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Die Ordnung der Zeit Bearbeitet von Von: Carlo Rovelli, Übersetzt von: Enrico Heinemann 1. Auflage 2018. Buch. 189 S. Hardcover ISBN 978 3 498 05399 4 Format (B x L): 13.5 x 21.1 cm Gewicht: 360 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Wissenschaften Interdisziplinär > Naturwissenschaften, Technik, Medizin schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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  • Die Ordnung der Zeit

    Bearbeitet vonVon: Carlo Rovelli, Übersetzt von: Enrico Heinemann

    1. Auflage 2018. Buch. 189 S. HardcoverISBN 978 3 498 05399 4

    Format (B x L): 13.5 x 21.1 cmGewicht: 360 g

    Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Wissenschaften Interdisziplinär > Naturwissenschaften, Technik, Medizin

    schnell und portofrei erhältlich bei

    Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

    als 8 Millionen Produkte.

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  • Leseprobe aus:

    ISBN: 978-3-498-05399-4Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

  • Carlo Rovelli

    Die Ordnung der ZeitAus dem Italienischen von Enrico Heinemann

    Rowohlt

  • Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem TitelL’ordine del tempo bei Adelphi Edizioni, Mailand.

    1. Auflage September 2018Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

    © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei HamburgL’ordine del tempo © 2017 by Adelphi Edizioni S. P. A. Milano

    Lektorat Frank StrickstrockFachlektorat Bernd Schuh

    Innengestaltung Daniel SauthoffSatz Clifford PostScript (InDesign) beiPinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

    Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978 3 498 05399 4

  • Inhalt

    InhaltWidmung3. KapitelDas wohl größte Geheimnis ist die ZeitDer Zerfall der Zeit

    1. Der Verlust der Einheitlichkeit2. Der Verlust der Richtung3. Das Ende der Gegenwart4. Der Verlust der Unabhängigkeit5. Zeitquanten

    Die Welt ohne Zeit6. Die Welt besteht aus Ereignissen, nicht ausDingen7. Die Unzulänglichkeit der Sprache8. Dynamik als Relationen

    Die Quellen der Zeit9. Zeit ist Unwissen10. Perspektive11. Was geht aus einer Besonderheit hervor?12. Der intensive Geschmack der Madeleine13. Die Ursprünge der ZeitSchlafes Bruder

    BildnachweiseRegister

  • Das wohl größteGeheimnis ist die Zeit

    Da wir noch sprechen, ist schonentflohen die neidischeZeit: greif diesen Tag, nimmer traue dem nächsten! (I, 11)

    Ich halte inne. Nichts geschieht. An nichts denkend, lau-sche ich dem Verrinnen der Zeit.

    Das ist die Zeit. Bekannt und vertraut. Unaufhaltsamzieht sie uns mit sich fort. Im reißenden Fluss der vergehen-den Sekunden, Stunden und Jahre stürzen wir dem Lebenund dann dem Nichts entgegen … Wie die Fische im Was-ser schwimmen wir in der Zeit. Unser Sein ist eines in derZeit. Ihre Elegie gibt uns Nahrung, eröffnet uns die Welt,verwirrt uns, erschreckt uns, wiegt uns in den Schlaf. ImSchlepptau der Zeit und nach der Ordnung der Zeit entfal-tet sich das Universum in seinem Werden.

    Die Hindu-Mythologie fängt das Entstehen und Verge-hen im Kosmos im Bild des tanzenden Shiva ein: Sein Tanzregiert den Lauf des Universums und den Fluss der Zeit.Was könnte universeller und augenfälliger sein als diesesFließen?

    Dennoch liegen die Dinge komplizierter. Die Wirklich-keit ist häufig anders, als sie erscheint: Obwohl flach an-mutend, hat die Erde Kugelgestalt. Auch wenn die Sonneüber den Himmel zu ziehen scheint, drehen in Wahrheit wiruns. Auch die Struktur der Zeit ist anders, als es scheint:Sie ist kein gleichförmiger Ablauf. Darauf stieß ich verblüfftin Physikbüchern an der Universität. Die Zeit funktioniertanders, als wir sie wahrnehmen.

    Entdeckt habe ich in diesen Büchern auch, dass wir nochgar nicht wissen, wie die Zeit wirklich funktioniert. Das We-sen der Zeit ist wohl immer noch das größte Geheimnis, ei-

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  • nes, das über seltsame Fäden mit weiteren großen ungelös-ten Rätseln verbunden ist: das Wesen des Geistes, der Ur-sprung des Universums, das Schicksal Schwarzer Löcheroder die Funktionsweise von Leben. Wesentliches führt im-mer wieder zum Wesen der Zeit zurück.

    Staunen ist die Quelle unseres Erkenntnisdrangs.1 Unddie Entdeckung, dass die Zeit anders ist, als wir dachten,wirft tausend Fragen auf. Das Wesen der Zeit stand Zeitmeines Lebens im Zentrum meiner Forschungen in theore-tischer Physik. Auf den nachfolgenden Seiten erzähle ich,was wir von der Zeit begriffen haben, auf welchen Wegenwir uns bewegen, um mehr zu verstehen, was wir nochnicht verstehen und welches Verständnis sich für mich ab-zuzeichnen scheint.

    Warum erinnern wir uns an die Vergangenheit und nichtan die Zukunft? Leben wir in der Zeit oder lebt die Zeit inuns? Was bedeutet es eigentlich, dass Zeit «vergeht»? Wasverbindet die Zeit mit unserem Wesen als Subjekte?

    Was verfolge ich eigentlich, wenn ich dem Lauf der Zeitfolge? Dieses Buch hat drei ungleiche Teile. Im ersten fasseich zusammen, was die moderne Physik von der Zeit ver-standen hat. Das ist so, als halte man eine Schneeflocke inHänden: Je länger wir sie betrachten, desto mehr schmilztsie dahin, bis sie am Ende ganz verschwunden ist. Wir se-hen die Zeit gewöhnlich als etwas Einfaches, Grundlegen-des, das sich unbeeindruckt von allem in einem gleichför-migen Fluss bewegt, gemessen von Uhren, von der Vergan-genheit in die Zukunft. Im Verlauf der Zeit folgen die Ereig-nisse des Universums der Reihe nach aufeinander: vergan-gene, gegenwärtige, zukünftige. Die Vergangenheit stehtfest, die Zukunft ist offen … Schön: Dies alles hat sich alsfalsch erwiesen.

    Die kennzeichnenden Aspekte der Zeit haben sich einernach dem anderen als reine Näherungen erwiesen, als Täu-schungen, die ähnlich der von der flachen Erde oder der

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  • rotierenden Sonne der Perspektive geschuldet sind. Unserwachsendes Wissen hat eine Auflösung des Zeitbegriffs her-beigeführt. Was wir «Zeit» nennen, ist eine komplexe An-sammlung aus Strukturen2 oder verschiedenen Schichten.Immer gründlicher untersucht, hat die Zeit diese Schichteneine nach der anderen verloren. Von dieser Auflösung derZeit erzählt der erste Teil des Buchs.

