lohnt, sich zu engagieren. Antonovsky präzisiert dies auch noch im Bezug auf Probleme, mit denen man im Leben konfrontiert werden kann: „Dass wenigstens einige der im Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, dass man Energie in sie investiert, dass man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet, dass sie eher will-kommene Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne los wäre“. In diesem Grund-gefühl verbirgt sich die Quelle der Motivation: Sinnvoll ist etwas, was nicht nur gedanklich plausibel ist, sondern so empfunden werden kann, dass es sich lohnt, Mühen und Energien nicht zu scheuen, etwas anzupacken. Zum Thema „Motivation“ siehe Seite 45. Diesen As-pekt könnte man in Bezug auf Familien mit behinderten Kindern so interpretieren, dass zwar kein Elternteil im ersten Augenblick glücklich sein wird über die Diagnose einer Be-hinderung, dass aber Eltern, die ihr Leben grundsätzlich als sinnhaft, lebenswert und schön erleben, vermutlich eher und schneller in die Lage versetzt werden, auch die spezielle Be-hinderung des Kindes anders zu bewerten und in ihr Leben einzuordnen verstehen. Sinn-haftigkeit entfaltet sich, indem ich auch zukünftige Momente der Hoffnung und Furcht in die Gegenwart meiner Lebenserzählung hineinnehmen kann.

Antonovsky erachtet zwar alle drei Komponenten des Kohärenzgefühls als wichtig, jedoch hat für ihn nicht jede eine gleich zentrale Bedeutung. Die wichtigste ist für ihn die Sinnhaf-tigkeit, da ohne positive Erwartungen an das Leben sich auch bei einer hohen Ausprägung der beiden anderen Komponenten kein hoher Wert des Kohärenzgefühls ergebe.

Wer nun ein starkes Kohärenzgefühl besitzt, wird sich Situationen, Problemen, Stressoren und Wirrnissen anders stellen, als ein Mensch mit schwächerem Kohärenzgefühl. Der Ers-te wird eine Stresssituation eher als eine Herausforderung betrachten, der Zweite wird eher bereit sein, zu kapitulieren. Antonovsky fand nun heraus, dass Menschen mit einem stark ausgeprägten Kohärenzgefühl gesünder waren oder das Auftreten von Krankheiten von ihnen besser oder schneller bewältigt worden ist, als von Menschen mit einem geringeren Kohärenzgefühl.

Um die Stärke dieses Kohärenzgefühles abzuschätzen, hat Antonovsky einen Fragebogen entwickelt, der am Ende des Aufsatzes angefügt ist. Da das Ausfüllen sehr subjektiv ist und die Antworten je nach Tagesstimmung schwanken können, sollte das Ausfüllen fach-lich begleitet werden.

• Entwicklung des Kohärenzgefühls: Nach Antonovsky entwickelt sich das Kohärenzgefühl im Laufe der Kindheit und Jugend, d.h. dass die in dieser Phase erworbenen Erfahrungen und Erlebnisse das Kohärenzgefühl auch in besonderer Weise formen. Stehen in dieser Zeit viele innere und äußere Ressourcen zur Verfügung (Antonovsky spricht von „genera-lisierten Widerstandsressourcen“, z.B. individuelle Faktoren, wie körperliche Konstitution und Intelligenz, vor allem aber soziale und kulturelle Faktoren wie z.B. soziale Unterstüt-zung, finanzielle Möglichkeiten, kulturelle Stabilität, dann sind die Voraussetzungen gut, dass sich ein starkes Kohärenzgefühl entwickelt. In der Adoleszenz sieht Antonovsky noch

Page 41: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

41:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

größere Möglichkeiten der Veränderung auf Grund der dieser Phase naturgemäß anhaften-den Um- und Neuorientierungen in vieler Hinsicht. Mit etwa 30 Jahren aber ist nach seiner Auffassung das Kohärenzgefühl relativ fest geformt und bleibt dann auch weitestgehend stabil.

Viele Schulen der Entwicklungspsychologie haben Modelle entwickelt, wodurch, wann und wie sich das Selbstgefühl oder Kohärenzgefühl entwickelt. Die meisten beziehen sich in ihren Begriffen nicht auf die Begriffe anderer Schulen, sind sich aber grundsätzlich einig darin, dass bei prinzipiell gesunden Kindern durch altersgemäße positive Förderungen, die im rechten Maße erfolgen, sich Grunderfahrungen ausbilden, die sich später nie so stabil entwickeln, wie wenn sie geordnet in der frühen Entwicklung entstehen.

Hier kann das so genannte epigenetische Entwicklungsmodell, das zwar nicht auf diese drei Grundgefühle hin entwickelt worden ist (Piaget, Rudolf, Erikson), aber in kleineren Stufen die Entwicklung zu einem gesunden Selbstgefühl beschreibt, beispielhaft hinzuge-zogen werden:

Hier wird beschrieben, wie durch die wertschätzende Förderung in der Entwicklung Basis-ressourcen geschaffen werden, die ein stabiles Selbstgefühl bewirken.

Dass einzelne Elemente dieses Selbstgefühles fehlen können, ist deutlich, da keine Biogra-phie in Kindheit und Jugend dieselben Förderungen oder Hemmnisse erfährt. Jede Schule benutzt andere Elemente, die sich aber nicht widersprechen Orange hat einige Elemente des Selbstgefühles beschrieben und dazu erläutert, was sich anstelle eines positiven Ele-mentes des Selbstgefühles entwickelt, wenn das Entstehen behindert wurde:

Man kann auch die drei Grundgefühle, die Antonovsky beschreibt, auch als Resultat der drei großen Entwicklungsetappen von Kindheit und Jugend sehen, die R. Steiner die ersten drei „Jahrsiebte“ nennt, da sie jeweils ca. 7 Jahre betragen: von Geburt bis zur Schulreife, von der Schulreife bis zur Pubertät und von der Pubertät bis zum Erwachsenenalter ca. An-fang 20:

Die Verstehbarkeit der Welt erfährt das Kind in den ersten Lebensjahren zwischen Geburt und Schulreife (Siehe Straube „Gesichtspunkte zur Schulreife“ und „Die kindliche Entwick-

Das epigenetische Entwicklungsmodell Alter I Säuglingsalter II Kleinkindalter III Spielalter IV Schulalter V Adoleszenz VI Frühes ErwachsenalterVII Erwachsenalter VIII Reifes Erwachsenalter

Page 42: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

42:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

lung bis zur Schulreife“). In dieser Zeit ist das Kind in erster Linie wahrnehmend tätig. Der wahrzunehmenden Welt öffnet sich das Kind vorbehaltlos und offen. Diese Offenheit wird eingeschränkt durch sich wiederholende negative Erfahrung („gebranntes Kind scheut Feu-er“). Kommt es zu der überwiegenden Erfahrung: „die Welt ist gut“, bleibt es offen und ohne Vorbehalt. Über das Wahrnehmen und Nachahmen lernt das Kind sich in der Welt zu orien-tieren und sie zu verstehen. Es versteht nur richtig, was gut ist, was nicht gut ist lässt es sich verschließen und das fördert das Gefühl der Nichtverstehbarkeit.

Die Handhabbarkeit der Welt erfährt das Kind umso mehr, je mehr es sich von der Welt distanzieren lernt. Das beginnt mit der Loslösung von der Fixation an die Wahrnehmungswelt und dem Aufbau einer eigenen Innenwelt, die gegenüber wechselnden Außenweltseindrücken konstant erhalten wird. Das markiert den Zeitpunkt der Schulreife (Siehe Straube „Gesichts-punkte zur Schulreife“). Dabei erwirbt das Kind das Bedürfnis die Welt nach dem eigenen inneren Bild umzuformen – und das führt das Kind in die Schule, wo es das lernt (Lesen, Schreiben, Handwerke, Hausbau-, Ackerbauepoche... all die archetypischen Urbilder des Handhabens der Welt). Die Welt und sich so immer mehr in Einklang zu bringen führt zu dem Gefühl der Harmonie oder „Schönheit“. „Die Welt ist Schön“ wird so zu einem Ergebnis des zweiten Jahrsiebtes. Wenn dieses Gefühl entsteht, hat das Kind auch das Gefühl der Hand-habbarkeit der Welt erworben.

Das Gefühl der Sinnhaftigkeit aber kann erst in dem Maße entstehen, indem man lernt zwi-schen der Erscheinung und dem Wesen einer Sache oder eines Menschen zu unterscheiden – und das ist einer der größten Lernschritte in der Pubertät und Postpubertät, dem dritten Jahr-siebt. Der Unterschied von Konvention und Wesen, von Form und Inhalt, von Funktion und Person, Profession und Menschlichkeit sind die Fallstricke, durch die der Pubertierende sei-nen Weg suchet. Findet er ihn, erwirbt er ein Gefühl davon, dass „die Welt wahr ist“, sieht er auch Sinn.

• Veränderbarkeit des Kohärenzgefühls: Obwohl die Veränderbarkeit bzw. Beeinflussbar-keit des Kohärenzgefühls nach Antonovskys Theorie eigentlich mit dem Erwachsenenalter mehr oder minder abgeschlossen ist, wird die Veränderbarkeit auch in späteren Altern durch neuere Untersuchungen anders gesehen. Da die Lebenssituationen in einer schnelle-bigen Zeit sich wandeln unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen (Stichwort: Globalisierung, Individualisierung) wird heute eher von einer lebenslangen Identitätsarbeit ausgegangen, die auch das Kohärenzgefühl nicht mehr als einen einmal erworbenen festen Besitz erscheinen lässt, sondern es muss im Laufe des Lebens immer wieder neu herge-stellt werden. Immer wieder neu herstellen müssen bedeutet dann aber auch, dass es auch immer wieder neu hergestellt werden kann.

• Funktionalität des Kohärenzgefühls: Mit die entscheidende Frage für die Arbeit in der Frühförderung ist: Was bewirkt bzw. hilft nun ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl? Grundsätzlich erhöht es die Flexibilität gegenüber auftretenden Anforderungen, indem es die für die jeweilige Situation angemessenen Ressourcen aktiviert. Menschen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl tendieren dazu, eher starr und rigide zu reagieren, sie haben ein geringeres Repertoire an Ressourcen verfügbar. Man kann also sagen, dass das Kohärenz-gefühl als ein flexibles Steuerungssystem wirkt, als Dirigent, der den Einsatz verschiede-ner Verarbeitungsmuster (Copingstile, Copingstrategien) in Abhängigkeit von den Anfor-derungen anregt.

Page 43: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

43:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Das Krankheits-Gesundheits-Kontinuum

Nach Antonovsky, der sich hier mehr als Pessimist, denn als Optimist zeigt, ist die menschli-che Konstitution mit dem Entropiegesetz der Thermodynamik vergleichbar: „der menschliche Organismus ist ein System und wie alle Systeme der Kraft der Entropie ausgeliefert“. Entro-pie bedeutet, dass alle Ordnung im Verlauf der Zeit einer Unordnung, dass alle hohen Energi-eniveaus dem Zustand eines geringeren Energieniveaus anstreben. Auf dem Menschen über-tragen bedeutet das, dass das Grundprinzip des Menschen nicht Ordnung, Gesundheit und Gleichgewicht ist, sondern Ordnungsverlust, Krankheit und Ungleichgewicht. Das kann man für körperliche Gesundheit, Organisiertheit und Gleichgewichte im Alter auch beobachten, nämlich dass die Kraft im Alter schwindet, den Organismus als einen sinnvoll geordneten und gesund funktionierenden zu erhalten. Oft ist das auch psychisch oder geistig der Fall. Das bedeutet aber, dass der Mensch „von alleine“ irgendwann krank wird, das Umgekehrte aber, die Gesundheit einer Kraft bedarf, nämlich derjenigen, Ordnung, Gleichgewicht und Organi-siertheit wiederherzustellen (negative Entropie). In einer guten Kindheits- und Jugendent-wicklung erfolgt, wenn ein stabiles und kräftiges Kohärenzgefühl entsteht, eine solche Orga-nisiertheit. Je kräftiger sie ist, desto eher kann sie aufrechterhalten werden.

Für Antonovsky gibt es keine eindeutigen Begriffe für Gesundheit und Krankheit, wir sind also nie 100% gesund oder 100% krank. Unser Zustand liegt immer irgendwo dazwischen. Wenn ich „krank“ bin, weil ich erkältet bin, ist meine Leber dennoch gesund, wie auch mein Herz und mein Verstand. Wäre alles krank, wären wir tot. Gesundheit und Krankheit sind Pole des Lebens, das sich dazwischen bewegt, aber sich nicht schicksalshaft immer mehr nur Richtung Krankheit bewegt, sondern hin- und herpendeln kann.

Je ausgeprägter mein Kohärenzgefühl ist, desto eher versuche ich krankmachende Einflüsse abzuwehren, Probleme anzupacken, mich Herausforderungen zu stellen. Diese Energie, die ich aufwenden kann, je mehr ich ein Problem verstehen kann, je eher ich es handhaben kann und vor allem, je eher ich einen Sinn darin sehe, es zu bewältigen, desto eher wende ich eine Kraft auf, die das Problem bewältigt und mich weiterbringt. Diese Kraft, diese Energie und die anschließende größere Zufriedenheit erhöht meinen Ordnungszustand und mein Gleich-gewicht nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Damit verschiebt sich mein Zustand eher in Richtung Gesundheit. Verstehe ich nicht, was mir widerfährt, sehe ich mich gar nur als Opfer ungerechter und unverstehbarer Umstände oder Mächte, weiß ich nicht, wie ich das Problem angehen soll und besonders dann, wenn ich auch keinen Sinn darin sehen kann, das Problem anzugehen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es etwas helfen kann, so löse ich es nicht, es belastet mich immer weiter, die Ordnung meiner Konstitution geht zunehmend verloren, ich komme zunehmend aus dem Gleichgewicht und so verschiebt sich mein Zustand zunehmend in Richtung Krankheit.

