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Die Vier Unermesslichen Geisteshaltungen (Vier Brahmaviharas) Kurs mit Lama Lhündrub in Freiburg 27.12.2004 bis 1.1.2005 Ende Mai 2005: Die Abschrift wurde nicht komplett von Lama Lhündrub durchgelesen. Möglicherweise noch vorhandene Unklarheiten im Sinn bitten wir zu entschuldigen. 1

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Die Vier Unermesslichen Geisteshaltungen(Vier Brahmaviharas)

Kurs mit Lama Lhündrub in Freiburg

27.12.2004 bis 1.1.2005

Ende Mai 2005: Die Abschrift wurde nicht komplett von Lama Lhündrub durchgelesen. Möglicherweise noch vorhandene Unklarheiten im Sinn bitten wir zu entschuldigen.

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Inhaltsverzeichnis

Öffentlicher Vortrag zu den Vier Unermesslichen am Vorabend ..........................................3Dir Unterweisungen Buddhas ........................................................................................ 6Andere in die Praxis einbinden....................................................................................... 7Nondualität....................................................................................................................11Zusammenfassung.........................................................................................................11Buddhaschaft als Weg...................................................................................................12

Fragen .......................................................................................................................13Unterweisungen im Viertages-Kurs......................................................................................18

Liebe..............................................................................................................................18Mitgefühl.......................................................................................................................18Freude............................................................................................................................20Gleichmut......................................................................................................................211. Meditation................................................................................................................. 222. Meditation................................................................................................................. 233. Meditation................................................................................................................. 24

Fragen .......................................................................................................................25Die Vier Grenzenlosen sind die Essenz aller Dharmapraxis........................................ 28Buddhanatur.................................................................................................................. 29Mitgefühl und Weisheit................................................................................................ 31Die sechs Paramitas...................................................................................................... 324. Meditation................................................................................................................. 33

Fragen .......................................................................................................................345. Meditation................................................................................................................. 36

Fragen .......................................................................................................................37Achtsamkeit auf den Atem............................................................................................42

Buddha Shakyamuni: Das Metta Sutra und seine Auslegung...........................................446. Meditation ................................................................................................................ 54Die vier Grenzenlosen in der Mahayana Praxis............................................................56

Erklärungen von Djamgön Kongtrul.................................................................................59Der siebenfache Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung.............................. 60

Fragen .......................................................................................................................637. Meditation................................................................................................................. 66Die Leiden in den sechs Daseinsbereichen................................................................... 66Wirklicher Gleichmut................................................................................................... 67

Unterweisungen von Matschig Labdrön........................................................................... 68Grenzenlose Liebe ........................................................................................................68

Fragen .......................................................................................................................708. Meditation................................................................................................................. 72Grenzenloses Mitgefühl ............................................................................................... 73

Fragen .......................................................................................................................79Grenzenlose Freude.......................................................................................................85

Fragen .......................................................................................................................86Grenzenloser Gleichmut............................................................................................... 87Den Geist in den vier Grenzenlosen üben.....................................................................90

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Öffentlicher Vortrag zu den Vier Unermesslichen am Vorabend

Selbst einem Vortrag über die vier Unermesslichen sollte eine kurze Phase der Besinnung vorausgehen. Ich schlage Ihnen also vor, dass wir fünf Minuten still sitzen. Setzen Sie sich ganz bequem hin, so dass möglichst keine Anspannung im Körper ist. Versuchen Sie eine Haltung zu finden, die es Ihnen ermöglicht, fünf Minuten einfach zu sitzen und auf den Atem zu achten oder auf die Klänge, oder es ermöglicht, den Geist ruhen zu lassen, den Blick vor sich auf den Boden oder in die Weite gerichtet zu lassen – was auch immer hilft, damit der Geist jetzt zur Ruhe kommt und wir das abschließen können, was wir gerade eben noch erlebt haben, bevor wir hierher gekommen sind.

Der erste Punkt, den ich Ihnen mit nach Hause geben möchte ist, dass die Praxis dieser vier Unermesslichen oder vier Grenzenlosen eingebettet ist in die Praxis der Stille, in die Praxis der Achtsamkeit, der Sammlung des Geistes. Es ist ein wesentliches Element in den Un­terweisungen von Buddha Shakyamuni, dass er die Praxis von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut einbettet in den Weg der Achtsamkeit, den Weg des “Zur -Ruhe- Kommens“ des Geistes. Daraus entsteht die Praxis, die dann zur Vertiefung von Liebe, Mitgefühl und den anderen Qualitäten führt.

Das ist ein großer Unterschied dazu, wie wir normalerweise vorgehen. Wenn wir ein Problem haben, wenn wir merken, dass unser Herz eng ist, dann möchten wir uns einen Ruck geben, indem wir sagen: „ Jetzt entwickle doch mal etwas Mitgefühl!“ Wir lassen uns nicht die Zeit, erst einmal zur Ruhe zu kommen und zu uns zu finden. Wichtig ist es, am Beginn zu innerer Ausgeglichenheit zu finden und dann, in dieser Ausgeglichenheit, zunächst den Gedanken der Liebe zu entwickeln– und dann erst die anderen Gedanken.

Im Pali Kanon habe ich etwa 30 Stellen gefunden, an denen der Buddha über die vier Brahmaviharas, die vier reinen Geisteshaltungen, spricht. Zunächst erklärt er die vier Vertie­fungen, die vier Dhyanas. Das sind sehr fortgeschrittene Zustände geistiger Sammlung, in denen der Geist ganz tief zur Ruhe kommt. Dann erklärt er die vier Brahmaviharas, die vier edlen Geisteszustände, die reinen Geisteshaltungen.

Das Vertiefen von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut folgt – wenn man es so prakti­ziert, wie es von Buddha unterrichtet wurde –einer teilweisen Beruhigung und Reinigung oder Läuterung des Geistes. Deswegen beginnen wir die Praxis stets mit dem Entspannen des Geis­tes.

Zu Anfang des Vortrags haben wir drei Gebete gesungen. Das letzte Gebet, das wir dreimal wiederholt haben, heißt auf Deutsch:

„Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen sie frei von Leid und dessen Ursachen sein. Mögen sie niemals von wirklicher leidfreier Freude getrennt sein. Mögen sie bei nah und fern frei von Anhaftung und Ablehnung in großem Gleichmut verweilen.“

Das sind die vier Unermesslichen, als Gebet ausgedrückt.

Liebe ist der Wunsch, dass alle Menschen glücklich sein mögen und die Ursachen des Glückes besitzen. Mit Glück ist hier gemeint: anhaltendes Glück, dauerhaftes Glück. Natürlich meinen wir da­mit nicht, dass die Menschen nicht auch relatives, zeitweiliges Glück erfahren sollten, aber der tiefste Wunsch der Liebe ist, dass alle anhaltendes, dauerhaftes Glück erfahren.

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Wenn wir sagen: mögen sie auch die Ursachen des Glückes besitzen, dann sind damit die heilsamen Handlungen gemeint, aus denen Glück entsteht. In diesem Wunsch schwingt ein Bewusstsein von Ursache und Wirkung mit.

Mögen sie glücklich sein, - diesen Wunsch können wir noch so intensiv formulieren, er wird nicht in Erfüllung gehen, wenn die betreffenden Menschen nicht die Ursachen des Glückes besitzen, d. h. sie müssen selber mehr und mehr Handlungen ausführen, die zum Verringern der Ichbezogenheit führen – sonst wird das Glück nie Wirklichkeit werden. Die Ursachen müssen gesetzt werden.

Wahre Liebe bedeutet, sich selbst und anderen zu helfen, die Ursachen für späteres Glück zu schaffen. Glück stellt sich schon in dem Moment ein, in dem wir eine heilsame Handlung aus­führen, aber dauerhaftes Glück wird erst die Folge von vielen solcher Handlungen sein.

Mitgefühl ist nicht anders als Liebe. Liebe ist der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sein mögen und Mitgefühl ist der Wunsch: „Mögen alle Wesen frei von Leid und dessen Ursa­chen sein.“ Wenn wir frei von Leid sind, sind wir glücklich. Das bedingt sich gegenseitig. Aber es ist wichtig, diese andere Seite auch auszudrücken, weil das Mitgefühl uns hilft, nicht in eine einseitige Liebe zu fallen. Wir würden uns so gern nur auf das Positive konzentrieren, auf das Angenehme, den Wesen Glück wünschen; aber es gibt auch sehr viel Leid und wir müssen uns zunächst den Ursachen des Leids und der Beseitigung des Leids zuwenden.

Wir können die Augen nicht vor den Problemen und Schwierigkeiten verschließen. Mitgefühl begleitet die Liebe und macht sie tiefer. Jemand, der im Mitgefühl ist, der ist im Kontakt mit dem eigenen Leid – er ist mitfühlend, weil er selbst etwas erlebt hat, was schmerzhaft war. Die größte Chance, Mitgefühl zu entwickeln, kommt aus der eigenen leidvollen Erfahrung, aus den eigenen Problemen. Wenn ich durch Schweres gegangen bin, dann fällt es mir leich­ter, auch für andere Mitgefühl zu empfinden. Ich bin in dieser Tiefe, ich bin verbunden mit dem Schwierigen im Leben, und daraus resultiert der Wunsch: „Mögen alle glücklich sein.“ Ich bin nicht naiv in diesem Wunsch: “Mögen alle Wesen glücklich sein“.

Freude ist die Freude am Heilsamen. Der Wunsch geht dahin, dass alle Wesen die wirkliche leidfreie Freude erfahren mögen. Nicht die überschwängliche Freude aufgrund von äußeren Bedingungen, weil mir jemand etwas geschenkt hat oder weil heute alles gut gelaufen ist, son­dern die tiefe innere Freude, die aus dem Verbundensein mit dem Heilsamen entsteht. Heil­sam ist alles, was uns gut tut, alles, was allen Wesen gut tut. Aus dem Verbundensein mit dem, was den Geist dauerhaft öffnet und freimacht, entsteht eigentliche Freude.

Sind wir im Kontakt mit dem wirklich Heilsamen, zieht Freude in unser Gemüt ein, eine Freude, die nicht aufdringlich ist, die nicht einmal sichtbar sein muss, sondern die meist eine stille Freude ist. Sie begleitet uns im Leben, selbst wenn wir Schwierigkeiten begegnen, auch dann noch, wenn es wirklich hart wird.

Zum Beispiel habe ich gerade die Nachricht bekommen, dass ich Krebs habe. Selbst da ist diese innere Freude, diese tiefe innere Gelöstheit spürbar. Das ist die Freude, die uns auch in schwierigsten Situationen nicht verlässt, beispielsweise bei dem Verlust eines Kindes oder eines anderen nahe stehenden Menschen. Es ist eine Verbundenheit mit zutiefst heilsamen Geisteszuständen durch alle Schwierigkeiten hindurch. Von dieser Freude sprechen wir.

Sie dehnt sich aus und bezieht jeden ein, dem wir begegnen. Was auch immer die andere Per­son an Glück erfährt, wir können uns mitfreuen. Was auch immer Heilsames, Hilfreiches, Förderliches, Erfreuliches im Leben eines anderen geschieht, wir können uns mitfreuen, weil

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wir verbunden sind mit dieser inneren Qualität des neidlosen Sich-Freuens am Wohlergehen der anderen.

Gleichmut: Jetzt kommt die vierte und vermutlich wichtigste Qualität unter den Vieren. Wir denken vermutlich, die Liebe sei das Wichtigste. Aber es ist der Gleichmut– und Gleichmut steht hier für Weisheit. Gleichmut bedeutet „ bei Nah und Fern frei von Anhaften und Ab­lehnen im großen Gleichmut zu verweilen.“ „Bei Nah und Fern“ bedeutet, bei allen Men­schen frei von Anhaften und Ablehnen zu bleiben - bei denen, die mir lieb sind, bei denen, die mir fern sind und bei denjenigen, die meine Feinde zu sein scheinen.

Da kommt die große Liebe hinein. Wenn Liebe sich mit dieser Qualität des Gleichmuts, des Nicht-für-mich-haben-Wollens und des Nicht-von-mir-weg-Stoßens verbindet, dann wird Liebe zu einer nicht ichbezogenen Liebe. Um diese Liebe geht es.

Zum Gleichmütigsein kann man sich nicht überreden. Echter Gleichmut entsteht nur aus Weisheit. Er entsteht aus dem Verständnis, dass das Haften an dem, was mir lieb ist, und das Ablehnen von dem, was mir nicht lieb ist, auch wieder nur Quelle von Leid ist. Das tiefe Ver­ständnis, dass Anhaften und Ablehnen immer wieder Leid erzeugen, das ist Gleichmut.

Dieses Verständnis ist so tief geworden, dass wir auf die verführerischen Begegnungen oder Situationen in unserem Leben, in denen wir normalerweise anhaften würden, einfach in ent­spannter Freude reagieren, in entspannter Offenheit. Dort, wo wir normalerweise abwehren und wegschieben würden, auch da verweilen wir in entspannter Offenheit.

Gleichmut bedeutet nicht, was im Deutschen mitklingt, dass man eine Art künstliches Eben­maß hätte. Gemeint ist das Ebenmaß der Freude, von der wir gerade eben noch gesprochen haben. Es ist ein sich durchziehender roter Faden der Freude und des Nicht-Haftens, des Nicht-Greifens und Nicht-Wegstoßens. Das ist Gleichmut. Es kann trotzdem zu Momenten kommen, in denen man mehr nach außen geht, in denen man offener ist im Sinne von Extro­vertiertheit. Und es gibt andere Momente, in denen man mehr nach innen geht und still ist, aber frei von dem Wechselspiel von Haben-Wollen und Wegstoßen. Frei zu sein von diesem Spiel, das ist echter Gleichmut. Dieser Gleichmut entsteht erst durch die Verwirklichung der illusorischen Natur aller Phänomene. Das ist jetzt ein großes Wort. Was bedeutet es? Echter Gleichmut entsteht, wenn wir z. B. in dem Moment, in dem uns jemand anschreit, der illuso­rischen Natur dieser Worte gewahr sind. Wir merken, dass der andere schreit, wir hören auch die Worte und wir wissen, was sie bedeuten, aber es ist kein Greifen nach den Worten und deswegen kommen wir auch nicht in das Spiel des Reagieren-Müssens hinein.

Auch wenn uns jemand Erklärungen seiner Anhänglichkeit macht, große Liebeserklärungen, auch da ist ein Gewahrsein der illusorischen Natur aller Phänomene. Was nicht heißt, dass wir uns der Wärme, die in der Beziehung ist, verschließen, absolut nicht. Wir sind ganz offen da­für, aber es kommt nicht zu dem Greifen nach dem, was uns da gesagt wird. Es kommt nicht dazu, dass wir „auf den Leim gehen“ oder „am Honig kleben“ bleiben. Das ist mit Gleichmut gemeint.

Wir sprechen über vier Qualitäten, die sich gegenseitig ergänzen. Was wäre Liebe ohne Mit­gefühl? Liebe ohne Gleichmut? Was wäre Mitgefühl ohne Freude? Stellt Euch das einmal vor! Zusammen beschreiben sie den Zustand dessen, was wir einen erleuchteten Geist nennen. Das ist das, was wir auch Bodhicitta nennen, den Erleuchtungsgeist. Der Geist eines erleuch­teten Meisters verweilt in diesen vier grenzenlosen Qualitäten.

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Dir Unterweisungen Buddhas Ich möchte jetzt ein Sutra von Buddha vorlesen, damit Ihr im Urton hören könnt, wie der Buddha diese vier Qualitäten als Meditation eingeführt hat. Das Zitat stammt aus der Samm­lung der Mittleren Lehrreden, aus dem Korb der Sutras im Pali Kanon. Es ist die 43. Lehrre­de, der 31. Absatz.

„Hört, Freunde. Da verweilt ein Bhikkhu (ein voll ordinierter Mönch), indem er eine Himmelsrichtung mit einem Herzen durchdringt, das erfüllt ist von Liebe. Ebenso die zweite Himmelsrichtung, ebenso die dritte, ebenso die vierte Himmelsrichtung. Auch nach oben, nach unten, in alle Richtungen und überall hin und zu allen Wesen wie zu sich selbst. Er durchdringt alle Himmelsrichtungen und so verweilt er, indem er die all­umfassende Welt, den Kosmos, mit einem Herzen durchdringt, das von Liebe erfüllt ist, unerschöpflich, erhaben, unermesslich, ohne Feindseligkeit und ohne Übelwollen. Er verweilt, indem er eine Himmelsrichtung mit einem Herzen durchdringt, das erfüllt ist von Mitgefühl. Ebenso die zweite, ebenso die dritte, ebenso die vierte Himmelsrich­tung. Auch nach oben, nach unten, in alle Richtungen und überall hin und zu allen wie zu sich selbst verweilt er, indem er die allumfassende Welt mit einem Herzen durch­dringt, das von Mitgefühl erfüllt ist, unerschöpflich, erhaben, unermesslich, ohne Feindseligkeit und ohne Übelwollen.Er verweilt, indem er eine Himmelsrichtung mit einem Herzen durchdringt, das erfüllt ist von Freude. Ebenso die zweite, ebenso die dritte, ebenso die vierte Himmelsrichtung. Auch nach oben, nach unten, in alle Richtungen und überall hin und zu allen wie zu sich selbst verweilt er, indem er die allumfassende Welt mit einem Herzen durchdringt, das von Mitfreude erfüllt ist, unerschöpflich, erhaben, unermesslich, ohne Feindseligkeit und ohne Übelwollen.Er verweilt, indem er eine Himmelsrichtung mit einem Herzen durchdringt, das erfüllt ist von Gleichmut. Ebenso die zweite, ebenso die dritte, ebenso die vierte Himmelsrich­tung. Auch nach oben, nach unten, in alle Richtungen und überall hin und zu allen wie zu sich selbst verweilt er, indem er die allumfassende Welt mit einem Herzen durch­dringt, das von Gleichmut erfüllt ist, unerschöpflich, erhaben, unermesslich, ohne Feindseligkeit und ohne Übelwollen. Dies wird unermessliche oder grenzenlose Herzens­befreiung genannt.“ Im weiteren Verlauf der Lehrrede erklärt er, was mit dieser Herzensbefreiung gemeint ist. Wahre, grenzenlose, unermessliche Herzensbefreiung ist frei von Verdinglichen. Nicht Verdinglichen bedeutet, dass wir in unserer Praxis von Liebe, Mitgefühl, Freude oder Gleich­mut nicht vergegenständlichen, dass wir die Trennung von Subjekt und Objekt nicht durch eine solche Praxis zementieren. Dass wir zum Beispiel nicht in diesen Irrtum verfallen, „ich liebe dich“ oder „ich liebe euch“. Das wäre eine Verfestigung der dualistischen Haltung: „Ich getrennt von anderen.“ Wir werden im Kurs üben, wie wir das eben nicht machen, wie wir herauskommen können aus diesem starken Muster, eine ichbezogene Liebe zu praktizieren.

Buddha erklärt als zweiten Punkt, dass die Erkenntnis der Leerheit dazugehört. Leerheit meint einfach Abwesenheit eines Selbst. Das ist mit Leerheit gemeint. Die Praxis von – beispiels­weise Freude, die alle Himmelsrichtungen durchdringt, – ist auszuführen im Bewusstsein der Abwesenheit eines Selbst desjenigen, der Freude praktiziert. Er weiß, dass diese Freude die Leerheit beinhaltet. Freude und Leerheit sind auch im Bewusstsein all derer, an die wir den­ken, während wir Freude ausstrahlen oder uns der Freude öffnen.

Der Buddha weist im dritten Punkt darauf hin, dass wir bei dieser Praxis nicht an Merkmalen haften, sie nicht beachten sollen. Nehmen wir als Beispiel Gleichmut. – Es schreit mich je­mand an. Die Merkmale nicht zu beachten bedeutet, die Intensität der Worte zu hören und

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auch ihren Inhalt zu verstehen, aber dem keine Beachtung zu schenken. Nichtbeachtung der Merkmale bedeutet bei der Liebe, dem hässlichen Menschen gegenüber die gleiche Liebes­kraft freizusetzen wie einem sehr schönen, sehr anziehenden Menschen. Oder einem Men­schen, der uns liebe Worte gesagt hat, mit derselben Offenheit zu begegnen wie jemandem, der uns schroffe Worte gesagt hat. Das ist mit Nichtbeachtung aller Merkmale gemeint.

Noch ein vierter Hinweis vom Buddha: in dem, was wir uns soeben angeschaut haben, sind Begierde, Hass und Verblendung nicht vorhanden.. Das bedeutet frei zu sein von Anhaften, Ablehnen und dem Nichterkennen der Wirklichkeit, das bedeutet frei zu sein von Unwissen­heit oder Verblendung.

Mit diesen wenigen Worten haben wir schon den riesigen Rahmen umrissen, in dem sich die Praxis der vier Grenzenlosen bewegt.

Zu Anfang ist das stille Sitzen. Dann ist es wichtig, sich an diesen kleinen Satz zu erinnern: „Zu allen wie zu sich selbst“. Seitdem der Buddha diese Unterweisung gegeben hat, lautet der Rat aller Meister, die Praxis mit sich selbst zu beginnen. Möge ich glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Geht der Satz durch, wenn Sie sich den Satz jetzt innerlich sagen? Trifft er auf Widerstände oder geht er durch? Durchgehen meint: Ist da alles offen, frei von Widerständen, wenn ich mich innerlich mir selbst zuwende? Wir können das ein paar Se­kunden machen.

„Möge ich zutiefst glücklich sein.Möge ich unzählige Ursachen des Glücks freisetzen.“

Sind wir bereit, uns das zu wünschen, uns zuzugestehen, dass wir das irgendwann einmal erfahren dürfen, jetzt – oder zu einem späteren Zeitpunkt? Wenn wir merken, dass dieser Wunsch uns leicht fällt, dass er wie Butter in uns zerschmilzt und dass wir dagegen keine Widerstände haben, dann können wir den nächsten Schritt gehen. Dann können wir dieses Ge­fühl, das wir uns selbst gegenüber entwickelt haben, einer Person gegenüber einnehmen, die uns lieb ist, aber bei der wir keine Anhaftung, zumindest keine sexuelle Anhaftung verspüren, die also kein Objekt unserer Begierde ist. Wir nehmen eine Person, die uns zutiefst ins Herz geschrieben ist und äußern für diese Person den Wunsch:

„Mögest du glücklich sein. Mögest du zutiefst glücklich sein. Mögest du in deinem Leben unendlich viele Ursachen des Glücks freisetzen oder als Handlungen ausführen.“

Dann spüren wir, ob wir das diesem Menschen gegenüber wirklich sagen können, ob wir einer Person rückhaltlos alles Gute wünschen können. Lasst uns das gerade für ein paar Se­kunden simulieren. Nehmt eine Person, der ihr zum Beispiel höchst dankbar seid. Wenn wir an eine Person denken, der wir zutiefst dankbar sind und in Liebe verbunden sind, dann fällt uns das gewöhnlich leicht, so zu denken.

Andere in die Praxis einbindenWir könnten jetzt, wenn wir das voll und ganz mit einer Person spüren, die nächste Person hinzunehmen, der wir auch liebevoll verbunden sind, und dann eine nächste. So fahren wir fort, bis wir eine Gruppe von Personen beisammen haben, mit denen uns die Übung leicht fällt. Dann könnten wir dieser Gruppe als Ganzes unsere Herzenswärme schicken, alle guten Wünsche vom Herzen.

Es wird empfohlen, dasselbe mit Menschen zu praktizieren, denen wir neutral gegenüber­stehen, bei denen wir weder Anhaftung noch Ablehnung verspüren. Die Zahl solcher Men­schen, mit denen wir wenig intensive Beziehungen haben, ist natürlich groß. Da kommen wir

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unter Umständen mit vielen Widerständen in Berührung: Wie kann ich jemandem Gutes wün­schen, den ich gar nicht kenne? Vielleicht ist er ein Schurke oder ein ausgeprägter Egoist? Da kommen Bedenken auf und darüber müssen wir tiefer meditieren. „Kann es schaden, wenn ich jemandem Gutes wünsche? Gebe ich das Heft aus der Hand, d.h. kann ich mich dem Men­schen gegenüber dann nicht mehr abgrenzen, darf ich dann nicht mehr nein sagen, wenn der etwas von mir möchte?“ Es ist wichtig, diese Fragen nicht auszuklammern.