    Der zweite Teil beschreibt, was am Ende übrigbleibt. Ei-ne leere, vom Wind durchfegte Landschaft, aus der fast je-de Spur von Zeitlichkeit verschwunden ist. Eine seltsame,fremde Welt, die aber unsere ist. Als sei man ins Hochge-birge hinaufgestiegen, wo es nur noch Schnee, Felsen undden Himmel gibt. Oder wie es wohl Armstrong und Aldrinerlebt haben, als sie sich auf den reglosen Sand des Mondeshinauswagten. Eine ätherische Welt, die in arider, klarerund beunruhigender Schönheit erglänzt. Die Physik, an derich arbeite, die Quantengravitation, bemüht sich um ein zu-sammenhängendes Verständnis dieser extremen und wun-derschönen Landschaft: der Welt ohne Zeit.

    Der dritte Teil des Buchs ist der schwierigste, aber auchder lebendigste, der uns am nächsten steht. In der Welt oh-ne Zeit muss es doch etwas geben, aus dem die Zeit hervor-geht, die uns mit ihrer Ordnung, mit dem Unterschied zwi-schen Vergangenheit und Zukunft und ihrem sanften Flussvertraut ist. Unsere Zeit muss irgendwie um uns, im unsvertrauten Maßstab, für uns entstehen.3

    Dies ist die Rückreise zu der Zeit, die im ersten Teil,auf der Suche nach der Basissprache der Welt, verloren ge-gangen ist. Wie im Kriminalroman fahnden wir nach demSchuldigen, der die Zeit entstehen ließ. Wir begegnen nach-einander den Stücken wieder, aus denen sich die uns ver-traute Zeit zusammensetzt, nicht als elementare Struktu-ren der Realität, sondern als nützliche Näherungen für unsSterbliche, die wir die Wirklichkeit nur grob und unbe-holfen wahrnehmen, als Aspekte unserer Perspektive und

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  • vielleicht auch – entscheidende – Aspekte dessen, was wirselbst sind. Denn vielleicht betrifft das Geheimnis der Zeitam Ende eher unsere Verfassung als Menschen als den Kos-mos. Vielleicht stellt sich wie im ersten und bedeutendstenaller Kriminalstücke – Sophokles’ König Ödipus – sogar derDetektiv als der Täter heraus.

    Hier entwickelt sich das Buch zu einem Strom glühenderLava aus Ideen, zuweilen klaren, zuweilen konfusen. Wennmir der Leser folgt, führe ich ihn nach dort, wohin unsergegenwärtiges Wissen über die Zeit strebt, bis zum großennächtlichen und von Sternen überglänzten Ozean dessen,was wir noch nicht wissen.

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  • Erster Teil

    Der Zerfall der Zeit

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  • 1. Der Verlust der EinheitlichkeitSchon führt Kytheras Venus an die Chöre, darüberschwebt Luna,es reihen sich ein den Nymphen die Grazien, die holden,wechselnd den Grund berührt ihr Fuß [ … ] (I, 4)

    Die Verlangsamung der Zeit

    Ich beginne mit einer schlichten Tatsache: Im Gebirge ver-geht die Zeit schneller als im Flachland.

    Der Unterschied ist gering, lässt sich aber mit präzisenUhren, wie man sie heute im Internet für rund tausend Eurokaufen kann, durchaus messen. Mit ein wenig Übung kannsich jeder von dieser Verzögerung des Zeitablaufs selbstüberzeugen. Mit speziellen Laboruhren ist sie schon beieinem Höhenunterschied von wenigen Zentimetern beob-achtbar: Die Uhr auf dem Boden geht einen verschwindendgeringen Tick langsamer als die auf dem Tisch.

    Und das ist nicht den Uhren geschuldet. Prozesse laufenunten langsamer ab. Zwei Freunde gehen auseinander: Dereine übersiedelt in die Berge, der andere bleibt im Tiefland.Nach Jahren treffen sie sich wieder: Der Freund unten hatweniger lang gelebt und ist weniger stark gealtert. Das Pen-del seiner Kuckucksuhr hat weniger Schwingungen absol-viert. Er hat weniger Zeit für Erledigungen gehabt. SeinePflanzen sind langsamer gewachsen. Und er hatte wenigerZeit zum Nachdenken … Unten vergeht die Zeit langsamerals oben.

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  • Überraschend? Vielleicht. Aber so ist die Welt beschaf-fen. Die Zeit vergeht mancherorts langsamer, anderenortsschneller.

    Wahrhaft überraschend ist, dass jemand diese Verzöge-rung des Zeitablaufs schon ein Jahrhundert früher erkannthat, als es Uhren gab, die sie messen konnten: Einstein.

    Die Fähigkeit, Dinge zu verstehen, ehe man sie beob-achten kann, bildet den Kern wissenschaftlichen Denkens.In der Antike erkannte Anaximander (um 610 – 547 v. Chr.),dass der Himmel unter unseren Füßen hindurch weiter-geht, noch ehe Schiffe Weltumsegelungen unternahmen.Zu Beginn der Neuzeit entdeckte Kopernikus (1473 – 1543),dass sich die Erde dreht, noch ehe Astronauten vom Mondaus ihre Rotation beobachten konnten. Und so erkannteEinstein (1879 – 1955), dass die Zeit nicht gleichförmig ver-geht, noch bevor die Uhren genau genug gingen, um denUnterschied zu messen.

    In Schritten voran wie diesen stellt sich scheinbarSelbstverständliches als reines Vorurteil heraus. Der Him-mel, so schien es, befand sich selbstverständlich nur oben,nicht unten, weil eine frei schwebende Erde herabfallenmüsste. Die Erde –  so schien es  – steht selbstverständ-lich still, was herrschte sonst für ein Chaos. Die Zeit, so

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  • schien es, vergeht überall gleich schnell, das versteht sichvon selbst … Heranwachsende Kinder lernen, dass die Weltnicht ganz so ist, wie sie zu Hause zwischen den vier Wän-den erscheint. Diese Erfahrung macht auch die Menschheitals Ganzes.