Stress: Kohärenzgefühl Stark schwach

Gesundheit Krankheit

Page 44: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

44:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Stressoren und der Spannungszustand

Dass Stress nicht unbedingt etwas negatives sein muss, geht u.a. auf Antonovsky zurück. Zu-nächst erzeugt Stress „nur“ einen Spannungszustand, der dem betroffenen Menschen und sei-nem Organismus eine Herausforderung signalisiert. Ohne Stress bleibt ein mehr oder minder stabiles Gleichgewicht, wie es schon vorher bestand, erhalten, bzw. (Entropie!) vermindert sich langsam. Durch den Erregungszustand des Stresses, wird dieses Gleichgewicht in Frage gestellt. Bei einem guten Kohärenzgefühl und anschließender Bewältigung des Stress, kommt es zu einem Stabilitätszuwachs des Gleichgewichtes, was mehr Gesundheit bewirkt. Liegt ein schlechtes Kohärenzgefühl vor, und kapituliert der Betreffende vor dem Stress, so erhöht sich der Spannungszustand und das Gleichgewicht verschiebt sich zusehends zur kranken Seite.

Welche Stressoren gibt es?

Es gibt vieles, was einen stressen kann. Wir benutzen umgangssprachlich das Wort „Stress“ besonders für psychischen oder sozialen Stress. Das ist nicht falsch, aber nur ein Teil des Phänomens. Es gibt genauso körperlichen Stress, bei zu viel körperlicher Aktivität, bei Er-krankungen, Vergiftungen usw.

Egal welcher Art der Stress ist, immer kommt es zu stärker oder schwächer wahrnehmbaren Spannungszuständen, die eine Reaktion erfordern. Im Falle von Krankheiten kann eine solche Reaktion in Bettruhe, das Aufsuchen eines Arztes oder anderen Hilfen führen, die, wenn sie gut sind, den Stress bewältigen. Bei einem schlechten Kohärenzgefühl werden die Signale entweder zu schwach wahrgenommen, so dass eine Hilfe nicht in Anspruch genommen wird, oder es wird inadäquat reagiert.

Die folgende Tabelle stellt die vielfältigen Stressoren zusammen, die, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das bewirken können, was oben beschrieben wurde.

Stressoren Exogene Stressoren Endogene Stressoren

sensorisch/psychisch

Erwartungsdruck, Arbeitsbelastung, Termine, Verkehr, Reizüberflutung. Jetlag Auseinandersetzung/Aggressionen im sozialen Umfeld Bedrohung durch Menschen, Tiere, Na-turereignisse Nahrungs-, Wasser-, O2-Mangel Lärm, Verletzung, Blutverlust

Aversive Gefühle Schmerz, Angst, Furcht

Langeweile Hunger, Durst

Krankheitsgefühl Versagensänste

Wut/Scham Einsamkeit

Aufregung, Anspannung Intrapsychische Konflikte

Schlafstörungen Desynchronisation endogener Rhythmen

Page 45: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

45:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

physisch/zellulär Körperliche Belastungen Verletzung, Blutverlust Strahlung (UV, γ) Toxische Verbindungen Metalle Nahrungs-, Wasser-, O2-Mangel Körperliche Belastungen Mikroorganismen

Erschöpfungszustände Entzündungen

Autoimmunerkrankungen, Krebs Oxidativer Stress

Zellschäden, Zellbverluste

Die meisten Krankheitssymptome sind sinnvolle Signale: bei Erschöpfung verlangt der Kör-per nach Ruhe – sich durch Alkohol, Nikotin, mehr Kaffee, mehr Fernsehen und späteres Zu-bettgehen wird das Symptom unterdrückt. Niesen und eine laufende Nase zeigen die Selbst-reinigung der Nase an, die durch Nasensprays eher unterdrückt wird, Husten zeigt die Selbst-reinigung der Bronchien an, die durch Hustenblocker verhindert wird, was den Infekt ver-schlimmern kann. Bei Durchfall reinigt sich der Darm, beim häufigen Wasserlassen von nur wenigen Tropfen (Polakisurie) und Schmerzen beim Wasserlassen (Dysurie) im Rahmen eines Harnwegsinfektes reagiert der Organismus ebenso sinnvoll: indem wenig Urinvolumen in der Blase entsteht und aller Urin rasch ausgeschieden wird, können die Keime sich nicht so rasch vermehren. Schmerzen weisen auf das erkrankte Organ, das nach Schonung verlangt etc. Auch Fieber ist bei Infekten sinnvoll: pro Zehntel Grad Temperaturerhöhung (von 369°C auf 370°C halbiert sich die Teilungsrate der Bakterien, d.h., sie vermehren sich nur noch halb so schnell). In der Regel leiden wir unter den Symptomen, statt zu sehen, wie hier der Körper sich selber zu helfen versucht. Symptome sprechen eine Sprache, die man lesen lernen kann. Wenn man anfängt, diese Sprache zu verstehen, kann man mehr auf seinen Organismus hören (Verstehbarkeit), seinen Signalen folgen (Machbarkeit), weil man gesund werden will (Sinn-haftigkeit). Versteht man sie nicht (fehlende Verstehbarkeit), handelt man oft paradox, be-kämpft die Symptome, statt die Erkrankung (mangelhafte Handhabbarkeit) und man ver-schleppt oder verschlimmert die Erkrankung, man tut sich nichts Gutes (mangelnde Sinnhaf-tigkeit) und alles wird schlimmer.

Kann man das Kohärenzgefühl verbessern?

Antonovsky hielt das für unwahrscheinlich und sein Kohärenzgefühl hielt er für ein Ergebnis der Kindheits- und Jugendentwicklung, deren Ergebnis für den Rest des Lebens mehr oder minder Schicksal ist. Das sehen heute viele Menschen anders. Besonders in der Betreuung von Menschen mit Behinderung kommt viel darauf an, dieses Gefühl zu verbessern, da der Stress, der allein durch Alltagssituationen entstehen kann, dadurch gemindert wird und damit stressbedingte Verschlechterungen ausbleiben können.

Die Stabilisation des Gefühls der Verstehbarkeit

Wichtig kann es in der Betreuung sein, dass die Dinge, die um den Betreuten herum gesche-hen, kleinschrittig erfolgen und, wo sie erlebnismäßig nicht nachvollziehbar sind, in einfachen Worten erklärt werden. Es ist wichtig, die Betreuten an vielen Prozessen erlebbar teilhaben zu lassen, die Milch nicht nur vom Aldi, sondern auch vom Bauernhof geholt wird, wo das Mel-ken erlebt und durch Geschichten oder Erklärungen nachvollziehbar wird, wo sie her kommt.

Page 46: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

46:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Viele Vorgänge, die der Alltag bringt, müssen durch den Betreuer an die Erfahrungen und die Emotionen des Betreuten direkt angeglichen werden. Es ist wichtig für den Betreuer, sich klar zu machen, dass vieles, was für ihn selbstverständlich ist, den Betreuten verwirrt, weil er die Zusammenhänge nicht durchschaut. Für mich ist eine ältere Heilpädagogin, die ich in Irrland erlebte, ein Vorbild geworden. Bei allem, was sie tat, sprach sie. Wenn sie kochte, erzählte sie nebenher: „ jetzt mache ich den Herd an, damit das Wasser warm wird, denn das Gemüse vertragen wir besser, wenn es gekocht ist… das Gemüse hat ja noch ganz viel gute Erde an sich, die wir nicht vertragen, jetzt putzen wir es erst einmal, damit es uns besser schmeckt… jetzt zerschneide ich es, damit es mundgerecht ist und hoffe, dass es dem Gemüse nicht weh tut… jetzt kocht das Wasser wunderbar, da kann ich das Gemüse ja hereintun, damit es gar wird, denn dann vertragen wir es besser… jetzt probiere ich es einmal, ob es schon gut ist… hmmm, damit es besser schmeckt, tue ich noch etwas Salz daran….“ Egal ob Jemand zuhörte oder nicht, erzählte sie immer, was sie tat, damit jeder einsteigen konnte, der ihr zusah. Sie sprach leise, damit niemand zuhören musste, der nicht wollte, aber jeder konnte hören, wenn er wollte. Es waren alles Selbstverständlichkeiten für den, dem es keine Fragen waren, aber jedem eine Hilfe, der durch die Umtriebigkeit verwirrt war. Egal ob sie kochte, putzte, Betten machte, Windel wechselte oder den Tisch deckte. Immer begleitete ihr Tun dieses Geplauder.

Kleinschrittigkeit, Prozesshaftigkeit, Vertrauensbildung und Sprechen auf gleicher Augenhö-he gehört hier hin.

Die Stabilisation des Gefühls der Handhabbarkeit

Hierhin gehört, dass alle Aufgaben, die gestellt werden, so klein sind, dass sie bewältigbar sind, aber so groß, dass sie nicht unterfordern. So klein wie nötig, so groß wie möglich sollten alle Anforderungen sein. Bei der Begleitung der Bewältigung sollte nur Assistenz angeboten und so wenig wie möglich abgenommen werden. Nur dann kann das Gefühl entstehen von „ich kann es!“. Dort, wo das nicht gelingt, sollte so viel Hilfe zur Selbsthilfe gewährt werden, wie erforderlich, nicht aber mehr. Das Angebot zum Gespräch und zur Hilfe sollte immer im „Standby“ bestehen.

Bei allem, was geschieht, muss sich der Betreuer klar sein, dass die Erfolge des Tuns nicht immer erlebt werden. Darum kann das Geschehen reflektierend begleitet werden: Wenn ein Betreuter in der Küche beim Gemüseschnibbeln geholfen hat, kann man während des Essens durch Bemerkungen wie: „hmm, das Gemüse ist aber vortrefflich! Schmeckt es Euch auch so gut? Das hat Herr oder Frau XY zubereitet!“ Das erhöht das Gefühl beim Betreuten, dass sein vielleicht mühevolles Tun einen Erfolg gezeitigt hat und er tatsächlich etwas bewältigt hat!

Ähnliches kann schon durch das Begleiten erfolgen, indem die Wichtigkeit und Zweckmäßig-keit der Leistung betont, das Gelingen gelobt und der Zusammenhang der Einzelleistung zum Ganzen betont wird.

Die Stabilisation des Gefühls der Sinnhaftigkeit

Hier spielt das reflektive Begleiten eine noch stärkere Rolle. Das das Einzelne Tun in einen Gesamtzweck mündet, erhöht das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Ich habe einmal in einer WfMmB erlebt, wie Betreute Einzelteile für den Verkauf in eine Verpackung tun mussten. Es ging um Spiele, die später in DM-Märkten verkauft wurden. Später war ich in einem DM-Markt, wo die Spiele auslagen und ich traf einen der Betreuten mit seiner Mutter, die hier irgendetwas anderes kaufte. Er sah die Spiele und erzählte stolz, dass er sie verpackt hatte.

Page 47: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

47:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Als ich dann eines der Spiele in meinen Einkaufswagen packte und er es sah, war er stolz, dass Jemand sein „Werk“ erstand! Dieser Stolz ist Sinnhaftigkeit.

Alle wertschätzende Bestätigung ist fördernd für das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Einbindungen in soziale Gruppen und Prozesse, Freude fördernde Maßnahmen, Erleben von sinnstiftenden kulturellen Ereignissen (Jahresfeste, Wochen- und Tagesrhythmen) und das Vorfinden eines Ambientes, in dem man sich anerkannt, wertgeschätzt und beheimatet fühlen kann, fördern dieses Gefühl.

Letztlich ist das Gefühl der Verstehbarkeit eines, das der gewordenen Welt begegnet. Somit hat es einen Vergangenheitsbezug. Die Sinnhaftigkeit ist stärker zielgerichtet und zukunfts-orientiert, wie sich das Gefühl der Handhabbarkeit auf das richtet, was ich jetzt tue. Diese Zukunftssicherheit, die mit dem Gefühl der Sinnhaftigkeit verbunden ist, wird entsprechend durch alle verlässlich wiederkehrende Ereignisse gefördert, deren Wiederkehr keine bange Hoffnung, sondern freudig erwartete Gewohnheit geworden ist. Das fördern wir durch Rhythmen und Rituale. Das Ritual macht ein Ereignis zu einem angenehmen, der Rhythmus zu einem vertraut erwarteten Ereignis.

Ein Beispiel für die Veränderbarkeit des Kohärenzgefühls ist Reinhard Grossarth-Maticek, der mit seiner „Selbstregulation“ etwas ähnliches beschreibt, wie das Kohärenzgefühl. Er setzt stark auf die aktive Gestaltung dieser Selbstregulation mit seinem „Autonomietraining“.