Wenn unser Geist weich und geschmeidig geworden ist, werden wir diese Praxis zunehmend mit Menschen ausüben, die für uns schwierig sind. Wir würden so lange daran arbeiten, bis unser Herz für diesen Personkreis aufgeht und bis wir das deutlich fühlen können. Aber Vor­sicht: machen Sie das nicht zu schnell!

Immer wieder, wenn wir merken: „Ich komme aus dem Gleichgewicht!“ sollten wir durch Annehmen unserer selbst, durch Stille, durch Meditation zu uns zurückkehren. In diesen Fäl­len müssen wir die guten Gedanken, die wir für andere entwickeln möchten, wieder uns selbst gegenüber ausdrücken. Wir dürfen es nicht zu einem Ungleichgewicht kommen lassen zwi­schen dem, was ich anderen wünsche und dem, was ich mir selbst zugestehe. Wir sind manch­mal etwas voreilig und möchten anderen etwas wünschen, weil wir selber größte Mühe damit haben anzunehmen. Mühe anzunehmen, dass wir auch nur einen Moment glücklich sein könnten! Einfach nur entspannt glücklich sein können und dafür nichts tun müssen. Nichts be­weisen müssen! Es hört sich so einfach an, aber es ist nicht so einfach, sich das auch selbst in umfassendem Masse zu gönnen und diese Wünsche für sich selbst zu machen.

Es handelt sich um wahres Glück und die Ursachen von wahrem, authentischem, leidfreien Glück. Ich könnte den Wunsch auch anders ausdrücken, ich könnte sagen: „Mögest du er­leuchtet sein“. Plötzlich nimmt das Ganze noch einen andern Geschmack an. Mögest du er­leuchtet sein – das fasst diese vier Wünsche in einem Wunsch zusammen. Es ist gut, ihn in vier Wünsche aufzufächern und sie der Reihe nach durchzugehen. Plötzlich denken wir: „Oha, und wenn die jetzt vor mir erleuchtet ist?“ – Wir müssen schlucken und dann sollten wir uns sagen :“Ja, möge ich selbst auch erleuchtet sein!“

Wenn wir in dem nächsten Jahr, das jetzt beginnt, mit uns selbst anfangen und dann Woche für Woche eine Person dazu nehmen, eine Woche lang mit einer Person arbeiten, haben wir mit uns selbst eine Woche und mit 51 anderen Personen innerhalb eines Jahre gearbeitet. 52 Wochen einer solchen Arbeit - was glauben Sie, wie das Ihr Leben verändert? Wenn wir das mit 52 Personen praktiziert haben, uns jeden Tag Zeit genommen haben, das eine Viertel­stunde zu praktizieren, was glauben Sie, wie anders das Leben aussieht in einem Jahr! Können Sie sich das vorstellen? Das ist ein konkretes Angebot von Buddha Shakyamuni! Ganz billig! Kostet nix! – Ganz einfach!

Dann könnten wir im zweiten Jahr daran gehen, die Gruppe über die 52 Personen hinaus aus­zuweiten. Dann könnten wir beginnen, die Grenze immer weiter hinauszuschieben

Die meisten, die jetzt zuhören, würden am liebsten sofort heute Abend zur grenzenlosen Liebe vorstoßen. Das geht nicht. Das schaffen wir auch in vier Tagen nicht, weil das Ganze – die Arbeit mit uns selbst und mit jeder Person, die wir kennen – ein Prozess ist. Stellen Sie sich das bitte vor: Mit jeder Person, die Sie kennen!

Wenn wir das erst einmal mit den 51 wichtigen Personen gemacht haben, geht’s mit den anderen fast automatisch. Das ist das Tolle an der Geschichte. Wir gewöhnen uns an diese Herzensöffnung und mit jedem weiteren Menschen geht es einfacher.

Im Dreijahres-Retreat gab es jemanden, der hat den ganzen Monat, der dieser Praxis gewid­met ist, nur mit sich selbst verbracht, um zum Annehmen von sich selbst zu kommen. Also sollte man diesen ersten Schritt nicht unterschätzen. Und ich war sehr dankbar, dass dieser Praktizierende den Mut hatte, obwohl er als Bodhisattva im Dreijahres-Retreat saß, dazu zu

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stehen, nicht anderen seine Herzenswärme zu schicken, bevor ihm nicht die Annahme seiner selbst in ausreichendem Maße gelungen war. Unter Umständen müssen wir uns ein wenig mehr Zeit geben, um durch den Prozess mit uns selbst hindurchzugehen.

Wenn wir die Liebe praktizieren, stellen wir uns vor, was anderen gut tut. Wenn ich das jetzt zum Beispiel mit Gerard praktizieren würde, dann würde ich mich fragen, was ihm gut tut und was er sich wünscht und mir vorstellen, dass er all das im Einklang mit dem Dharma erhält, also mit der langfristigen Entwicklung zur Erleuchtung hin. Das würde ich ihm aus ganzem Herzen wünschen und mir vorstellen, dass er es tatsächlich erhält und mich daran freuen. Das wäre ein abgeschlossener Prozess, was die Liebe angeht.

Dann geht es weiter mit dem Mitgefühl. Ich stelle mir vor, was diesem Menschen Leid ver­ursacht und spüre hinein, was alles die Ursachen des Leides sind. Ich wünsche mir, dass dieser Mensch von all dem Leid, das jetzt schon sichtbar ist und all dem Leid, was noch kommt und all den Ursachen des Leides, also Handlungen, die ichbezogen sind, die immer wieder neues Leid verursachen, dass dieser Mensch von diesen Ursachen, von diesen Hand­lungen frei ist. Dann stelle ich mir vor, wie das aussehen könnte: die Erleuchtung dieses Men­schen, frei von allem Leid. Ich freue mich daran, und diese Freude ist wie das Besiegeln der Praxis des Mitgefühls.

Die Praxis der Freude besteht darin, sich an allem Heilsamen zu freuen und wir beginnen bei uns selbst, – auch wenn’s nur ein paar freundliche Worte waren, ein kleines Lächeln für je­manden oder ein spontanes Geschenk. Ich freue mich an all dem Heilsamen, was schon ge­wesen ist, auch an den fünf Minuten, die ich es geschafft habe zu meditieren. Es geht nicht um die zehn Minuten, die ich nicht meditiert habe. Es geht darum, sich zu freuen an Wenigem, das Geringfügigste aufzuspüren, das heilsam ist und an dem man sich freuen kann, diese Freude an jedem Fortschreiten, das wirklich zu Glück und Offenheit und zur Ent­spannung beiträgt.

Dann mache ich das mit der anderen Person. Wenn ich sie kenne, habe ich vielleicht Situa­tionen beobachtet, in denen diese Person heilsam gehandelt hat, für sich selbst und für andere. Es muss nicht immer für andere sein, es darf auch für einen selber sein: heilsames Handeln. Ich freue mich an jedem Moment heilsamen Handelns dieser Person. Ich stelle mir vor, dass dieses heilsame Handeln zunimmt und freue mich bereits im Voraus mit über all das Heil­same, das diese Person noch ausführen wird. Ich lasse den Unterschied weg, ob es ein anderer ist, der die Handlung ausführt oder ob ich sie selber ausführe. Es spielt gar keine Rolle mehr, wer das Heilsame ausführt – es wird ausgeführt! Es ist in der Welt! Es ist geschehen.

Mitfreude hat diese unglaubliche Kraft, Grenzen aufzulösen. Ich bekomme zum Beispiel mit, wie jemand einem anderen etwas schenkt. Ich spüre, dass das genau das Richtige ist, diesem Menschen jetzt das zu schenken. Es ist gerade kalt und der berühmte Nikolausmantel wird ge­schenkt. Ihr kennt die Geschichte. Da hat ein Mensch einen Mantel geschenkt bekommen und friert nicht mehr. Ich freue mich so daran – hätte die andere Person ihn nicht geschenkt, hätte ich ihn geschenkt. Diese Haltung ist gemeint. Freude bedeutet, sich auf diese Weise zu freuen, in vollem Einklang mit der Handlung des anderen, frei von Neid. Einfach toll, dass jemand so etwas gemacht hat! Es ist völlig egal, wer das Heilsame in der Welt tut! Es ist eine selbstlose Freude, die alles Heilsame begleitet und die gar nicht mehr aus dem Ich heraus geboren ist. Es ist nicht, dass ICH mich an etwas freue, sondern da ist Freude an dem Guten, das geschieht.

Wenn ich zuerst Gleichmut zu einer Person schicke, dann zu der anderen, später in alle Himmelsrichtungen des Universums, dann beinhaltet das eine tiefe Meditation über das Frei­sein von Anhaften und Ablehnung.

Fangen wir mal bei mir an. Ich freue mich heute bei einer kleinen Situation nicht mit Anhaften reagiert zu haben, oder das Anhaften bemerkt zu haben und losgelassen zu haben

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und wieder in einen Gleichmut hineingefunden zu haben und ich kontempliere die vielen Si­tuationen, wo sich die Möglichkeit auftut, frei von Anhaften und Ablehnung zu sein. Diese Kontemplation dehne ich zunächst auf eine mir liebe Person aus und stelle mir vor, dass ihre Freude, ihre Liebe, ihr Mitgefühl frei werden von Anhaften und Ablehnen. Ich wünsche das zutiefst, dass diese zusätzliche Dimension der Weisheit hinein kommt in alles, was diese Per­son tut. Ich stelle mir vor, dass diese Person so frei wird, so weise, die tiefe Gleichwertigkeit aller Phänomene so zu verwirklichen beginnt, dass ihr Geist frei wird vom Haften, vom Habenwollen und vom Wegstoßen.

Ich stelle mir das für eine Person vor, auch für die nächste Person und so weiter– bis ich es mir auch für meine schlimmsten Feinde vorstellen kann.

Wir denken oft, wir hätten keine Feinde. Aber wir hatten vielleicht mal welche. Viele von uns sind zum Beispiel geschieden und wir sind durch schwierige Phasen durchgegangen in un­serem Leben, wo wir uns getrennt haben und in der Trennung ist der oder die früher Geliebte durchaus mal zum Feind geworden. Nicht alle Trennungen sind glücklich. Dann erinnern wir uns daran, welche Ablehnung wir schon gespürt haben, wie intensiv wir Hass erlebt haben, Ärger – und beginnen, die Meditation des Gleichmutes auf diese Situationen anzuwenden, in denen wir so stark reagieren.

Dann erinnern wir uns daran, wie wir verliebt waren, nicht Liebe empfunden haben, sondern verliebt waren – wir waren im vollen Anhaften. Es gab Situationen in unserem Leben, in denen wir nur noch an einen Menschen dachten und ohne ihn konnten wir nicht glücklich sein.

Dann denken wir daran und beginnen diese Situationen mit Gleichmut zu durchdringen, mit einem Erkennen, dass alles Anhaften zu Leid führt. Wir müssen sie mit Erkenntnis durch­dringen, es hilft nichts, uns den Gleichmut einreden zu wollen. Wir müssen eine Analyse vor­nehmen von Ursache und Wirkung: Was macht frei, was macht unfrei, was macht glücklich, was macht unglücklich, wir müssen es verstehen. Nur wenn wir es selber verstanden haben, wenn wir es selber durchdrungen haben mit unserem eigenen ganz persönlichen Erleben und Verstehen, dann wird sich Gleichmut einstellen. Diesen Gleichmut dehnen wir aus und stellen uns vor, dass er in den Menschen entsteht, an die wir denken und in allen Menschen.

Dann stellen wir es uns für alle Tiere vor. Alle vier Qualitäten. Wir gehen die Tierwelt durch. Dann gehen wir die Welt der unsichtbaren Wesen durch. Dann stellen wir uns vor, dass wir dieses Denken in den ganzen Kosmos hinein ausdehnen.

Dann stellen wir uns vor, dass es vielleicht Sterne gibt in diesem Kosmos, die belebt sind und dass es Wesen gibt, die gar keinen Boden brauchen, um zu existieren, die einfach im Raum existieren, die gar nicht darauf angewiesen sind, Nahrung zu sich zu nehmen. Wir arbeiten mit unserer Vorstellung. Das ist noch das Einfachste für uns, weil uns das nicht so direkt betrifft, die Anfangsphase ist schwieriger. Wir arbeiten mit der Vorstellung und dehnen das in alle Richtungen des Universums aus und nehmen alle noch möglicherweise existierenden Uni­versen gleich mit dazu.

Und wir sind noch nicht am Ende der Unermesslichen angekommen. Damit das Ganze gren­zenlos wird, muss jetzt die Grenze zwischen Subjekt und Objekt wegfallen. Dann erst werden die vier Brahmaviharas, die reinen Geisteshaltungen, grenzenlos, wenn auch die Grenze zwi­schen mir und anderen wegfällt.

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NondualitätDiese vier Qualitäten sind wie Sprungbretter. Buddha Shakyamuni sagte von diesen vier Qualitäten, dass sie uns das Tor der Weisheit auftun. Wenn wir in die vier Grenzenlosen ein­tauchen und sie auf relativer Ebene entwickeln, verliert sich unsere Ichbezogenheit. Wir ver­lieren uns in den vier Grenzenlosen und dann kommt es leicht zu Momenten, in denen wir uns einfach vergessen. Dieses sich einfach vergessen, das ist der Moment, wo das Tor der Weis­heit aufgeht und wo die Praxis wirklich grenzenlos wird. Da ist dann kein Ausstrahlen mehr von einem Zentrum in eine Himmelsrichtung. Das fällt weg. Da ist einfach das Verweilen in dem, was auch immer gerade ist. Völlig natürliches Sein. Das ist der Zustand, in dem die vier Grenzenlosen völlig grenzenlos werden. Da ist der Geist nicht mehr beschränkt durch Kon­zepte, durch Vorstellungen, durch die persönliche Geschichte – all das fällt weg. Das nennen wir dann Verwirklichung. Das ist der Eintritt in die Dimension der Befreiung, die Nonduali­tät.

Der Buddha benutzte dafür den Ausdruck „Stromeintritt“. Wir treten in einen Strom ein, der uns zur Erleuchtung trägt. Wenn wir uns daran gewöhnen, uns in der Praxis zu vergessen, dann finden wir in einen Strom hinein, in dem wir uns immer häufiger vergessen werden. Das Sich-Vergessen, dieses Subjekt vergessen und dem Unterschied zwischen sich und anderen keine Bedeutung beizumessen – das wird immer selbstverständlicher.

Ein Buddha fällt nie mehr in diese Gefühle von Trennung hinein: ich und andere als getrennte Wesenheiten. Ein Buddha nimmt die vor ihm und neben ihm sitzenden und stehenden Wesen und Menschen durchaus wahr und weiß auch, dass da jemand ist, der sich für ein abgegrenz­tes Ich hält, aber er verfällt selber nicht in den Irrtum, den eigenen Geist in irgendeiner Form für getrennt vom Geist des anderen zu halten. Dieser Irrtum taucht nicht mehr auf.

ZusammenfassungWir haben angefangen mit einem Moment stillen Sitzens und sind jetzt bei der Buddhaschaft. So, wie ich Buddha Shakyamuni verstehe, sollten wir erst dieses stille Sitzen mit dem Uns-Annehmen im Moment vertiefen, wobei wir aber immer schon in die Richtung gehen des sich und andere liebevoll Annehmens und wobei wir diese Herzensöffnung praktizieren. Dann kommt eine Zeit, in der das unsere Hauptpraxis wird und wir stabil immer wieder diese Ge­danken, diese Meditation entwickeln können.

Die Vier Grenzenlosen werden dann zum Sprungbrett, also zu dem Tor, durch das wir in den Strom der Verwirklichung eintreten. In diesem Strom der Verwirklichung werden wir weiter den Erleuchtungsgeist, also diese vier Qualitäten freisetzen und uns immer natürlicher in Richtung Erleuchtung bewegen.

Diese vier Grenzenlosen haben in der mittleren Phase des Weges ihre Hauptbedeutung, soll­ten aber schon von Anfang an praktiziert werden, weil sie den Weg unglaublich beschleunigen. Die vier Grenzenlosen sind ein so immenser Beschleuniger des Weges, dass wir uns in der Kagyü Linie zu Beginn jeder Praxis und jeder Unterweisung an die Vier Gren­zenlosen erinnern. Jede Praxis beginnt damit.

Wenn der Geist immer wieder abschweift, weil er sich nicht sammeln lässt in der Meditation von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut, dann werden diese vier Meditationen nicht ihre volle Kraft entwickeln können. Aber sobald ich die Fähigkeit entwickelt habe, den Geist in dieser Meditation zu sammeln, dann gibt es nichts Besseres, als genau das zu meditieren.

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Im Mahayana nennen wir das Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, die Einheit von Liebe, Mitgefühl und Weisheit. Liebe und Weisheit zusammen, das ist Bodhicitta. Liebe und Mitgefühl sind mehr der relative Aspekt, das im-Dualistischen-Praktizieren, ich und du. Weisheit bringt dieses Verständnis von der Leerheit hinein, von der illusorischen Natur der Phänomene, von dem Nicht-Ich.

Das ist unsere Praxis auf dem Pfad der Bodhisattvas. Als Hauptübung praktizieren wir das Tonglen, eine Praxis, deren Grundhaltung wir jetzt mit den vier Grenzenlosen schon verstanden haben – diese Methode heißt „Geben und Annehmen“.

Ich sende Licht zu einer Person oder zu einem Wesen oder zu mehreren, und dieses helle Licht ist Ausdruck dessen, was ich anderen alles wünsche, was ihnen gut tut und ihnen zur Er­leuchtung verhilft. Ich stelle mir vor, dass wirklich Erleuchtung erlangt wird. Das ist das Schenken, das Geben.

Das Annehmen ist, alles Leid, alles Schwierige, alles Komplizierte, was in der Welt ist und was der andere erfährt, auf mich zu nehmen, ins Herz einströmen zu lassen, das Herz zu öff­nen für alles Schwierige und bereit zu sein, das zu teilen.

Da ist eben der nächste Schritt: jetzt bleiben die vier Unermesslichen nicht einfach nur ein Wunsch. Auf der Ebene der Bodhicittapraxis werden die vier Unermesslichen, die vier Gren­zenlosen, zu einer Verpflichtung. Das ist ein großer Schritt. Stellen wir uns den Unterschied vor. Wir haben vorhin die Übung mit der Person gemacht, die uns lieb war und ihr Herzens­wärme geschickt, gute Wünsche. Sich das vorzustellen und zu wünschen, ist eine Sache. Aber jetzt den Satz daran zu hängen, „und ich verpflichte mich, alles zu tun, dass es so wird“ – das ist der Unterschied. Der Bodhisattva hat sich mit dem Bodhisattva-Gelübde verpflichtet, für alle Wesen das zu tun, was zum Verwirklichen dieser Wünsche für die Erleuchtung aller Wesen beiträgt. Da merken wir schon, was das in uns auslöst. Es zu wünschen ist eine Sache, sich dann aber innerlich dazu zu verpflichten, tatsächlich auch alles zu tun, damit diese Wün­sche Wirklichkeit werden, ist noch mal ein großer weiterer Schritt. Das ist der Schritt, den man tut, wenn man bewusst jemand wird, der auf dem Bodhisattva-Weg ist, mit dem Bodhi­sattva-Gelübde.

Das Tonglen, dieses Geben und Annehmen oder Schenken und Annehmen, praktizieren wir ständig in allen Situationen, in jeder Lebenssituation. Vom Aufwachen bis wir ins Bett gehen.

Buddhaschaft als WegEs gibt eine Möglichkeit, das noch einfacher zu machen, noch mehr zu verdichten. Wir können uns vorstellen, dass es schon so ist, dass die Wünsche sich bereits erfüllt haben. Da ist zum Beispiel die Avalokiteshvara (Tschenresi)-Praxis, die Praxis auf den Buddha des erleuch­teten Mitgefühls, in der wir uns vorstellen, dass Licht ins Universum geht, alle Wesen von diesem Licht erfasst und gereinigt werden und zu Buddhas werden und wir selbst natürlich auch. Dann lassen wir das Mantra OM MANI PEME HUNG erklingen und stellen uns vor, dass dieses Mantra die Kraft ist, die unsere Herzenswünsche Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut in alle Welt trägt, alle Wesen durchdringt. Das ganze Universum beginnt damit zu schwingen. Unser eigener Geist ist völlig von dem Mantra und der Gegenwart des Bud­dhageistes durchtränkt. Wir verweilen darin.

So lange wir darin verweilen können, ist unser Geist in einem reinen Bewusstsein. Dann geht es darum, die Schranken wegfallen zu lassen, es immer natürlicher werden zu lassen und in der Praxis dieser unglaublichen Buddhavision zu verweilen.

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Das ist Vajrayana, der Unzerstörbare Weg, das Verweilen in der Sichtweise der Buddhas. Das ist ein ungeheuerlicher Beschleuniger auf dem Weg, aber lässt sich nur praktizieren, wenn wir vorher schon die Verpflichtung eingegangen sind, tatsächlich auch zum Wohle anderer zu handeln. Es ist unmöglich, diese Vision in uns freizusetzen, wenn wir es noch nicht aufgege­ben haben, andern oder uns selber schadende Handlungen auszuführen und es uns nicht zu einem tiefen Bedürfnis geworden ist, wirklich alles Heilsame zu tun.

Wenn wir tief entschlossen sind, nach Möglichkeit alles Schädliche zu unterlassen und alles Heilsame auszuführen, dann können wir Nutzen aus dieser Tschenresi Praxis ziehen, wo wir den Geist in genau Dem ruhen lassen. Der Geist des Buddhas ist der Geist, in dem es über­haupt nicht in Frage kommt, auch nur die geringste schädliche Handlung auszuführen und in dem es selbstverständlich ist, natürlich, spontan alles Heilsame zu tun.

Wenn wir uns diese Meditation aufzwingen, kommt es zu einer großen Spannung zwischen meinem Jetzt-noch-so-verhaftet-Sein und dieser immens weiten Vision von Tschenresi und daraus können sich Schwierigkeiten auf dem spirituellen Weg ergeben. Deswegen ist es besser, die vier Grenzenlosen schrittweise zu praktizieren und sich in die stille Meditation hineinzufinden und sich dann in die Tschenresi Meditation hineinzutasten, aber ohne von sich selbst zu erwarten, darin schon völlig aufgehen zu können. Wenn wir das von uns erwarten, dann legen wir die Latte so hoch an, dass die meisten von uns daran scheitern werden.

Ich selbst habe längere Zeit der Vorbereitung mit stiller Praxis gebraucht, um ins Tonglen hin­einzufinden. Manche können direkt hineinspringen und fühlen sich total wohl, aber andere brauchen vielleicht, so wie ich auch, lange Vorbereitung, bis sie sich darin wohl fühlen können.

Ich habe Ihnen jetzt den ganzen Weg von den Anfängen aufgezeigt, die verschiedenen Metho­den, die Ihnen zur Verfügung stehen und ich schlage vor, dass wir jetzt noch einmal ein wenig meditieren und dann ist Zeit für Fragen und Antworten. Ich nehme an, die Ausführungen haben sicherlich ein paar Fragen aufgeworfen. Nur Mut! Ich werde versuchen, darauf einzugehen.

Fragen Frage: Du hast aus dem Pali Kanon vorgelesen, dass Buddha gesagt hat, der Mönch solle diese vier Dinge in jede Richtung... und auch gewandt an die anderen und an sich selbst, in der Reihenfolge, also die anderen zuerst und dann man selbst. Ich frage mich, ob das nicht auch eine Bedeutung hat und wenn ja, wie ist das zu vereinbaren, wenn uns gesagt wird von vielen oder allen Meistern und du sagst uns, man soll mit sich selber anfangen. Zu allen wie zu sich selbst. Zu sich selbst wie zu allen.

Ist die Reihenfolge egal?Probier es aus! Fang bei den anderen an und mach dann bei dir selbst weiter, wie du es möch­test! Solange du nicht stecken bleibst, ist alles in Ordnung. Es geht nur darum, nicht stecken zu bleiben.