    Einstein stellte sich eine Frage, die sich wohl schon vielevon uns stellten, als sie sich mit der Schwerkraft auseinan-dersetzten: Wie gelingt es Sonne und Erde, sich wechsel-seitig «anzuziehen», ohne sich zu berühren oder ein Medi-um für ihre Anziehung zu nutzen? Auf der Suche nach einerplausiblen Erklärung kam Einstein auf den Gedanken, dasssich Sonne und Erde nicht direkt wechselseitig anziehen,sondern unterschiedlich stark auf das einwirken, was einzigzwischen ihnen liegt: auf Raum und Zeit. Sonne und Erdemussten um sich herum Raum und Zeit in gleicher Weiseverändern, wie ein eintauchender Körper das Wasser umsich verdrängt. Und diese Veränderung der Struktur derZeit wirkt ihrerseits auf die Bewegung sämtlicher Körperein. Sie sorgt dafür, dass sie aufeinander «zufallen».4

    Was heißt «Veränderung der Struktur der Zeit»? Es be-deutet, dass, wie oben beschrieben, die Zeit verlangsamtabläuft: Jeder Körper verlangsamt das Vergehen der Zeit inseiner näheren Umgebung. Die Erde ist eine große Masseund bremst den Zeitablauf in ihrer Nähe: stärker im Tief-land und weniger stark im Gebirge, weil die Dinge obenvom Schwerpunkt der Erde weiter entfernt sind. Deswegenaltert der Freund im Flachland langsamer.

    Wenn Dinge fallen, so wegen dieser Verlangsamung derZeit. Wo die Zeit gleichförmig vergeht, im interplanetarenRaum, bleiben die Objekte, ohne zu fallen, in der Schwe-be. Hier auf der Oberfläche unseres Planeten streben Dingenatürlicherweise dorthin, wo die Zeit langsamer vergeht,ungefähr so, wie wenn wir vom Strand aus ins Meer laufenund dann wegen des Wasserwiderstands an den Füßen mitdem Gesicht nach vorn in die Wellen platschen. Die Dinge

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  • fallen nach unten, weil der Zeitablauf in tieferen Lagen vonder Erde stärker gebremst wird.5

    Obwohl sie eher schwer zu beobachten ist, hat die Ver-langsamung der Zeit beachtliche Auswirkungen: Sie lässtDinge herabfallen und hält uns mit den Füßen auf der Erde.Wenn wir auf dem Boden stehen, so deshalb, weil der ge-samte Körper natürlicherweise dorthin strebt, wo die Zeitlangsam vergeht. Und an den Füßen läuft sie langsamer abals am Kopf.

    Seltsam? Dasselbe Gefühl empfindet man bei der Beob-achtung, wie die sinkende Abendsonne allmählich fröhlichhinter fernen Wolken verschwindet  – während man sicherstmals bewusst macht, dass nicht die Sonne, sondern dieErde sich dreht. Mit den törichten Augen des Verstandessehen wir, wie sich unser gesamter Planet mit uns oben-auf von der Sonne aus gesehen nach hinten wegdreht. Die-se Augen des törichten Narren auf dem Berg, die Paul Mc-Cartney besingt,6 sehen weiter als unsere verschlafenenAlltagsaugen.

    Zehntausend tanzende Shivas

    Ich habe ein Faible für Anaximander, den griechischen Phi-losophen, der vor sechsundzwanzig Jahrhunderten erkann-te, dass die Erde, aufgehängt im Nichts, gleichsam im Rau-me schwebt.7 Auch wenn uns sein Denken nur über andereüberliefert ist, blieb ein einziges Fragment seiner Schriftenerhalten:

    (Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahineinerfolgt auch ihr Vergehen) gemäß der Notwendigkeit; dennsie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihreUngerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.

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  • «Nach der Ordnung der Zeit» (κατα τήν του χρóνoυ τάξιν).Allein diese rätselhaften, geheimnisvoll klingenden Worteblieben uns von einem Gründungsmoment der Naturwis-senschaften erhalten.

    Astronomie und Physik haben sich nach AnaximandersHinweis weiterentwickelt: zu verstehen, wie die Phänome-ne nach der Ordnung der Zeit geschehen. Die antike As-tronomie hat die Bewegungen der Gestirne in der Zeit be-schrieben. Die Gleichungen der Physik beschreiben, wiesich die Dinge mit der Zeit verändern. Von den GleichungenNewtons, welche die Bewegungslehre begründeten, bis zudenen Maxwells, welche die elektromagnetischen Phäno-mene beschreiben; von der Schrödinger-Gleichung, die be-schreibt, wie sich die Quantenphänomene entwickeln, biszu denen der Quantenfeldtheorie, welche die Bewegung dersubatomaren Teilchen beschreiben: Unsere gesamte Phy-sik ist die Wissenschaft davon, wie sich die Dinge «nach derOrdnung der Zeit» verändern.

    Nach althergebrachter Konvention geben wir diese Zeitmit dem Buchstaben t (dem Anfangsbuchstaben für «Zeit»im Französischen, Englischen, Spanischen und Italieni-schen, nicht aber im Deutschen, Arabischen, Russischenoder Chinesischen) wieder. Was gibt t an? Einen mit derUhr gemessenen Zahlenwert. Die Gleichungen sagen uns,wie sich die Dinge verändern, während die Zeit vergeht.

    Aber wenn verschiedene Uhren jeweils andere Zeitenangeben, wie wir oben sahen, was gibt t dann an? Wennsich die beiden Freunde wiedersehen, von denen der einein den Bergen und der andere im Flachland gelebt hat, zei-gen ihre Armbanduhren doch unterschiedliche Zeiten an.Welche der beiden ist t? Zwei Uhren in einem Physiklaborgehen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, wenn die ei-ne auf dem Tisch und die andere am Boden steht: Welchevon beiden zeigt die richtige Zeit? Wie beschreibt man denunterschiedlichen Takt der beiden Uhren? Müssen wir sa-

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  • gen, dass die Uhr am Boden gegenüber der richtigen, aufdem Tisch gemessenen Zeit nachgeht? Oder geht die Uhrauf dem Tisch gegenüber der richtigen, am Boden gemes-senen Zeit vor?

    Die Frage ist sinnlos. Sie ist so, als fragte man sich, obein in englischen Pfund angegebener Wert richtiger sei alsein in US-Dollar ausgedrückter. Es gibt keinen richtigenWert, sondern nur zwei Währungen, deren Wert sich an derjeweils anderen bemisst. Es gibt keine richtige Zeit, son-dern zwei von verschiedenen realen Uhren angezeigte Zei-ten, die unterschiedlich zueinander ablaufen. Keine ist rich-tiger als die andere.

    Ja es gibt nicht einmal nur zwei, sondern Heerscharenverschiedener Zeiten: jeweils eine für jeden Punkt des Rau-mes. Es gibt nicht eine einzige, sondern zahllose Zeiten.

    Die Zeit, die von einer bestimmten Uhr angegeben wird,gemessen anhand eines besonderen Phänomens, heißt inder Physik «Eigenzeit».