Die Selbstregulation nach Reinhard Grossarth-Maticek

Etwas differenzierter hat dies Reinhard Grossarth-Maticek beschrieben. Er nennt es „Selbstregulation“. Er suchte nach Faktoren, die beschreiben, warum von zwei gleichaltri-gen Krebspatienten mit dem selben Tumor im selben Stadium der Erkrankung und mit der selben Therapie der eine früh, der andere spät stirbt. Durch einen Fragebogen kann er diese autonome Selbstregulation quantifizieren. Von dem Maß der autonomen Selbstregulation hängt die Überlebenszeit direkt proportional ab! Es ist ein Spiegel der bis ins Immunsys-tem tätigen Lebensorganisation.

Autonome Selbstregulation: Es ist diejenige individuelle Eigenaktivität, die die Bedingungen und Reizkonstellationen der physischen Umgebung, des eigenen Organismus, der sozialen Kommunikation und der geistigen Kommunikation herstellt, auf die Wohlbefinden erzeugen-de, bedürfnisbefriedigende Reaktionen erfolgen und die Bedingungen abgebaut werden, die Unwohlsein und Stress erzeugen und sich der Selbstregulation in den Weg stellen.

Ziel ist das „kompetent kontrollierte Wohlbefinden“, das mit der Aufrechterhaltung der Ge-sundheit verbunden ist.

Dabei unterscheidet er drei Gebiete des Wohlbefindens, die wir auf den Leib, die Seele und den Geist beziehen können:

• Sind alle leiblichen Funktionen so, dass sie gut zusammenarbeiten und kein Organ als einzelnes eine Sonderrolle spielt, sondern alle zu einer Ganzheit zusammenarbeiten, so stellt sich das unsensationelle Wohlbefinden ein, das bewirkt, dass wir unsere Seele frei bewegen können (anderenfalls wird die Seele gebunden, wie Wilhelm Busch schreibt: „...und in des Zahnes tiefer Höhle – hockt des Menschen ganze Seele...“).

Page 48: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

48:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

• Der Lebenssinn nimmt auch wahr, inwieweit seelische Reize und innere Gestimmtheit zusammenpassen, die Adaptation des Wahrgenommenen an die Gewohnheiten oder Er-wartung funktioniert und der momentane Ärger in einem tolerablen Verhältnis zum Ge-samtbefinden steht. Daraus resultiert Lust.

• Auch geistig wird der Lebenssinn aktiv und meldet eine positive Grundstimmung, wenn die Sätze einen Sin, die Inhalte mit meinen Erfahrungen zusammenpassen etc. Dies vermit-telt mit Sicherheit.

Das Zusammenarbeiten von Wohlbefinden, Lust und Sicherheit ist die Summe der lebens-sinngesteuerten Selbstwahrnehmung.

Theoretische Annahmen

1. Der Mensch ist ein aktives, auf sich und die Umwelt einwirkendes Wohlbefinden, Lust und Sicherheit suchendes System (WLS-Systhem). Ist WLS positv, entsteht Lebenswillen, persön-liche und soziale Integration, ist WLS negativ, resultiert Desintegration und Todestendenz.

2. Durch Autonomietraining steuert das System von Desintegration auf Integration.

3. Sucht ist eine Kompensation des Ungleichgewichtes von erlebter Unlust im Verhältnis zur erwünschten oder erträumten Lust.

4. Je geringer die positive Summe von WLS, desto ausgeprägter sind die physischen Risikofak-toren wie Fehlernährung, Bewegungsmangel, Alkohol- und Nikotinkonsum etc. Die physi-schen Risikofaktoren wirken synergistisch mit negativer Selbstregulation zusammen im Be-zug auf die Entstehung von chronischen Erkrankungen.

1. Individuelle uns soziale Selbstregulation benötigen sich gegenseitig und wirken synergistisch zusammen.

Dabei hat die Selbstregulation noch den weiteren Effekt: Nicht nur die Wahrnehmung: „es geht mir nicht gut“ ist ein Alarmsignal des Lebenssinnes, sondern die Wahrnehmung, was mir jetzt gut täte un die Kraft danach zu handeln macht die Selbstregulation aus. Das Ehepaar Peters, das das „Peters-Syndrom“ beschrieben hat, hatte Manager untersucht, also gebildete und differenzierte Menschen, wie sie im Falle einer Erschöpfung reagieren. Statt einen Vor-standsposten, einen Aufsichtsratsamt, delegierbare Aufgaben abzugeben, mehr zu schlafen, weniger zu rauchen, sich besser zu ernähren und auf Kaffee zu verzichten, haben die meisten einen weiteren Posten angenommen, der zunächst vordergründig 1.) den Beweis lieferte: „ich kann es noch“, 2.) dadurch das Selbstwertgefühl nicht ankratzt, 3.) engagiert und damit Kräfte mobilisiert, aber 4.) insgesamt das Gegenteil bewirkt. Das ist eine schlechte Selbstregulation, die einen Lebenskräftemangel kurzschrittig mit einem seelischen Event pflastert, ohne eine langfristige Besserung möglich zu machen. Der Lebenssinn hat mit Zeit zu tun, die Seele rea-giert auf den Moment. Nicht nur Manager haben eine schlechte Selbstregulation, auch unter Waldorflehrern und anthroposophischen Ärzten ist dies oft anzutreffen.

Die Fähigkeit Wohl- oder Unwohlbefinden, Lust oder Unlust, Sicherheit oder Unsicherheit zu bemerken, dann die Fähigkeit wahrzunehmen, was jetzt im Sinne der Lebenskräfte gut täte und drittens die Fähigkeit danach zu handeln ist die Selbstregulation, deren Fähigkeit im Falle einer chronischen und konsumierenden Erkrankung die Überlebenszeit mehr be-

Page 49: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

49:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

stimmt, als alles, was wir mit Apparaten messen können. (Siehe Fragebogen zur Selbstre-gulation.)

Reinhard Grossarth-Maticek hat Kurse zur Selbstregulation angeboten, die er Autonomietrai-ning nennt. Dabei bietet er sie mehr für Menschen an, die als Therapeuten Kranke betreuen, als für Kranke selber. Denn eine wesentliche Entdeckung seinerseits ist, dass Selbstregulation „ansteckend“ ist: Ein Therapeut, der blass, abgehetzt, ständig auf die Uhr schauend seinen Patienten sagt: „Sie müssen sich mehr Zeit für sich nehmen“ und damit andeutend: „Für mich gilt das ja nicht, aber für Sie!“, bewirkt wenig. Denn je kränker oder behinderter und damit abhängiger ein Mensch ist, ist er wieder insofern kindlicher, als dass er Autoritäten sucht, die er nachahmen will. Sein sozialer Umkreis wechselt: was vorher Freunde und Familie bedeute-ten, bedeuten jetzt zunehmend mehr die Therapeuten, Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Betreuer. In Schulen gilt dies für Lehrer auch: Ein Kollegium, das sich nicht selbstreguliert, in dem man nur etwas zählt, wenn man Ränder unter den Augen hat, immer verfügbar ist, seine eigenen Kinder unterversorgt sind, wenn die Pflichten als eigene Bedürfnisse uminterpretiert werden und derjenige, der noch selber für sein Leben etwas will, schief angesehen wird, hat eine miserable Selbstregulation, die erzieherisch auf die Betreuten wirkt, mehr als alle Inhalte. Der mit letzter Kraft hergerichtete Jahreszeitentisch bewirkt dann manchmal etwas ganz kata-strophales....

Darum ist es für den Betreuer wichtig, von sich selber zu wissen, womit er/sie sich hindert, zu Wohl-befinden, Lust und Sicherheit selber zu kommen. Denn diese „Mechanismen wirken als Vorbild“. Dazu hat Reinhard Grossarth-Maticek eine Verhaltenstypologie gefunden, die einen hohen Selbster-kennungswert hat:

Reinhard Grossarth-Maticek hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem er die Selbstregulation abfragt. Er gab diesen Fragebogen seinen Studenten mit der Aufforderung, ihn einmal im Monat auszufüllen. Nach einem halben Jahr, hatten sich die Fragebogenergebnisse bei den meisten Studenten deutlich verbessert! Denn wer an sich eine Schwäche durch den Fragebo-gen entdeckt, die ihm vielleicht unangenehm ist, sicht sich mit dieser Schwäche von da ab im Alltag häufiger konfrontiert. Oft geht man das „Problem“ daraufhin eher an, so dass man nach einiger Zeit im Fragebogen zu Recht anders antworten kann!

Diese und Beobachtungen anderer Autoren führen zu der Annahme, dass das Kohärenzgefühl ebenso wie die Selbstregulation keine starren und schicksalhaften Fakten sind, die unverän-derlich das Leben bestimmen. In einer schnelllebigen Zeit mit so rasch sich verändernden Lebensbedingungen ist das innere Gleichgewicht sicherlich erheblichen Schwankungen un-terworfen, an die sich die innere Stabilität anpassen muss. Dass ohne eine solche Anpassung das Kohärenzgefühl schlechter wird, scheint mir ebenso deutlich, wie eine erfolgreiche An-passung zu einer Verbesserung des Kohärenzgefühles führen muss!

Sicher gehört zu einer Verbesserung von Kohärenzgefühl, Selbstgefühl, Selbstregulation, die letztlich alle sehr ähnlich sind, die Reflexion des eigenen Verhaltens! Über Reflexion gibt es ein eigenes Skript. Aber keine Reflexion ohne einen Aktionsplan, in dem man sich vornimmt das zu verändern, was der Reflexion als Problem auffiel. Diese Kenntnis alleine genügt natür-lich nicht, man muss auch etwas tun! Dazu gehört die Motivation.

Motivation

Was eine Motivation ist und wie man sie erlangt, ist, wenn man die Literatur ansieht, kaum herauszubekommen. Es gibt unzählige Kurse und Bücher, die ein Motivationstraining anbie-

Page 50: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

50:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

ten. Aber alle bieten Bedingungen a, unter denen Motivation auftreten kann, aber nicht muss. Die Motivation ist nicht durch bewusstes Sich-Einreden zu erreichen, es gibt auch keine Übungen, die zwangsläufig einen Motivationsschub erreichen. Um sich motiviren zu lassen, muss man sich im Inneren angesprochen fühlen, in Schichten, die unterhalb des intellektuel-len Niveaus liegen, emotionale Anteile haben, die sich begeistern lassen – aber dort wird man nur angesprochen, wenn man dafür offen ist, sich also ansprechen lassen will. Und das setzt ja bereits eine Motivation voraus!

Eines der meistverkauften Bücher zum Thema Motivation ist das Buch „Fish“ von Lundin, Paul und Christensen, die beschreiben, wie eine Abteilung einer Firma, in der es keine Moti-vation gab, sich anregen ließ durch den Fischmarkt in Seattle. Aus deutscher Sicht wirkt es „typisch amerikanisch“, etwas kitschig und zu simpel. Sich einfach einzureden, dass das Spaß macht, was man bisher lustlos getan hat, kann nicht die Lösung sein. Es werden aber noch einige weitere Komponenten genannt, die wichtig sind:

1. Freie Wählbarkeit derEinstellung: Die Art, wie ich an etwas herangehe, bestimmt, wie es empfinden werde. Die Frage ist wichtiger, als die Antwort, schreibt Antonovsky, ein Sprichwort sagt: „Wie ich in den Wald rufe, so schallt es hinaus“. Gehe ich in der Erwar-tung z.B. in die Arbeit, dass mich nur Ärgerliches, Dümmliches und Frustranes erwartet, so werde ich es finden, nicht aber das, was, mir Freude bereiten kann. Erwarte ich Schö-nes, Erfreuliches und Gewinnbringendes, so werde ich es finden und das Negative nicht mehr so deutlich sehen. Diese Einstellung oder Erwartung kann ich bewusst wählen! Jeden Morgen kann ich mich neu entscheiden.

2. Spiele. Was ich spielerisch handhabe, bringt Freude und Freude bringt Energien, die ich vorher nicht verspürt habe. Und Spielerisches lebt in dem, wie ich etwas tue. Ich kann eine Begrüßung nüchtern, knapp und formell sagen, ich kann sie aber auch freundlich gestalten, dass der Andere lächeln muss. Von Charlie Chaplin kommt der Spruch: „Ein Tag an dem du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag“. Hierbei aber geht es darum, die Dinge so zu tun, dass es einem selber Freude bereitet, wie man sie tut, wie man seinen Arbeitsplatz gestal-tet, wie man kommuniziert etc.

3. Bereite Anderen eine Freude. Hier gilt das Selbe umgekehrt vor, dass der Betreute, der Patient, der Kunde, der Mitarbeiter Freude durch uns bekommt, dass er das Lächeln trägt, das wir erzeugen. Auch das kann man sich vornehmen. Insofern würde ich diesen Punkt mit dem Vorherigen zusammenziehen, da es hier um Lebensfreude geht, einmal im Bezug auf einen selbst, zum Anderen im Bezug auf den Kommunikationspartner.

4. Sei Präsent. Dies ist ein Aspekt, der die innere Beteiligung und Aufmerksamkeit bei dem meint, was man gerade tut. Blickkontakt im Gespräch, Sorgfalt bei der Arbeit, Empathie, Engagement, um das was man tut, so gut wie möglich zu machen.

Das erste geht noch mental, aber es sorgt für eine Verstehbarkeit, bzw. dafür, dass man das versteht, was man verstehen will. Punkt 2 und 3 beziehen sich auf das „Wie“, insofern auf Handhabbarkeit. Der Letzte Punkt gibt dem, was ich tue, wenn ich ihm meine volle Aufmerk-samkeit gebe, Sinnhaftigkeit. Aber auch alle die Punkte setzen eine gewisse Motivation vo-raus sich motivieren zu lassen. Sie sind gute Hinweise, aber verschieben das Problem. Es kann in einem Team eine Atmosphäre schaffen, die Andere mitreißt, in der sich andere moti-vieren lassen.