Ich finde es immer schwierig, dass es nicht zu theoretisch wird.... Vom Prinzip her allen was Gutes wünschen und mir selbst auch, okay, aber wie kann ich das praktischer machen?Mach doch mal eine Liste von den Menschen, bei denen du das gerne praktizieren würdest und leg sie neben deinen Meditationsplatz. Mach deine gewöhnliche Meditation und nimm ab und zu die Liste vor. Einfach nur einen Blick darauf zu werfen reicht vielleicht schon. Mach es konkret, nimm dir das, was ich zu Anfang gesagt habe, ganz praktisch vor. Die wichtigsten Menschen in deinem Leben und dann die noch hinzukommenden, die plötzlich wichtig

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werden. Wenn wir uns denen zuwenden und auch nur ein bisschen den Ärger entschärfen können, ist schon so viel gewonnen.

Du meinst, dadurch dass ich eine konkrete Person habe, finde ich auch was Konkretes?Wenn du es konkret machst, dann wird deine Praxis jede Menge Brennstoff haben. Uns allge­mein und abstrakt vorstellen allen Wesen Liebe zu schicken, das können wir sofort machen. Wir könnten uns jetzt hier hinsetzen und allen Wesen Liebe schicken und wir würden uns so gut fühlen! Und so beglückt nach Hause gehen, was haben wir nicht Gutes für die Welt getan!

Aber wir haben uns nicht geändert. Wir haben einen Moment gute heilsame Gedanken gehabt, aber wir haben uns nicht fundamental geändert. Wenn du imstande bist, demjenigen gegen­über, der dich heute geärgert hat, heilsame Gedanken hervorzubringen, dann ändert sich was! Da geht’s ans Eingemachte.

Daran entzündet sich auch der ganze Verständnisprozess: Wenn ich dem jetzt Gutes wünsche, heißt das, dass ich dann nicht mehr sauer sein kann auf ihn? Heißt das, dass ich ihm zu­stimmen muss? Viele Fragen! Und dann muss ich plötzlich antworten, das wird sehr konkret. Das ist genau, was Weisheit ausmacht. Ein weiser Mensch ist ein Mensch, der sich an ganz vielen konkreten Situationen geschult hat, der nicht ins Abstrakte geflogen ist, sondern der mit konkret schwierigen Situationen gearbeitet hat.

Deswegen einfach die Liste und der Rest kommt dann von selbst, dann gehst du einfach mal in deinen Gedanken diese Namen durch und denkst an diese Menschen und der Rest kommt dann schon.

Frage: In meiner Praxis war das nicht immer nur hilfreich, dieser Wunsch, den Anhaftungen nicht mehr zu folgen und etwas nicht mehr abzulehnen. Es war wie eine Spaltung in mir. Ich habe in meiner Praxis und auch in meiner Arbeit mit Menschen erfahren können, dass ich das nicht gebraucht habe. Es reicht das Erforschen einer Anhaftung, zu sehen, wie ich vollen Herzens zustimme. Wenn ich wirklich freundlich mitbekomme, was geschieht, dann finde ich zu einer gleichmütigen Akzeptanz. Ich möchte diesen Gleichmut, der auf dem Boden einer Sammlung in meinem Wesen entsteht.Ich stimme dem voll bei, was du sagst und bitte mach das so weiter ... Alles was hilft, selbst erst mal den Ärger anzunehmen und zu verstehen, wie er entsteht, auch die Qualitäten des Ab­lehnens erst mal zu spüren und nicht Ablehnung an sich für etwas Schlimmes zu halten! Ab­lehnung ist nur eine Form der Reaktion. Da ist etwas Gesundes drin. Wie kann ich das beibe­halten – das ist eine der Fragen, die dann auftauchen – wie kann ich das Gesunde in diesem Sich-Abgrenzen beibehalten, wenn ich mich der Liebe und dem Mitgefühl öffne?

Das ist dann die Weisheit. Das heißt, ich beginne zu verstehen, dass Liebe und Mitgefühl durchaus auch etwas damit zu tun haben, mich selbst mit meinem Ärger anzunehmen, auch damit, Grenzen ziehen zu können – Viele Dinge werden klar! Bitte mach da weiter.

Alles was ihr an wertvollen Erfahrungen, Einsichten im Leben schon gewonnen habt, bitte werft sie nicht über Bord. Das wäre ein Missverstehen – Ich habe die Dinge so kondensiert heute dargestellt, dass viele subtile Punkte nicht angesprochen werden konnten.

Der wichtigste Rat an jemanden, der sich auf den Dharmaweg begibt, ist: alles, was mir bis jetzt gut getan hat und alles, was ich bis jetzt erkannt habe, bleibt an Bord. Dann gucken wir uns das noch mal an im Lichte des Dharma, aber wir tun nicht so, als ob wir nichts gelernt hätten in der Welt. Wir kommen ja nicht unbeleckt in die Begegnung mit dem Dharma, mit dem Buddhismus. Wir sollten alles Hilfreiche beibehalten. Deswegen auch: alles, was wir in Psychotherapie, in der Psychologie, im Austausch mit Freunden, mit Verwandten und Gelieb­ten usw. gelernt haben, das ist unser Schatz! Nur ja nicht über Bord werfen. Auch nicht unnö­tig in Frage stellen. Ich stehe zu dem, was ich bis jetzt schon verstanden habe. Wie kann das

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mit dem, was ich jetzt gerade höre, zusammengehen? Auch nicht denken, die buddhistischen Lehrer wären dumm! Sie sind nicht dumm und auch nicht unreflektiert und undifferenziert. Nur kommt manchmal in der Gedrängtheit der Darstellung das Differenzierte nicht zum vollen Ausdruck. Da kann man nachfragen, wie du das jetzt gemacht hast.

Frage: Als das mit den Fragen kam, dass diese Fragen auftauchen, was mach ich denn in einer konkreten Alltagssituation? Also – wenn ich mich am Arbeitsplatz über eine Person ärgere, dann tauchen genau dieselben Fragen auf, die in der Meditation auftauchen – kann ich denn dieser Person gegenüber, wenn ich ganz klar Ablehnung empfinde, kann ich da ein Nein sagen? – Vielleicht kommen die Antworten ja, ich weiß es nicht.Manchmal kommen sie, manchmal kommen sie auch nicht, manchmal fallen wir voll wieder in die alten Mustern und manchmal gibt es die Möglichkeit, vielleicht einfach innezuhalten. Der erste Ratschlag normalerweise wäre: Atme einmal tief durch. Durchatmen und statt zu reagieren, vielleicht erst einmal auf die Toilette gehen oder innehalten. In diesem Innehalten hat die natürliche Weisheit eine Chance. Wenn du nicht sofort reagierst, dann haben andere Kräfte in dir eine Chance, die Reaktion etwas abzumildern oder die Worte etwas geschickter zu wählen, oder auch mal nichts zu sagen, oder vielleicht auch mal etwas intensiver zu sagen, dich klarer auszudrücken. Diese inneren Weisheitskräfte kommen zum Tragen, wenn du ein bisschen innehalten kannst. Dieses Innehalten-Können lernen wir durch die Meditation.

Ich habe lange gebraucht, bis ich es einer Person gegenüber, die mich sehr nervte, zum ersten Mal schaffte, auf den Atem zu meditieren, während diese Person mich anmachte. Aber als es dann soweit war, dass diese Fähigkeit da war – zwar hörte ich alles und verstand alles, was gesagt wurde, aber einfach mal zu atmen – da plötzlich, in diesem Abstand, da gab es dann die Möglichkeit, etwas anders zu reagieren als sonst und damit konnte die Situation dann all­mählich entschärft werden.

Aber ohne sitzende Praxis werden wir nicht sehr weit kommen. Wir müssen diese Fähigkeiten schulen. Auf dem Sitzkissen oder im Sessel, wie auch immer, jedenfalls müssen wir diese Fä­higkeiten in Momenten der Stille und auch innerlich schulen: Z.B mit deiner Kollegin, die Si­tuation kehrt ja immer wieder, da kannst du dich darauf vorbereiten! Du kannst dich auf sol­che Situationen einstellen im Vorhinein! Da bist du dann schon etwas besser gewappnet, wenn es dann so kommt.

Frage: Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist gefärbt. Wenn ich auf meinen Erfahrungs­schatz zurückgreife, bin ich im Zwiespalt. Hier Dharma, Mitgefühl und hier der Erfahrungs­schatz.Okay. Ich meinte nicht nur den Erfahrungsschatz, sondern den Schatz an Erkenntnis, den wir schon aus unserem Leben gewonnen haben. Du guckst dein Leben an und sagst, verflixt noch mal, jetzt bin ich schon 50, 60 Jahre alt und stecke immer noch in allen möglichen Schwierig­keiten fest. Irgendwas in meinem Leben läuft nicht rund. Da sind Muster, die mir immer wieder Leid verursachen. Das ist der Schatz der Lebenserfahrung und das ist auch die Weis­heit zu wissen, dass du noch nicht das volle Glück erlangt hast, von dem der Buddha spricht.

Mir diesem Wissen und mit dieser Lebenserfahrung schaust du dir dein Verhalten an und deine Denkmuster und arbeitest dann daran. Aber das ist toll, was du alles erfahren hast! Es ist reiches Material, mit dem du arbeiten kannst. Wenn ich über die Schwierigkeit spreche, sich mit jemandem auszutauschen, da kannst du gleich tausend Beispiele aufzählen, weil du schon gelebt hast. Das ist ein Schatz. Jedes Mal hast du etwas gemerkt: wenn ich mich so verhalte, wird’s immer noch schlimmer, wenn ich mich so verhalte, geht’s vielleicht besser. Dieser Schatz, von dem spreche ich.

Der Dharma öffnet uns neue Möglichkeiten, mit den altvertrauten Situationen umzugehen. Zum Beispiel die Möglichkeit, im Stillen daran zu arbeiten und dann – ein bisschen von dem

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wird ja übrig bleiben in meinem Geist – das in die Situation hinein zu nehmen, in der ich diesem Menschen wieder begegnen werde. Da wird etwas weiterschwingen. Wenn man in­tensiv Wünsche für jemanden gemacht hat, das schwingt mit in uns, wenn wir dieser Person zum nächsten Mal begegnen. Da können dann auch die Fehler der Praxis zum Vorschein kommen, zum Beispiel denken wir: Jetzt habe ich dem doch so viel Gutes gewünscht, warum geht’s dem nicht besser? Oder: jetzt habe ich so viel Gutes gewünscht, jetzt ist diese Person immer noch nicht nett zu mir! Merkt die denn nichts? Das hilft mir, meine Praxis weiter zu befreien von all diesen naiven Erwartungen und Hoffnungen, die sich an die Praxis heften! Das gehört mit zur Praxis.

Haben bei dieser Praxis die eigenen Eltern und vielleicht die Partner in einer Beziehung eine besondere Stellung?Ja, die eigenen Eltern haben eine ganz wichtige Stellung. Traditionell wird mit der Mutter be­gonnen und das dann auf den Vater ausgedehnt, weil wir so eine Fleisch und Blut-Beziehung zur Mutter haben und sie uns in der Gebärmutter getragen hat.

Tibetische Lehrer sagen oft, dass man diese Praxis des Gebens und Annehmens mit der Mut­ter beginnt, aber heute unterrichten wir den Dharma etwas anders. Wir sagen, man sollte be­ginnen mit der Person, bei der es zunächst am leichtesten geht und bei der die größte Dank­barkeit zu spüren ist. Erstmal müssen wir mit der Praxis in Fluss kommen. Früher dachte man, dass das mit der Mutter am einfachsten wäre. Was bis heute bleibt, ist, dass man auf dem spi­rituellen Weg keine großen Fortschritte machen kann, wenn man mit den eigenen Eltern nicht innerlich ins Reine kommt. Das heißt nicht, dass man äußerlich mit ihnen ins Reine kommen muss. Das ist ja schließlich nicht nur von mir abhängig, sondern auch vom anderen. Das kann lange dauern.

Jetzt ist unser Lebenspartner im Grunde genommen unsere Praxis Nummer eins. Wir kennen unseren Lebenspartner noch nicht so lange, wie wir unsere Eltern kennen. Aber die Intensität der Beziehung drückt alle unsere Knöpfe! Deswegen ist es ganz wichtig, immer wieder diese vier Qualitäten im Hinblick auf unseren Lebenspartner freizusetzen. Ganz wichtig! Und dann auch im Hinblick auf unsere Kinder. Und auch auf frühere Lebenspartner und -Partnerinnen, denn wir können auch keine großen Fortschritte auf unserem spirituellen Weg machen, wenn wir noch blockiert sind Menschen gegenüber, die wir früher mal sehr geliebt haben und die uns auch mal sehr geliebt haben. Wenn das abgerutscht ist in eine Ablehnung und wir da drin feststecken – ohne dass wir es merken – so schließt das unser Herz. Unser Herz bleibt wichtigen Menschen gegenüber verschlossen und das wirkt sich als eine Blockade in der Me­ditation aus, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Auch Geschwistern gegenüber sollten wir diese vier Geisteshaltungen entwickeln – da war ja manchmal Neid, Eifersucht, Rivalität, da waren vielleicht Abhängigkeiten oder Abneigungen, es gibt jede Menge Vermischungen von Gefühlen gegenüber den Geschwistern – dass wir auch damit ins Reine kommen.

Wenn wir viel meditieren, brauchen wir gar nicht die Menschen rauszusuchen, mit denen wir arbeiten. Sie werden von selbst in unserem Bewusstsein auftauchen. Es wird Momente geben, in denen Erinnerungen und Eindrücke aus dem Alltag auftauchen. Wenn wir einfach nur mit dem arbeiten, was spontan in unserer Meditation auftaucht und das nicht beiseite schieben, dann räumen wir allmählich all unsere Beziehungen auf. Da brauchen wir nicht noch extra zu suchen. Wenn etwas nicht auftaucht, wenn wir entspannt meditieren, dann ist es unwahr­scheinlich, dass es eine Blockade darstellt. Blockaden tauchen als Gedanken auf. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das ins Bewusstsein kommt und dann ist auch der richtige Zeitpunkt, um damit zu arbeiten.

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Für diejenigen, die wenig meditieren, ist es gut, sich solch eine Liste zu machen. Dann lenken wir den Geist bewusst auf eine Arbeit. Meist kommt erst das ganze Alltagsgerümpel im Geist hoch und dann braucht es oft lange, bis wir zum Wesentlichen kommen. Wenn wir das ein bisschen beschleunigen, könnte es recht hilfreich sein.

Eine Frage zum Tonglen: die Fähigkeit das Licht auszustrahlen – längere Praxis der stillen Meditation als Übung vorher, oder – die Fähigkeit zu strahlen oder die Fähigkeit umzu­wandeln – manchmal ist es schwierig, manchmal ist da so viel Dunkel, da ist kein Licht mehr drin umzuwandeln.Beides ist richtig. In der traditionellen Tonglen Praxis machen wir zunächst immer eine stille Phase, das Beobachten von 21 Atemzyklen. Mindestens das. Vorher auch noch Gebete zum Lama oder zum Buddha, der mit uns verschmilzt. Zur Frage: Wo kommt denn all das Licht her? Es kommt nicht aus dem Ich. Und es kommt doch aus dem Ich!

Es kommt nicht aus dem Ich, weil es eigentlich aus der Buddhanatur kommt. Um Tonglen praktizieren zu können, dieses Geben und Annehmen, müssen wir schon einen gewissen Be­zug zu unserer Buddhanatur hergestellt haben. Diesen Bezug stellen wir anfangs der Praxis dadurch her, dass wir durch die Gebete zu einem Buddha Kontakt aufnehmen und dieser Lama oder Buddha in uns verschmilzt und sich im Herzen auflöst. Dadurch ist die Beziehung zum eigenen Herzensbuddha hergestellt. Aber das sind wir. Unser eigentliches Sein, unser eigentliches Ich ist all das und wir müssen diese Praxis auch im Bewusstsein unserer menschlichen Beschränktheit machen! Die Tonglen Praxis entwickelt nur dann ihre volle Kraft, wenn wir sie auch unsere Unfähigkeit berühren lassen, unsere Grenzen, Gutes zu wün­schen und Licht zu verströmen. Wenn wir uns eine Praxis angewöhnen, bei der es immer schön aus dem Herzen strömt und wir uns sagen: Das bin ich eigentlich gar nicht, das ist meine Buddhanatur! Dann kann es auch sein, dass das nicht so stark transformierend wirkt, wie es eigentlich sein sollte.

Es gilt, ein Zwischenmaß zu finden, mit der eigenen Beschränktheit in Berührung sein und da die Grenzen etwas dehnen und zugleich aber auch im vollen Vertrauen sein, dass wahre Hei­lung nie aus dem Ich heraus passieren kann, sondern aus der Buddhanatur kommt. Wahre Heilung kommt aus den tiefsten Schichten unseres Seins, um es einmal mit anderen Worten auszudrücken, darf aber nicht die oberflächlichen Schichten unseres Seins einfach vernach­lässigen oder zur Seite schieben. Alle Schichten unseres Seins müssen in Schwingung geraten und von dieser Liebe und diesem Mitgefühl durchdrungen werden. Also auch meine Ängste und mein Stolz und alles weitere, das muss alles davon berührt werden.

Ist das eine Praxis, wo man einfach loslegen kann? Ich habe viel Zen gemacht und tibetischen Buddhismus kenne ich fast gar nicht. Muss ich erst die vorbereitenden Übungen machen?Nein, das brauchst du nicht. Du kannst anfangen aus der stillen Praxis heraus, die du offenbar schon länger machst, diese vier Grenzenlosen freizusetzen. Du brauchst nicht die vorberei­tenden Übungen, die Niederwerfungen usw., zu machen. Wichtig ist, dass du dich zu Beginn der Praxis vertrauensvoll an den Buddha oder an alle Erleuchteten wendest und um Führung bei der Praxis bittest. Und zum Schluss der Praxis ist es wichtig, dass du alles Heilsame, alles Gute, das entstanden ist, tatsächlich auch allen Wesen widmest.

Ende des Vortrags

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Unterweisungen im Viertages-Kurs

Lasst uns noch einmal die vier grenzenlosen Geisteshaltungen definieren und abgrenzen. Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Alle vier sind erleuchtete Geisteshaltungen, also die Geisteshaltung eines verwirklichten Meisters wie Buddha Shakyamuni. Das sollten wir immer im Bewusstsein halten. Es handelt sich nicht um unsere Vision dieser vier Geisteshaltungen, sondern wir versuchen hinein zu spüren, wie das wohl im Geiste eines Buddhas aussehen könnte, wie sich das anfühlen könnte.

LiebeLiebe ist der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sein mögen und die Ursachen des Glücks besitzen. Das ist die Definition von Liebe, ganz anders als was wir normalerweise so spontan sagen würden: das ist ein inniges einander zugetan Sein oder ein sich ganz für den anderen Hingeben. Wir würden sicherlich andere Formulierungen finden, wenn es darum ginge, selber eine Definition zu finden.

Da ist der Wunsch, dass der andere glücklich sein möge und dieser Wunsch besteht natürlich nach einem Glück, das beständig ist! Nicht nur vorübergehend glücklich sein, sondern so be­ständig wie möglich glücklich sein und dafür braucht es die Ursachen des Glücks. Es braucht etwas, das immer wieder bewirkt, dass wir in die Offenheit, die Entspannung des Geistes finden, die wir Glück nennen.

Liebe ist diese Hinwendung, dass hier in dem Fall alle Wesen glücklich sein mögen. Das ist schon der zweite Faktor, der anders ist als das, was wir normale Liebe nennen. Es geht hier nicht um die Liebe zu einer Person und andere Wesen werden weniger geliebt. Sondern es geht um eine völlige Intensität der Liebe, aber auf alle Wesen ausgerichtet, ohne Unterschied. Nur dadurch wird diese Liebe zu einer grenzenlosen Qualität. Diese Liebe ist grenzenlos, weil sie das grenzenlose Glück zum Ziel hat. Sie ist grenzenlos, weil sie alle Lebewesen ohne Ein­schränkungen beinhaltet und sie ist grenzenlos, weil ihrer Intensität keine Schranken mehr gesetzt sind – wir halten uns nicht zurück in der Herzensöffnung. Die Herzensöffnung selbst wird grenzenlos. Sie überschreitet dann auch die Grenzen des Ich und Du, der Dualität.

Wir haben gestern im Vortrag gesehen, dass es zunächst die Ebene des Wunsches gibt, das ist die innere Haltung der Liebe und dann gibt es die Möglichkeit, noch einen Schritt weiter zu gehen und sich dazu zu verpflichten, tatsächlich auch alles zu tun, was es braucht, damit alle Wesen so glücklich sein können. Das beinhaltet die innere Verpflichtung, selbst Erleuchtung zu erlangen, um allen Wesen mit allen Mitteln helfen zu können, dieses Glück, diese Erleuch­tung auch in ihrem Geist freizusetzen. Das ist ein unglaublicher weiterer Schritt.

Wir bleiben jetzt bei dem Kurs vorwiegend auf der Ebene des Wunsches. Wir wollen vor­wiegend auf dieser Ebene praktizieren, weil das realistischer ist. Wenn wir den Wunsch tief entwickelt haben, dann kommt allmählich auch die Bereitschaft, alles zu tun, um diesen Wunsch umzusetzen. Das ist mit Liebe gemeint, maitri auf Sanskrit, metta auf Pali, der Wunsch, dass Wesen glücklich sein mögen.

MitgefühlMitgefühl ist auch kein sentimentales Mitgefühl (wie auch die Liebe keine sentimentale Liebe ist), sondern der Wunsch, dass alle Wesen frei von Leid sein mögen. Das ist einfach nur das Gegenstück zu dem, dass alle Wesen glücklich sein mögen.

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Man kann Glück definieren, wenn man möchte, als das Nicht-Vorhandensein von Leid, das, was dann natürlicherweise da ist. Das wird auch mahasukha, das große Glück, genannt, die große Freude, die einfach die Abwesenheit von allen beengenden Geisteszuständen ist. Be­engende, enge Geisteszustände sind Leid. Wenn es keine engen Geisteszustände mehr gibt, die den Geist an seiner Spontaneität hindern, dann ist Freude da, wirkliches Glück.

Mitgefühl, karuna auf Sanskrit und Pali, ist das tiefe Verständnis dessen, was eigentlich Leid ist und der Wunsch, dass die Wesen von all diesen Formen des Leides befreit sein mögen.

Da ist zunächst das äußere Leid. Dazu gehört, dass wir allen Wesen wünschen, dass sie frei von Krankheiten sind, dass sie keine Probleme haben, dass sie keine Schwierigkeiten haben, – aber das ist nur die erste Form von Leid.

Wir wünschen ihnen auch, dass sie frei von den Ursachen des Leides sein mögen und wir wissen, dass Leid seine Ursachen im Haften hat, im Haften am Angenehmen.

Ich sehe jemanden, der über beide Ohren verliebt ist: dieser Mensch hat nicht das Gefühl, im Leiden zu stecken, er ist total glücklich. Aber ich weiß, wenn dieses Verliebtsein enttäuscht wird, dann ist das Leid ist. Denn es ist nicht einfach nur Liebe, sondern es ist das Verliebtsein, mit dem ganzen Habenwollen, dem ganzen Haften an der wunderbaren Erfahrung der Offen­heit, die wir mit dem andern Menschen teilen. Verliebtsein bedeutet, dass ich so daran hafte, dass es zum Einzigen wird.

Der Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe ist: Liebe hat die Tendenz, auszustrahlen auf alle Wesen. Wenn ein Paar sich liebt, werden alle anderen, die dazu kommen, zum Bei­spiel in das Haus dieses Paar, von dieser Liebe erfasst. Sie können darin eintauchen, darin baden, weil da etwas ist, das ausstrahlt von der Liebe, die in dieser Familie, bei diesem Paar herrscht. Verliebtsein hat hingegen etwas Exklusives. Ich und der andere, wir beide. Bevor das ausstrahlt, gibt es eine starke Phase, wo ich erst einmal – ich für mich – etwas haben möchte, Erfahrungen machen will. Beim anderen kann es genauso sein. Es ist eine Form von engem Geist. Das ist noch nicht der völlig freie, weite Geist. Da waren Erfahrungen zu Anfang der Verliebtheit, die ganz weit und offen waren, aber dann hat das Greifen angefangen und das führt zur ausgrenzenden Verliebtheit.