    Jede Uhr hat ihre Eigenzeit. Jedes sich ereignende Phä-nomen hat seine Eigenzeit, seinen eigenen Rhythmus. Ein-stein hat uns gelehrt, die Gleichungen zu erstellen, die be-schreiben, wie eine Eigenzeit jeweils in Bezug zu einer an-deren abläuft. Er hat uns gelehrt, die Differenz zwischenzwei Zeiten zu berechnen.8

    Die einzelne Größe «Zeit» zerfällt in ein Spinnennetz ausZeiten. Wir beschreiben nicht, wie die Welt sich in der Zeitentwickelt, sondern wie sich die Dinge in lokalen Zeiten ent-wickeln und wie eine örtliche Zeit jeweils in Bezug zur an-deren abläuft. Die Welt verhält sich nicht wie eine Marsch-kolonne, die in einem vom Kommandanten vorgegebenenTempo voranrückt. Sie ist ein Netzwerk aus Ereignissen,die sich wechselseitig beeinflussen.

    So zeichnet Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie dieZeit. Deren Gleichungen kennen nicht eine, sondern zahl-lose Zeiten. Zwischen zwei Ereignissen wie der Trennung

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  • und der Wiederbegegnung zweier Uhren gibt es keine ein-heitliche Dauer.9 Die Physik beschreibt nicht, wie sich dieDinge «im Verlauf der Zeit» verändern, sondern wie sie sichim Verlauf ihrer jeweiligen Zeit verändern und wie die Zei-ten in Bezug zueinander ablaufen.1

    Die Zeit hat ihre erste Schicht verloren: ihre Einheit-lichkeit. An jedem Ort hat die Zeit einen anderen Rhyth-mus, einen anderen Ablauf. Die Dinge der Welt tanzen inunterschiedlichen Rhythmen durcheinander. Wenn der Ab-lauf der Welt vom tanzenden Shiva regiert wird, muss esZehntausende tanzende Shivas geben, einen großen ge-meinschaftlichen Tanz wie auf einem Gemälde von Matis-se …

    1 Ein terminologischer Hinweis: Der Begriff «Zeit» wird in unter-schiedlichen, wenn auch miteinander zusammenhängenden Bedeutun-gen verwendet: 1. «Zeit» ist das allgemeine Phänomen des Aufeinan-derfolgens von Ereignissen («Die Zeit ist unerbittlich»). 2. «Zeit» gibtein Intervall in dieser Abfolge («in der schönen Frühlingszeit») oder 3.eine Dauer («Wie lange hast du gewartet?») an. 4. «Zeit» kann aucheinen bestimmten Augenblick angeben («Es ist Zeit zum Aufbruch»). 5.«Zeit» gibt die Variable an, welche die Dauer misst («Die Beschleuni-gung ist die Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit»). In diesemBuch verwende ich den Ausdruck «Zeit» wie in der Alltagssprache un-terschiedslos in allen genannten Bedeutungen. Sollte Verwirrung auf-kommen, erinnere sich der Leser an diesen Hinweis.

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  • 2. Der Verlust der RichtungWas, wenn du süßer noch als der thralische Orpheus,vernehmlich bewegest sogar für Bäume die Saite?Kehrt denn je zurück das Blut ins nichtigeSchattenbild [ … ]?Hart! Doch leichter wird durch Geduld,was zu verändern verwehrt ist. (I, 24)

    Woher stammt der ewige Fluss?

    Uhren gehen im Gebirge und auf Meereshöhe unterschied-lich schnell: Aber interessiert uns gerade das an der Zeit?An den Rändern des Flusses fließt das Wasser langsam undin der Mitte schnell, trotzdem ist es ein Strömen. Ist dieZeit nicht immerhin etwas, das von der Vergangenheit indie Zukunft verläuft? Lassen wir das genaue Maß, wie vielZeit vergeht, mit dem ich mich im vorangegangenen Kapi-tel abgemüht habe, einmal beiseite, also diese Zahlen, indenen man Zeit misst. Es gibt einen wesentlicheren Aspekt:ihren Lauf, ihren Fluss, die ewige Strömung aus Rilkes Dui-neser Elegien:

    Die ewige Strömungreißt durch beide Bereiche alle Alterimmer mit sichund übertönt sie in beiden.10

    Vergangenheit und Zukunft sind verschieden. Ursachen ge-hen Wirkungen voraus. Der Schmerz folgt auf die Verlet-zung und nicht umgekehrt. Das Trinkglas zerspringt in tau-send Scherben, aus denen sich keines mehr bildet. Wir kön-nen Vergangenes nicht ungeschehen machen, sondern al-lenfalls Bedauern oder Reue empfinden oder uns an glück-

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  • lichen Erinnerungen erfreuen. Dagegen ist die Zukunft mitUngewissheit, Wunschdenken oder Besorgnis verbunden.Sie ist offener Raum, vielleicht Schicksal. Wir können in siehineinleben, sie wählen, da sie noch nicht ist. In ihr ist allesmöglich. Die Zeit ist keine Achse mit zwei gleichwertigenRichtungen: Sie ist ein Pfeil mit unterschiedlichen Enden:

    Dies ist uns an der Zeit wichtig, mehr noch als die Ge-schwindigkeit, mit der sie vergeht. Dies bildet ihren Kern.Dieses Kribbeln auf der Haut, das wir spüren, wenn wir unsvor der Zukunft fürchten oder die Erinnerung uns Rätselaufgibt. Hier liegt das Geheimnis der Zeit verborgen: derSinn dessen, was wir meinen, wenn wir an die Zeit den-ken. Was ist dieses Strömen? Wo in der tief liegenden Struk-tur der Welt ist es verankert? Was zwischen den Rädchendes Weltengetriebes unterscheidet die Vergangenheit mitihrem Gewesen-Sein von der Zukunft mit ihrem Noch-nicht-gewesen-Sein? Warum ist Vergangenheit so ganz andersals Zukunft?

    Mit diesen Fragen hat sich die Physik des 19. und des 20. Jahrhunderts herumgeschlagen und ist auf etwas gestoßen,das noch mehr überrascht und befremdet als nur die imGrunde nebensächliche Tatsache, dass Zeit an unterschied-lichen Orten in verschiedenem Tempo vergeht. Der Unter-schied zwischen Vergangenheit und Zukunft – zwischen Ur-sache und Wirkung, Erinnerung und Hoffnung, Reue undAbsicht – kommt in den Grundgesetzen, welche die Mecha-nismen der Welt beschreiben, überhaupt nicht vor.