Page 51: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

51:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Ein weiteres Geheimnis der Motivation ist, dass sie aus den unbewussten Regionen unserer Persönlichkeit kommt und diese unbewussten Strukturen eine andere Sprache sprechen und verstehen, als unser Bewusstsein (Matt Galen Abend: „Leben Sie statt zu funktionieren“). Die wichtigste dieser Sprachbesonderheit scheint mir, dass unser Unterbewusstes keine Vernei-nung versteht. „Ich will nicht mehr so viel Süßes essen“ ist ein bewusster Vorsatz, der im Un-terbewussten ankommt als: „ich will mehr Süßigkeiten essen“. Motive haben mit Handlungen zu tun und Handlungen sind positive Anweisungen. Kein Kellner würde die Anweisung ver-stehen: „bitte keine zwei Bier!“. Aber der Vorsatz: „ich will mich gesünder ernähren“ bewirkt auch noch nicht viel, wenn nicht eine gefährliche Erkrankung mich dazu zwingt. Ich brauche eine positive, emotional stimulierende Nachricht, die mir mehr Glück und Freude verheißt. Nur etwas nicht tun wollen, reicht nicht, Allgemeinheiten auch nicht, es muss konkreter und begehrenswerter sein, um im Unbewussten anzukommen. Zwar kann man es auch dann, aber mehr durch Selbstdisziplin, Zwang und Druck. Das aber sind keine Motivationen.

Motivationen sind schwer greifbare Gebilde unserer Seele, die mit dem Willen zu tun haben.

In der „Allgemeinen Menschenkunde“ untergliedert Rudolf Steiner diesen Willensbereich in 7 Stufen, von denen drei Stufen geistiger, drei Stufen leiblicher Natur sind und eine, das Mo-tiv innerseelisch ist:

Geist Entschluss Vorsatz Wunsch

Seele Motiv

Leib Begierde Trieb Instinkt

Das legt nahe, dass, je weniger die Wünsche, in denen sich das Seelische dem Bewusstsein mitteilt, Vorsätze, die bewusst daraus gefasst werden und Entschlüsse, die es zu einem Ab-schluss bringen, umso eher zu Motiven führen, je weniger sie den tiefen Instinkten, Trieben und Begierden widersprechen. Sie müssen mit meinen Instinkten (Überleben, Ernähren, Er-folg, Lebensglück) und den daraus resultierenden Trieben, die den Instinkt in eine Handlung umwenden und den Begierden, die den Trieb in eine bestimmtes Handlungs-„Wie“ formen, widersprechen.

Ist die Motivation eine Synthese von Wunsch, Vorsatz und Entschluss einerseits und Instinkt, Trieb und Begierde andererseits? Vielleicht eines von Mehreren Gleichgewichten: Sich nicht zuviel und nicht zuwenig vornehmen, sich nicht über- und nicht unterschätzen, Begeisterung für etwas, die nicht lodert und alles verbrennt, aber auch kein zu geringes Feuer ist. Motive sind auch Gleichgewichte zwischen dem Willen etwas zu tun und seinen Gelegenheiten oder Möglichkeiten, den Willen umzusetzen. Motive sind labile Gleichgewichte und störbar.

Das Kohärenzgefühl ist kein Gedanke, kein Gefühl nur, sondern auch de Wille, die Welt posi-tiv, geordnet, gesetzmäßig und strukturiert, also verstehbar, handhabbar, also mit mir in Ein-klang brinbar, sowie sinnvoll sehen zu wollen. Das Motiv dazu scheint eher mit unseren Ins-tinkten, die sich danach sehnen, in Einklang zu stehen, als mit unserem Intellekt, der skepti-scher, kritischer und distanzierter ist.

Page 52: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

52:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Das kann ein erster Ansatz sein, zu verstehen, dass in der Westlichen Welt mit mehr kritische geschulten Bildung und mehr Wohlstand, der als selbstverständlich angesehen wird, das Ko-härenzgefühl eher schwächer ausgebildet ist, als in so genannten „primitiveren“ Kulturen mit weniger Bildung, mehr Glauben und geringerem Wohlstand…

Page 53: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

53:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Abschlussbemerkung

Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Lebensprozesse, die nicht der Bewusstseins-schicht angehören, die früher durch Rituale religiöser Art und durch Instinkte gepflegt wur-den, jetzt dieser kulturellen Aufsicht und Fürsorge verlustig geworden sind. Aber es ist seit einigen Jahrhunderten ein Bestreben sie ins Bewusstsein zu heben und der Aufsicht der eige-nen Intention zu übergeben. Dieses Bemühen hat einen esoterischen Ursprung, z.B. in der rosenkreuzerischen Bewegung, an die Rudolf Steiner auch anknüpft.

Nur hat sich der Verlust der kulturellen Obhut schneller vollzogen, als die Eigenverantwor-tung zugenommen hat. Die Probleme sind allenthalben:

Der Drogesüchtige z.B. hatte meist ein Bedürfnis nach Belebung des Wohlbefindens und der Lust, ggf. auch der spirituellen Sicherung, wozu ihm zunächst die Droge verhalf: Man ist fit-ter, man fühlt sich „high“ und/oder fühlt sich mit der geistigen Welt verbunden. Dann aber folgt das Gegenteil und die Droge muss genommen werden, um das Gegenteil einzugrenzen, die Entzugssymptome zu beherrschen. Beim Abhängigen folgt eine Wahrnehmungseinengung (erster Lebensprozess), eine Sucht statt Gewohnheit und Beziehungslosigkeit zur Welt (zwei-ter Lebensprozess), eine Entindividualisierung (dritter Lebensprozess), es fehlen die Fragen an das Leben (vierter Lebensprozess), das innere Leben erstirbt, an die Stelle der inneren Bil-derwelt tritt höchstens die Halluzination (fünfter Lebensprozess), Entwicklung sistiert (sech-ser Lebensprozess) und es gibt keine Visionen mehr (siebter Lebensprozess). Zuletzt fühlt er sich „stoned“, also leblos, aus dem Leben herausgefallen.

Solche Beispiele wären viele anzufügen. Aber es macht deutlich, dass es gewaltige Ausmaße hat, dass uns ein solcher Prozess in die eigene Freiheit gegeben ist und damit wir selber ent-scheiden, sogar wie lange wir leben!

Um sich dieser gewachsenen Aufgabe stellen zu können, müssen die Kenntnisse der Lebens-vorgänge, z.B. der Lebensprozesse zunehmen und präziser werden.

Anthroposophie hat das zum Anliegen. Aber in der Nachfolge Rudolf Steiners ist es zwar ernst genommen worden. Nur der Ernst hat auch z.T. etwas lenbensfeindliches. Darum ist die Betonung Grosshart-Maticeks auf Wohlbefinden, Sicherheit und die Lust so wichtig!

Leben ist auch Lust! Wohlbefinden, Lust und Sicherheit, das optimale Zusammenarbeiten der Lebensprozesse im Leib, in der Seele und im geistigen/sozialen ist etwas gutes, schönes, wah-res und es bereitet Lust. Ein Gesundes Leben bereitet auch Lebensfreude. Darum ist die Kenntnis der Lebensprozesse eine Anregung zur Kreativität. Sie sind kein Rezeptbuch, nach dem man gestresst leben soll...

Page 54: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

54:

Teil 3: Resilienz

Es hat in der Geschichte der Medizin, der Pä-dagogik, der Psychotherapien und vergleich-barer Forschungsfelder, aus denen Sonderpä-dagogik, Heilerziehungspflege oder Trauma-pädagogik sich ihre Orientierungen holt, viele Wechsel der Paradigmen gegeben. Das neues-te Schlagwort heißt „Resilienz“. Unter Resili-enz versteht man die Fähigkeit der Widerher-stellung eines vorherigen Zustandes. In der Technik findet man den Begriff für die Elasti-zität eines Materials, in der Statistik als Aus-druck für Fehlertoleranz, in der EDV-Technik nennt man so die Fähigkeit im Internet zu ei-ner gewünschten Seite zu kommen, obwohl es einzelne Verbindungsfehler gibt, die aber im Netz ausgeglichen werden. Besonders in der Ökologie wird der Begriff verwendet, wo man netzartig aufeinanderwirkende Strukturen (Boden, Pflanzen, Wetter, Mikroorganismen etc.) untersucht, die gemeinsam zusammenwirken um schädliche Einflüsse auszugleichen.

In der Psychologie und Pädagogik hat man den Begriff übernommen für das sogenannte „Stehaufmännchen“-Phänomen, also die Fähigkeit, trotz einwirkender Hindernisse, Trauma-ta oder Störungen, den vorherigen (guten) Zustand wieder zu erlangen. Die erste und ein-fachste Definition ist also die der psychischen Widerstandskraft. Deutlich differenzierter ist die Beschreibung Richard Sagors: resiliente Personen seien „CBUPO-Menschen“ (compe-tence1, belonging2, usefulness3, potency4, optimism5). Hier werden Eigenschaften benannt, die einem Menschen helfen, mit widrigen Situationen umzugehen. Noch weiter geht Walsh, wenn er die Resilienz als die Fähigkeit bezeichnet, „aus widrigsten Lebensumständen ge-stärkt und mit größeren Ressourcen ausgestattet als zuvor herauszukommen...“

Besonders die frühen Psychotherapiemethoden, basierten darauf, den Konflikt, der zur seeli-schen Erkrankung führte, zu verstehen. Man ging davon aus, dass das Verstehen, warum es einem schlecht geht, die Möglichkeit bietet, die Ursachen aufzulösen. Die Psychoanalyse ist eine dieser Methoden. Die Entwicklung der Psychoanalyse ging so, dass man versuchte, dieses Verstehen nicht nur intellektuell, sondern immer empathischer sich vollziehen zu las-sen. Dennoch blieb es immer eine defektorientierte Methode. Im Mittelpunkt stand der Kon-flikt, die Blickrichtung blieb immer rückwärtsgewandt. Neuere Therapiemethoden, wie die systemische Familientherapie, gehen von in den Familien liegenden Ressourcen aus. Gear-beitet wird dabei an der Wahrnehmung neuer, bisher unbekannter Perspektiven, an dem Ver-ständnis für die Haltung der übrigen Beteiligten, an der Analyse von Mustern in Kommuni-kations- und Interaktionsvorgängen, es werden angemessene Interventionen erprobt und ganzheitliche Hypothesenbildungen erwogen. Diese „Ressourcenorientierung“ mündete bei

1 kompetent 2 zugehörig 3 Zweckorientiert, fähig etwas zu bewältigen 4 Potent, mächtig, kraftvoll 5 optimistisch

Page 55: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

55:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

vielen Therapeuten in den Zwang des „positiven Denkens“, der ausschließlichen Lösungs-orientierung, also der Blickwendung ganz in die Zukunft und einer Vernachlässigung der Not, in der sich der Klient befindet.

Zwischen diesen einerseits rückwärts-, andererseits vorwärtsgerichteten, einerseits defekt-, andererseits ressourcenorientierten Denkrichtungen nimmt die Resilienzforschung einen dritten Weg ein. Rosemarie Welter-Enderlein, die mit Bruno Hildenbrand das Buch „Resili-enz – Gedeihen trotz widriger Umstände“, (Carl-Auer Verlag, 2006) zum Thema Resilienz herausgegeben hat schreibt in der Einleitung zu dem Buch:

Dass ich so viel Interesse habe an menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten wie an Erklärungen dafür, warum die Entwicklungen immer wieder stagnieren, gehört zu meinem persönlichen und meinem beruflichen Menschenbild. Mit einer Aussage wie dieser gerate ich jedoch leicht in den Verdacht eines trivialen Optimismus, wie er mit dem von mir infrage gestellten Dogma therapeu-tischer »Ressourcenorientierung« einhergeht. Also beeile ich mich mit der Erklärung, dass ich mir ein Menschenbild nicht vorstellen kann, das ohne Blicke in den Abgrund auskommt und wozu ne-ben dem Blick auf mögliche Ressourcen auch die Auseinandersetzung mit den Krisen bzw. Stres-soren in einem Lebenslauf gehört.

Dass mein Menschenbild mit meiner persönlichen Ge-schichte zu tun hat und diese wiederum mit der Wahl meiner therapeutischen Orientierung, habe ich in einigen Schriften beschrieben. Meine Eltern, mit ihrer Lebens-tüchtigkeit und mit ihrer Anteilnahme am Schicksal an-derer, waren Vorbilder für ihre fünf Kinder. Sie haben uns nicht nur sichere Bindungserfahrungen angeboten, sondern auch Blicke in ihre eigenen Abgründe vermittelt und uns nie in Watte verpackt. Als Älteste mit vermut-lich angeborener Teilnahmeintelligenz hatte ich für die Verletzlichkeiten von Mutter und Vater ein besonderes Sensorium. Dies hat wohl auch mit meiner späteren Be-rufswahl zu tun sowie mit meiner Überzeugung, dass traumatische Lebenserfahrungen nicht zwingend zu ne-gativen persönlichen Entwicklungen führen müssen. Menschen haben im besten Fall immer wieder Möglich-keiten, sich aus eigener Kraft zu entwickeln, trotz widri-ger Lebensumstände.