Darum weiß ich, wenn ich jemandem begegne, der in dieser Phase des Verliebtseins ist: auf­gepasst! Da sind Ursachen des Leides. Aufgrund der angenehmen, der wunderschönen Erfah­rungen, die gemacht wurden, besteht die Möglichkeit, dass großes Leid entsteht, wenn die Vergänglichkeit zuschlägt. Wenn der Wandel des Lebens sich zeigt, kann es sein, dass Ent­täuschung kommt. Dann kann es sein, dass sogar Wut und Ärger auftauchen, weil es nicht mehr so verheißungsvoll ist wie am Anfang.

Wir wünschen allen Wesen, dass sie auch von diesen Formen des Leides frei sein mögen, dem Haften an angenehmen Geisteszuständen oder ähnlichen Erfahrungen. Das ist die zweite Form von Leid. Diese Form von Leid ist das Leid, das durch den Wandel entsteht: das Haften an angenehmen Erfahrungen, die dem Wandel unterworfen sind und dann das Leid, das aus dem Nicht-Akzeptieren-Können der Vergänglichkeit entsteht. Wir wünschen, dass alle Wesen auch davon frei sein mögen.

Dann wünschen wir, dass alle Wesen auch von der dritten Form des Leides frei sein mögen: von dem Leid, das einfach daraus entsteht, dass wir in Ich und Du denken, der Dualität. So­lange ich denke: Ich bin und der andere ist, bin ich in einem beengten Geisteszustand. Das können wir manchmal spüren. So mancher von uns kennt Momente, in denen wir uns gerne völlig loslassen würden, in dem wir die Trennung zwischen Ich und Du gerne einfach weg­schmelzen lassen würden. Wenn wir da nur aussteigen könnten aus dieser Trennung, der Ab­grenzung von mir und meiner geliebten Freundin oder Frau oder meinem Mann oder Kind. Es gibt Momente in unserem Leben, in denen wir das spüren. Wir wünschen uns, dass wir ganz

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loslassen könnten. In diesen Momenten sind wir uns bewusst, dass es noch eine Schranke gibt, dass es noch eine Enge in unserem Geist gibt, die wir nicht mit dem Willen hinter uns lassen können. Diese Schranke, diese Trennung, die wir da noch erleben, das ist die dritte Form von Leid. Das ist das Leid, das Beengtsein, das durch die Dualität entsteht.

Wenn wir wünschen, dass alle Wesen frei von Leid sein mögen, dann wünschen wir ihnen, dass sie frei von diesen drei Ebenen oder Schichten von Leid sein mögen, nicht nur vom of­fensichtlichen Leid.

Das ist ein Mitgefühl, das weit über das hinausgeht, was wir normalerweise Mitleid nennen würden. Das ist ein Fühlenkönnen auch der feinsten Beengungen des Geistes und es ist ein Sich-darauf-Einlassen zu spüren, wie es sein könnte, wenn alle von diesem Leid frei wären.

FreudeFreude ist auch nicht so definiert, wie wir das vielleicht spontan definieren würden. Es ist die Freude am Heilsamen, die Freude, die durch das Heilsame entsteht. Heilsam ist alles, was wirklich gut tut. Das bedeutet, alles was zu offenen, weiten, nicht haftenden, nicht leidvollen Geisteszuständen beiträgt.

Das ist nicht die Freude, die dadurch entsteht, wenn ich gelobt werde oder wenn ich ein Ge­schenk bekomme, oder, oder... Zum Beispiel eher als die Freude, geliebt zu werden, ist es die Freude zu lieben. Eher als die Freude, etwas geschenkt zu bekommen, ist es die Freude zu schenken oder mich an dem Schenken zu erfreuen. Jemand schenkt mir etwas, ich kann das voll annehmen, aber die Freude, die ein Dharmapraktizierender in dem Moment erlebt, ist vor allen Dingen die Freude vor, dass der andere wirklich großzügig sein konnte. Das ist gar nicht so sehr die Freude, etwas erhalten zu haben. Es ist die Freude, dass so viel Großzügigkeit im Raum ist, so viel Freigebigkeit.

Wenn ich geliebt werde, dann ist das mehr die Freude daran, dass so viel Liebe da ist, nicht dass ich Objekt oder Ziel von Liebe bin. Es ist die Freude daran, dass ein Mensch oder viele Menschen lieben können, dass diese Qualitäten da sind. Die Freude an den Qualitäten, das ist die Freude, von der wir sprechen. Sobald wir Qualitäten wahrnehmen und wahrnehmen, dass jemand glücklich ist, entsteht diese Freude.

Da war kürzlich das große Unglück mit dem Seebeben, bei dem zigtausende Menschen umge­kommen sind und da könnte man sehr traurig sein. Aber dieses Traurigsein ist nicht das Mit­gefühl, von dem der Buddha spricht. Das Mitgefühl, das der Buddha meint, liegt im Bewusst­sein der Vergänglichkeit, im Bewusstsein, dass uns immer wieder Bedingungen überraschen, die Leben auslöschen. Wir fühlen uns hinein in die Umstände, und wir können spüren, wie sich die Familien fühlen, wie sich die Verstorbenen eventuell im Zwischenzustand fühlen, so plötzlich aus dem Leben herausgerissen zu sein, wir können das spüren und wir können uns gleichzeitig daran freuen, dass so viel spontane Hilfe geleistet wird, dass so viele Menschen und Regierungen spontan zu Großzügigkeit, zu Freigebigkeit bereit sind.

Weises Mitgefühl, weise Freude, weise Liebe werden nicht von den Unwägbarkeiten des Lebens überrascht, weil sie eben weise sind. Weise bedeutet, darum zu wissen, wie das Leben ist. Seebeben hat es schon immer gegeben. Erdbeben hat es schon immer gegeben. Naturkata­strophen hat es schon immer gegeben und wird es immer geben. Das weiß ein weiser Mensch, der ein bisschen Lebenserfahrung hat und der ein bisschen bewandert ist. Wir machen uns da nichts vor.

Wir machen uns auch nicht vor, bloß weil wir Liebe, Mitgefühl und Freude praktizieren, dass die Welt dadurch entscheidend besser wird. Sie wird ein bisschen besser, vor allem in un­

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serem Geist! Ja, da ändert sich etwas im Geist dessen, der Liebe und Mitgefühl praktiziert und zwar etwas Entscheidendes. Aber wir sind nicht so naiv zu glauben, dass wir die Welt gesund beten könnten. Das wäre nicht weise. Wenn das der Fall wäre, müsste man annehmen, dass die Buddhas nicht genug gebetet hätten. Aber daran scheint es nicht zu mangeln. Die Gebete, die Wünsche sind unaufhörlich da. Es braucht aber auch die Ursachen des Glücks. Es braucht die Ursachen der Leidfreiheit, und die muss jeder selbst freisetzen.

Bei der Freude geht es um die leidfreie Freude. Wir freuen uns an allem, bei dem wir spüren, das es zu weniger Leid in der Welt, zu mehr Glück in der Welt führt. Und wir freuen uns vor allen Dingen daran, wenn die Bedingungen geschaffen werden, dass Wesen in die Nondualität eintreten können – weil das die wirkliche Befreiung ist. Und schließlich leben wir in der Freu­de frei von Leid.

GleichmutGleichmut – ich sagte das gestern schon – ist das Verweilen frei von Anhaftung und Abnei­gung. Bei nah und fern – das heißt, bei denen, die uns nah, lieb sind und bei denen, die uns fern sind, weil wir sie nicht kennen oder weil wir sie gar nicht in unserer Nähe haben wollen.

Gleichmut, können wir sagen, ist hier synonym mit Weisheit. Ein weiser Mensch würde im Buddhismus, im Dharma, immer auch als gleichmütig definiert werden. Ein weiser Mensch, der nicht gleichmütig ist, dem fehlt dann irgendwo die Weisheit. Es ist schwer sich vorzu­stellen, dass ein weiser Mensch nicht gleichmütig wäre. Dass ein Buddha nicht gleichmütig wäre? Das können wir uns nicht vorstellen. Also Gleichmut und Weisheit gehen miteinander. Was Gleichmut ausmacht, ist tiefe Seinserkenntnis.

Vorhin haben wir ein bisschen geübt, der Vergänglichkeit gewahr zu sein. Wenn ich in Be­rührung bin mit der Vergänglichkeit, dann wird mein Geist davor bewahrt, an etwas Angenehmen anzuhaften.

Ich bin z.B. in einem wunderschönen Austausch mit einem geliebten Menschen, aber auf­grund der Weisheit, die ich kultiviert habe, bin ich, während der Austausch stattfindet, auch damit in Berührung, dass dieser Austausch ein Ende haben wird. Ich bin dann nicht überrascht und lehne mich nicht dagegen auf, wenn es so weit ist, dass man sich Tschüss sagen muss und das Leben geht anders weiter.

Wenn ich hafte und nicht akzeptieren kann, dass die Dinge sich ändern oder ein Ende haben, dann werde ich versuchen einen solchen Zustand auszudehnen, werde mich dagegen aufbäu­men und werde traurig sein im Abschied – so viel unnötige Anspannung im Geist. So viel un­nötiges Leid, einfach deshalb, weil ich nicht loslassen kann, weil ich nicht im Einklang damit lebe, wie die Dinge naturgemäß sind. Das heißt nicht, dass ich die Situation im Geringsten weniger schätze. Ich würde sogar behaupten, dass jemand, der in Berührung mit der Vergäng­lichkeit ist, eine Situation viel besser schätzen kann, viel umfassender wahrnimmt, weil er nicht bestimmte Bereiche der Wirklichkeit ausklammern muss.

Das bedeutet zum Beispiel, dass der Tod nicht ausgeklammert zu werden braucht. Ich lebe in einer Beziehung, ich fühle mich wohl, brauche den Tod aber nicht auszuklammern. Ich weiß, wenn ich morgens sage: „Tschüss, schönen Tag bei der Arbeit!“ dass es das letzte Mal sein kann, dass auf dem Weg zur Arbeit ein tödlicher Unfall stattfinden kann, oder dass ein Aneu­rysma platzen kann, das wir noch gar nicht entdeckt haben – oder, oder, oder, es gibt viele Möglichkeiten...

In diesem Bewusstsein der Vergänglichkeit zu leben, bedeutet, dass Weisheit Einzug hält und dass wir gleichmütiger werden ohne diese starken Reaktionen von Anhaften und Ablehnen.

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Es reicht aber nicht aus, nur der Vergänglichkeit bewusst zu sein. Der Buddha hat drei Merk­male genannt, derer wir uns bewusst sein müssen, damit diese vier Qualitäten grenzenlos werden. Das sind die drei berühmten Siegel buddhistischer Praxis: Vergänglichkeit, Leidhaf­tigkeit und Nicht-Ich.

Über Vergänglichkeit, Anitya, das Nicht-Beständige, haben wir schon gesprochen. Über das Bewusstsein der verschiedenen Ebenen des Leides, haben wir auch schon gesprochen. Das Bewusstsein des Nicht-Ich, ist dasselbe, was auch mit Leerheit gemeint ist. Anitya bedeutet Vergänglichkeit, Dukkha ist Leidhaftigkeit oder unbefriedigendes Sein und Anatta oder Anat­man ist Nicht-Ich. Atman bedeutet Seele in Pali oder im indischen Wortgebrauch. Anatman bedeutet, dass es keine bleibende Seele gibt. Der Buddha hat entdeckt, dass es in diesem Fluss des Lebens, im Fluss der Existenzen, keinen bleibenden Wesenskern gibt, etwas das für immer als ein Atman bleibt. Das wird die Lehre vom Nicht-Ich genannt. Das ist etwas, das ihr jetzt nicht zu glauben braucht, aber entdecken könnt. Es ist euer eigener Weg. Viel Praxis ist notwendig, um zu der Entdeckung des Nicht-Ichs vorzustoßen.

Diese vier Qualitäten werden nur dann grenzenlos, wenn sie mit einer Erkenntnis des Nicht-Ichs verbunden sind. Bis dahin sind es begrenzte Qualitäten, begrenzt durch unsere Unwissen­heit, unser Noch-nicht-Erkennen, unsere immer noch vorhandene Ichbezogenheit. Aber es lohnt sich trotzdem, diese begrenzten Qualitäten zu kultivieren. Wir kultivieren sie in dem Be­wusstsein, dass es darum geht, dieses Ichhafte immer mehr loszulassen. Wenn wir sie in diesem Sinne kultivieren, werden sie zum Motor des Auflösens der Ichbezogenheit.

Das war noch mal eine Einführung ins Thema, eine Klärung von Begriffen, und jetzt wollen wir dann auch eine praktische Übung machen.

1. MeditationFür diese praktische Übung braucht ihr nicht in Meditationshaltung zu sitzen. Das Wichtige ist, dass ihr überhaupt nicht an euren Körper zu denken braucht, dass ihr euch so hinsetzt, dass ihr den Körper vergessen könnt und euch ganz der inneren Praxis zuwenden könnt.

Wir sind hier in diesem ersten Punkt ganz nahe auch an der christlichen Erklärung von Nächs­tenliebe. Liebe den Nächsten wie dich selbst, das ist im Buddhismus nicht anders. Das ist die fast identische Formulierung: Liebe alle wie dich selbst, heißt es in der Übersetzung. Lasst uns jetzt den ersten Schritt machen und uns selbst liebevoll annehmen. – (Stille)

Schaut mal, welche Sätze euch da in den Geist kommen. Der grundlegende Satz ist: „Mögest du glücklich sein und die Ursachen des Glückes besitzen.“ Die Anwendung desselben Satzes aus dem Gebet auf uns selbst, wäre:

„Möge ich glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen.“

Diese Formel müssen wir uns zugänglich machen. Es geht darum, Sätze zu finden, die eine wirkliche Annahme von uns selbst auslösen und mit denen wir uns zutiefst wünschen können, dieses Glück, von dem wir eben gesprochen haben, das unglaubliche Glück im Relativen und im Letztendlichen zu erfahren und die Ursachen ebenfalls. Dieses Glück ist in uns frei zu setzen. – Ihr geht einfach mit dem Geist in euch hinein. --- (Stille)

Dann sagen wir uns innerlich die Sätze, die uns am hilfreichsten erscheinen:

„Ja, du darfst glücklich sein.

Ja, ich wünsche dir zutiefst alles Glück.

Ich darf glücklich sein.

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Möge ich das Glück der Buddhaschaft erfahren.

Was für ein Glück wünsche ich mir?

Darf ich das alles erfahren?“ --- (Stille)

Manche von uns sind vielleicht nicht so konzeptuell und vielleicht geht es für sie leichter über Bilder. Wenn wir uns das über Bilder vorstellen wollen, kann ich euch eine Visualisation vor­schlagen.

Stellt euch vor, Buddha Shakyamuni sitzt über eurem Kopf oder ist vor euch im Raum. Zum Beispiel so wie auf diesem wunderschönen Kunstwerk da an der Wand. Eine Quelle von Licht und Inspiration, in seiner gelben Robe, voller Liebe und Mitgefühl, sein Gesicht voller Weis­heit und Buddha Shakyamuni verschmilzt mit uns. Er löst sich in Licht auf, verschmilzt in un­ser Herz und wir selber werden ganz erfüllt mit dieser Liebe, diesem Mitgefühl, dieser Weis­heit, diesem Leuchten für alle Wesen. Lasst uns mal diese kleine Visualisation ausführen. Nur die, die es möchten! Nur die, die sich damit im Einklang fühlen. --- (Stille)

Merkt ihr, das Ganze ist noch etwas wackelig? Das ist so wackelig, weil wir uns noch nicht wirklich darauf einlassen können, das im ganzen Ausmaß zu spüren. Da gibt es die Möglich­keit sich vorzustellen, dass der Buddha, der in uns geschmolzen ist, nicht ganz verschwunden ist, sondern wie eine Herzenskraft aktiv ist und immer wieder Licht ausgeht vom Herzen, was uns ganz füllt, den ganzen Körper. Vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, alles wird gefüllt. Selbst nach außen hin wie eine Hülle, die sich um uns bildet und die uns in Glück, in Liebe, in Weisheit hält oder badet oder wie eine Lichtsphäre, die uns umgibt. Immer wieder, wenn un­ser Geist in seine Zweifel fällt, in seine Beschränktheit, immer wieder öffnen wir uns für das Licht, das erneut ausstrahlt, unser ganzes Wesen durchdringt und uns umhüllt und umfängt und da hinein entspannen wir uns.

Das ist der Prozess des Arbeitens mit den eigenen Widerständen und der Unbeständigkeit des eigenen Geistes. Immer wieder sich selbst diese Liebe zu schenken, das Angenommensein, das völlig Getragensein. Es gibt zwei Visualisationen, das ist die erste. Probieren wir diese zu­erst.

Der Buddha, der vor uns war, verschmilzt mit uns, löst sich in Licht auf und bleibt als Herzenskraft aktiv und erfüllt unser ganzes Wesen. Vom Kopf bis Fuß und dringt nach außen – und wir sind wie eingetaucht in eine Lichtsphäre. --- (Stille)

2. MeditationMeditieren wir noch einmal in der liebevollen Annahme von uns selbst. --- (Stille)

Das ist ganz erstaunlich, merkt ihr das? Wie in dem Arbeiten mit der Liebe, mit dem Sich-Öffnen, der Geist ruhiger wird? Merkt ihr, wie die ganze Gruppe ruhiger geworden ist? Und wie die Meditation sich vertieft? Wie sich das Annehmen von anderen, obwohl wir überhaupt nicht darüber gesprochen haben, schon im Raum ausbreitet? Einfach, weil wir mehr ins Annehmen von uns selbst kommen. Das ist für mich immer wieder ein Wunder, wie stark das zur Vertiefung der Meditation beiträgt. Auch wenn es nur kleine Anfänge sind von Sich-selbst-Annehmen. Je tiefer wir das entwickeln und je tiefer wir in diese grenzenlose Geis­teshaltung hinein finden, desto ruhiger und stabiler und offener wird unsere Meditation. Und desto weniger ichbezogen sind wir in unserer Praxis.

Wollen wir es einmal wagen, jemand anders in diese Meditation hinein zu holen? Eine andere Person? Wir können es ja versuchen. Sucht euch eine Person aus, die ihr wirklich mögt. Und bei der sich auch so etwas wie Dankbarkeit spüren lässt. Dankbarkeit dafür, diesen Menschen

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kennen gelernt zu haben. Dankbarkeit für das, was ihr miteinander teilen konnten. Dank­barkeit für das, was ihr empfangen habt. So fällt es euch leicht, diesem Menschen wirklich zu wünschen, dass er glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen möge. Habt ihr alle solch einen Menschen gefunden?

Dann lasst uns jetzt in die Stille gehen. Stellt euch vor, diese Person sitzt vor euch und ihr wünscht dieser Person innerlich:

„Mögest du zutiefst glücklich sein. In jeglicher Hinsicht. Mögest du all das Glück erfahren, das du dir wünschst und auch das, das du noch gar nicht kennst, nämlich das Glück, das mit der völligen Offenheit, mit der Freiheit des Geistes einhergeht.

Möge dieses Glück beständig sein.

Mögen sich unendlich viele heilsame Geisteszustände in deinem Geist ausbreiten.

Mögest du völlig erleuchtet sein.“

Wir stellen uns vor, dass diese Person sich öffnet, sich öffnen kann für diese Liebe und in diese Offenheit, in dieses Glück hinein findet und zutiefst glücklich wird. Die Person erstrahlt in demselben Licht, in dem wir uns baden und gebadet haben. Und in ihr erklingt dieselbe Freude, die wir auch in uns vernommen haben. --- (Stille)

Wie geht es euch damit bis hierher? Was für Fragen sind da jetzt aufgetaucht?

Zur Visualisation, kann ich sie auch im Alltag anwenden?Das wäre dann schon eine weitergehende Anwendung davon. Das findest du leichter? – Hast du dich zunächst selbst voll annehmen können? In dem ersten Schritt? Es gibt Menschen, und vielleicht gehörst du dazu, die lieber direkt in die Situation mit anderen hineingehen, sich lieber direkt auf den anderen beziehen, statt sich erst mal selbst ganz dem zu stellen, darin aufzugehen. Das in der Situation mit anderen anzuwenden, wäre dann ein nächster Schritt. Es gibt dieses Helfersyndrom, das sind Menschen, die sich wohler fühlen, wenn sie anderen hel­fen können, die sich wohler fühlen, wenn sie in Situationen sind mit anderen, wo sie hilfreich sein können, als nur mit sich selbst. Und das müssen wir herausfinden.

3. MeditationDas führt mich in die zweite Alternative dieser Visualisation. Wir können uns auch den Bud­dha als über unserem Scheitel sitzend vorstellen und ihn dort lassen. Und uns einfach von einem Strom von Licht, von Nektar füllen lassen. Das hält eine gewisse Distanz aufrecht, als ob der Buddha außen bliebe, aber für manche ist das leichter, sich das so vorzustellen. Das ist eine Möglichkeit.

Es geht darum, einfach zu spüren, was dir gut tut. Dort, wo du dich wirklich entspannen kannst, wo du dich öffnest und dich angenommen fühlst und dich selbst annimmst, da bist du auf dem richtigen Weg.

In der Anfangszeit der buddhistischen Lehre standen diese Visualisationen noch nicht zur Verfügung. Da war es notwendig, diese Praxis einfach aus dem inneren Verständnis heraus zu machen, ohne diese Brücken zu haben, sich eine Buddhafigur vorstellen zu können oder Lichtstrahlen... Das ist in späteren Jahrhunderten immer stärker in den Vordergrund getreten.

Es ist nicht für alle einfach, Liebe einfach so zu spüren und mit Liebe das ganze Wesen füllen zu lassen. Eigentlich geht es darum, das einfach so zu machen. Aber manchmal sind visuelle Brücken sehr hilfreich.

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Es gibt auch die Klangbrücke. Wir können uns vorstellen, dass der Klang der Liebe unser ganzes Wesen füllt. Das ist für manche Menschen leichter. Wenn wir OM MANI PEME HUNG rezitieren, dann stellen wir uns vor, dass der Klang der Liebe das ganze Wesen und das gesamte Universum ausfüllt.

Fragen Ich glaub, ich habe Angst vor den Möglichkeiten, die da sind – wenn ich jemanden kenne oder nicht kenne, da möchte ich dabei bleiben, ...Wenn du damit geschickt umgehen möchtest, dann könntest du es so machen, dass du zum Beispiel dir innerlich sagst: Mögest du heute glücklich sein! Mögen sich heute in meinem Geist Zustände von wenig Anhaften und wenig Ablehnung ausbreiten! Kleine Brötchen! Aber das reicht ja, jeden Tag – das Leben besteht sowieso nur aus dem jeweiligen Moment. Wenn wir uns beschränken auf das, was jetzt möglich ist, dann fällt die Angst weg vor dem Uner­messlichen, Unabwägbaren, wo wir uns sonst verlieren.

Ich kann es mir wünschen und auch annehmen, aber es ist wie eine gigantische Irrealität, nicht so richtig glaubwürdigBeschreib mir das mal konkret für dich: was ist deine gigantische Irrealität? Beschreib mir das mal.

Ja dass ich so richtig zufrieden wäre, ohne ein Haar in der SuppeEs ist fast nicht vorstellbar. Wie machen wir das jetzt? Wie gehen wir damit um?

Das andere ist, dass ich Schwierigkeiten hab, ein Gefühl der Liebe zu spüren, es ist eher so, dass andere Dinge dann fehlen – eins nach dem anderen austricksen... quasi abschalten, aber ein willentlicher Akt, da bleibt eigentlich nichts übrig, das beschreibbar wäre. Es wird nur immer angenehmer, das merke ich schon. Sehr schön, das sind zwei wichtige Dinge, die du jetzt ansprichst. Das zweite ist, dass dieses Glück, von dem wir sprechen, tatsächlich nicht beschreibbar ist. Deswegen hat Buddha Shakyamuni auch diesen Zustand der Erleuchtung mit lauter Negationen beschrieben. Er hat gesagt: es ist Nicht-Haften, es ist Nicht-Festhalten, es ist die Abwesenheit von Leid. Zu Anfang hat er einfach gesagt, was es alles nicht ist. Es ist kein Haften mehr am Selbst, am anderen, es ist kein Hass, kein Ärger, kein Neid, – das, was dann noch übrig bleibt, wenn all das nicht ist, das ist Nirwana, das ist.