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  • Wärme

    Alles begann mit einem Königsmord. Am 16. Januar 1793fällte der Pariser Nationalkonvent das Todesurteil überLudwig XVI., in einer Auflehnung gegen die herrschendeOrdnung, die wohl auch ein grundlegender Antrieb von Wis-senschaft ist.11 Zu den Mitgliedern, die das verhängnisvolleVotum verkündeten, zählte Lazare Carnot, ein Freund Ro-bespierres. Carnot hatte eine Leidenschaft für den großenpersischen, aus Schiraz stammenden Dichter Saadi (um1219 – um 1292), der in Akkon Kreuzfahrern in die Händegefallen und von ihnen versklavt worden war. Von ihm stam-men auch die fabelhaften Verse, welche die Eingangshalledes UNO-Hauptquartiers in New York schmücken:

    Die Adamssöhne sind ja alle Brüder,aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder.Hat Krankheit nur ein einz’ges Glied erfasst,so bleibt den andern weder Ruh noch Rast.Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet,verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet.(Nachdichtung von Karl Heinrich Graf, 1846)

    Eine tief verankerte Wurzel der Naturwissenschaft ist wohldie Poesie, die über das Sichtbare hinauszublicken weiß.Dem Dichter zu Ehren gab Carnot seinem ersten Sohn denNamen Sadi. Rebellion und Poesie brachten so einen SadiCarnot (1796 – 1832) hervor.

    Als Junge begeisterte sich Sadi für die Dampfmaschinen,die im 19. Jahrhundert die Welt zu verändern begannen, in-dem sie die Antriebskraft des Feuers nutzten.

    Im Jahr 1824 schreibt Sadi Carnot ein Bändchen mitdem Titel Betrachtungen über die bewegende Kraft desFeuers …, in dem er die theoretischen Grundlagen für das

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  • Funktionieren dieser Maschinen zu ergründen versucht.Die kleine Abhandlung steckt voller fehlerhafter Annah-men: Carnot stellt sich Wärme als ein dingliches Etwas, ei-ne Art Flüssigkeit vor, die dadurch Energie erzeuge, dasssie einem Wasserfall ähnlich Energie freisetzt, von den war-men zu den kalten Dingen «herabfalle». Aber ein Gedankeist entscheidend: Dampfmaschinen funktionieren letztlichdeshalb, weil Wärme vom Warmen ins Kalte übergeht.

    Sadis Büchlein gelangt in die Hände des strengen preu-ßischen Professors Rudolf Clausius (1822 – 1888). Und dererkennt den springenden Punkt und stellt ein Gesetz auf,das berühmt werden wird:

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  • Wärme fließt natürlicherweise vom warmen zum kaltenKörper; sie fließt nicht spontan vom kalten zum warmenKörper.

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  • Das ist der entscheidende Unterschied zu fallenden Kör-pern: Ein herabgefallener Ball kann seine Bewegung um-kehren, zum Beispiel durch den Rückprall. Wärme nicht.

    Dieses von Clausius formulierte Gesetz ist das einzigeallgemeine der Physik, das zwischen Vergangenheit undZukunft unterscheidet.

    Bei keinem anderen ist dies der Fall: Ob NewtonsGrundgleichungen der Mechanik, Maxwells Gleichungender Elektrizität und des Magnetismus, Einsteins Relativi-tätstheorie der Gravitation, Heisenbergs Quantenmecha-nik, die Elementarteilchen Schrödingers und Diracs oderder Physiker des 20. Jahrhunderts: Keine dieser Gleichun-gen unterscheidet Vergangenheit von Zukunft.12 Wenn dieGleichungen eine Abfolge von Ereignissen zulassen, ist die-se auch rückwärts in der Zeit möglich.13 In den elementa-ren Gleichungen der Welt14 taucht der Zeitpfeil nur dannauf, wenn Wärme vorhanden ist.2 Zwischen Zeit und Wärmebesteht also eine tiefgreifende Beziehung: Wann immer einUnterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zutagetritt, dann durch Wärme. An sämtlichen Phänomenen, diesich ins Absurde wandeln, wenn sie rückwärts abgespultwerden, ist etwas sich Erwärmendes beteiligt.

    Wenn ich einen Film betrachte, der einen rollenden Ballzeigt, kann ich nicht sagen, ob er vorwärts oder rückwärtsläuft. Wenn der Ball im Film aber ausrollt und stehen bleibt,sehe ich, dass der Film richtig abgespult wird, weil er inumgekehrter Richtung unglaubwürdige Ereignisse zeigen

    2 Streng genommen, manifestiert sich der Zeitpfeil auch in Phäno-menen, die nicht direkt mit Wärme zu tun haben, aber entscheidendeAspekte mit ihr teilen. Zum Beispiel beim Arbeiten mit dem retardier-ten Potenzial in der Elektrodynamik. Auch für solche Phänomene gel-ten die nachfolgenden Ausführungen und insbesondere die Schlussfol-gerungen. Der Einfachheit halber verzichte ich darauf, alle Spezialfäl-le im Einzelnen zu erörtern.

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  • würde: einen Ball, der sich von selbst in Bewegung setzt.Dass der Ball langsamer wird und schließlich stehen bleibt,ist der Reibung geschuldet, bei der Wärme entsteht. Nurwo Wärme ist, unterscheiden sich Vergangenheit und Zu-kunft. Gedanken entwickeln sich von der Vergangenheit indie Zukunft, nicht umgekehrt: Und tatsächlich erzeugt eindenkendes Gehirn Wärme …

    Clausius führt die Größe ein, die diesen unumkehrbarenAbfluss der Wärme nur in eine Richtung misst, und verpasstihr – als gebildeter Deutscher – eine dem Griechischen ent-lehnte Bezeichnung: «so schlage ich vor, die Größe S nachdem griechischen Worte ή τροπή, die Verwandlung, die En-tropie des Körpers zu nennen.»15

    Die Seite aus dem Artikel, auf der Clausius das Konzept unddie Bezeichnung der «Entropie» einführt. Die Gleichung ist die

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  • mathematische Definition der Veränderung der Entropie (S –S0) eines Körpers: die Summe (das Integral) der Wärmemen-gen dQ, die aus dem Körper mit der Temperatur T abgeflossensind.

    Clausius’ Entropie ist eine messbare und berechenbareGröße,16 mit dem Buchstaben S bezeichnet, deren Wertwächst oder gleich bleibt, in einem isolierten Prozess aberniemals geringer wird. Die zuletzt getroffene Aussage wirdausgedrückt durch die Ungleichung:

    ΔS ≥ 0Sprich: «Delta S ist immer größer oder gleich null». Die-

    ser sogenannte Zweite Hauptsatz der Thermodynamik (derErste betrifft die Energieerhaltung) beinhaltet, dass Wärmeimmer nur von warmen zu kalten Körpern fließt, niemalsumgekehrt.

    Der Leser möge mir die «Formel» verzeihen: Sie ist dieeinzige in diesem Fließtext. Weil sie die Formel des Zeit-pfeils ist, konnte ich sie in einem Buch über die Zeit nichtweglassen. Als einzige Beziehung in der Grundlagenphysikunterscheidet sie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Alsdie einzige, die uns etwas über das Vergehen von Zeit sagt.In dieser ungewöhnlichen Ungleichung liegt eine Welt ver-borgen.