Meine eigene Mutter ist zum Beispiel unter schwierigen Bedingungen groß geworden. Sie war, wie ich selber, Älteste von fünf Kindern. Ihre Mutter war schwer alkoholabhängig und darum jah-relang in einer Klinik. In dieser Zeit ließ ihr Mann sich von ihr scheiden, und meine Mutter hat - als Halbwüchsige - für ihre vier jüngeren Geschwister selbstverständlich die Mutterrolle über-nommen. Trotz dieser schwierigen Aufgabe - oder vielleicht deshalb - ist sie eine starke und le-bensfrohe junge Frau geworden. Ihre heimlichen Ängste, nicht zu genügen oder nicht das Beste aus ihren vielen Talenten zu machen, habe ich als älteste Tochter zwar immer gespürt. Aber ihre Ängste machten mir keine Angst, weil ich Mutters Entscheidung für das Leben und gegen psychi-atrische Etiketts für ihre Situation aus dem Alltag heraus kannte. Zu diesem Alltag gehörten ne-ben unserer Kernfamilie auch ehemalige Psychiatriepatienten, die bei uns lebten und in der fami-lieneigenen Gärtnerei mitarbeiteten. Deren Resilienz wurde durch die Gewöhnlichkeit unseres Alltags vermutlich gefördert. Niemand nahm an, die Patienten seien »von Natur aus« resilient. Aber es gab klare Vorgaben für sie, und wenn einer ab und zu verrückt spielte, erlebte er (oder

Page 56: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

56:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

sie) einen sicheren Beziehungsrahmen, in den das ganze Haus samt der Nachbarschaft eingebun-den war.

Hierin sprechen sich einige Grundmotive der Resilienz aus:

• Jeder Mensch ist verletzbar. Jeder hat seine Abgründe, Schwächen und Verruchtheiten. Sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und als integralen Bestandteil der Per-sönlichkeit anzunehmen, ist ebenso fahrlässig, wie den betreffenden Menschen anhand dieser dunklen Seiten zu charakterisieren und sie als sein Hauptmerkmal anzusehen.

• „In Watte packen“ stärkt nicht. Nichts Schlimmes erlebt zu haben macht nicht den ge-sünderen Menschen aus. Im Umkehrschluss ist es aber auch nicht sinnvoll, soviel Schlimmes wie möglich zu erleben und zu erfahren. Schlimme Erfahrungen alleine sind weder positiv noch negativ. Eine einseitig positive Haltung solchen Erlebnissen gegen-über käme dem Abhärtungsideal gleich, das man früher einmal hatte („was uns nicht um-bringt, macht uns nur härter“). Dahinter steht das Bild des männlichen Teflon-Ich, das wie bei einem Hollywood-Helden unverletzlich ist. Das gibt es nicht. Die Alternative ist aber nicht, dass einem alle Steine aus dem Weg geräumt werden, alle Gefahren nur ge-mieden werden, sondern diejenigen Traumata, die das Leben mit sich bringt, anzunehmen und kreativ daraus etwas zu schöpfen.

• Traumatische Erfahrungen müssen nicht das Gesamtgleichgewicht der Seele negativ stören, auch geht es im idealen Fall nicht so, dass man hinterher so ist, wie zuvor, sondern man kann nach einem Trauma gesünder sein, als zuvor. Krisen erscheinen hier auch als mögliche Chance zur Entwicklung. Mit dem Entwicklungsbegriff kommt eine zeitliche Dimension hinzu, die die einseitige Vergangenheits- und die ebenso einseitige Zukunfts-orientierung in einen Prozess löst. Aaron Antonovsky hatte in seiner „Salutogenese“ noch angenommen, dass die Fähigkeiten zur Gesundheit (sein so genanntes „Kohärenzgefühl“) sich in Kindheit und Jugend entwickelt, je nach vorliegenden Bedingungen und dann für den Rest des Lebens mehr oder minder so bleibt, wie ein einmal angenommenes Schick-sal, ohne wesentlich eigenes Zutun. Ronald Grossarth-Maticek hielt die „Selbstregulati-on“, die Antonovskys Kohärenzgefühl stark ähnelt, für verbesserbar, durch stressfreies Training. In der Resilienz geht es um Fähigkeiten, die man in der Krise, im Stress und durch die Krise erwirbt!

• Es gibt Faktoren, die eine Resilienz eher ermöglichen, als andere. Dazu gehört sicherlich der im Text erwähnte Beziehungsrahmen oder die Bindungserfahrung und das Erleben einer verlässlichen Normalität. Das Gefühl von Zugehörigkeit wird von vielen Autoren als wesentlich für eine gesunde kindliche Entwicklung angesehen. Auch späterhin kommt der menschlichen Vernetzung mit Familie, Freunden und Kollegen eine ebensolche Be-deutung zu. Und in der Tat scheint zu einem Teil die sich entwickelnde Resilienz im Kin-desalter mit der Zahl der Freundschaften zu korrelieren und zu den engen Beziehungen zu den Eltern, die auch erzieherischen Einfluss nehmen, und zu anderen Erwachsenen eben-so. Der Bezug zu anderen Menschen scheint hier insofern eine positive Rolle zu spielen, als hier eine soziale Unterstützung erlebt wird und auch Modelle zur Problemlösung vor-gelebt werden (wenn sie vor den Kindern nicht verdeckt werden). Ebenso aber wird im-mer wieder betont, wie wichtig frühe Leistungsanforderungen und Verantwortungsüber-nahme sind. Dies kommt nur durch die erzieherische Intervention der Erwachsenen zu-stande und macht aber auch das Erlebnis von Normalität erst möglich, denn Normalität wird nicht passiv erlebt, sondern wird da erlebt, wo man selber aktiv involviert ist.

Page 57: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

57:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

• Weiter spielt eine Bedingung eine Rolle, die schwer im Bezug auf seine Ursächlichkeit hin zu ermitteln ist. Es ist die „günstige charakterliche Anlage“, die meist mit „Optimismus“ beschrieben wird. In der Tat ist wohl manchmal der Optimismus wie angeboren, oder er fehlt trotz aller günstigen Bedingungen. Eine dieser Bedingungen für die Entwicklung einer optimistischen Grundhaltung ist das Erleben von Selbstachtung, Selb-ständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Auch die werden insbesondere durch das soziale Mit-einander in freundschaftlichen Beziehungen (Gruppen) erfahren.

Viele Autoren sehen die Grundlage zur Entwicklung resi-lienter Lebensformen in der frühen Kindheit. Manche Säuglinge zeigen mit 2 Monaten bereits, dass sie sich aktiv gegen Dinge wehren, die sie nicht wollen oder mö-gen. Diese innere Abwehr ist sicher eine wichtige Grundlage einer guten Selbstachtung, muss aber keine gute Grundlage für eine soziale Fähigkeit sein.

So kann man die Resilienz beschreiben als das Zusammenwirken vielerlei Faktoren, die zu einem Strauß von Fähigkeiten werden, die jeder Autor anders aufzählt.

Margret Schnetgoeke und Stephanie Thiele haben eine Zusammenstellung über Resilienz im Internet veröffentlicht, in der sie die Eigenschaften wie folgt benennen: Resilienz sei ein Persönlichkeitsmerkmal, das mit folgenden Merkmalen korrespondiert: Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Bestimmtheit, Unbesiegbarkeit, Beherrschung, Findigkeit, Ausdauer, Ak-zeptanz dem Leben und der eigenen Person gegenüber, Anpassungsbereitschaft, Balance und Flexibilität, Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Corina Wustmann, Diplom-Pädagogin, Wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e.V. hat in ihrem Aufsatz: „Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung Wie es manche Kinder schaffen, schwierigen Lebensum-ständen zu trotzen“ eine andere Zusammenstellung gewählt:

� Resilienz bezeichnet kein angeborenes Persönlich-keitsmerkmal eines Kindes, sondern umfasst eine Ka-pazität, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben wird. Mit an-deren Worten: Resilienz ist lernbar.

� Resilienz kann mit der Zeit und unter verschiedenen Umständen variieren. Kein Mensch ist immer gleich widerstandsfähig. Mit anderen Worten: Resilienz ist keine lebenslange Fähigkeit gemäß „einmal erworben, immer vorhanden“.

Page 58: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

58:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

� Die Wurzeln für die Entwicklung von Resilienz liegen in besonderen schützenden Be-dingungen, die einerseits in der Person des Kindes, andererseits in seiner Lebensum-welt lokalisiert sein können.

Was kennzeichnet resiliente Kinder?

Obwohl es große Unterschiede in den jeweiligen Risikobelastungen und methodischen Vor-gehensweisen der Untersuchungen gibt und auch der Resilienzansatz noch etliche konzeptu-ell-methodische Unklarheiten aufweist, kamen dennoch viele Forscher zu relativ überein-stimmenden Befunden hinsichtlich jener Faktoren, die Resilienz charakterisieren bzw. an der Entstehung maßgeblich beteiligt sind. Als bedeutsame Untersuchungen können dabei z.B. die „Kauai-Längsschnittstudie“ von Werner und Smith, die so genannte Pionierstudie der Resilienzforschung mit einer Laufzeit von 40 Jahren, die „Mannheimer Risikokinderstudie“ von Laucht u.a. sowie die „Bielefelder Invulnerabilitätsstudie“ von Lösel und Mitarbeitern benannt werden. Zusammenfassend konnten in diesen Untersuchungen u.a. folgende ent-scheidende schützende Faktoren bzw. Bedingungen identifiziert werden:

Personale Ressourcen

� Positive Temperamentseigenschaften, die soziale Unterstützung und Aufmerksamkeit bei den Betreuungspersonen hervorrufen (flexibel, aktiv, offen)

� Problemlösefähigkeiten � Hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung � Realistische Kontrollüberzeugung � Hohes Selbstwertgefühl � Hohe Sozialkompetenz wie z.B. Empathie und Verantwortungsübernahme � Aktives und flexibles Bewältigungsverhalten wie z.B. die Fähigkeit, soziale Unterstüt-

zung zu mobilisieren � Optimistische, zuversichtliche Lebenseinstellung (Kohärenzgefühl).

Soziale Ressourcen

� Mindestens eine stabile, verlässliche Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert

� Offenes, wertschätzendes, unterstützendes Erziehungsklima � Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive Kommunikation in der Familie � Religiöser Glaube in der Familie � Kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie, die als positive Rol-

lenmodelle dienen und Mut zusprechen (z. B. Großeltern, Freunde, Lehrer) � Wertschätzendes Klima (Schule als „zweites Zuhause“).

Barbara Perras hat in einem im Internet veröffentlichten Aufsatz über Kindergartenpädago-gik einen wesentlichen zusätzlichen Gesichtspunkt benannt:

„Resiliente Kinder entziehen sich durch ihre Kreativi-tät oft der unerträglichen Realität und vermeiden für eine Weile Gefühle von Einsamkeit, Angst, Wut, Ohnmacht, Verwirrung und Verzweiflung:

• Sie sind stark wie Pippi Langstrumpf.

Page 59: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

59:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

• Sie teilen die Eltern mit den Kindern von Bullerbü. • Sie können zaubern wie Harry Potter. • Sie sind so schön, wie die schönste Prinzessin usw. (vgl. Doubek 2003, S. 122).

Die Kinder haben für die Dauer ihres Spiels die Macht über das, was geschieht. Sie können gefahrlos ausprobieren, wie sie ihre Welt so gestalten können, dass sie ihnen weniger Kum-mer und Schmerzen bringt. Sie verschaffen sich Unabhängigkeit und vermindern Hilflosig-keit, mit der sie alltäglichen Gegebenheiten ausgeliefert sind.“

Es sind immer wieder ähnliche Motive, die in der Salutogenese, der Selbstregulation und in der Resilienz auftauchen, nur werden sie immer anders formuliert, nie im Widerspruch, aber unterschiedlich ausführlich. Letztlich handelt es sich um ein ähnliches Phänomen; um Res-sourcen. Antonovsky sieht in seinem Kohärenzgefühl den ausschlaggebenden und schick-salbestimmenden Faktor, der über Wohl und Weh entscheidet, Maticek sieht darin eine be-einflussbare Größe und die Resilienzforschung sieht darin eine Ressource, die durch Bean-spruchung wächst.

Nimmt man alle Faktoren zusammen und nimmt die Aufzählungen aus dem Buch von Wel-ter-Enderlein und Hildebrand hinzu, werden viele Faktoren der Resilienz genannt, die man im Wesentlichen in den folgenden sieben Punkten zusammenfassen kann:

1. Akzeptanz

2. Flexibilität

3. Verlassen der Opferrolle

4. Verantwortung

5. Netzwerke und Freundschaften und daraus resultierendem Gefühl irgendwo dazu zu gehören („Belonging“)

6. Aktive Zukunftsplanung mit der Bereitschaft sich zu verändern („Transformati-onsbereitschaft“)

7. Transzendenz, wie religiöser Glaube, Phantasie oder Kunst.

Page 60: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

60:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Akzeptanz Akzeptanz (von lat. „accipere“ für annehmen, billigen, gutheißen) ist eine Substantivierung des Verbes akzep-tieren, welches verstanden wird als annehmen, aner-kennen, einwilligen, hinnehmen, billigen, mit jeman-dem oder etwas einverstanden sein. Dementsprechend kann Akzeptanz definiert werden als Bereitschaft, et-was zu akzeptieren (Drosdowski, 1989).