In späteren Jahrhunderten wurde es unbedingt notwendig, das auch positiv zu formulieren. Da hat man von Glück und Freude und Gleichmut und Mitgefühl gesprochen und diese Qualitä­ten stärker in den Vordergrund gestellt, von denen der Buddha auch schon gesprochen hatte und die dann näher beschrieben. Wenn das Ich dann wegfällt, werden diese Qualitäten aber allesamt unbeschreibbar. Das hast du erahnt, gespürt.

Der erste Punkt, von dem du sprichst, ist im Grunde genommen ein Zweifel an der eigenen Buddhanatur. Das teilen wir hier mit vielen im Raum. Der Zweifel an der eigenen Buddhana­tur: Ist es denn überhaupt möglich, dass ich so etwas erfahren könnte wie das, von dem der Buddha spricht? Ist das mir überhaupt möglich mit diesem Geist, der mein Geist zu sein scheint? Das bewirkt, wenn wir die Vision zu groß ansetzen, dass uns das unwirklich vor­kommt und so unwahrscheinlich, dass dadurch auch zu der Methode, mit der wir arbeiten, eine Distanz entsteht. Dann müssen wir eine andere Methode wählen, wir müssen sie an unser Sein anpassen und dürfen sie uns nicht überstülpen! Das war die Antwort auch für dich: Dir größeres Glück vorzustellen, aber nicht das unermessliche grenzenlose Glück, sondern dich herantasten an das, was möglich ist.

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Ich war mir dessen auch nicht bewusst und hatte nicht das volle Vertrauen, dass es möglich sei, all das zu erfahren, was der Buddha erfahren hat. Dieses Vertrauen ist nicht von Anfang an da. Es kommt im Laufe der Zeit mit den Erfahrungen, die dann verstärkend wirken.

Manchmal spüre ich Trauer in der Praxis aufkommen und ich denke dann oft, ich sollte ja eigentlich Freude entwickeln…. Ja, das ist ganz wichtig, das zu spüren. Wenn wir mit diesen Methoden arbeiten, kommt oft Trauer zum Vorschein, verschiedene Schattierungen von Trauer. Da gibt es die Trauer über den eigenen beschränkten Geisteszustand. Da gibt es die Trauer des Abschiednehmens von einem Selbstbild, das wir haben; ich merke, wenn ich da jetzt weitergehe, muss ich ein Bild von mir loslassen. Dann gibt es eine Trauer über die Zeit, die ich schon mit beschränkten geistigen Haltungen vergeudet habe. Trauer über die vielen Jahre, die ich in Beschränktheit verbracht habe und eigentlich war es schon da, war es schon vor der Tür, aber ich habe es nicht gesehen, nicht gemerkt. Dann gibt es die Trauer, wenn wir an all diejenigen denken, die überhaupt noch keinen Zugang zu solchen Unterweisungen gefunden haben. Es gibt viele ver­schiedene Formen von Trauer.

Wir nehmen in diesem Uns-selbst-der-Liebe-Öffnen Kontakt mit all den schmerzhaften Erfahrungen auf, in denen wir nicht in der Liebe sein konnten. Das ist, als ob diese Erfah­rungen im Unterbewusstsein angetickt werden, als ob sie leise erwachen, z.B. Situationen, in denen wir Liebe nicht erwidern konnten, oder in denen wir lieben wollten, aber nicht die Möglichkeiten fanden, das auszudrücken, usw. Das wird alles angerührt, berührt, wenn wir uns mit diesen Meditationen befassen, sie in uns hineinkommen lassen. Deswegen müssen wir sie viele Male ausführen, weil all das, was da angerührt wird, durchlebt werden und sich befreien muss. Unsere Unfähigkeit will immer wieder liebevoll angenommen werden, unsere Faulheit, unsere Widerstände, all das, was bewirkt, dass wir in Trennung leben. All das will angenommen werden und darf dann schmelzen. Es schmilzt dann einfach. Das ist so, wie die Dinge sind: im Annehmen lösen sie sich auf.

Eigentlich sollte ich ja mit offenen Augen visualisieren, aber oft scheint es mir mit ge­schlossenen Augen leichter zu fallen.Vielen geht es so, dass es zu Anfang einer Visualisation einfacher ist, wenn die Augen ge­schlossen sind, weil wir immer noch ein bisschen damit zu tun haben, visuelle Wahrnehmung und Visualisation – zusammenbringen? Da ist es einfacher, wenn wir die Augen schließen, aber später gewöhnen wir uns daran und können bei offenen Augen genauso gut visualisieren. Für die Praxis, die wir gerade machen, ist es wichtig, in den eigenen inneren Raum zu kom­men. Das ist mit geschlossenen Augen einfacher, weil wir dann so richtig innerlich spüren können und uns einlassen können auf das, womit wir arbeiten.

Wenn wir anderen die höchste Freude wünschen, dann frage ich mich, ob die andere Person diese Art von Freude wirklich empfinden kann. Die Frage ist schon berechtigt, vor allen Dingen, wenn es darum ginge, dieser Person im All­tag eine Freude zu machen, wenn du im Alltag mit der Person sprechen würdest. Da es sich aber jetzt nur um eine Vorstellung handelt, kannst du dir vorstellen, dass sie die subtilsten Freuden, die tiefsten, die höchsten Freuden erfährt, auch die, die jetzt noch außerhalb der Möglichkeiten zu sein scheinen. Also, was die Vorstellung angeht, sind uns da keine Grenzen gesetzt. Im Alltag sollten wir dann schon darauf achten, dass das angemessen ist, wie wir sprechen, wie wir in Kontakt treten mit der Person. Da ist es dann oft besser, einen Braten auf den Tisch zu stellen, als viel über den Dharma zu sprechen.

Mir ist aufgefallen, dass es mir oft nicht so leicht fällt, eine Person zu wählen, dass dann plötzlich eine andere Person da ist – soll ich mich dann auf die zuerst gewählte Person kon­zentrieren, oder soll ich das einfach geschehen lassen?

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Beides ist möglich. Hast du ein Gespür dafür, warum das wechselt? Ist das so, weil es schon zu einer Abrundung mit der ersten Person gekommen ist und es da gar nicht weitergeht oder nicht weiterzugehen braucht? Oder ist da ein Widerstand, der sich einschleicht: „Jetzt aber genug!“ Kannst du das spüren?

Wenn ich eins meiner Kinder mir vorstelle, da ist ein anderes auch genauso wichtig, so auf dieser Ebene, aber manchmal ist es auch so wie ein Blitz, wenn ich versuche, mir eine Person vorzustellen, dann kommt schon die nächste. Ist in Ordnung! Einfach ein bisschen schnell! Es ist gut zu kultivieren, dass sich das abrundet und in der Meditation seine Fülle entfaltet, dass das Bild von dem Menschen, der glücklich wird, sich voll entfalten kann und dann darfst du aber auch im Fluss sein, da dürfen auch andere hineinfließen und mit aufgenommen werden.

Meint ihr, ihr könnt diese beiden Übungen auch schon zuhause alleine durchführen? Oder fehlt euch da noch etwas dazu?

Also dieser Buddha ist jetzt über mir oder vor mir?

Wie es für dich leichter ist. Die klassische Visualisation ist die aus dem Lodjong, also aus der Praxis des Geistestrainings, und da ist der Buddha oder Lama über uns, er kann uns auch angucken und verschmilzt dann ins Herz. Aber es geht jetzt mehr darum, was für euch am hilfreichsten ist.

Ich kann das daheim machen, aber manchmal ist es mir trotz aller Hingabe nicht möglich, diese Kraft im Raum zu halten. Es geht, wenn ich mir Taschentücher hinlege und dann kommt das mehr raus, oder indem ich aufschreibe, was passiert, oder Gehmeditation mache oder so was, bis ich wieder ruhig werde, ...Ja, das ist die größte Schwierigkeit, die Stabilität der Situation zu erzeugen, den Rahmen zu schaffen, in dem so etwas möglich ist. Das dürfte die größte Schwierigkeit zuhause sein. Des­wegen will ich euch ermuntern, das heute Abend schon zu machen – oder sogar schon in der Mittagspause: noch mal kurz Kontakt aufzunehmen mit dem, was wir hier praktiziert haben, um es wach zu halten, so dass der Zugang leichter bleibt. Wir haben in den letzten Stunden allmählich eine Situation geschaffen, in der es möglich war, so tief zu gehen.

Wenn wir uns zuhause hinsetzen, müssen wir uns auch Zeit lassen: Hinsetzen, erst mal anfangen zu atmen, vielleicht ein paar Gebete machen, Zuflucht nehmen und für die Praxis um Unterstützung bitten. Dann spüren: Ich fange mal mit der Praxis mit mir selbst an, dann nehme ich eine Person hinein. Ich halte den Rahmen, ja, aber nicht zu lange, zehn Minuten ist schon viel für die Kernpraxis! Wir machen immer nur recht kurze Sitzungen, die Zeiten, die wir still waren, waren immer nur kurz, selten länger als fünf Minuten. Eine tiefe Herzensintensität lässt sich gar nicht über so lange Zeiträume stabil halten. Wir müssen den Rahmen schaffen, dass es dazu kommen kann, es dann praktizieren und dann ist es auch in Ordnung. Wenn es genug ist, nicht versuchen, es noch auszudehnen, sondern widmen, noch ein paar Wunschgebete machen...

Wenn man eine andere formelle Praxis ausübt, kann es ja auch sein, dass darin Leute auftau­chen...Ja, dann machst du dasselbe. Du lässt das Mantra weiterlaufen, brauchst gar nicht inne zu hal­ten. Wenn du Karmapa Kyenno rezitierst und es tauchen Namen und Menschen in deinem Be­wusstsein auf, nimmst du sie in den Raum des Mantras und in den Segen hinein, du selbst und die anderen, kein Unterschied, so integrierst du sie in die Praxis. Du darfst auch innehalten und die Praxis bewusst und konzentriert ausführen, aber es ist auch okay, die Person einfach in dieses erleuchtete Bewusstsein hinein zu stellen. Bei den meisten Praktiken stellen wir uns

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ja ohnehin vor, dass wir von allen Wesen umgeben sind: wir können sie vor uns hinsetzen oder zu unserer Seite, uns einfach vorstellen, dass sie mit dabei und ein Teil der Praxis sind.

Wir sollten nicht unbedingt zuerst eine Person nehmen, an die wir starke Anhaftung, speziell sexuelle Anhaftung haben, aber natürlich werden wir später auch mit dem Partner prakti­zieren. Das ist ein Rat, um nicht Liebe mit Anhaftung zu verwechseln. Zu Anfang sollten wir einen Menschen suchen, zu dem wir eine recht unbelastete Beziehung haben. Es kann zum Beispiel jemand aus unserer Kindheit oder Jugend sein, ein Lehrer, eine Kindergärtnerin, ein Mensch, der uns einfach viel Gutes getan hat und wo nicht so viele Belastungen aufgetaucht sind. Dann spüren wir schon mehr, um welche Form von Liebe es eigentlich geht und ver­wechseln nicht die Liebe, die wir jetzt als unsere Dharmapraxis entwickeln, mit dem, was wir in der Beziehung zum Partner Liebe nennen. Es sind verschiedene Formen von Liebe. Die können sich durchdringen, die haben etwas Gemeinsames, aber auch Unterschiede.

Die Liebe zum Partner, zur Partnerin kann durchaus dann diese weite, offene, unterstützende Liebe werden, von der wir hier sprechen. Ebenso auch die Liebe zu den Kindern. Eine Mutter kann ihre Kinder in diese Liebe hinein nehmen, wo es wirklich um das Glück der Kinder geht. Immer ist diese Liebe der Wunsch, dass die Kinder glücklich sein mögen und auch in Zukunft glücklich sein mögen und auch die Ursachen für zukünftiges Glück in ihrem Geist freisetzen. Wenn eine Mutter so fühlt, dann ist sie auf gute Art und Weise auf ihre Kinder eingestellt und wird langfristig das tun, was hilfreich ist. Wenn die Kinder dann flügge sind und aus dem Haus gehen, wird es dieser Mutter leicht fallen, den Prozess zu unterstützen, wenn er hilfreich ist für die Kinder, weil es in ihrem Geist nicht darum geht, die Kinder bei sich zu halten. Es geht ihr nicht um ein in der Familie begrenztes Glück. Glück kann viele Formen annehmen und eine Mutter, die darauf achtet, dass die Kinder zutiefst glücklich werden, wird in jeder Weise unterstützen, was den Geist weiter öffnet. Solche Mütter haben es viel leichter mit dem Ablösungsprozess der Kinder.

Die Vier Grenzenlosen sind die Essenz aller DharmapraxisDiese Praxis der vier Grenzenlosen ist das Herz, das Zentrum der Dharmapraxis. Wenn wir sie auf die richtige Art und Weise praktizieren, dann enthalten sie alle anderen Dharmaprak­tiken. Das ist die Essenz. Wenn wir Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut richtig zur Anwendung bringen, dann ist das der Weg und das ist dann auch die Frucht der Praxis. Die Frucht der Praxis ist, wie ein Buddha in diesen vier grenzenlosen Geisteshaltungen als Einheit zu verweilen und der Weg ist, sich wirklich darum zu bemühen, sich darauf einzulassen, in diesen vier Geisteshaltungen aufzugehen.

Sie werden als vier gelehrt, nur damit wir eine nicht missverstehen. Liebe allein würde in sich schon alles enthalten, oder nur das Mitgefühl allein, oder nur die Freude oder nur der Gleich­mut. Aber jede Geisteshaltung für sich allein könnte missverstanden werden. Wenn ich jetzt nur von Gleichmut sprechen würde, würden wir kaum von diesen Assoziationen von Sto­ismus wegkommen: eine stoische Grundhaltung, die zwar gleichmütig ist, aber der es an Freu­de mangelt! Oder der es an Liebe und Mitgefühl mangelt!

Wenn wir nur von Liebe sprechen würden – wir haben es gestern schon im Vortrag angespro­chen – dann würden wir vielleicht auf eine naive, sentimentale Glückswelle kommen und vergessen, wie es konkret hier in der Welt aussieht, all das viele Leid, die vielen Probleme, die Schwierigkeiten, denen wir und andere ausgesetzt sind.

Wenn wir nur von Freude sprechen würden, würden wir vielleicht in eine Form von Enthusi­asmus, von Überschwänglichkeit abheben und den Boden verlieren. Und so weiter... Jede dieser vier wird durch die anderen ergänzt und besser beschrieben. Eigentlich haben wir es

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nur mit einer Qualität zu tun, nämlich dem Erleuchtungsgeist, dem, was wir den freien Geist nennen könnten. Freier, entspannter, offener, natürlicher Geist ist so. Es ist eine Beschreibung von dem, wie der Geist von jedem von uns eigentlich ist – und wie er wäre, wenn wir nicht im Ichhaften verstrickt wären.

BuddhanaturDie Basis unserer Dharmapraxis ist die Erkenntnis der Verwirklichten, dass unser Geist nicht verschieden ist, dass dein Geist und mein Geist nicht verschieden sind, dass der Geist, den ich entdecke, nicht verschieden ist von dem Geist meines Lehrers. Diese Erkenntnis durchdringt die buddhistische Lehre: die fundamentale Natur des Geistes von einem Menschen zum anderen, aber auch zu Tieren und zu unsichtbaren Wesen ist nicht verschieden von einem zum anderen. Auf der Oberfläche sind jede Menge verschiedene Wellen, jeder von uns sieht anders aus, denkt auch ein bisschen anders, empfindet anders, hat andere Projektionen, aber die Na­tur dieser Projektionen, die Natur der Emotionen, das, was wahrnimmt, was empfindet, diese Dimension, die dahinter ist, die ist von einem Menschen zum andern, von einem Wesen zum anderen identisch! Diese grundlegende Natur nennen wir Buddhanatur. Das ist einfach ein Name, der geprägt worden ist. Es hat noch niemand die Buddhanatur gesehen, aber das ist das, was alle Erleuchteten gleichermaßen erkannt haben und was uns allen innewohnt.

Was wir entdecken, wenn der Geist völlig entspannt ist und in die Nicht-Dualität eintaucht, nennen wir auch die ungeschaffene Natur des Geistes. Wir spüren ganz deutlich, „Das habe ich nicht erzeugt“. Das ist nicht etwas, was ich konstruiert habe, was sich durch meinen Willen, meine Anstrengung manifestiert hat – es hat sich offenbart, weil ich endlich meine Anstrengung losgelassen habe, weil endlich das Wollen zum Erliegen kam, weil endlich dieses ständige Festhalten am Ich, dem Beobachter, dem Kontrolleur von allem aufgehört hat. Da kam diese Erkenntnis zum Vorschein, die wir die Verwirklichung der Natur des Geistes nennen. Diese Erkenntnis geht mit Qualitäten einher und ist eins mit den fundamentalen Qualitäten eines jeden Geistes und dem hat man den Namen Buddhanatur gegeben. Der Zugang zu dieser Buddhanatur ist die Praxis dieser vier Qualitäten, ist die Praxis dessen, was wir Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist, nennen.

Die Praxis hat zwei große Auswirkungen: Sie stabilisiert erstens den Geist, sie führt zu Geis­tesruhe. Der Buddha hat diese vier gelehrt als eine Methode, um die weltlichen Vertiefungen zu erlangen, also die vier Dhyanas, die vier tiefen meditativen Versenkungen.

Zweitens stößt - über die Stabilität des Geistes hinaus - das Loslassen der Ichbezogenheit die Tür zu dieser Verwirklichung auf, von der ich eben gesprochen habe. Stabilität des Geistes und Erkenntnis – das sind die beiden Hauptauswirkungen der Praxis von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut.

Dann spricht der Buddha davon, dass „Karma gereinigt wird“, wo diese vier sich ausbreiten. Er sagt, dass „alle begrenzenden Handlungen aufgelöst“ werden. „Karma“ bedeutet Handlung und „begrenzt“ bedeutet dualistisch. Alle dualistisch motivierten Handlungen werden be­reinigt, weil die dualistischen Tendenzen durch die Praxis dieser vier Geisteshaltungen schwächer und schwächer werden und schließlich aufgelöst werden. Das heißt, diese Vier führen zum Bereinigen der Spuren von früheren dualistischen Handlungen. Das ist gemeint mit Reinigen von Karma. Die Spuren vom Streit von gestern, als ich mich geärgert habe und fest im Dualismus verfangen war, als ich den anderen angeschrieen habe und es sehr persön­lich genommen habe, was er gesagt hat, die Spuren, die das in meinem Geist hinterlassen hat, die werden durch das Kultivieren dieser vier Geisteshaltungen aufgelöst.

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Dann sagt der Buddha: „Es ist die unübertreffliche Quelle von Verdiensten“. Verdienste sind heilsame Handlungen, die bewirken, dass das Ich-Anhaften abnimmt. Eine verdienstvolle Handlung ist eine Handlung, die das Ich-Anhaften schwächt. Es gibt nichts, was das Ich-Anhaften stärker schwächt als diese Vier.

Gucken wir uns das doch mal an: In der Liebe, wie wir sie beschrieben haben, da löst sich Ich-Anhaften auf. Diese Art von Liebe ist geradezu das Gegenmittel für Besitzergreifen, ist das Gegenmittel für Begierde, ist das Gegenmittel für Übelwollen, für Böswilligkeit.

In diesem Mitgefühl, wie wir es beschrieben haben, löst sich alle Aggressivität auf, alles Nur-ich-an-mich-und-mein-Leid-Denken löst sich auf, die Ichbezogenheit, die sich um unsere persönlichen Schwierigkeiten herum kristallisiert.

Wahre Freude ist natürlicherweise frei von Ichbezogenheit. Wahre Freude neigt dazu, sich auszubreiten und nicht persönlicher Besitz zu bleiben. In wahrer Freude nehme ich Anteil am anderen, teile, bin bereit zu empfangen, bin im Austausch. Wer sich freut, fängt an zu tanzen, kann mit anderen tanzen, es findet natürlicher Austausch mit allen statt, denen man begegnet. Das ist Freude, das ist die Qualität von Freude. Ein Mensch, der in dieser tiefen Freude am Heilsamen ist, wird sich natürlicherweise auf alles einlassen, was heilsam ist, wird teilhaben an allem, was andere an Heilsamem tun, denken, sagen: Weil wir in der Freude sind, werden die verengenden Geistesfaktoren immer weniger Chance haben sich auszubreiten.

Gleichmut beweist, dass wir im Nicht-Anhaften sind. An Gleichmut mangelt es uns, wenn wir greifen, wenn wir haben wollen oder nicht haben wollen. Wer zutiefst gleichmütig ist, dessen Geist ist offen! Es ist so, als wäre kein Widerstand da gegen das, was schwierig erscheint und kein Haften an dem, was angenehm erscheint.

Wir haben über Weisheit, Freude, Liebe und Mitgefühl gesprochen, und dadurch ist auch klar, dass mit Gleichmut nicht Stumpfsinn gemeint ist. Wenn ich in völligem Stumpfsinn bin, mag ich auch unter Umständen gleichmütig aussehen, aber wir sprechen von einem empfindsamen Geist, der alles mitbekommt, der völlig wach ist, völlig gewahr. In diesem wachen Gewahr­sein ist nicht dieses Greifen nach dem, was gerade war. Das ist Gleichmut, eine Haltung des völlig wachen Entspanntseins. Wenn notwendig, wird dann natürlich gehandelt. Gleichmut bedeutet nicht, nicht zu handeln. Es bedeutet ausgeglichen und weise handeln zu können. Gleichmut ist das, was uns ermöglicht, immense Schwierigkeiten zu überwinden und weitge­steckte Ziele zu erreichen, weil wir nicht aufgeben, weil wir gleichmütig einfach alles nehmen, was kommt, als eine neue Herausforderung, noch geschickter mit der Welt, mit dem Leben umzugehen.

Von daher können wir sagen, dass in der Praxis dieser vier Qualitäten alles enthalten ist. Ein Buddha verweilt natürlicherweise in diesen vier Qualitäten. Sie sind der natürliche Ausdruck seines offenen, wachen, nicht ichbezogenen Geistes.

Diese vier Qualitäten sind das gemeinsame Merkmal, der gemeinsame Faden auch, der die verschiedenen buddhistischen Traditionen miteinander verbindet. Manche Traditionen, wie zum Beispiel die Zen Tradition, kultivieren vielleicht mehr den Gleichmut, das Ausgeglichen­sein, egal welche Schwierigkeiten auftauchen. Dann gibt es buddhistische Richtungen, die mehr Liebe und Mitgefühl betonen. Alle kennen sie die innere Freude.

Wenn wir uns anschauen, mit welcher Liebe, mit welcher Hingabe die Theravada-Buddhisten ihre Praxis zum Wohle aller Wesen ausführen – da sehen wir die Kraft der vier Unermessli­chen. Wie war es denn nur möglich, dass diese Arhats bis nach Afghanistan gewandert sind, bis ins alte Griechenland, dass sie nach China, nach Sri Lanka gewandert sind und dann nach Indonesien übergesetzt sind, nach Thailand usw.? Woher haben sie ihre Kraft genommen, was hat bewirkt, dass sie so viele Gefahren auf sich genommen haben? Das waren diese vier Uner­messlichen! Weil das der natürliche Ausdruck des offenen Geistes ist und weil sie genau das

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kultiviert haben. Es sind nicht nur Bodhisattvas, die zum Wohle anderer handeln, auch im Theravada-Buddhismus wird ganz viel zum Wohle anderer getan. Wenn wir die vier Uner­messlichen kennen, dann verstehen wir auch, woher das Bodhisattva-Gelübde kommt, ver­stehen, was die Essenz des Bodhisattvas ist – nämlich diese Vier in die Tat umzusetzen und jedem Wesen zu helfen, diese vier Qualitäten im eigenen Geistesstrom wachzurufen.