    Offenbaren sollte sie ein sympathischer Österreicher,Enkel des Gründers einer Spieluhrenfabrik, dessen Le-ben allerdings ein bitteres Ende fand: Ludwig Boltzmann(1844 – 1906).

    Unschärfe

    Ludwig Boltzmann sollte es zufallen, zu erkennen, was sichhinter der Ungleichung ΔS ≥ 0 verbirgt. Er sprang dabei ineinen schwindelerregenden Abgrund in unserem Verständ-nis der tief liegenden Struktur der Welt.

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  • Ludwig arbeitete in Graz, Berlin, dreimal in Wien, Münchenund erneut in Graz. Er selbst führte seine Unbeständigkeit–  halb im Scherz  – darauf zurück, dass er an einem Fa-schingsdienstag zur Welt gekommen war. Tatsächlich warer von instabilem Charakter, weichherzig hin und her pen-delnd zwischen euphorischer Begeisterung und Depressi-on. Klein, kompakt, mit dunklem gelocktem Haar und Rau-schebart, wurde er von seiner Verlobten «mein geliebtesDickerchen» genannt. Ludwig wurde zum tragischen Hel-den in Sachen Zeitpfeil.

    Sadi Carnot hatte Wärme für eine Substanz gehalten undsich getäuscht. Wärme ist die mikroskopische Bewegungder Moleküle. In einem heißen Tee werden die Moleküleheftig zappeln, während sie sich in einem kalten Tee kaumrühren. Und noch weniger bewegen sie sich in einem Eis-würfel, der noch kälter ist.

    Noch zu Ende des 19. Jahrhunderts glaubten eher weni-ge daran, dass Moleküle und Atome tatsächlich existierten.Ludwig war von ihrer Realität überzeugt und focht für sieeinen Kampf aus. Seine Angriffe auf diejenigen, die nicht anAtome glaubten, sind legendär geblieben. «Wir, die jungenMathematiker der damaligen Zeit, waren alle auf [seiner]

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  • Seite [ … ]», erinnerte sich Jahre später ein junger Pionierder Quantenmechanik.17 In einer hitzigen Polemik währendeiner Konferenz in Wien hielt ihm ein bekannter Physiker18entgegen, dass der wissenschaftliche Materialismus tot sei,weil die Gesetze der Materie keine Richtung der Zeit ken-nen: Auch Physiker äußern zuweilen Unfug.

    Als Kopernikus einen Sonnenuntergang betrachtete, saher vor seinem geistigen Auge, wie sich die Erde dreht. AlsBoltzmann in ein Glas mit reglosem Wasser blickte, sah erden wilden Tanz der Atome und Moleküle.

    Wir sehen Wasser in einem Glas wie Astronauten dieErde vom Mond aus: ein stilles blaues Leuchten. Die tem-peramentvollen Bewegungen des Lebens auf der Erde, dieder Pflanzen und Tiere, der Liebe und Verzweiflung sindvom Erdtrabanten aus nicht zu erkennen. Sichtbar ist nureine azurne gesprenkelte Murmel. Entsprechend spielensich in dem von Licht durchschienenen Wasserglas die stür-mischen Aktivitäten von Myriaden von Molekülen ab, vondeutlich mehr, als Lebewesen die Erde bevölkern.

    Dieses Gewimmel durchmischt alles. Wenn ein Teil derMoleküle ruht, wird er vom allgemeinen Trubel mitgeris-sen und setzt sich seinerseits in Bewegung: Unruhe brei-tet sich aus. Moleküle prallen zusammen und stoßen an-einander. Deswegen erwärmt sich ein kalter im Kontakt zueinem warmen Körper: Seine Moleküle werden von denendes warmen angestoßen und in Bewegung versetzt. Auf dieArt wird er warm.

    Die thermische Bewegung ist wie das stetige Mischen ei-nes Stapels Spielkarten: Sind die Karten geordnet, werdensie durch Vermischung durcheinandergebracht. So fließtWärme vom Warmen zum Kalten ab und nicht umgekehrt:durch Vermischung, dadurch, dass natürlicherweise alleszur Unordnung strebt.

    Ludwig Boltzmann erkannte dies. Der Unterschied zwi-schen Vergangenheit und Zukunft liegt nicht in den elemen-

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  • taren Gesetzen der Bewegung, nicht in der tieferen Struk-tur der Natur. Vielmehr führt zunehmende Unordnung all-mählich zu weniger charakteristischen oder weniger beson-deren Zuständen.

    Diese Eingebung ist brillant. Und richtig. Aber erklärtsie den Ursprung des Unterschieds zwischen Vergangen-heit und Zukunft? Nein. Sie verschiebt nur das Problem.Jetzt lautet die Frage: Warum waren in einer der beidenRichtungen der Zeit – in der Vergangenheit, wie wir sie nen-nen – die Dinge geordnet? Warum wies der große Stapelder Spielkarten des Universums in der Vergangenheit eineOrdnung auf? Warum war die Entropie einstmals niedrig?

    Wenn wir ein Phänomen betrachten, das in einem Zu-stand geringer Entropie beginnt, ist klar, warum die Entro-pie zunimmt: weil beim Durchmischen alles in Unordnunggerät. Aber wieso beginnen die Phänomene, die wir um unsherum im Kosmos beobachten, in Zuständen niedriger En-tropie?

    Wir kommen zum entscheidenden Punkt. Wenn die ers-ten 26 Spielkarten eines Stapels durchweg rot und dienächsten 26 durchweg schwarz sind, reden wir von einer«besonderen» Zusammenstellung des Kartenspiels; es be-findet sich in einem «geordneten» Zustand. Diese Ordnungverliert es beim Mischen. Diese Konfiguration von «gerin-ger Entropie» ist besonders mit Blick auf die Farben derKarten  – rot oder schwarz. Eine andere ist insofern be-sonders, als die ersten 26 Karten nur aus Herz oder Pikbestehen. Oder aus ungeraden, aus den am stärksten ab-gegriffenen oder aus genau denselben 26 Karten wie vordrei Tagen … oder wegen irgendeines anderen Charakte-ristikums. Beim genaueren Nachdenken ist jedwede Zu-sammenstellung speziell. Jede ist einzigartig, wenn ich alleEinzelheiten betrachte, weil jede Zusammenstellung etwashat, das sie auf einzigartige Weise charakterisiert. So wiejedes Kind für seine Mama einzigartig und besonders ist.