Es wird deutlich, dass Akzeptanz auf Freiwilligkeit beruht. Darüber hinaus besteht eine aktive Komponen-te, im Gegensatz zur passiven, durch das Wort Toleranz beschriebener Duldung. Akzeptanz drückt ein zustimmendes Werturteil aus und bildet demnach einen Gegensatz zur Ableh-nung. (Wikipedia)

Wie schwer die Akzeptanz des Unvermeidlichen ist, weiß jeder, der schon einmal die Zeit zurückdrehen wollte. Schuldgefühle der Vergangenheit gegenüber können dabei diese Ak-zeptanz eigenen Handelns ebenso verhindern, wie die das Verhalten, das so tut, als sei etwas nicht geschehen die Tatsachen leugnet, die nicht akzeptiert werden können oder das dauern-de Klagen, dass dies oder jenes ausgerechnet mir passiert ist. „Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist freiwillig“ (M. Kathleen Casey) ist ein Ausspruch, der diesen letzten Teil charak-terisiert. Der Akzeptanz nahe verwandt ist das Wort „Verzicht“ im, Gegensatz zum „Ver-lust“. Nehmen wir an, wir verlieren einen Arm durch einen Unfall. Der Verlust wird erlitten. Solange ich leide, geht es mir schlecht. Wenn irgendwann der Verzicht auf den Arm geleis-tet wird, weil anerkannt und akzeptiert wird, dass die Uhr nicht zurückgedreht werden kann, ist dieses Leid gemindert und es werden Kräfte frei aus der Situation das Beste zu machen, was machbar ist.

Reinhold Niebur (1892-1972), ein einflussreicher amerikanischer Theologe, Philosoph und Politikwissenschaftler prägte 1943 die Worte, die das ausdrücken: "Gott gebe mir die Gelas-senheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."

Die Gefahr der unkritischen Akzeptanz ist, dass auch Situationen anerkannt werden, die schlecht, aber änderbar sind. Darum ist die Akzeptanz alleine noch keine Tugend, sondern erst, wenn die anderen Faktoren der Resilienz hinzukommen.

Akzeptanz bedeutet, die Wahrnehmungswelt so zu nehmen, wie sie ist. Es ist der erste Le-bensprozess, der sich nur sauber entfalten kann, wenn er die Welt, die er wahrnimmt, weder leugnet, umdeutet, dahinter böse Mächte vermutet oder wahnhaft verkennt – sondern akzep-tiert!

Page 61: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

61:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Flexibilität "Wir erwarten von unseren Mitarbeitern Flexibilität." "In den heutigen Zeiten muss man eben flexibel sein." "Flexibilität ist ein echter Erfolgsfaktor."

Solche und ähnliche Aussagen findet man zahlreich, wenn es um das Thema Flexibilität geht.

Der Ursprung des Wortes "Flexibilität" ist das lateinische Verb "flecte-re", was "biegen" oder "beugen" bedeutet. Am besten lässt sich die direkte Bedeutung anhand eines Grashalmes illustrieren, der dem Wind sehr weich nachgibt, ohne wie z.B. ein fester Stab zu brechen.

Nun ist aber "Flexibilität" hier nicht so zu verstehen, dass wir uns vom Wind des Lebens hin und hertreiben lassen und gleichsam zum rückrat-losen Blatt im Wind werden sollen.

Flexibilität als Erfolgseigenschaft meint vielmehr, in der Lage zu sein, sich auf die Umwelt einstellen zu können. Also auch auf sich ständig verändernde Bedingungen zu reagieren und nicht einfach an ihnen zu scheitern.

Es sei dahingestellt, ob die Welt früher tatsächlich stabiler und das Le-ben weniger Wandlungen unterworfen war, heute müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass schon morgen alles ganz anders sein kann.

Der Job, den wir heute haben, kann morgen schon gefährdet sein, die Firma, in der wir arbei-ten, verkauft werden, die Einnahmen, mit denen man fest gerechnet hat, wegfallen. Auch Partnerschaften und Ehen sind nicht so sicher, wie sich das viele von uns wünschen. Und selbst junge Menschen können plötzlich vor der Tatsache stehen, eine schwere Krankheit o-der einen herben Schicksalsschlag verarbeiten zu müssen.

Natürlich sind die Folgen von Veränderungen sehr unterschiedlich – manche stecken wir mit einem Lächeln weg, andere reißen uns schier den Teppich unter den Füßen weg. Auf manche Veränderungen kann man sich gut vorbereiten, andere kommen plötzlich und erwartet. Und manche Umstellungen fallen uns leichter als andere.

Flexibilität besteht zu einem großen Maß aus einem grundsätzlichen Ja zu Veränderungen. Damit ist nicht gemeint, dass wir alle Veränderungen toll finden sollen, sondern es geht da-rum, sie als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren und die Notwendigkeit einzusehen, sich immer wieder auf sie einstellen zu müssen.

Und DAS ist nichts anderes als Flexibilität.

Nun sagt sich das so leicht, aber in der Praxis zeigt sich schnell, wie schwer es ist, mit dem Fluss der Veränderungen im Leben mitzugehen. Schließlich sind wir alle in ein komplexes System aus Verpflichtungen, Bedürfnissen und Aufgaben eingebunden, das es uns schwer macht, nicht nur große, sondern manchmal auch kleine Dinge zu ändern.

Schon die simple Bitte unseres Vorgesetzten, doch ab sofort eine Stunde früher (oder später) zur Arbeit zu kommen, kann eine ganze Lawine auslösen: Plötzlich klappt die Kinderversor-gung weder morgens noch abends, das Ehrenamt, welches wir übernommen haben, lässt sich so nicht mehr wie gewohnt erledigen, die Sportstunde, die wir uns zum Ausgleich genom-

Page 62: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

62:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

men haben, fällt dann aus, Hausputz und Einkaufen müssen neu organisiert werden usw. usw. Und das ist ein Beispiel einer geringfügigen Änderung!

Der Ruf nach Flexibilität klingt deshalb in den Ohren vieler Menschen wie ein Hohn und er-scheint kaum machbar.

Es gibt Veränderungen, gegen die man einfach nichts tun kann. Wenn Ihre Firma verkauft wird und Sie dadurch den Job verlieren, können Sie sich noch so sehr aufregen, es wird Ihnen nichts helfen. Wenn Ihre Kita geschlossen wird, kommen Sie nicht darum herum, ei-nen neuen Platz für Ihr Kind zu finden.

Bei solchen Veränderungen ist es wichtig, Energieverschwendung zu vermeiden. Mit Ener-gieverschwendung ist ewiges Hadern und Ärgern gemeint und auch die Weigerung, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Dass Sie kurzfristig enttäuscht oder sauer, ja vielleicht entsetzt sind, ist vollkommen normal und verständlich. Nur sollten Sie nicht in diesem Zu-stand verharren, sondern Ihre Energie dann dafür nutzen, die neue Situation möglichst posi-tiv für sich auszugestalten.

In anderen Fragen steht es hingegen manchmal an, sich gegen anstehende Veränderungen einzusetzen. Wenn Ihr Partner Ihnen mitteilt, unglücklich zu sein und dass er über eine Tren-nung nachdenkt, haben Sie noch viele Möglichkeiten, das Ruder herumzudrehen. Hier be-stünde eine sinnlose Energieverschwendung darin, sich selbst Vorwürfe zu machen. Arbeiten Sie lieber gemeinsam daran, wieder zueinander zu finden.

Aus einem Artikel in http://www.zeitzuleben.de

Im Wesentlichen bedeutet Flexibilität, Wahlmöglichkeiten zu entdecken. Also nicht nur ei-nen Weg vor der Nase zu sehen, sondern möglichst viele, die zum selben Ziel führen.

Das bedeutet, dass Flexibilität die Akzeptanz voraussetzt, aber nicht identisch ist.

Auch hier ist ein Zuviel an Flexibilität oder Flexibilität alleine wieder ein Problem: wir hän-gen dann unser Fähnchen in den Wind.

Flexibilität bedeutet daher, sich gewissen Gegebenheiten zu stellen und kreativ damit umzu-gehen. Es ist ein Anpassungsvorgang, der ganz dem entspricht, was wir als zweitem Le-bensprozess beschrieben haben.

Page 63: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

63:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Verlassen der Opferrolle

Sich in einer Opferrolle zu begeben, macht das Leben zunächst ein-facher, denn für das eigene Leid sind dann Andere verantwortlich. Für etwas Unangenehmes sich verantwortlich zu fühlen, bedeutet eine narzisstische Kränkung. Unsere Momente des Scheiterns, unse-re Traumata, unsere Enttäuschungen sind wichtige Elemente unse-res Lebens. In der Opferrolle geben wir für diese wichtigen Momen-te die Verantwortung ab – aber nicht an geliebte Menschen, sondern an diejenigen Menschen, die wir als Täter empfinden. Gerade des-halb sind es nicht unsere Freunde. Das Einnehmen der Opferrolle („Viktimisierung“) wird uns früh anerzogen. Wir entlasten uns dadurch, dass „der Staat“ zu viele Steuern verlangt, „der Lehrplan“ Dinge verlangt, die uns nicht liegen, „die Lehrer“ ungerecht seien, „die Mitschüler“ so hinderlich sind, „der Chef“ so blöde, „die Ge-schwindigkeitsbegrenzung“ so ungerechtfertigt und „der Ehepartner“ so doof ist. Für alles muss es einen Grund, das bedeutet in der Regel, einen Schuldigen geben. „Ein einzig´ böses Weib lebt höchstens auf der Welt, nur schlimm, dass jeder seins für dieses Einz´ge hält“ heißt es in einem Kanon von Haydn. „Die Ehe ist der Versuch, gemeinsam mit Problemen fertig zu werden, die man alleine nie gehabt hätte“ (Woody Allen). Das sind alles Aussagen, die diese Scheinentlastung charakterisieren, die man erhält, wenn man Andere für sein Un-glück verantwortlich macht. Denn es ist eine Scheinentlastung, denn letztlich gewährt man den „Tätern“ mehr Raum in seinem Seelenleben. Man klagt, statt zufrieden zu sein mit dem, was ist.

Die Opferrolle aufzugeben ist schwer. David Lloyd George drückte das so aus: „Der Beweis von Heldentum liegt nicht im Gewinnen der Schlacht, sondern im Ertragen einer Niederla-ge“. Es geht hier noch nicht darum, Verantwortung zu übernehmen, auch nicht mehr um Akzeptanz, sondern es geht um Verzicht auf eine Scheinentlastung, die nur kurzfristig guttut und langfristig den Blick verstellt. Es geht um den Verzicht, entlastend nach außen zu bli-cken und stattdessen anzuschauen, was in den verschiedenen Erlebnissen und Erfahrungen der eigene Anteil gewesen ist. Dieser Verzicht tut weh. Ihn zu leisten ist ein Kampf mit sich selber, eine Katharsis (krisenhafte Reinigung) und eine Reduktion auf sich selber. Es ist der Akzeptanz ähnlich, aber bei der Akzeptanz wird noch nach außen geblickt und das, was ei-nem widerfahren ist, wird akzeptiert. Beim Verlassen der Opferrolle schaue ich auf mich selber und akzeptiere mich als Teil des Geschehens. Es ist ähnlich dem, was in der katholi-schen Weltsicht „Fegefeuer“ genannt wird und dem, was der Islam als Dschihad beschreibt, den Kampf gegen den Unglauben. Jedenfalls sehen es viele Islamwissenschaftler so, dass nicht der nichtislamgläubige andere Mensch bekämpft werden soll, wie es die terroristischen Islamisten sehen, sondern der Unglaube in einem selber bekämpft werden soll. Und dass es Unglaube sei, wenn andere Menschen mein Schicksal bestimmen und nicht Allah – und Al-lah wird vorgestellt als der Herr des Schicksales, der aus dem eigenen Inneren spricht. Es ist ein sich Reinigen von den Schatten der Anderen, es ist eine Befreiung vom Gift der Schuld-zuweisung, des Festhaltens an den Gespenstern der Vergangenheit mit dem Mittel des Jam-merns.

Page 64: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

64:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Gewissermaßen stellvertretend für die Menschheit hat Imre Kertész in seinem „Roman eines Schicksallosen“ diese Katharsis geleistet. Er, als Jugendlicher ins KZ deportiert (er war un-garischer Jude), hätte genügend Grund sich als Opfer zu fühlen. Opferseiner Herkunft, Opfer der Denunziation, Opfer der Nazis, Opfer der Kapos, Opfer der Zeitsituation, Opfer der Bru-talität, der menschlichen Kälte, der menschenfeindlichen Ideologie usw.

Genau auf das alles hat er verzichtet. „Ich bin in Auschwitz jeden Schritt selber gegangen“ ist einer der Sätze, die diesen Verzicht zum Ausdruck bringt. Zu sagen „es kamen…“ die Judengesetze, die Nazis, die Deportationen usw. würde bedeuten, dass alles, was er erlebt hat, eigentlich nichts mit ihm zu tun habe, also auch nicht sein Schicksal sei – was ist dann sein Schicksal, das er wiederhaben möchte? Eben jeder einzelne Schritt, den er selber ge-gangen ist.

Traumatisierte, die ihre Opferrolle nicht verlassen können, werden in großer Zahl entweder immer wieder weiter Opfer selber zum Täter.