Mitgefühl und WeisheitDas hat im Mahayana-Buddhismus zu neuen Formulierungen geführt, wie zum Beispiel; den Weg in zwei Worten darzustellen, nicht in vieren: Mitgefühl und Weisheit. Das sind die beiden Beine, mit denen der Praktizierende seinen Weg geht. Wobei Mitgefühl meint: Liebe und Mitgefühl. Freude und Weisheit bedeuten dann den Gleichmutsaspekt. Das ist einfach eine andere Formulierung. Dann gibt es noch die einfache Formulierung, die wir schon hatten, zu sagen: Bodhicitta. Aber auch da, beim Bodhicitta, gibt es das relative Bodhicitta und das letztendliche, den relativen Erleuchtungsgeist und den letztendlichen Erleuchtungsgeist. Der relative ist das, was wir bewusst hervorbringen, da bemühen wir uns durchaus, Bodhicitta zu kultivieren. Aber – solange noch ein Wollen, ein Kultivieren mit im Spiel ist, wird die Praxis nicht zur völligen Befreiung führen. Wir müssen das Wollen letzten Endes aufgeben, wir müssen uns aus dem Tun, aus dem Machen befreien und in diesen natürlichen Geist hinein finden. Den natürlichen Geist, den nennen wir letztendlichen Erleuchtungsgeist.

Es hat im Vajrayana noch weitere Ausformungen, noch weitere Verdichtungen gegeben. Da kann man zum Beispiel sagen: Sei Manjushri! Sei wie Manjushri! Da hängt ein Tangkha (ein Rollbild) von Manjushri. Oder: sei wie Tschenresi. Der Name der Gottheit, also des Buddhaa­spektes, mit dem wir praktizieren, wird zur Verdichtung aller erleuchteten Qualitäten. Wenn ich sage, ich praktiziere Tschenresi, bedeutet das, ich benutze eine Übertragung zu einem Buddhaaspekt als Hauptmethode, um in die vier Grenzenlosen hineinzufinden. Wenn ich sage, ich praktiziere Tschenresi, also Avalokiteshvara, weiß ich, dass die vier Arme, die Tschenresi hat, die vier Unermesslichen sind. Er hat zwei Arme vorne und dann rechts einen, der die Mala, den Rosenkranz, trägt und links einen, der den Lotus hält. Die beiden vorderen halten den Juwel. Diese vier, das sind die vier unermesslichen Qualitäten.

In den Erklärungen zum Mantra von Tschenresi steht im Kommentar vom 15. Karmapa, dass die sechs Silben OM MANI PEME HUNG alle aus dem erleuchteten Mitgefühl entstanden sind. Spezifischer noch: die Kernsilben MANI PEME entsprechen Liebe, Mitgefühl, Freude Gleichmut. Diese vier Kernsilben, die für den Namen von Tschenresi stehen, werden zurück­geführt auf die Vier Grenzenlosen. Wenn ich OM MANI PEME HUNG praktiziere, dann fül­le ich den ganzen Raum, den Geist, das gesamte Universum mit OM MANI PEME HUNG, mit den Vier Grenzenlosen.

Die Praxis der vier Grenzenlosen zieht sich wie ein roter Faden durch alle buddhistischen Traditionen hindurch. Von daher kann man sagen, wenn ihr diesen Faden aufnehmt und wirklich die vier grenzenlosen Geisteshaltungen kultiviert, dann seid ihr mitten in der Essenz. Dann könnt ihr sicher sein, dass ihr nicht am Ziel vorbei praktiziert.

Das Geistestraining, das Lodjong, das im Zentrum der Mahayana-Praxis steht, so wie wir sie von Atisha überliefert bekommen haben, macht genau das: die vier Grenzenlosen mit einer einzigen Methode zu praktizieren, nämlich mit der Tonglen-Praxis, dem Geben und Annehmen, mit dem Atem verbunden immer wieder und ständig die vier grenzenlosen Quali­täten zu praktizieren.

Ich führe das nur deshalb so aus, um euch zu ermutigen, diese Praxis wirklich ins Zentrum zu stellen. Wenn ihr mich fragt, ob sie allein ausreicht, diese Praxis: Ja, wenn ihr versteht, was es

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damit auf sich hat. Wenn ihr euch daran erinnert, dass sie eigentlich nur dann praktiziert werden kann, wenn man eine gewisse Achtsamkeit entwickelt hat, wenn man in der Lage ist, den Geist in der Versenkung in Liebe, Mitgefühl usw. zu halten.

Wenn wir den Geist noch nicht wirklich stabilisiert haben, müssen wir daran arbeiten, die Achtsamkeit zu vertiefen. Die vier Grenzenlosen werden uns dabei helfen, aber wir müssen unter Umständen dann auch mit anderen Methoden arbeiten, um den Geist noch stabiler zu machen, so dass er wirklich dabei bleiben kann, wenn ich den Geist dann auf Liebe ausrichte oder auf Mitgefühl, dass er darin verweilen kann, sich vertiefen kann.

Damit sich ein Geisteszustand vertieft, müssen wir in der Lage sein, eine Weile dabei zu bleiben. Wenn wir ihn immer nur kurz anticken, mal grad für eine halbe Minute oder eine Mi­nute, das ist gut – aber dann kann er sich nicht so vertiefen, wie es sonst möglich wäre, wenn wir den Geist lange Zeit stabil in diesen Geisteshaltungen halten können. Halten bedeutet, er sammelt sich darin. Da gibt es dann nichts mehr zu halten, es ist nicht mehr notwendig, den Geist zurück zu holen, der geht dann gar nicht mehr woanders hin, der bleibt dann einfach ge­sammelt in diesen Kontemplationen.

Wie ist es so jemanden wie dem Karmapa oder anderen großen Bodhisattvas möglich, schon in jungen Jahren solch eine große Aktivität an den Tag zu legen, tagein, tagaus ständig nur für andere da zu sein?

Die Antwort ist: Weil sie Leben um Leben die vier grenzenlosen Qualitäten praktiziert haben, Bodhicitta praktiziert haben. Das hinterlässt Spuren im Geist! Das wirkt über den Tod hinaus. Diese Qualitäten gehören in den Bereich dessen, was nicht mehr von Konzepten geprägt ist. Sie hinterlassen tiefe nichtbegriffliche Spuren in unserem Geist. Der Geist selbst wird immer mehr zum Ausdruck dieser Qualitäten. Im nächsten Leben ist es wieder ganz natürlich, dass diese Qualitäten zum Vorschein kommen. Darum bereitet uns diese Praxis nicht nur auf den Tod vor, sondern auch auf das nächste Leben.

Wissen geht verloren, wenn wir sterben. An das, was wir jetzt wissen, werden wir uns im nächsten Leben nicht erinnern können. Aber was spontan wach wird, werden die Spuren von den Handlungen, den Gedanken und Worten sein, die wir mit großer Intensität ausgeführt haben. Wenn wir mit großer Intensität diese vier Qualitäten kultiviert haben, dann sind das die starken Spuren, die im nächsten Leben und im Nachtodzustand wach werden. Sie werden uns nie mehr verlassen, weil wir uns so da hinein gegeben haben.

Das gleiche gilt natürlich auch für Hass, Begierde, Eifersucht usw. Wenn wir sie stark kultiviert haben, dann werden sie auch automatisch wach. Da ist unsere Wahl. Wir können uns jetzt entscheiden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Das Heilsamste ist, die Auf­merksamkeit auf diese Qualitäten zu richten.

Die sechs ParamitasEine andere sehr bekannte Liste von Qualitäten sind die sechs Paramitas, die befreienden Qualitäten: Freigebigkeit, Disziplin, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit.

Die gemeinsame Wurzel dieser sechs sind Liebe und Mitgefühl. Daraus entstehen sie alle. Diese sechs Qualitäten, die wir auf dem Bodhisattva-Weg kultivieren, entstehen aus Liebe und Mitgefühl, deswegen werden diese beiden auch nicht extra noch erwähnt als Paramitas, als befreiende Qualitäten.

Die Freude findet sich im vierten Paramita wieder, als freudige Ausdauer. Freude am Heil­samen ist das vierte Paramita. Der Gleichmut findet sich im fünften und sechsten Paramita

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wieder als meditative Stabilität und Weisheit und stützt wie die Freude alle anderen Parami­tas.

So sind diese vier Grenzenlosen auch in den sechs Paramitas enthalten. Es sind nicht verschie­dene Qualitäten, es ist ein und dasselbe, wovon da gesprochen wird. Es gibt nicht noch mal zusätzlich andere Qualitäten freizusetzen. Wenn wir in Liebe und Mitgefühl sind – ist die Freigebigkeit da noch irgendwo zu suchen? Müssen wir da noch Geduld suchen? Es ist so of­fenkundig!

Oder Disziplin – Disziplin bedeutet Unterlassen von Handlungen, die Schaden anrichten, die anderen Schmerzen bereiten, die schädlich sind. Es ist selbstverständlich, dass wir solche Handlungen unterlassen, wenn wir in Liebe und Mitgefühl sind! Disziplin bedeutet auch, alle heilsamen, hilfreichen Handlungen auszuführen. Das ist selbstverständlich, wenn wir in Liebe, Mitgefühl und Freude sind.

Geduld und meditative Stabilität: wenn wir im Gleichmut sind, brauchen wir uns nicht um Geduld und meditative Stabilität zu kümmern, die sind automatisch da, ganz von selbst, weil diese Qualität des weisen Ausgeglichenseins vorhanden ist.

Weisheit ist die Krönung des Weges, die tiefe Erkenntnis des Seins. Sie ist die Erkenntnis des Nicht-Ich, der Dimension, in der Subjekt und Objekt aufgelöst sind. Genau dahin führen uns diese vier Qualitäten, genau in diese Erkenntnis. Das ist es, was sie uns eröffnen und das ist es, was diese Vier tatsächlich zu grenzenlosen Qualitäten macht.

Wenn wir uns zum Praktizieren hinsetzen und dabei spüren, dass wir uns freuen, dann ist das ein gutes Zeichen. Das bedeutet, dass wir die Praxis vorher nicht mit zuviel Anspannung und Wollen geübt haben, dass wir entspannt genug waren, sodass jetzt Freude da ist weiter zu ma­chen. Wenn wir Mühe haben, uns wieder hinzusetzen und es schwierig für uns ist, dann ist das ein Zeichen, dass wir vorher vielleicht mit etwas zu viel Wollen praktiziert haben. Dann sollten wir sachte herangehen und versuchen, so zu praktizieren, dass wir wieder Zugang zu der Freude finden und uns nicht übernehmen mit der Praxis.

4. MeditationWir beginnen wieder mit der stillen Einkehr in uns selbst oder – so könnte man es auch sagen – dem stillen Annehmen von uns selbst. Ihr könnt euch vorstellen, dass Buddha Shakyamuni oder auch ein anderer Buddhaaspekt eurer Wahl mit euch verschmilzt und eins wird mit dem Herzen und so bewirkt, dass aus dem Herzen Licht ausstrahlt und unser ganzes Wesen füllt. --- (Stille)

„Möge ich frei von Leid und dessen Ursachen sein.

Möge ich wie auch alle anderen Wesen frei von allem Leid sein.

Möge ich keine weiteren Ursachen für neues Leid schaffen und mögen die bereits geschaf­fenen Ursachen bereinigt werden.“ --- (Stille)

„Möge ich glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Möge ich das reinste, strahlendste Glück erfahren.

Mögen unzählige Ursachen des Glücks geschaffen werden und zur Reife kommen.

Mögen ich und alle Wesen so glücklich werden wie die Buddhas, die vollkommen Erleuchte­ten.“ --- (Stille)

Diese Wünsche machen wir in allen Schattierungen, so reich und ausführlich und umfassend wie möglich. --- (Stille)

Wir stellen uns vor, dass wir die Erfüllung dieser Wünsche erfahren. --- (Stille)

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„Möge ich, und mögen alle Wesen frei von allen beengenden Geisteszuständen sein.

Möge unser Herz weit offen sein.“ --- (Stille)

Fragen Dürfen wir uns denn das wünschen, ganz von allem Leid frei zu sein?Wir müssen uns das wünschen! --- Da höre ich Protestschreie aus den christlichen Lagern. Frei zu sein von Leid, das ist eine große Anmaßung und sehr gefährlich aus christlicher Sicht.

Ich komm nicht mehr dran, fühle mich getrennt von diesen Gedanken, – vielleicht hast du da einen Tipp?Ja, einfach bewusst atmen! Verbinde dich mit deinem Atem und lass dich von deinem Atem streicheln. Meinst du das geht? Ohne zu wünschen, einfach nur den Atem als etwas Warmes, etwas Willkommen-Heißendes erfahren, einfach nur das. Schau mal – sonst gucken wir wei­ter. Ist gut, dass du es sagst.

Es heißt Leiden sei der Zündstoff zur Erleuchtung – und ohne den Zündstoff sieht es ja nicht gut aus... Ja, aber willst du immer beim Zündstoff bleiben? Das ist genau der Unterschied, genau der springende Punkt. Leiden ist unglaublich wichtig, um aufzuwachen. Aber wenn wir auf­gewacht sind, brauchen wir das Leiden nicht festzuhalten.

Aber du hast uns aufgefordert, uns vorzustellen, dass alle frei sind von Leiden. Das kann ich mir nicht vorstellen!Darum frage ich ja auch. Jetzt geht es vor allen Dingen darum, sich das für sich selbst vor­stellen zu können. Das würde ja bedeuten, dass alle erleuchtet sind, dass alle Buddhas ge­worden sind. Ist nicht realistisch, oder?

Ja, völlig unrealistisch. Selbst die Vorstellung, dass ich voll und ganz glücklich wie ein Bud­dha bin, ist ziemlich unrealistisch. Das ist genau der springende Punkt. Genau hier besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was erleuchtete Meister von Mitgefühl sagen und was wir in unserer beschränkten Wahrneh­mung mitbekommen. Unser Mitgefühl ist bedingt, konditioniert durch das Leid, das wahrge­nommen wird auf eine Subjekt-Objekt-Weise, auf eine dualistische Weise. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass da diese Herzensöffnung sein könnte ohne durch die Betrachtung von Leid stimuliert zu werden.

Deswegen klammern Christen so an dem Leid! Sie befürchten, wenn das Leid aus der Welt weggeht, dass dann all die Qualitäten verschwinden, die durch Begegnung mit dem Leid aus­gelöst werden. Wenn es aber zu einer wirklichen Herzensöffnung gekommen ist, geht das Herz nicht wieder zu! Wenn die Ichbezogenheit weg ist, dann braucht es kein Leid mehr, um diese Herzensöffnung zu stimulieren! Das Leid hat sich erübrigt! Es hat dazu geführt, wozu es gut war, nämlich die Anstrengung freizusetzen, um in die völlige Öffnung, in den weiten Geist hineinzufinden. Wenn wir im weiten Geist sind, brauchen wir nicht immer zurück zu schauen auf das was war. Wenn irgendwo noch Leid zum Vorschein kommt, dann wird es in diesen offenen Geist hinein genommen. Aber wir brauchen es nicht!

Das ist der große Unterschied. Die Vision von buddhistischen Meistern ist eine Vision, in der die Welt frei von Leid ist. Das bedeutet: frei von engen Geisteszuständen.

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Aber im Christentum, da wird von den Heiligen gesagt, dass auch sie diese Herzensöffnung erfahren haben, in ihrer Lebensgeschichte – dass sie bis zu ihrem körperlichen Ende Leid angenommen haben. Ja, das ist der Unterschied zwischen christlichen und buddhistischen Heiligengeschichten. Ich bin persönlich keinem christlichen Heiligen begegnet, deswegen weiß ich nicht, ob sie dieselbe Verwirklichung haben wie die buddhistischen Heiligen, ob wir da dasselbe benennen. Ich kann nur sagen, als Arzt meines Lehrers habe ich mitbekommen, dass sein Geist immer in diesen vier Grenzenlosen war, frei von geistigem Leid, frei von engen Geis­teszuständen- egal ob körperlicher Schmerz oder körperliches Unwohlsein da waren. Ich konnte ich vielen Begegnungen einfach spüren, dass der Geist völlig frei davon war.

Aber, egal ob buddhistische oder christliche Meister, wir leben in einer Welt, die noch nicht befreit ist, in der unglaublich viel Leid ist und deswegen wird es immer wieder zu einer Be­gegnung mit Leid kommen. Wir sprechen von etwas, das wir als Vorstellung haben – mögen alle frei von Leid sein – aber die Realität ist es nicht, es ist eine Utopie. Da die Meister in einer anderen Realität leben, aber immer noch Menschen begegnen, die in engen Geisteszu­ständen sind und viele körperliche Schmerzen haben, stimuliert das auch immer wieder diese relative Form von Mitgefühl. Das ist ganz natürlich.

In christlichen Zusammenhängen – bei den Heiligen, müsste die Freude trotz körperlichen Leidens vorhanden sein? Deshalb noch mal die Frage: warum müssen die christlichen Hei­ligen dieses äußerlich wahrnehmbare Leiden durchlaufen? Oder sind nur die heilig, die es so durchlaufen haben? Das überlasse ich anderen. Darüber kann ich nicht sprechen, weil ich mich nicht gut genug auskenne. Es scheint mir so, als ob das Leiden im Christentum zu stark ins Zentrum gestellt würde, als ob der Leidensweg zu stark im Vordergrund stehen würde. Eigentlich wäre ein Freudenweg für einen Erleuchteten oder einen Erwachten angemessener. Ein Freudenweg, aber nicht unter Nicht-Beachtung des Leidens, sondern in vollem Gewahrsein des Leidens, das in der Welt ist. Es gibt auch christliche Kirchen, in denen mehr diese Freude betont wird, die Freude der Erlösung. Aber ich weiß darüber einfach zu wenig.

Du hast gesagt, dass es kein festes Ich gibt und wie wird man wiedergeboren? Es ist wie ein Fluss – der an Stromschnellen vorbei fließt, du kannst von einem Moment zum anderen nicht sagen, es sei derselbe Fluss. Es ist immer neues Wasser, das fließt. Doch ist da etwas, das weitergeht. Genauso ist es mit unserem Geist. Es ist nicht ein festes solides Etwas wie ein Bötchen, das den Fluss runtergeht, wir sprechen vom Fluss selber. Die verdingli­chenden Vorstellungen von einer Seele, die unverändert bleibt, die nicht dem Wandel un­terworfen ist, halten der meditativen Untersuchung nicht stand. Wohl aber ein dynamisches Geschehen, in dem der letzte Moment den nächsten Moment bewirkt – wie im Strom eines Flusses: das nachschiebende Wasser und das vorwegfließende Wasser sind in Verbindung miteinander, aber es ist nie derselbe Fluss! Die Dreisam, die ist hier auch geflossen, als ich vor 25 Jahren in Freiburg gewohnt habe. Wenn wir jetzt hingehen, ist es immer noch derselbe Fluss? Gut, da ist immer noch ein Flussbett, das dem ähnelt, das vorher das Flussbett war, aber es ist nicht derselbe Fluss. Das ist damit gemeint. Da geht etwas weiter, ohne dass es dasselbe bleibt. Es ist auch dem Wandel unterworfen.

Dann ist das mein Bewusstseinsstrom, der da weitergeht?Ein Bewusstseinsstrom, das „m“ sollten wir streichen, aus dem meinen einen machen. Es gibt einen Bewusstseinsstrom. Es gibt eine Kontinuität im Wandel. Es befremdet mich sehr, wenn ich Bilder aus meiner Kindheit sehe, ich kann gar nicht mehr sagen, das bin ja ich. Der fünf­jährige Steppke, der da rumläuft, das bin nicht ich – und doch ist da eine Kontinuität im Wandel von dem, der damals war, zu dem, der heute ist, aber es hat sich so viel getan, dass es

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eine große Kraft der Fixierung braucht, um heute noch zu sagen: der bin ich. Dieser Wandel, der sich in unserem Leben vollzieht, vom kleinen Baby oder sogar Embryo, bis hin zum Men­schen, der stirbt, dieser Wandel geht weiter – dann ist der Körper plötzlich weg. Der Geist erlebt aber nächste Momente. Die nächsten Momente haben mit den gerade vorher gewesenen Momenten durchaus etwas zu tun. Es gibt den Geist ohne Körper. Körper und Geist sind eng verbunden, solange wir leben. Im Tod lösen sich Körper und Geist voneinander. Der Körper ist einfach nur Materie und der Geist geht weiter. --- Aber jetzt zurück zu unserer Übung.

Mir ist es ein großes Anliegen, dass ihr im Einklang mit euch selber praktiziert. Es ist sehr schwierig, so eine große Gruppe anzuleiten mit einer Übung, die für alle zutreffen soll. Wenn es für euch stimmiger ist, die Übung etwas anders auszuführen, dann verändert sie nach eu­rem Bedürfnis.

Die Utopie: „alle Wesen frei von Leid“, wenn ihr nicht hinter diesem Wunsch stehen könnt, dann können wir andere Formulierungen finden, z.B.: „Mögen alle Wesen immer freier von Leid werden!“ Wir können es so ausdrücken! Wir können den Wunsch ausdrücken: „Mögen so viele Wesen wie möglich Erleuchtung erlangen und nie die anderen vergessen, die noch im Leid stecken!“. Wir können mit dem, was wir an Zweifeln oder an Hemmungen haben, auf ganz geschickte Art und Weise umgehen, so dass wir wieder in Einklang mit unserem Herzen kommen, damit sich unsere Praxis innerlich harmonisch anfühlt und wir uns nicht etwas über­stülpen, sondern wirklich voll und ganz hinter den Wünschen stehen können, die wir innerlich ausdrücken oder äußerlich sagen. Es darf nicht zu einer zu großen Spannung kommen oder am besten zu gar keiner Spannung zwischen dem, was wir fühlen und dem, was wir zum Aus­druck bringen.

5. MeditationJetzt werden wir wieder einen Moment mit der Vorstellung einer Person praktizieren. Lasst uns aber erst Kontakt mit uns selbst aufnehmen:

Es atmet, ich entspanne mich in den Atem hinein.

Der Atem nährt Körper und Geist, er durchflutet mich.

Ich lasse mich darauf ein, den Atem als einen Freund zu erfahren.

Freundschaftlich füllt mich der Atem und nährt mein gesamtes Wesen.

„Möge ich – wie auch alle anderen Wesen – glücklich sein.

Möge ich – wie auch alle anderen Wesen – frei von Leid sein.“

Wohlwollend durchflutet mich der Atem.

Ich lasse es zu, dass sich der Geist, dass sich mein Herz dahinein öffnet.

Ich erinnere mich an die Person, mit der ich das letzte Mal meditiert habe und stelle mir vor, dass diese Person vor mir ist.

Ich wünsche ihr nochmals alles Glück und die Ursachen des Glücks: „Mögest du so wie alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen.“

Und ich füge jetzt den Wunsch an: „Mögest du frei sein von Leid und den Ursachen des Leides.“

„Mögen sich deine körperlichen Gebrechen auflösen. Möge sich alles Leid in mitmenschli­chem Kontakt auflösen.

Mögest du frei sein von den Schmerzen des Alleinseins, der Einsamkeit.

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Mögest du frei sein von materieller Not.

Möge dein Geist frei sein vom Haften am Unangenehmen, frei sein vom Ablehnen des Un­angenehmen, frei sein von Stumpfsinn und Unwissenheit.“

Wenn wir uns bereit fühlen, können wir eine weitere Person einladen, sie uns vorstellen, auf die wir uns dann ebenso einlassen, sie einbeziehen in diese liebevollen, mitfühlenden Ge­danken. Das überlasse ich jetzt euch, das zu formulieren und zu gestalten. --- (Stille)

„Möget ihr beide glücklich sein, zusammen mit allen Wesen.

Möget ihr frei von Leid sein, zusammen mit allen Wesen.

Möge sich das Haften an Glück und Leid auflösen.

Möge dadurch wahre Freude entstehen, wahre leidfreie Freude.

Möget ihr niemals von wahrer, leidfreier Freude getrennt sein.

Mögen euch unendlich viele wunderbare Situationen begegnen.

Möge der Geist voll und ganz geöffnet, geweitet sein.

Möget ihr bei nah und fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut in der Er­kenntnis der Natur aller Dinge verweilen.

Mögen wir alle glücklich sein.

Mögen wir frei von Leid sein.

Mögen wir niemals von leidfreier Freude getrennt sein.