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  • Die Vorstellung, dass bestimmte Zusammenstellungenspezieller als andere seien (zum Beispiel 26 rote Karten, ge-folgt von 26 schwarzen), ergibt nur dann einen Sinn, wennich mich auf die Betrachtung weniger Aspekte der Karten(zum Beispiel die Farbe) beschränke. Wenn ich alle Kartenunterscheide, sind alle Zusammenstellungen gleichwertig:Dann gibt es keine mehr oder weniger besonderen.19 DieVorstellung von «Besonderheit» ergibt sich erst dann, wennich das Universum auf unscharfe, annähernde Weise be-trachte.

    Boltzmann zeigte, dass die Entropie deshalb existiert,weil wir die Welt ungenau beschreiben, und dass die Entro-pie eben diejenige Größe ist, die zählt, wie viele verschie-dene Konfigurationen es gibt, die unsere unscharfe Sicht-weise nicht unterscheidet. Wärme, Entropie oder geringeEntropie der Vergangenheit sind Begriffe, die zu einer nä-herungsweisen, statistischen Beschreibung der Natur ge-hören.

    Folglich hängt der Unterschied zwischen Vergangenheitund Zukunft letztlich mit dieser unscharfen Sicht zusam-men. Wenn ich sämtliche Details, den genauen Zustand derWelt auf mikroskopischer Ebene berücksichtigen könnte,würden dann die charakteristischen Aspekte des Ablaufsder Zeit verschwinden?

    Durchaus. Sobald ich den mikroskopischen Zustand derDinge betrachte, verschwindet der Unterschied zwischenVergangenheit und Zukunft. So wird beispielsweise die Zu-kunft der Welt nicht mehr und nicht weniger als die Vergan-genheit vom gegenwärtigen Zustand bestimmt.20 Wir redenhäufig davon, dass die Ursachen den Wirkungen vorange-hen, aber die elementare Struktur der Dinge unterschei-det nicht zwischen «Ursache» und «Wirkung».21 Es gibt Re-gelmäßigkeiten, die wir physikalische Gesetze nennen, dieEreignisse zu verschiedenen Zeiten miteinander in Verbin-dung bringen, symmetrische Regelmäßigkeiten für Zukunft

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  • und Vergangenheit … In der Beschreibung aus mikrosko-pischer Sicht ist es sinnlos, Vergangenheit von Zukunft zuunterscheiden.3

    Dies ist die befremdliche Schlussfolgerung, die sich ausBoltzmanns Forschungen ergibt: Der Unterschied zwischenVergangenheit und Zukunft bezieht sich auf unsere un-scharfe Sicht von der Welt. Dieser Schluss macht fassungs-los: Ist es möglich, dass meine so eindringliche, grundle-gende und existenzielle Wahrnehmung –  der Ablauf derZeit – davon abhängt, dass ich die Welt nicht in den kleins-ten Einzelheiten sehe? Als eine Art Täuschung, die mei-ner Kurzsichtigkeit geschuldet ist? Wenn ich den akkuratenTanz der Milliarden Moleküle sehen und sie in Betracht zie-hen könnte, wäre die Zukunft dann wirklich «wie» die Ver-gangenheit? Könnte ich dann das gleiche Wissen – oder Un-wissen – zur Vergangenheit wie zur Zukunft haben? Zuge-geben: Unsere intuitiven Vorstellungen von der Welt gehenhäufig in die Irre. Aber kann die Welt so gründlich anderssein, als sie sich in unserer intuitiven Anschauung darstellt?

    All dies unterminiert grundlegend unser gewöhnlichesVerständnis der Zeit. Es ruft Ungläubigkeit hervor wie einstdie Behauptung, dass sich die Erde drehe. Aber hier wiedort ist die Beweislage erdrückend: Alle Phänomene, dieden Ablauf der Zeit charakterisieren, reduzieren sich auf ei-nen «besonderen» Zustand in der Vergangenheit der Welt,

    3 Der Punkt ist nicht, dass die Abläufe in einem kalten Löffel, der ineine Tasse heißen Tee getaucht wird, davon abhängen, ob meine Sicht-weise unscharf ist oder nicht. Was mit dem Löffel und seinen Molekü-len geschieht, vollzieht sich natürlich unabhängig davon, wie ich sehe.Es geschieht einfach. Der Punkt ist, dass die Beschreibung in Begriffenvon Wärme, Temperatur, dem Abfließen der Wärme des Tees in denLöffel eine unscharfe Sicht dessen ist, was geschieht. Und nur in die-ser unscharfen Sicht zeigt sich dieser auffällige Unterschied zwischenVergangenheit und Zukunft.

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  • der eben wegen unserer unscharfen Perspektive «beson-ders» ist.

    Weiter hinten unternehme ich den gewagten Versuch,in das Geheimnis dieser Unschärfe zu blicken, um heraus-zufinden, wie es mit der seltsamen anfänglichen Unwahr-scheinlichkeit des Universums zusammenhängt.

    Hier belasse ich es bei der verblüffenden Feststellung,dass die Entropie, wie Boltzmann erkannte, nichts anderesals die Anzahl der mikroskopischen Zustände ist, die unsereunscharfe Sicht von der Welt nicht auseinanderhalten kann.

    Die Gleichung, die genau dies besagt22, ist in Boltz-manns Grabstein in Wien eingemeißelt, direkt über derMarmorbüste, die ihn so streng und finster darstellt, wieer meiner Ansicht nach niemals gewesen ist. Nicht wenigePhysikstudenten statten seiner Ruhestätte einen Besuch abund halten nachdenklich vor ihr inne. Manchmal auch einälterer Professor.

    Die Zeit hat ein weiteres entscheidendes Stück verloren:den vertrauten Unterschied zwischen Vergangenheit undZukunft. Boltzmann hat erkannt, dass im Ablauf der Zeitnichts Substanzielles liegt. Nur der unscharfe Reflex einermysteriösen Unwahrscheinlichkeit des Universums an ei-nem Punkt in der Vergangenheit.

    Dies allein ist die Quelle der ewigen Strömung aus RilkesElegie.

    Mit nur fünfundzwanzig Jahren zum Universitätsprofes-sor berufen, zum Zeitpunkt seines größten Erfolges vomKaiser empfangen, von einem Großteil der akademischenWelt, der sein Denken nicht verstand, heftig kritisiert undselbst stets zwischen Euphorie und Depression hin und hergerissen, setzte das «geliebte Dickerchen» seinem Lebenmit einem Strick ein Ende.

    Es geschah in Duino bei Triest, während seine Frau undseine Tochter zum Baden ans Adriatische Meer gegangen

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  • waren. In ebendiesem Duino sollte wenige Jahre später Ril-ke seine Elegie verfassen.

    [...]