Dies zu unterbrechen erfordert eine Differenzierung, wie wir sie im Leib als Verdauung kennen und seelisch als Individualisierung kennen gelernt haben. Es ist der dritte Lebens-prozess.

Page 65: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

65:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Verantwortung übernehmen

Im Übernehmen der Verantwortung für sich selbst, seine Taten, Gedanken, Wirkungen und Empfindun-gen, erobert man sich den Raum zurück, den man in seiner Seele Anderen überlassen hat. Das waren nicht nur die „Schuldigen“, sondern auch Diejenigen, de-nen man seine Fähigkeiten, seine Bildung, seine Be-gabungen, seinen Wohlstand, sogar sein Leben ver-dankt. Verantwortung übernehmen bedeutet hier, auf das zu blicken, was man aus seinen Voraussetzungen, die man vorgefunden hat, macht. Verantwortung zu übernehmen bedeutet, sich nicht als ein Produkt der Eltern, seiner Zeit oder der Gesellschaft zu begreifen, sondern als Selbstgestalter seines Schicksals. Das bedeutet nicht, zu verleugnen, dass man Vieles Ande-ren verdankt. In dem alttestamentarischen Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“ ist das mit enthalten: indem ich sie ehre, anerkenne ich sie und ihre Leistungen an mir - so gebe ich damit das an sie zurück, was ihres ist: die Verantwortung für ihr Tun und Lassen, um selber auf meines blicken zu können und für meines mich verantwortlich fühlen zu können.

Für die Folgen seiner Taten sich verantwortlich zu fühlen, hat mehr Dimensionen, als auf Anhieb bewusst ist. Jede Tat hat beabsichtigte Folgen und jede hat unbeabsichtigte Folgen, die mit den beabsichtigten nicht identisch sind, teilweise sogar im Widerspruch zu ihnen stehen. Manche Folgen unserer Taten oder sind wahrnehmbar, andere nicht. Für die be-obachtbaren und beabsichtigten Folgen meiner Taten und meines Seins Verantwortung zu übernehmen ist relativ leicht. Für die unbeabsichtigten und nicht beobachtbaren Folgen Ver-

antwortung zu überneh-men, gelingt nur durch unbedingte Authentizität.

Die ewige Frage „wer bin ich“ steht dahinter. Manchmal kann man es erleben nach einer Veran-staltung, beim Herausge-hen von Freunden, die sich unterhalten, dass sie einan-der fragen: „wo stehst Du?“ „Ich stehe da hin-ten!“. Gemeint ist das Au-to. Es ist keiner großen

Mühe wert festzustellen, dass ich nicht mein Auto bin. Ich bin auch nicht mein Konto, nicht meine Rudolf Steiner Gesamtausgabe, nicht meine Reputation. Das alles bin ich nicht, das habe ich. Bin ich Mann oder Frau, oder habe ich einen männlichen oder weiblichen Leib? Bin ich Arzt/Pädagoge/Politiker.. oder habe ich diesen oder jenen Beruf? Was wäre ich,

Beabsichtigtes Unbeabsichtigtes

Beobachtbares

Unbeobachtbares

Page 66: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

66:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

wenn ich statt im 20.Jahrhundert in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert in Ostafrika geboren worden wäre ohne die großartigen Eltern, die mir diese Bildung und diese Chancen ver-schafft haben? Mein Ich, es wäre das gleiche, aber die Dinge, die man während seines Le-bens um sich sammelt (Auto, Konto, Bildung, Beruf…) wären notgedrungen andere. Was bin ich denn dann? Wenn man alles wegdenkt, was bleibt? Es mag an die Geschichte von dem reichen Jüngling erinnern aus dem neuen Testament. Er fragt Christus, was er denn noch machen solle, da er sich an die 10 Gebote halte, am Sabbat in die Synagoge gehe usw. Die Antwort lässt uns erschaudern: „gehe hin, verkaufe alles, was du hast und gib den Erlös den Armen“. Weiter heißt es „und er ging hinweg und war sehr traurig, denn er war sehr reich“. Hätte er alles: haus und Hof, Weib und Kind verkaufen sollen und das Geld auf der Straße ohne Nachhaltigkeit verteilen sollen? Vielleicht gibt es eine andere Lesart: Auf Auto, Konto, Weib und Kind, auf unseren Beruf, unsere Bildung, unsere Fähigkeiten, unsere Leis-tungen usw. Stützen wir unser Selbstbewusstsein. Aber das alles sind wir nicht, das haben wir nur. Auf dieses Selbstbewusstsein zu verzichten, tut weh. Diesen Schmerz zu erleiden, auf diese Täuschung zu verzichten, ist ein Verkaufen, mit einem großen Erlös, der direkt dem eigentlichen Ich (das arm bleibt, wenn wir unser Selbstbewusstsein nur aus dem spei-sen, was wir haben, statt aus dem, was wir sind) zugutekommt. Dieses Ich ist nicht das, was wir haben. Es ist, auf einen ersten Blick das, was erkennt mit dem etwas macht. Es ist die Instanz, die fragen kann, was die Gaben sind, die man von Eltern, Lehrern, der Kultur, der Zeit usw. geschenkt bekommen hat und zugleich die Instanz, die fragen kann, was mit die-sen Gaben sinnvolles getan werden kann, Fähigkeiten nicht unbemerkt ruhen zu lassen und nichts damit zu machen, sich dafür verantwortlich zu fühlen, präsent zu bleiben, Interesse zu behalten und durch Fragen wach zu bleiben, statt durch beruhigende Antworten innerlich einzuschlafen. Das ist der vierte Lebensprozess.

Page 67: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

67:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Netzwerke und Freundschaften und daraus resultierendem Gefühl irgend-wo dazu zu gehören („Belonging“)

Dieses Gefühl, irgendwo dazu zu ge-hören haben wir meist passiv durch die Familie, die eindeutige Funktion und Rollenverteilung wird uns mitge-geben. Eltern sind und bleiben Eltern, egal, was passiert, Geschwister sind nicht austauschbar, auch Großeltern, Tanten und Onkels sind feste Bezie-hungsgrößen, die, wenn keine Kata-strophen passieren, vorgefunden wer-den, der Orientierung dienen, an de-nen man sich reibt, die den eigenen Werdegang begleiten, im Falle des Scheiterns einen auffangen, trösten und immer „letzte Zufluchtsstätte“ bleiben. Hier lernen wir innerhalb einer beschützenden Gruppe liebevoller Menschen uns zu finden, uns abzugrenzen, ohne den Halt zu verlieren. Was wir hier lernen, (und was ja oft auch erhalten bleibt), wenden wir später auf unsere „Wahlverwandtschaften“ an.

Wenn es aber diesen stabilen Rahmen nicht gibt, lernen wir auch nicht, wie man später Kon-takte pflegt, sich orientiert innerhalb einer Gruppe, wie man sich selber treu bleiben und sich gleichzeitig in der Gruppe wohlfühlen kann. In dem Falle hängt es von der Kompetenz der Gruppenmitglieder ab, einen solchen Menschen in eine Gruppe zu integrieren.

Dabei kommt es immer darauf an, eine Rolle in einer Gruppe zu finden. Denn Rollen spielen wir immer. Nur im Gegensatz zur Opferrolle, die wir von alleine nie verlassen können, wechseln wir im „normalen Leben“ unsere Rollen ständig. Rollen sind Hilfen, sich im Alltag zu bewegen und um das leben zu können, was wir sein und erreichen wollen.

Während die Opferrolle uns fixiert, weil wir Widerstände spüren, sie zu verlassen, sind die Rollen in „guten Gruppen“ wandelbar. Der Wandel von der Rolle als Kunde, dann als Ver-kehrsteilnehmer, dann als Ehemann (Ehefrau), Vater (Mutter), als Kollege (Kollegin), als Gemeindemitglied und als Vereinsmitglied ist im Alltag jeweils hilfreich. Die Opferrolle jedoch nehmen wir überall hin mit. Sie fesselt und macht klein. In guten Gruppen haben wir Rollen, die uns helfen, die uns aber nicht binden. Wie in einer Familie, in der wir erst der „Säugling“, dann das „Kleinkind“, das „Kindergarten-“, das Schulkind, der oder die proble-matische „Pubertierende“, dann der „Mündige“ und schließlich „Selbständige“ sind, so fes-seln gute Gruppen uns nicht in unserer Rolle.

Gruppen können Halt geben. Das kann die Kirchengemeinde, der Kreis der Kollegen, der Fußballverein, eine politische Partei oder die Hausgemeinschaft sein. Das Motto, das die Gemeinschaft verbindet, ist sekundär. Die Kirchengemeinde muss nicht besser, als der Fuß-ballverein sein. Je mehr die Gruppe die einzelnen Teilnehmer in jeder Lage unterstützen kann, desto mehr erfüllt sie das Belonging. Gemeinsam zu den Hochzeiten, Taufen, Beerdi-

Page 68: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

68:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

gungen zu gehen, sich beim Umzug zu helfen, gemeinsam zu feiern und zu trauern, sich gegenseitig Bohrmaschinen und Kaffeefilter auszuleihen, sein Ohr dem Anderen zu leihen, wenn er Sorgen hat – das ist Belonging. Aber es kommt nicht von alleine. Als Resilienzfak-tor gilt es nur, wenn man bereit ist, Andere am eigenen Wohl und Wehe teilhaben zu lassen und bereit ist, ebenso auf Andere zuzugehen. Dazu gehört Offenheit und Ehrlichkeit, die Fähigkeit Lob und Kritik auszusprechen, Lob und Kritik anzunehmen.

Was in Familien hilft, seine Rolle zu finden, ist mehr eine gute Streitkultur, als ewige Har-monie. Konflikte, wenn sie nicht zerstörerisch und unter Anwendung von Diskrimination und Gewalt ausgetragen werden, dienen ebenso der Rollenfindung, helfen soziale Prozesse zu verstehen und bieten Orientierung. Konflikte signalisieren immer auch, dass Interesse aneinander besteht. Darum ist Konfliktfähigkeit eine wesentliche Grundbedingung für Be-longing als Faktor der Resilienz, ebenso wie die Aufmerksamkeit und das Interesse für den Anderen.

Es gibt Freunde, die man gerne um sich hat, weil sie die Stimmung heben, uns immer gut tun usw. Geht es denen aber einmal selber schlecht, geht diese wohltuende Wirkung nicht mehr von ihnen aus. Einige Freunde wollen dann nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die Fähigkeit zum Belonging ist da zu beobachten, wenn manche Freunde ihn nun „erst recht“ besuchen, weil er nun unserer Hilfe bedarf.

Oft entstehen diese Fähigkeiten in der frühen Kindheit. Das älteste Kind hat gerade die Nachbarn geärgert, das Zweitälteste ist die Treppe heruntergefallen und das Drittgeborene liegt auf dem Wickeltisch. Wenn nun das Neugeborene herzergreifend weint, weil es Hunger hat und die Windel nass ist, gerät es in „Lebensnot“, aber muss warten. Wenn dann die Mut-ter kommt, um es zu stillen, erlebt es Beziehung (Der Mensch ist das einzige Wesen, bei dem sich Mutter und Kind beim Stillen in die Augen sehen können!). Diese Begeg-nung/Beziehung wendet die Lebensnot, Beziehung wird als Lebensnotwendigkeit erlebt und nicht als Feuerwerk eines psychischen Events. Um diese Lebensebene im Beziehungsleben geht es im fünften Lebensprozess: Pflegen der Gemeinsamkeit unabhängig von Sympathie und Antipathie.

Page 69: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

69:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Aktive Zukunftsplanung mit der Bereitschaft sich zu verändern („Trans-formationsbereitschaft“)

Transformation bedeutet Veränderung und Verwandlung. Wer sich Ziele setzt, die er nicht erfüllen kann und dann glaubt, dass das Leben am Ende sei, dem fehlt diese Bereitschaft zur Transformation.

Die Bereitschaft zur Transformation setzt ein „Trotzdem“ als Lebenseinstellung voraus. Wer das „Trotzdem“ hat, für den geht das Leben weiter, trotzdem alles gescheitert scheint, der trotzdem den Beruf seiner Wahl wählt, ob-wohl die Eltern in dem Falle die Unterstützung versagen, der trotzdem seine Träume lebt, obwohl ihn alle für einen Spinner halten, der trotzdem den zweiten Bildungsweg wählt, um seinen Traumberuf zu erlernen, obwohl er doch „eigentlich“ mit dem, was er hat, zufrieden sein kann, der trotzdem den Menschen heiratet, den er liebt, obwohl es keine „gute Partie“ ist und die Eltern dagegen sind, der trotzdem Traumapädagoge wird, obwohl es wo-anders mehr Geld zu verdienen gibt usw.

Es ist also ein gewisser Gegensatz zur Flexibilität, denn der Flexible würde den Kompromiss eingehen, doch Bankkaufmann zu werden, weil es die Eltern unterstüt-zen, es die Freundin gut fände, obwohl man eigentlich lieber mit Kindern, Jugendlichen oder Menschen mit Be-hinderung arbeiten würde. Flexibilität passt sich an, gibt also etwas preis, ist bereit, sich von den eigenen Impul-sen ein Stück weit zu entfernen, ist kompromissfähig - Transformation macht aus der gegebenen Situation et-was, was den eigenen Impulsen näherkommt, auch wenn es die Umgebung nicht versteht.