Mögen wir bei nah und fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verwei­len.“

Immer wieder kehren wir zum Atem zurück. --- (Stille)

Ich glaube nicht, dass der Buddha geführte Meditationen gemacht hat. Er hatte sehr talentierte Schüler. Er hat ihnen die Unterweisung gegeben und dann sind sie gegangen und haben sich schnurstracks irgendwo unter einen Baum in den Schatten gesetzt, am selben Tag noch und haben das ausprobiert. Dann kamen sie mit ein paar Fragen zur Klärung, dann sind sie wieder zurückgegangen und haben weiter praktiziert. So hört es sich jedenfalls an, wenn man die Su­tras liest.

Wir sind vielleicht nicht ganz so talentiert. Wir müssen kleine Schritte machen. Kleine Schritte und es muss uns ein bisschen gezeigt werden, wie es geht. Aber sobald man das ge­meinsam macht, entsteht eine Situation, die vielleicht nicht mehr für jeden angemessen ist. Das ist immer das Schwierige. Am besten ist es, das zu Hause selbst zu praktizieren, ganz im eigenen Rhythmus, ganz im Einklang mit sich selbst und das jeden Tag zu machen. Jeden Tag.

Fragen Ich kann es meinen Kindern wünschen, aber ich kann es nicht für sie tun.Das geht uns allen so. Wenn wir das aufrichtig praktizieren, dann kommt der nächste Wunsch: was kann ich denn tun, dass das tatsächlich Wirklichkeit wird? Was kann ich denn tun, dass meine Kinder Bedingungen begegnen, die sie Zugang finden lassen zu einem Ver­

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ständnis davon, was wahres Glück ist und wie man sich aus Anhaftung und Ablehnung befrei­en kann und was echte Freude ist.

Das ist der Moment, in dem Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder mit den Dharmaqualitäten in Berührung kommen. Aber das haben wir nicht in der Hand. Wir können die Kinder in Be­gegnung mit Dharmalehrern und Situationen bringen, aber dann entscheidet doch wieder ihr eigenes Karma. Ihre eigenen Tendenzen entscheiden, ob sie sich davon angezogen fühlen oder nicht, ob sie sich dafür öffnen können oder nicht – es ist ganz schön schwierig, allen Wesen, selbst den eigenen Kindern, zu helfen, in dieses Glück hinein zu finden!

Darum fangen wir bei uns selbst an und je überzeugender unser eigenes Beispiel ist, desto größer ist die Chance, dass andere sich davon inspiriert fühlen. Das ist der Punkt. Vielleicht können wir noch etwas inspirierender für unsere Umgebung werden. Daran können wir zu­mindest arbeiten, dass wir so authentische Qualitäten in uns freisetzen, dass die Umgebung davon inspiriert ist. Das können wir machen.

Als ich das gemacht hab, das war wie so ein Kreiseln, als ich mir das vorgestellt hab, dem anderen geht’s gut, auch im Geist – plötzlich ist nichts mehr da und ich bin nur wieder beim Atmen. Soll man dann beim Atem bleiben oder mit diesem Kreis weitermachen?Ja, du kannst dann einfach eine Weile in dieser Offenheit bleiben, in der sich alles aufgelöst hat. Gar nicht unbedingt beim Atem. Da ist ein natürlicher Geist, der plötzlich zum Vorschein kommt. Erst, wenn der wieder enger wird, dann startest du den Kreis wieder aufs Neue.

Die Erfahrung, dass uns diese Praxis in offene, natürliche Geistesräume bringt, ist ebenfalls ganz natürlich. Dann bleiben wir da drin und machen nicht weiter mit den Konzepten, mit der begrifflichem Arbeit, mit den Wünschen, wir bleiben in dieser Natürlichkeit. Wenn dann wieder ichbezogene Konzepte kommen, dann können wir wieder anfangen mit der bewussten Meditation.

Wenn ich das praktiziere, dann bin ich ja immer noch so, wie ich jetzt bin. Das war so ein Gedanke... es muss ja schön sein, frei von Leid zu sein, ja fast ein anderer Mensch zu sein, aber der Körper, den ich jetzt noch habe?Ja, wer bist denn du?

Ja, das frag ich mich dann auch. Das ist der wichtige Punkt. Den Körper behalten wir. Klar. Der Geist kann offenbar auf sehr unterschiedliche Weise erleben. Manchmal kommt uns dieses neue Erleben so unwirklich vor und dann möchten wir uns fast zurück flüchten ins alte. Und dann sind da Momente von Freu­de, so schön, hell und leicht – wir sind nichts von all dem. Weder das eine noch das andere. Aber die offeneren, die glücklicheren, freudevolleren Zustände führen uns näher heran an das, was wir wirklich sind.

Unser enges Normalbewusstsein, in dem wir so ganz mit uns selbst beschäftigt sind, auch mit unseren Beziehungen, das ist – wie ein schlechter Traum, in dem es uns eigentlich gar nicht so gut geht. Ein bisschen beengt.

Wenn wir in diese Meditation von Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut hineingehen, erleben wir einen etwas besseren Traum, einen etwas offeneren, weiteren Traum. Aber es ist auch ein Traum, solange wir noch in dieser Dualität sind in der Praxis. Auch dieser Traum wird sich auflösen.

Dann kommen wir in eine Geistesdimension, in der das Traumhafte als traumhaft erlebt wird, und wir nicht mehr meinen, das sei wirklich. Da zeigen sich diese Qualitäten spontan und es gibt niemanden mehr, der sagt: Das sind meine Qualitäten, die Qualitäten meines Geistes. Qualitäten zeigen sich ganz spontan, aber es sind niemandes Qualitäten. Es sind die Qualitä­

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ten, so wie der Geist halt ist, so wie ein Geist frei von Ichbezogenheit sich einfach manifes­tiert. Wir sind aufgewacht. Es ist kein Traum mehr. Auch die Frage:“ Wer bin ich eigentlich“, stellt sich nicht mehr. Es gibt keine Ichbezogenheit mehr, die noch wissen muss, wo sie hin­gehört. Keine Ichbezogenheit mehr, die die Frage stellt:“ Wer bin ich eigentlich?“

Wenn ich mich visuell stark fixiere in der Meditation, dann komme ich relativ leicht in schöne Zustände. Bin aber gleichzeitig ziemlich angespannt. Dann merke ich danach, dass ich kaum mehr scharf sehen kann. Soll ich das trotzdem machen oder nicht?Fixierst du stark? Oder ist das eine Entspannung, die zu dieser Entfokussierung führt?

Weil ich danach nicht mehr scharf gucken kann, glaub ich, dass ich da was falsch mache. Wenn man sich entspannt, dann entspannen sich auch die Augenmuskeln. Dann kann es sein, dass man für ein paar Minuten nach der Meditation nicht so scharf sieht, dass es Mühe macht, den Fokus wieder zu finden. Das ist aber nicht unbedingt ein Zeichen, dass man die Augen angespannt hat während der Meditation, sondern es kann auch sein, dass man sie entspannt hat. Wenn man noch tiefer entspannt, dann löst sich dieses Phänomen wieder auf. Dann kommt es nicht mehr zu dieser verschwommenen Sicht nach dem Meditieren. Ich finde es kein schlechtes Zeichen. Ich kenne das und habe es schon von vielen Menschen gehört und da kann man nur sagen: einfach noch tiefer entspannen.

Einfach... Schwierig. Ja. Tiefer entspannen. Es ist auch ein Zeichen dafür, mit wie viel Kraft wir unsere normale Welt zusammenhalten. Im Moment der Meditation halten wir unsere Welt nicht mehr auf dieselbe Art und Weise zusammen. Wenn wir daraus auftauchen, dann sind wir noch nicht gewöhnt an diese Übergänge.

Da war ein Moment, den kann ich überhaupt nicht einordnen, wie als wäre ich in Gedanken oder Gefühlen verloren gewesen, wo ich dann von irgendetwas zurückkomme. Da wusste ich, ich bin zurück, ich habe keine Ahnung, was da in diesem Moment war, ich weiß nur, ich bin zurückgekommen.Das sind Momente, in denen wir uns für einen Augenblick vergessen haben. Das Bewusstsein in diesem Vergessen war noch nicht klar – du hast dich für einen Moment vergessen und die Kontrolle losgelassen, die Orientierung verloren. Aufgrund des Kontrollverlustes hast du auch die Orientierung verloren. Aber das ist in Ordnung. Das ist etwas beunruhigend, wenn wir das zum ersten Mal oder überhaupt erleben: nur zu merken, dass wir zurückkommen, aber nicht zu wissen, wo wir gewesen sind. Wir wissen gar nicht, wie lange das gedauert hat, aber es ist einfach nur, dass wir uns vergessen haben. Für eine kurze Zeit normalerweise, recht kurz.

Kannst du etwas zu den Ursachen des Glücks sagen?Alles, was den Geist weitet, alles, was die Ichbezogenheit schwächt, sind heilsame Hand­lungen. Handlungen, die aus diesen Qualitäten geboren sind: Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut, das sind die Ursachen des Glücks. Die Ursache des Glücks ist alles, was uns zu dieser Offenheit des Geistes hilft.

Wenn du dich zum Beispiel heute von etwas trennst, das dir eigentlich sehr lieb war, aber je­mand anders kann es noch besser nutzen, dann ist dieses Geschenk, diese Freigebigkeit, nicht nur jetzt eine Ursache für Glück, sondern wird auch Auswirkungen auf die Zukunft haben. Das nennt man Ursache des Glücks: die Auswirkungen auf die Zukunft. Wir alle tragen Ursa­chen des Glücks und des Leides in uns. Das sind die karmischen Spuren, die wir in uns tragen. Wenn wir zum Beispiel meditieren, wissen wir manchmal gar nicht, warum es uns jetzt gut geht oder warum wir uns jetzt gerade schlecht fühlen. Das sind die Folgen von kar­

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mischen Spuren, die in unserem Geist frei werden, weil wir gerade nichts anderes tun. Da kann sich das zeigen.

Ist das Karma vom Vorleben oder auch von diesem Leben?Beides. Wir haben in diesem Leben Tendenzen verstärkt und Tendenzen geschwächt und ent­sprechend zeigt sich das dann in unserem Geist.

Die Übungen der Entspannung, Meditation auf den Atem, Shamar Rinpotsche hat solche Übungen erklärt, wenn ich die mache, das hilft mir relativ schnell, meinen Geist zur Ruhe zu bringen. Aber wo ist die Grenze, wo beginnt das Machen?Es braucht die rechte Mischung, das rechte Verhältnis von Anspannung und Entspannung. Das berühmte Beispiel ist das von einem Saiteninstrument. Eine Harfe oder Gitarre gibt keinen Ton, wenn die Saiten zu locker sind. Wenn sie zu straff sind, reißen sie. Buddha hat dieses Beispiel benutzt unter anderen Beispielen.

Für uns in der Praxis bedeutet das: Wenn ich mit euch die Übungen mache, ist Konzentration und auch eine gewisse Anspannung dabei. Dann braucht es wieder Phasen, in denen wir ent­spannen, lockerer sind. Wenn jemand nur konzentrative Meditation machen und z.B. nur den Atem mit dem Willen verfolgen würde, willentliche Achtsamkeit üben würde, dann würde er bald recht verspannt. Wenn man nur entspannt, dann schläft man bald ein.

Deswegen braucht es da ein Mittelmaß. Wenn man sich ganz gerade hinsetzt, wenn die Kör­perhaltung sehr gerade ist, kann man sich ein großes Maß an geistiger Entspannung erlauben, weil die Grundhaltung des Körpers zu einer Wachheit führt. Wenn wir aber recht entspannt sitzen und dann noch den Geist entspannt lassen, dann sinken wir allmählich weg in eine Ent­spannung, die dann Dumpfheit wird. Da muss der Meditierende herausfinden, wann ist es Zeit, die Zügel ein wenig zu straffen und wann ist es Zeit, ein wenig lockerer zu lassen. Die allermeisten von euch sind – zumindest in Gegenwart eines Lehrers – zu angespannt. Des­wegen ist Entspannung wichtiger. Wenn ihr aber merkt, dass der Geist dumpf wird, nicht mehr wach ist, oder dass die Gedanken einfach weggehen, dann müsst ihr mit etwas Wollen, mit etwas Anstrengung den Geist ein wenig disziplinieren, so wie man ein junges wildes Pferd an die lange Longierleine nimmt und daran gewöhnt, geführt zu werden und das zu tun, was der Meister entscheidet. Je mehr der Geist sich aus den Verhaftungen an Dinge löst, die uns scheinbar interessieren, die wichtig erscheinen, desto weniger braucht man die konzentra­tive Form von Meditation, weil der Geist natürlicherweise gesammelt ist. Aber gerade zu Anfang der Praxis von Geistesruhe braucht es einen ziemlichen Einsatz, um den Geist zu sammeln und zu konzentrieren.

Shamar Rinpotsche geht so weit zu empfehlen, dass die Schüler bis zu 1000 Atemzüge zäh­len. Wenn einer verpasst wird, wird wieder von vorne angefangen. Das tut sehr gut, das tut wirklich sehr gut. Aber man muss es aus ganz freien Stücken machen. Wenn wir den Wert dieser Geistesschulung einsehen, dann macht es Sinn, das zu tun. Wenn es Ehrgeiz ist, mit dem wir das machen, um anderen sagen zu können, dass wir es geschafft haben, geht das Ganze in die völlig falsche Richtung. Es gibt Leute, die das schaffen. Es ist nicht so schwie­rig.

Dieses sanfte gesammelte Dasein lernen wir durch solche Methoden. Es gibt viele solcher Methoden. Zum Entwickeln der Geistesruhe wird uns ein Beispiel gegeben, um uns zu zeigen, wie achtsam wir sein sollen. Stellt euch vor, diese Schale wäre mit kostbarem Sesamöl gefüllt und ich wäre ein Sklave, der diese Schale, ohne einen Tropfen zu vergießen, durch das Ge­wimmel eines Marktplatzes tragen müsste. Neben mir geht einer, der den Auftrag hat, mir den Kopf abzuschlagen, wenn ich auch nur einen Tropfen vergieße.

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Das ist ein Beispiel, wie wir unsere Achtsamkeit schulen sollten, wenn wir in der konzentra­tiven Meditation sind. Könnt ihr euch vorstellen, mit welcher Achtsamkeit wir da gehen würden? Nur mit Entspannung kommt man nicht zum Ziel, es braucht dieses Bemühen. Deshalb: setzt euch hin, tut es! Abends, morgens: Macht die Übungen, die ihr erhaltet. Wenn ihr sie nicht macht, dann mangelt es an Disziplin, dann kommen wir nicht vorwärts.

Wenn man allein ist, dann können solche Übungen, solche Geisteszustände, doch auch Angst hervorbringen: die Vorstellung, es klappt nicht, Kopf ab – wie kann man denn damit umge­hen? Wie kann man sich der Aufgabe gewachsen fühlen? Durch geistige Unruhe ist die Acht­samkeit ja weg und das Ziel gar nicht erreichbar!Ja, das wirst du sofort merken, wenn du anfängst zu zittern, weil du Angst hast, dass dir der Kopf abgeschlagen wird. Du musst das richtige Maß zwischen Konzentration und An­spannung und Entspannung herausfinden und am besten vergessen, dass da jemand mit dem Schwert hinter dir her geht. All das sind Prozesse, die im eigenen Geist ablaufen, wenn man versucht diese Aufgabe zu meistern.

Es ist gut zu lernen, solche Achtsamkeitsübungen zu meistern. Die Fähigkeit, den Geist un­abgelenkt auf einem Objekt halten zu können – sei es der Atem, sei es eine Visualisation, sei es ein Gebet oder ein Nachdenken über einen Punkt im Dharma zum Beispiel, über Karma oder Vergänglichkeit – den Geist wirklich dabei halten zu können, ist so ein großes Ge­schenk! Wer diese Fähigkeit entwickelt hat, den Geist sich auf etwas sammeln lassen zu können, der wird es leicht im Leben haben! Es wird ihm alles gelingen, weil der Geist un­abgelenkt ist. Mit einem unabgelenkten Geist kann man so viel tun, so viel!

Zur Übung mit dem Körper: angenommen ich würde wirklich eine Schüssel nehmen und wie eine Gehmeditation Schritt für Schritt, da wird der Geist viel ruhiger als wenn ich das mental mache, weil da geht das so viel schneller. Mach, was dir gut tut! Du sprichst von Gehmeditation – bei der Gehmeditation kannst du das Abrollen des Fußes wahrnehmen, das Heben, das Verlagern des Gewichts, das Wieder­aufsetzen, den Bodenkontakt, wenn du wirklich bei der Gehmeditation allein schon das Gehen mit den Füßen wahrnehmen kannst, allein das reicht schon aus.

Ich will nur sagen, es ist ein Unterscheid, wenn die Achtsamkeit vom Körper real dabei ist, es verändert die Übung. Es wäre dann auch einfacher zu zählen. Um es ehrlich zu sagen: Zählen ist eine ganz grobe Methode. Gut, wenn das jetzt der Einstieg ist, ist Zählen die Methode, mit der wir einsteigen. Dann können wir 500 Atemzüge zählen. Aber dann möchte ich dir die Frage stellen: Wie viele Gedanken kannst du in einem Atemzug denken? Man kann nämlich den Atem durchaus zählen, 1-2 und dazwischen – tock, tock, tock, hat man jede Menge andere Gedanken.

Worum es eigentlich geht, ist ein Strom der Achtsamkeit, der den Atem nicht eine Hundertstelsekunde verlässt, sondern das Ausströmen in jeder Phase des Ausströmens mitbe­kommt, die Pause, falls es eine gibt, in jedem Moment mitbekommt, mit all den Qualitäten, nicht durch einen einzigen Gedanken abgelenkt. Das ist eigentlich die Achtsamkeit auf den Atem.

Dasselbe gilt auch fürs Gehen: wenn wir wirklich auf das Gehen achtsam sind, das ist eine so volle Erfahrung, dass wir nicht noch zusätzlich zu zählen brauchen. Das wäre im Vergleich zu der feinen Achtsamkeit der Gehmeditation relativ grob.

Wenn ihr das üben wollt: Tut das! Schult euren Geist in dieser Achtsamkeit! Das ist sehr, sehr hilfreich. Es ist ein Hilfsmittel, das wir brauchen, um die Meditationen von Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut tief ausüben zu können.

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Achtsamkeit auf den AtemIch sprach gestern im Vortrag darüber: In den Sutras werden die vier grenzenlosen Geis­teshaltungen meistens erwähnt, nachdem der Buddha zuvor über meditative Versenkung gesprochen hat, über die 1., 2., 3. und 4. Stufe der meditativen Versenkung, tiefe Geistesruhe, in der der Geist so stabil ist wie ein Ozean ohne Wellen, völlig klar und transparent. Aus dieser Geistesruhe heraus wendet sich der Meditierende der Meditation der vier Grenzenlosen zu, um dadurch in die Dimension frei von Ichbezogenheit hinein zu kommen. Bei geistiger Stabilität in meditativer Versenkung sind wir vielfach immer noch ichbezogen. Es ist immer noch ein Jemand, der meditiert und der die Meditation wahrnimmt. In den Bereich der Non­dualität zu kommen ist kraft der Liebe und des Mitgefühls möglich. Diese Kräfte setzen das frei, was es braucht, um von sich selbst loszulassen.

Wir können diese vier Grenzenlosen jetzt üben, aber wir sollten immer auch die Achtsamkeit stärken, das heißt die Geistessammlung, das ist ein besseres Wort. Wir sollten die Geistes­sammlung vertiefen, die Fähigkeit, dass der Geist dort gesammelt bleibt, wo wir ihn hinlen­ken. Es ist nämlich später nicht mehr eine Achtsamkeit, wo man den Geist voller Willen und Anstrengung immer wieder zurück bringen muss. Geistessammlung wird total entspannend! Was wir Achtsamkeit nennen, wird – wenn wir es vertiefen – ein Quell der Entspannung, der Gesundheit und des Wohlbefindens, da gibt es keine Spuren von Stress. Nicht diese stressige Achtsamkeit, bei der ich fast ins Schwitzen gerate, weil ich meinen Atem nicht verpassen möchte. Wenn wir den Geist ausrichten z. B auf eine Kerze oder den Atem oder worauf auch immer, ist es, als ob der Geist mit einem Anker, einem schweren Gewicht auf dem Objekt verankert wäre und die kleinen Seitengedanken sind nur kleine Auslenkungen oben am An­kerhaken.

Der Geist kommt von selbst, ohne dass es anstrengend ist, immer wieder zum Objekt zurück und die Sammlung vertieft sich, bis es gar nicht mehr zu ablenkenden Gedanken kommt. Ohne Anstrengung. Es ist wichtig zu verstehen, dass eigentliche Geistessammlung nicht auf Anstrengung beruht, sondern auf Entspannung.

Da kommen wir also wieder zur Entspannung zurück. Die eigentliche Achtsamkeit beruht auf Entspannung. Die anfängliche Achtsamkeit beruht auf Konzentration und Willen, dem be­wussten Ausklammern von ablenkenden Einflüssen.

Aber das bewusste Ausklammern von ablenkenden Einflüssen brauchen wir nur, weil wir so an den ablenkenden Einflüssen anhaften! Wenn wir tiefes Loslassen, tiefe Entsagung in uns hätten und uns die Gedanken an Beruf, Familie usw. im Moment der Meditation unwichtig wären, dann könnten sie uns auch gar nicht ablenken. Unsere Sorge um uns selbst und um das, was wir täglich tun, ist das, was die Ablenkung bewirkt. Wenn wir diese Sorge nicht mehr hätten, wenn wir da tief innen losgelassen hätten, könnten die Gedanken kommen, aber sie würden nicht mehr zu einer Gedankenkette führen, weil ihnen keine Bedeutung beige­messen wird.

Der Gedanke an Geld wird in unserem Geist zu einer Ablenkung, wenn uns Geld wichtig ist. Der Gedanke an Frauen oder an Männer führt in unserem Geist zu Gedankenketten, wenn uns Männer bzw. Frauen wichtig sind. Etwas führt zu einer Gedankenkette, weil es uns in dem Moment wichtig erscheint.

Wenn einem, der meditieren will und sich zur Meditation hinsetzt, nichts anderes mehr wichtig ist als zum Beispiel das Vertiefen der vier Qualitäten oder das Üben der Achtsamkeit mit einem Objekt, dann kommt es auch nicht zur Ablenkung.

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Unser abgelenkter Geist ist ein Spiegel dafür, was wir immer noch für wichtiger halten als die Meditation. Wenn ich mich hinsetze und an das denke, was ich gerade erlebt habe, das bedeu­tet, dass mir das gerade Erlebte wichtiger ist als die derzeitige Meditation.

Die Gedanken entziehen sich doch unserer Kontrolle, wenn sie dann aufsteigen. Ist jeder Ge­danke während der Atemmeditation schon eine Ablenkung, oder erst, das Nachdenken, also wenn man 2,3,5,10 Gedanken daraus macht?Eigentlich ist erst die Gedankenkette eine Ablenkung. Denn du kannst nicht verhindern, dass karmische Impulse im Geist auftauchen, dass sich etwas im Geist bemerkbar macht. Aber die sich daran hängende Gedankenkette ist überflüssig. Dann gibt es Momente, Phasen, in denen weniger Karma frei wird, in denen es weniger solche spontan erscheinenden Gedanken gibt und dann gibt es Phasen, in denen es sehr viele davon gibt. Aber wir können unabgelenkt sein, obwohl viele solche Gedanken auftauchen.

Wenn einen etwas beschäftigt, vielleicht auch eine große Angst, was würdest du dann raten, wenn mir immer wieder die Situation vor Augen kommt? Ich würde dir einen Kompromiss vorschlagen, der für mich während meines Studiums gut funktioniert hat. Ich habe mir bei jeder Meditation abends eine Viertelstunde gegeben, in der ich denken konnte, was ich wollte. Freies Denken, Nachhängen über alles, was am Tag war, was auch immer. Wenn ich dann das Gefühl hatte, jetzt habe ich aber genug darüber nachge­dacht, es taucht nichts Neues mehr auf, es ist alles gedacht, dann Schluss, jetzt kommt die Atemmeditation. Als erstes eine konzentrative Meditation, um den Punkt zu markieren, an dem ich wirklich in die Meditation eintrete. Das davor habe ich gar nicht Meditation genannt, das habe ich „Verdauungsphase“ genannt, das war meine geistige Verdauung. Nach einer konzentrativen Spanne von 5–10 Minuten, in der wir richtig beim Atem bleiben, ist der Geist frei für anderes, für die andere Meditationsübung.