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  • Endnoten1 Aristoteles, Metaphysik, I, 2, 982 b.2 Eine eingehende Erörterung zur Schichtung des Zeit-begriffs leistet zum Beispiel J. T. Fraser, Of Time, Passion,and Knowledge, New York 1975.3 Der Philosoph Mauro Dorato hat die Notwendigkeithervorgehoben, den elementaren konzeptionellen Rahmender Physik ausdrücklich unserer Erfahrung anzupassen.Siehe hierzu Che cos’è il tempo?, Rom 2013.4 So der Kern der Allgemeinen Relativitätstheorie, siehehierzu A. Einstein, «Die Grundlage der allgemeinen Rela-tivitätstheorie», in: Annalen der Physik 49 (1916), S. 769 – 822.5 In der Näherung des schwachen Feldes (Newton’scheNäherung) ist die Metrik darstellbar als ds2 = (1 + 2Φ(x))dt2 – dx2, wobei Φ(x) das Newton’sche Potenzial ist. DieNewton’sche Gravitation folgt aus der einfachen Modifi-kation der Zeitkomponente der Metrik, g00, also aus derlokalen Verlangsamung der Zeit. Die geodätischen Lini-en dieser Metrik beschreiben das Herabfallen der Körper:Sie krümmen sich zum tieferliegenden Potenzial, wo sichdie Zeit verlangsamt. (Diese und ähnliche Anmerkungensind für Leser gedacht, die mit theoretischer Physik ver-traut sind.)6 «But the fool on the hill / sees the sun going down, /and the eyes in his head / see the world spinning’round … »7 C. Rovelli, Che cos’è la scienza. La rivoluzione diAnassimandro, Mailand 2011.8 Zum Beispiel: tauf dem Tisch – tam Boden = 2gh/c2 tam Boden,wobei c die Lichtgeschwindigkeit, g = 9,8 m/s2 die Erdbe-schleunigung Galileos und h die Höhe des Tischs ist.

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  • 9 Sie lassen sich auch mit einer einzigen Variablen t, der«Zeitkoordinate» darstellen, die aber nicht die von einerUhr gemessene Zeit (bestimmt durch ds, nicht durch dt)angibt und die man willkürlich austauschen kann, ohnedie beschriebene Welt zu verändern. Dieses t stellt keinephysikalische Größe dar. Was die Uhren messen, ist dieZeit eben entlang einer Weltlinie γ, gegeben durch tγ = ∫γ(gab(x)dxa dxb)½. Zur physikalischen Beziehung zwischendieser Größe und gab(x) siehe die Erörterung weiter hin-ten.10 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, in: SämtlicheWerke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1955, I, Verse 83 ff., sieheauch unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/duineser-ele-gien-829/1.11 Tatsächlich war die Zeit der Französischen Revoluti-on auch eine besonders fruchtbare Ära der Wissenschaft,in der die Grundlagen der Chemie, der Biologie, der ana-lytischen Mechanik und zahlreicher weiterer Disziplinengelegt wurden. Die gesellschaftliche ging mit der wissen-schaftlichen Revolution Hand in Hand: Jean-Sylvain Bailly,der erste Pariser Bürgermeister der Revolutionszeit, warAstronom. Lazare Carnot war Mathematiker. Und JeanPaul Marat betrachtete sich vor allem als Physiker. DerChemiker Lavoisier engagierte sich politisch. Der Mathe-matiker und Astronom Joseph-Louis de Lagrange wurdevon den unterschiedlichsten Regierungen ausgezeichnet,die in dieser ebenso tragischen wie glanzvollen Zeit derMenschheitsgeschichte aufeinanderfolgten. Siehe hierzuS. Jones, Revolutionary Science: Transformation and Tur-moil in the Age of the Guillotine, New York 2017.12 Sie verändern sich gegebenenfalls: zum Beispiel dasVorzeichen für das Magnetfeld in den Maxwell-Gleichun-gen, Ladung und Parität der Elementarteilchen usw. Wich-tig ist die sogenannte CPT-Invarianz (CPT für Ladung, Pa-rität und Zeit).

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  • 13 Newtons Gleichungen beschreiben die beschleunig-te Bewegung von Objekten. Die Beschleunigung verändertsich nicht, wenn ein Film rückwärts abläuft: Die Beschleu-nigung eines in die Höhe geworfenen Steins ist dieselbewie bei der eines herabfallenden: Wenn ich mir den Ver-lauf der Jahre im Rückwärtsgang vorstelle, läuft der Mondin Gegenrichtung um die Erde, erscheint von ihr aber glei-chermaßen angezogen.14 Die Schlussfolgerung bleibt dieselbe, wenn die Quan-tengravitation berücksichtigt wird. Zu Bemühungen, demUrsprung der Richtung der Zeit auf die Spur zu kommen,siehe zum Beispiel H. D. Zeh, Die Physik der Zeitrichtung,Berlin 1984.15 R. Clausius, «Über verschiedene für die Anwendungbequeme Formen der Hauptgleichungen der mechani-schen Wärmetheorie», in: Annalen der Physik 125 (1865),S. 353 – 400, hier S. 390.16 Insbesondere als Wärmemenge, die aus dem Kör-per abfließt, geteilt durch die Temperatur. Wenn Wärmeaus einem wärmeren Körper in einen kälteren übergeht,wächst die Gesamtentropie: Der Temperaturunterschiedsorgt dafür, dass die Entropie, die der abfließenden Wär-me geschuldet ist, geringer als die der zufließenden Wär-me geschuldeten ist. Haben alle Körper dieselbe Tempe-ratur erreicht, ist die Entropie am größten: Das Gleichge-wicht ist erreicht.17 Arnold Sommerfeld (1868 – 1951).18 Hans Christian Ørsted (1777 – 1851).19 Die Definition der Entropie erfordert Coarse Grai-ning, also die Unterscheidung zwischen Mikro- und Ma-krozuständen. Die Entropie eines Makrozustands wird vonder Anzahl der entsprechenden Mikrozustände bestimmt.In der klassischen Thermodynamik ist Coarse Graining indem Moment definiert, in dem man festlegt, einige Varia-blen des Systems (zum Beispiel Volumen oder Druck eines

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  • Gases) als von außen «manipulierbar» oder «messbar» zubehandeln. Ein Makrozustand wird durch Festsetzung die-ser makroskopischen Variablen bestimmt.20 Also auf deterministische Weise, wenn man die Quan-tenmechanik vernachlässigt, und probabilistisch, wennwir sie in Betracht ziehen. In beiden Fällen auf gleicheWeise für die Zukunft und für die Vergangenheit.21 Weiteres hierzu siehe Kapitel 11.22 S = k log W. S ist die Entropie, W die Anzahl der mi-kroskopischen Zustände oder das entsprechende Volu-men im Phasenraum und k die heute sogenannte Boltz-mann-Konstante, welche die (willkürlichen) Einheiten fest-legt.

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