Ein weiterer Aspekt ist der der Wandlung. An Rentnern ist oft zu erleben, dass sie, wenn sie keine beruflichen Aufgaben mehr haben, sich als nutzlos und überflüssig empfinden und dann depressiv oder anders krank werden. Anderen gelingt es, in der neuen und anderen Lebenssituation neue und andere Aufgaben oder Interessen zu finden, die nicht minder iden-titätsstiftend sind. Dem liegt eine Veränderung des Blickes zugrunde. Was man zuvor als Aufgabe und Lebensziel vor Augen hatte, ist nicht mehr. Um eine neue erfüllende Lebenssi-tuation zu finden, muss der Blick gewendet werden. Ein Taxifahrer in Hamburg, der in Blankenese es mit vorwiegend sehr reichen und arroganten Fahrgästen zu tun hatte, ist Taxi-fahrer geworden, nachdem er im Iran alte persische Gedichte übersetzt hatte. Da er von der Übersetzung von Gedichten nicht leben konnte, übernahm er auch Übersetzungsarbeiten für Geschäftsbriefe, was ihn erstens nicht befriedigte, sondern zweitens auch so viel Zeit in An-spruch nahm, dass er sich seiner Passion (alte persische Literatur) nicht mehr widmen konn-te. So übernahm er den Taxi-Job in der Hoffnung, in seiner Freizeit ohne finanziellen Druck sich seiner Literatur widmen zu können. Um vom Taxifahren aber leben zu können, musste er auf seine Freizeit verzichten. So kam er weder zu seinem Traum, noch zu einer anderen

Von Immernoch nach Immerschon?

Vom Lebensleid zur Seelennot?

Von Mutters Kind zu Vaters Sohn?

Von Schongeboren nach Nochnichttod?

Nein, aus der Ferne in die Weiten,

Vom Weil zum Trotzdem,

Vom Frieden zum Streiten,

Von niedlich zu unbequem.

Ich bin realistisch und versuche

Das Unmögliche.

Und im Gesagten suche

Ich das unsägliche.

In allem, das wir schon sahen,

zu sehen, was man immer übersieht,

in allem Schlimmen

den Kern zu finden, den man liebt.

Das Kunstwerk im Müll!

Das Feuer hinter dem stumpfen Blick!

Im lauten Chaosgewühl,

das stille Glück.

Page 70: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

70:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

schönen Tätigkeit und musste die Erniedrigungen seiner snobistischen Fahrgäste ertragen oder betrunkene Gäste kutschieren. Gefragt, ob er darunter leide, antwortete er, dass er so das Wichtigste gelernt habe, was er im Leben je gelernt hätte: Toleranz und Geduld – er hät-te das erworben, wovon seine persischen Gedichte handelte.

Es gibt eine schöne Übung. Man zeichne eine Uhr ohne Zeiger. Man stelle sich vor, man sei um 0:00 Uhr geboren und das Le-ben dauert bis 12:00 Uhr. Wo stehen die Zeiger jetzt? Es geht nicht um die Frage, wie groß die durchschnittliche Lebenser-wartung ist minus der eigenen Risikofaktoren. Es geht um ein Gefühl: Was habe ich schon erreicht, was will ich noch alles tun oder erleben? Spüre ich in mir noch Kraft, Lust, Lebens- und Erlebnishunger?

Es gibt 20jährige, die stellen die Zeiger auf viertel vor 11, es gibt alte Menschen, die setzen die Zeiger auf halb Fünf. Dann kann man die Frage stellen: „Für was ist es jetzt zu spät?“ oder „für was ist es jetzt höchste Zeit?“ Was soll um xx:xx Uhr passieren, wann soll ich damit anfangen, auf wann stelle ich den Wecker usw. … Ein Patient brach bei der Frage, für was es jetzt zu spät sei, in Tränen aus. Er hatte einen Jugend-traum. Er wollte das Winterhalbjahr auf Spitzbergen verbringen. Im Winter ist es dunkel, die Sonne bleibt immer unter dem Horizont. Er war vorbereitet auf das karge und nicht unge-fährliche Leben in der Wildnis und der Einsamkeit. Ein halbes Jahr vor dem Vorhaben aber verliebte er sich in seine künftige Ehefrau. Jetzt ein halbes Jahr weg zu fahren, passte nicht. Dann kamen die Kinder, das Studium wurde beendet, der Berufsalltag begann und es kamen mehr Kinder, die Verpflichtungen wuchsen. Als er die Uhr malte, war er über 50 Jahre alt, er konnte nicht aus den beruflichen Verpflichtungen heraus (er war selbständig, eine so lange Pause hätte seinen Kundenstamm dezimiert, er hätte dann die Versorgung der Familie nicht gewährleisten können) seine Frau hätte es nicht verstanden, außerdem fühlte er sich nicht mehr so kräftig für ein solches Abenteuer-. Der Traum schien zerplatzt!

Erst nach mehreren Gesprächen kam heraus, was er mit einem Winter auf Spitzbergen an Hoffnungen verbunden hatte. Er hoffte, dass das erste Licht im Frühjahr, wenn die Sonne sich langsam dem Horizont nährt, dass man nicht sehen würde, wenn man an die aggressiv leuchtenden Neonreklamen in den Großstädten gewöhnt ist, aber als Sensation empfinden würde nach der monatelangen Schwärze! Es ging um die Farben und um die Sensibilisierung für deren Feinheit. Jetzt fing er an zu malen! Er hatte einen Traum. Der war nicht mehr zu realisieren, aber der Traum hinter dem Traum (die Farben), der war lebbar, selber erzeugbar und familien- und berufskompatibel realisierbar.

Im beschriebenen Fall ist es nicht zu einer Wende gekommen, wohl aber zu einer Metamor-phose: Es kam zu einem Wechsel des Erlebnisniveaus.

Noch deutlicher wird es an der Wandlung des Saulus zum Paulus aus der Apostelgeschichte. Er wurde von einem Christenverfolger zu einem Apostel der frühen Christen. Hier änderte sich nicht nur das Niveau, das vielleicht sogar gar nicht, sondern die prinzipielle Richtung der Tätigkeit.

Dieses Lernen, dieses mit neuen Kräften auf die veränderten Bedingungen des Lebens rea-gieren und sich und seinen Idealen dabei näher kommen, das ist der sechste Lebensprozess.

Page 71: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

71:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Transzendenz, wie religiöser Glaube, Phantasie oder Kunst.

Die Fähigkeit der Transzendenz ist die Begabung, hinter dem, was wir durch Sinne und Gedanken erfassen können, das zu spüren oder zu ahnen, was die Dinge lenkt oder hervorbringt, die wir mit Sin-nen und Gedanken erfassen können. Woran wir dabei glauben, ist zunächst sekundär. Der Eine glaubt an einen Gott, der Andere glaubt an die Gene. Der Unterschied ist, dass der Erste an etwas glaubt, was größer ist, als er selber, der Zweite an etwas, was kleiner ist, als er. Der Erstere glaubt an etwas, was ihm Hoffnung auf eine Zukunft gibt, der Zweite an etwas, was ihn aus der Ver-gangenheit heraus bestimmt. Während der Erste z.B., wenn er sich verliebt, glauben kann, dass höhere Mächte ihm einen für ihn bestimmten Menschen geschickt haben, bleibt dem Zweiten das unerotische Gefühl, es seien nur die Gene, die bei ihm mehr Hormone produzie-ren. Dem Ersten ergibt sich mehr das Gefühl von Hoffnung, von Sinn und Vertrauen, dem Zweiten bleibt die Furcht vor Mutationen.

Jeder glaubt an etwas, jeder hat Ziele, Ideale, Hoffnungen und Wünsche an das Leben. Der religiöse Mensch hat den Vorteil, sich dessen bewusst zu sein. Seit Alters her pflegen die Religionen zwei Rituale: das Bekenntnis einerseits und das Gebet. Mit dem Bekenntnis for-muliert der religiöse Mensch regelmäßig, was für ihn die Basis ist, wovon er als gegeben ausgeht. Im Gebet formuliert er seine Hoffnungen im Bezug auf das, was werden soll. Indem er es regelmäßig tut, trägt er es mehr oder minder im Bewusstsein. Würde ein Banker oder Broker einer Investmentfirma seinen Glaubenssatz „die Gier des Einzelnen ist gut für die Gemeinschaft“ sich regelmäßig und rituell einprägen, würde er den Irrwitz seiner Annahmen eher bemerken. Würde er seine Hoffnungen auf Bonuszahlungen ebenso öffentlich beten, wie es der Religiöse in der Kirche mit seinem Gebet tut, so hätte zumindest jetzt nach der Finanzkrise, die Möglichkeit einer deutlichen Korrektur durch die Öffentlichkeit…

Etwas, was dem Bekenntnis ähnlich ist und etwas, das dem Gebet gleicht, hätte für jeden Menschen etwas Gutes, nämlich sich Rechenschaft über seine Grundannahmen zu geben, indem man sie im Bewusstsein verfügbar hält, sei es der Glaube an das Geld, an die Gene, die Evolution, an das Gute im Menschen oder dass der Mensch prinzipiell böse sei, an die Liebe, an den Humanismus, den Weltuntergang oder an die Politik.

Alle, die sich durch ihre Glaubenssätze getragen fühlen und daraus Hoffnung und Zuversicht schöpfen können, haben im Bezug auf die Resilienz einen Vorteil.

Page 72: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

72:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Optimismus und Pessimismus

Was aus Antonovskys Kohärenzgefühl und Maticeks Selbst-regulation folgt, wird bei der Resilienz immer als ein Faktor extra genannt: der des Optimismus.

Woher kommt Optimismus?, woher kommt Pessimismus?

Dazu einige Überlegungen. Der Pessimist begründet in der Regel seinen Pessimismus mit „Erfahrungen“. Diese hat er in der Regel in der Vergangenheit gemacht und er wertet die negative Erfahrung auf und wertet demgegenüber die positi-ven Erfahrungen ab, entwirft daraus ein Muster und über-trägt es auf die Zukunft. Das heißt aber, dass er in der Ver-gangenheit glaubt gelernt zu haben, wie das Leben läuft und fokussiert dabei die negativen Aspekte. Er erwartet nicht, dass er in der Zukunft lernen könnte, dass das Leben anders sein kann, als wie es bisher verlief. Pessimisten haben inso-

fern mit dem Leben abgeschlossen und erwarten nichts Neues in der Zukunft. Sein Blick ist rückwärtsgewandt und fokussiert isoliert Dinge, die ihm Ärger, Sorgen, Probleme oder Ängste bereitet haben, ihn also negativ stimulierten. Der Optimist bezieht den Optimismus auf die Zu-kunft und kann dafür seine bisherigen negativen Erfahrungen ausblenden. Ungetrübt von dieser Vergangenheit schaut er in die Zukunft und ist letztlich offen für das, was kommt.

Resilienz wurde erforscht an Menschen, die Ne-gatives erlebt hatten, schlechte Startbedingungen ins Leben hatten und trotzdem ein kreatives Le-ben zu führen imstande waren. Sie blieben trotz ihrer negativen Erfahrungen offen und hoff-nungsvoll auf die Zukunft. Wie Kinder, die, ob-wohl sie schon hundertmal hingefallen sind, trotzdem noch laufen lernen wollen. Negative Erfahrungen kommen im Verlaufe des Lebens noch genügend hinzu. Dass sie nicht in der selben Schwere genommen werden, wie es der Pessimist tut, rührt möglicherweise daher, dass er Schwereres erlebt hat und die Misslichkei-ten des Lebens nicht als so schwer erlebt wie der, der feststellen muss, dass die Misslichkei-ten ihn aus der Komfortzone vertreiben. Letztlich ist es nicht durch Erlebnisse, also von au-ßen zu erklären. Das innere Feuer der Motivation, des Erlebnishungers, des Lebenswillens, des Interesses an die Welt, der Fragen an das Leben, der Quell der Erwartungen usw. die wir dem vierten Lebensprozess (der Mitte, dem Motor des Systems) zugeschrieben haben, sind eine Instanz für sich, die mit dem Ich des betreffenden Menschen verbunden bleibt.

…. Optimismus

Pessimismus

Page 73: Die Lebens- prozesse des Menschen und die Resilienz · Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz rungsvorgänge kontinuierlich, ohne dass das vorherige Organ abgestoßen wird

73:

Die Lebensprozesse des Menschen und die Resilienz

Zusammenfassung

Resilienz macht uns widerstandsfähiger für Krisen, Traumata, aber auch körperliche Erkran-kungen. Diese biologisch Stärkung erweist sich als kultureller Faktor, an dem Erziehung, Glaube, Freundschaft und Optimismus mehr beteiligt sind, als Medizin, Laborwerte oder Röntgenbilder. Und wir bleiben ein Leben lang in der Lage entscheiden zu können:

1. Akzeptiere ich, was ist oder versuche ich die Realität zu leugnen oder zu ignorieren.

2. Bin ich flexibel oder halte ich starr an allem fest, was mir lieb und teuer geworden ist oder sich nur als bequem erwiesen hat.

3. Befreie ich mich aus einer Opferrolle oder pflege ich sie, weil es mich entlastet zu wis-sen, wer an meiner Misere schuld ist.

4. Übernehme ich für mich Verantwortung, oder gebe ich sie an Menschen ab, die „es ja wissen müssten“.

5. Pflege ich soziale Kontakte oder vereinsame ich.

6. Bin ich transformationsfähig, oder resigniere ich.

7. Werde ich spirituell oder doch lieber materialistisch.