Ist es wichtig zu sitzen, oder kann ich auch im Alltag, wenn es mir langweilig ist, mal Atem­züge zählen?Zieh dich besser erst zurück und übe ganz bewusst auf dem Sitz, dann wird es dir zu einer vertrauen Gewohnheit. Wenn du dann z.B. in der Straßenbahn sitzt, achtest du auf deinen Atem statt all den verschiedenen Sinneseindrücken nachzugehen. Du wirst sehen, dass es im Alltag ganz viele Möglichkeiten gibt. Du kannst dich in der Prüfung damit beruhigen, in einem Einstellungsgespräch kannst du dich damit entspannen, indem du auf deinen Atem ach­test, deine müden Augen kannst du entspannen, indem du sie zwar offen lässt, aber innerlich auf den Atem achtest, es gibt so viele Anwendungen! Was du machen kannst, ist so vielseitig, wenn du einmal damit vertraut geworden bist.

Wenn ich z.B. abends nicht einschlafen kann, mich irgendetwas bewegt, wenn da noch starke Gedanken sind, ist dieses Achten auf den Atem das beste Mittel, um einschlafen zu können. Jeder muss selbst herausfinden, wo diese Methode hilft. Sie lässt sich unbegrenzt anwenden.

Es gibt buddhistische Traditionen, in denen der Meditierende dazu angehalten wird, möglichst den ganzen Tag über nie die Achtsamkeit auf den Atem zu verlieren und egal was er tut, immer mit dem Atem verbunden zu bleiben. In dieser Tradition gibt es, wenn du zum Lehrer kommst, eigentlich nur drei Fragen: Was erfährst du, wenn du ausatmest? Was erfährst du, wenn du einatmest? Was erfährst du in den Pausen? Dann ist das Interview mit dem Lehrer zu Ende und du kannst wieder gehen. Das gibt es.

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Buddha Shakyamuni: Das Metta Sutra und seine Auslegung

Zu Anfang unserer heutigen Sitzung möchte ich euch gerne mit einem berühmten Text der buddhistischen Tradition vertraut machen, dem Metta Sutra, der Lehrrede der Liebe. Der Bud­dha hat oft über Liebe und Mitgefühl gesprochen. Einmal wollte eine Gruppe seiner Schüler, eine Gruppe von Mönchen, in einem Wald meditieren. Sie hatten sich zurückgezogen, um dort ein Retreat zu machen. Aber die Waldgeister waren davon überhaupt nicht begeistert. Sie fühlten sich jetzt, da diese erlauchten Mönche im Wald waren, genötigt, eine niedrigere Stel­lung einzunehmen und von den Bäumen herunter zu kommen. Aber sie wären so gerne wieder auf die Bäume hochgegangen! In ihrem Nicht-zufrieden-Sein bereiteten sie der Gruppe von Mönchen eine Menge Probleme. Diese wussten gar nicht, was los war und merkten nur, dass nichts gelingen wollte.

Sie kamen zum Buddha und erklärten ihm ihre Probleme. Der Buddha sah natürlich, dass die unsichtbaren Wesen nicht zufrieden waren und riet den Mönchen, Liebe zu praktizieren. Er gab ihnen die Worte, die ich euch jetzt vorlesen werde als Instruktion mit: Sie mögen einfach dieses Gebet immer wiederholen. Und siehe da, indem sie diese Lehrrede des Buddha immer wieder sangen und beteten, lösten sich alle Hindernisse auf. Die Geister waren glücklich, entwickelten ebenfalls liebende Güte und Mitgefühl, der Geist der Praktizierenden fand sehr schnell in Meditation hinein und sie hatten tiefe Verwirklichungen.

Das ist also das Sutra der liebenden Güte, das Metta Sutra, das in allen Traditionen des Thera­vada gesungen wird. Als ich in Burma mit einer großen Anzahl von Theravada-Mönchen zu­sammen war, wurde dieses Sutra gesungen, wenn wir die Stupas und Pagoden umwandelten. Auch jeden Morgen zu Beginn der Konferenz wurde dieses Sutra von den Mönchen aus Sri Lanka, Thailand, Burma oder aus Vietnam gesungen – die verschiedenen Gruppen haben dieses Sutra jeweils zum Auftakt gesungen. Ich habe es heute Morgen aus verschiedenen englischen Übersetzungen ins Deutsche übersetzt:

Der Buddha spricht:

„Bist du geschickt im eigenen Wohl und möchtest wahren Frieden erlangen, Nirwana, dann sei fähig, ehrlich und aufrecht, leicht zu unterweisen, sanft und von geringem Stolz. Sei zufrieden, leicht zu unterstützen, mit wenigen Pflichten einfach lebend, besonnen und umsichtig, liebenswürdig, ohne Wohltäter zu umwerben, selbst die geringste Handlung unterlassend, die von Weisen gerügt werden würde. Dann kultiviere den Gedanken: Möge es allen Wesen wohl ergehen. Mögen sie in Sicherheit sein. Mögen alle Wesen glücklich sein. Was immer für Wesen es geben mag, alle ohne Ausnahme, schwach oder stark, groß, gedrungen, von mittlerem Wuchs oder klein, winzig oder massig, sichtbar oder unsichtbar, nah oder fern lebend, bereits geboren oder Geburt suchend, – mögen all diese Wesen glücklich sein! Möge niemand irgendwo seine Gefährten betrügen oder verachten. Möge niemand dem anderen aus Abneigung oder Hass Schaden wünschen. So wie eine Mutter, die ihr Leben geben würde, um ihren Sohn, ihr einziges Kind, zu schützen, genauso sei du, erfüllt von Gedanken grenzenloser Liebe für alle Wesen. Näh­re einen allumfassenden Geist der Liebe für alle in allen Universen, oberhalb und un­terhalb und überall um uns herum, uneingeschränkte Liebe, frei von Feindseligkeit und Hass. Ob du stehst, gehst, sitzt oder dich hinlegst, solange du bewusst bist, entwickle diese Achtsamkeit, diese Geisteshaltung, mit aller Kraft. Das ist, was wir hier „Verweilen im Reinen“ nennen, Brahmavihara.

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Nicht mehr an verkehrten Ansichten festhaltend, voller Tugend und Einsicht in die Wahrheit, das Verlangen nach Sinnesvergnügen überwunden, wirst du nie wieder in eine Gebärmutter zurückkehren“ (d.h. du wirst nie wieder gezwungen sein, in Samsara in einer niederen Existenz Geburt anzunehmen). Das war das Metta Sutra, das Sutra der Liebe und des Mitgefühls. Ich stelle euch diesen Text vor, weil wir daran noch zu einem tieferen Verständnis von Liebe kommen können. Zum einen ist es wichtig, dass wir verstehen, dass ein offenes Herz der beste Schutz ist und dass zum Befrieden von Schwierigkeiten dieses offene Herz zu entwickeln ist. Der Buddha gab diese „Medizin“ an seine Mönche als ein Gebet, das sie praktizieren sollen, damit es auch die­jenigen hören, die Gedanken lesen können, nämlich die unsichtbaren Wesen, damit so alle in dieses offene Herz hineinfinden. Das ist das Beste. Wenn wir das schaffen können, dass sich das Herz von allen öffnet, dann ist das größtmögliche Wohl erreicht. Deswegen hat der Bud­dha seine Mönche aufgefordert, den Text laut zu singen, laut zu rezitieren, nicht nur einfach für sich im Stillen durchzudenken. Dieses Gebet wirklich in diese Welt hineinzugeben und sich damit zugleich auch zu verpflichten, diese Einstellung im eigenen Geist wachzurufen.

Er beginnt mit dem Satz: „Bist du geschickt im eigenen Wohl“, dann tue all das, was folgt. Damit meint er, dass das Wohl der anderen und das eigene Wohl Hand in Hand gehen. Wenn wir uns für das Wohl der anderen einsetzen und das Herz öffnen, ist das eigene Wohl bereits verwirklicht. Das Herz zu öffnen und für andere da zu sein ist die geschickteste Weise, das eigene Wohl zu bewirken. Jemand, der liebt, ist glücklich. Wenn du glücklich sein möchtest, dann vergiss die Sorge um das eigene Wohl und kümmere dich um andere. Das ist die Bot­schaft, mit der der Buddha beginnt.

Aber er fügt hinzu: „und möchtest du wahren Frieden erlangen“. Wahrer Frieden ist der Zustand von Nirwana, das Freisein von allem Leid. Leid entsteht aus Ichbezogenheit. Freisein von Leid bedeutet Freiwerden von Ichbezogenheit. Wer also diesen wahren Frieden erlangen möchte und sich geschickt um das eigene Wohl kümmern möchte, der öffne sein Herz und wende sich anderen zu. Das eigene Wohl und das Wohl anderer gehen zusammen.

Der Frieden, von dem der Buddha spricht, ist nicht ein Frieden abgesondert von anderen. Es ist ein Frieden in der Herzensöffnung. Dort kommt der Geist zum Frieden. Im Mahayana-Buddhismus, speziell im Vajrayana-Buddhismus, hat das zu Formulierungen geführt wie „Einheit von Samsara und Nirwana“. Über Nirwana, die Verwirklichung des vollkommenen Friedens im eigenen Geist, war viel gesprochen worden in den buddhistischen Lehrreden.

Die Lehre, dass sich Nirwana in der Öffnung des Herzens und des Geistes finden lässt und dass diese Öffnung auch bedingt, dass man alles Sich-vor-Anderen-schützen-Wollen loslässt, dass man die Angst vor den anderen loslässt, die Angst vor Samsara loslässt, das hat dazu ge­führt, dass man von der Einheit von Samsara und Nirwana oder dem Sich-völlig-Öffnen für Samsara spricht, ohne in Samsara verloren zu gehen. Das ist die Kunst: wie man in der Welt sein kann ohne in der Welt verloren zu gehen. In der Welt, aber nicht von der Welt, heißt es bei uns im Westen.

Dann beschreibt Buddha im ersten Abschnitt die Grundlagen, auf der sich die Praxis von Maitri oder Metta entwickelt. „Sei fähig“ – ist verwandt mit dem Sanskritwort Purusha, was einen fähigen Menschen darstellt. Ein fähiger Mensch ist jemand, der in der Lage ist, das um­zusetzen, was er verstanden hat. Wenn uns diese Fähigkeit mangelt, das zu tun, was wir verstanden haben, dann sind wir nicht fähig. Wir werden nicht fähig sein, den Weg zu gehen, weil wir das, was wir verstehen, nicht umsetzen. Wenn es an dieser grundlegenden Fähigkeit, unserer inneren Weisheit zu folgen, voll und ganz mangelt, dann kann jemand keinen spiritu­ellen Weg gehen, dann haben Entscheidungen keinerlei Relevanz. Man entscheidet sich, dieses oder jenes zu tun, dieses oder jenes zu praktizieren, aber es folgt nichts. Die Fähigkeit der Umsetzung fehlt.

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Mit: „sei ehrlich und aufrecht“ ist gemeint, dass wir tun, was wir sagen, dass auf das, was wir sagen, Verlass ist, dass wir ehrlich sind und nicht lügen, dass wir uns selbst und andere nicht anlügen. Aufrecht bedeutet, dass auf uns Verlass ist, dass wir aufrecht in die Augen der anderen schauen können, weil wir nichts zu verbergen haben. Das ist mit aufrecht gemeint. Aufrecht hat mit dem Begriff Rishi zu tun in Sanskrit. Ein aufrechter Mensch, das war ein Ausdruck für einen weisen Menschen, einen verwirklichten Menschen. Das waren die auf­recht Gehenden, weil sie verwirklicht waren, weil sie weise waren. Auf diese Menschen war Verlass.

„Leicht zu unterweisen“ bedeutet, dass jemand zuhören kann und in der Lage ist, seinen Geist so weit flexibel zu halten, dass er einem Gedankengang z.B. von einem Lehrer folgen kann, ohne direkt mit Abwehr zu reagieren, ohne gleich beim ersten Wort, beim zweiten Wort mit „aber, aber, aber“ zu reagieren. Dann ist der Geist nur noch voll von „Aber“ und es ist gar nicht möglich, der Unterweisung zu folgen, weil nur Widerstände im Geist sind. Jemand, der leicht zu unterweisen ist, ist jemand, der zuhören kann und sich hineindenkt und es dann über­prüft. Nachdem das Verständnis dessen, was gesagt ist, abgeschlossen ist, findet die Überprü­fung statt anhand von dem, was ich selber schon in meinem Leben erkannt und erfahren habe. Wenn ich dann intelligente Fragen stelle, die aus der Erfahrung und dem eigenen Verständnis geboren sind, wird die Unterweisung umso leichter, weil dem, der unterweist, die Frage ge­stellt wird und er noch mehr auf die eigentlichen Fragen eingehen kann.

„Sei sanft und von geringem Stolz.“ Sanft bedeutet: nicht aufbrausend sein, nicht aggressiv werden, nicht im Rechthaben verstrickt sein. Natürlich spricht der Buddha da sowohl zu sei­nen Mönchen als auch zu den Baumgeistern. Beide sollen sanft sein und von geringem Stolz. Stolz und Anhaften waren die Gründe dafür, dass die Baumgeister so ungern von ihren Bäu­men herunter kommen wollten. Aber auch die Mönche hafteten an ihrem Frieden, sie wollten ungestörte Meditation. Wer stört uns da? Was ist da los? Wenn wir sanft sind und von geringem Stolz, können wir weit durch die Welt kommen. Dann haben wir wenige Hinder­nisse. Wer stolz ist, hat ständig Hindernisse. Überall wird angeeckt, weil das Ich, das Ego, so dick ist, dass es nicht mal durch die Tür passt. Jede Situation ist unangenehm, weil dem eigenen Ich nicht genug Raum gewährt wird. Von geringem Stolz: man kann sich anpassen, man ist flexibel, kann zuhören. Jedes Löchlein ist groß genug, um hindurch zu kommen, weil es nichts gibt, das aufgrund von Ichanhaftung widerstrebt.

„Sei zufrieden.“ Zufrieden bedeutet hier, man ist leicht zufrieden zu stellen, von geringen Ansprüchen, geringen Wünschen, nicht immer noch einen Wunsch zu haben... z.B. zufrieden zu sein, auf einer einfachen Unterlage zu schlafen, oder mit dem Essen, das gerade auf den Tisch kommt, oder mit der Unterweisung, die einem gerade gegeben wird, zufrieden zu sein! Zufrieden bedeutet, nicht immer noch etwas anderes wollen als das, was die Situation gerade bringt. Das bedeutet Frieden des Geistes. Man ist entspannt und verfängt sich nicht in dem Denken an das, was anders sein könnte: Wenn es doch alles nur besser wäre...

„Leicht zu unterstützen“ – das bedeutet zweierlei. Leicht zu ertragen, also jemand, mit dem es leicht zu leben ist und jemand, dem Unterstützung zu gewähren, leicht fällt, weil er Hilfe leicht annimmt. Ich habe die Pali-Stelle nicht, deshalb kann ich nicht genau herausfinden, was das Wort ist. Auf Englisch heißt es „easy to support“. Aber beide Bedeutungen sind im Dharma richtig. Jemand, der leicht zu ertragen ist, ist jemand, mit dem es leicht zu leben ist, aber auch ein Mönch, der von geringen Ansprüchen ist, ist von einer Laiengemeinschaft leicht zu tragen, weil er so geringe Ansprüche hat und weil er nicht ständig mehr fordert, mehr Wünsche hat. Ein bescheidener Mensch ist leicht zu unterstützen.

„Mit wenigen Pflichten“ – damit ist gemeint: geringe Geschäftigkeit, wenige Aufgaben, die den Geist aufwühlen. Es liegt an uns das rechte Maß herauszufinden. Wenn wir uns um viele Menschen kümmern, kann unser Geist dabei trotzdem ruhig sein, ausgeglichen und un­

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aufgewühlt! Aber es kann auch sein, dass wir gehetzt von einer Aufgabe zur nächsten gehen und die innere Ruhe verlieren. Buddha meint hier, dass unsere Aufgaben und Verpflichtungen so sein sollten, dass wir nicht unsere innere Ruhe verlieren, dass wir in der Lage sind, innere Ruhe zu kultivieren.

„Einfach lebend“ – mit einfachen Lebensumständen zufrieden sein, nicht meinen, man müss­te das Haus jetzt noch verbessern und noch hier ein Gerät anschaffen und dafür noch ein biss­chen mehr arbeiten, damit man ein besseres Automodell kaufen kann – mit dem zufrieden sein, was sich relativ leicht einstellt und dem äußeren Leben keinen größeren Wert beimessen als dem inneren spirituellen Wohlergehen. Wir sollten uns bei allem, was wir tun, klar darüber sein, dass letzten Endes nur zählt, wie weit unser Geist in den Frieden, in die wirkliche Offen­heit hinein gefunden hat, wenn wir aus dieser Welt gehen. Und es zählt viel mehr, wie viele glückliche Momente wir mit Familie und Kindern und Freunden verbringen konnten, als was wir an Reichtum und Wohlstand angesammelt haben und wie komfortabel wir es uns ein­gerichtet haben.

„Besonnen“ – das habe ich so übersetzt, weil es ein schönes, altes, deutsches Wort ist, das mit den Sinnesfähigkeiten zu tun hat: „ruhige Sinne“ heißt es eigentlich. Das bedeutet, dass ich nicht den Sinneseindrücken hinterherlaufe, dass der Geist nicht von einer Vielfalt von Sinneseindrücken, an denen ich hafte, aufgewühlt ist. Ruhige Sinne hat jemand, der nicht gleich die nächste Ablenkung braucht, wenn eine Situation vorbei ist, der einfach verweilen kann, einfach sein kann. In diesem einfachen Sein sind die Sinne unaufgewühlt. So ein Mensch ist besonnen. Das hat aber diese doppelte Bedeutung: Weil die Sinne ruhig sind, ent­steht da eine Geistesklarheit und dann kommt es zu besonnenen Handlungen. Aus dem un­aufgewühlten Sinn, wie dem visuellen Sinn und dem akustischen Sinn – wenn ich nicht stän­dig die Musik laufen habe, nicht ständig das Fernsehen laufen habe – kommen die Sinne zur Ruhe und dadurch wird das Leben besonnener.

„und umsichtig“ – hiermit meint der Buddha Sorgfalt im Wahrnehmen der Situationen, ein umsichtiges Handeln, indem ich darauf achte, anderen kein Leid zuzufügen und das größt­mögliche Wohl zu bewirken. Vorsicht, wenn ich bereits voraussehe, welche Schwierigkeiten auftauchen könnten und dann so umsichtig handle, dass wirklich das Ziel erreicht wird, dass es mir wirklich gelingt, anderen zu helfen und dass ich es nicht durch mein eigenes tollpat­schiges Vorgehen unmöglich mache, dass jemandem geholfen wird.

„Liebenswürdig“ – damit ist höflich gemeint, aber höflich hat ja bei uns solch einen Beige­schmack. Wer will heutzutage schon noch „höflich“ sein! Aber Höflichsein ist eine unglaubli­che Qualität, vor allem, wenn wir das als Liebenswürdigkeit ausdrücken. Wenn wir in der Be­gegnung mit anderen aus der Liebe heraus die Beziehung gestalten, respektvoll auf den anderen zugehen, einen Respekt, eine Achtung vor den Bedürfnissen des anderen haben, die Worte so wählen, dass sie nicht verletzend wirken, sondern dass sie einladend und öffnend wirken, all das gehört zu diesem Begriff des Liebenswürdigseins. Die eigentliche Höflichkeit, wenn sie nicht zu einer einfachen äußeren Form degradiert wird, ist das Achtsamsein darauf, die Gefühle des anderen nicht zu verletzen.

Das ist auch für Dharmapraktizierende ganz wichtig. Wir könnten ja auch sagen: gut, wenn der andere verletzt ist, ist das doch nur sein Ichanhaften. Dann benehmen wir uns unsensibel und trampeln auf den Gefühlen der anderen herum. Das hat nichts mit Dharmapraxis zu tun. Das ist einfach mangelnde Liebenswürdigkeit, mangelnde Achtsamkeit, mangelnder Respekt vor den Gefühlen anderer. Es liegt nicht an uns, die Verhaftungen der anderen auszulösen, sie durch unsere unhöfliche Art und Weise zu stimulieren, sondern wir sind in Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut verankert. Dank dieser Qualitäten spüren wir, wie wir in eine Situation hineingehen können, ohne Gefühle zu verletzen, so dass der Geist der anderen wirklich aufge­hen kann. Wenn wir unhöflich sind, dann schließt sich der Geist der anderen. Dann sind sie

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verletzt. Dann fühlen sie sich nicht respektiert und es verschließt sich etwas. Das kriegen wir so leicht nicht wieder hin.

Dann kommt ein Satz, in dem es in Pali offenbar „ohne Verlangen nach Familien“ heißt. Ich habe das entsprechend einer anderen englischen Übersetzung übersetzt: „ohne Wohltäter zu umwerben“. Es war früher so, dass sich Familien um Mönche gekümmert haben und dass man vor das Haus einer Familie ging, um Almosen, Nahrung zu bekommen. Der Buddha ach­tete sehr darauf, dass die Mönche z.B. nicht wieder zu der Familie hingingen, bei der sie schon einmal etwas Gutes erhalten hatten, oder nur zu den reichen Familien und nicht zu den armen. Es war eine Regel in der Mönchs-Sangha, ohne Bevorzugung zu allen Familien zu ge­hen – ohne engere Bande aufgrund von Verlangen nach guter Speise, nach guter Kleidung usw. herzustellen. Heute würden wir wohl sagen, ohne Verlangen nach Wohltätern oder ohne Wohltäter zu umwerben.

Der Buddha beschließt diesen ersten einführenden Absatz damit: „und selbst die geringste Handlung unterlassend, die von Weisen gerügt werden würde“, d.h. kritisiert werden würde. Das ist eine wunderschöne Art, das auszudrücken. Da wird ein Prozess beschrieben: Ich weiß nicht, ob ich eine Handlung ausführen soll oder nicht. Meine eigene Weisheit ist im Moment zu begrenzt, um zu wissen, ob das nun etwas ist, das ich tun sollte. Dann versetze ich mich in den Geist meiner Lehrer hinein oder der Menschen, die ich für weise halte und be­trachte die Handlung mit den Augen der Weisen und lasse alles in den Geist kommen, was ich je über Weisheit verstanden habe. Auch die höchste Weisheit! Und die relative Weisheit und alles, was ich von der Weisheit der Weisen erahnen und erspüren kann. Dann führe ich im Abwägen des Erspürten die Handlung aus. Das Risiko muss ich eingehen. Wenn ich von einem Weisen gerügt werde, bin ich achtsam und höre gut zu, weil ich damit noch mehr über Weisheit lernen kann. Es ist ja nicht schlimm, Fehler zu machen. Aber dann bin ich bereits darauf vorbereitet, noch tiefer zu hören und zu verstehen.

Es gibt Formen von Weisheit, die uns überraschen. Am Ende unseres Retreats fragten wir Gendün Rinpotsche: Wie machen wir denn das, wenn wir als Mönche von den Menschen, die wir jetzt in der Stadt besuchen, in die Disco eingeladen werden? Sollen wir da mitgehen oder nicht? Er als Mönch gab uns die Antwort: „Ja, wenn es dann so sein soll, dass ihr in der Disco hilfreich sein könnt, dann geht und betrachtet den Rauch als Dharmakaya-Nebel! Geht durch ihn hindurch, lasst euch nicht beirren, lasst alles, was auftaucht, die spontane Manifestation des Dharmakaya, des Wahrheitskörpers, sein. Und kümmert euch nicht um die äußeren Er­scheinungen.“

Das ist Weisheit und es ist wichtig, mit der Weisheit von weisen Menschen in Berührung zu kommen. Es geht nicht nur darum, den Mönch davor zu bewahren, dass er tanzende Frauen sieht oder mit Rauch in Berührung kommt, sondern es geht darum, den Geist von Menschen zu öffnen! Wenn es dann so sein soll, dass sich der Geist von Menschen mehr öffnet, wenn wir mit ihnen in die Disco gehen, dann geht es nur noch darum, dass der Mönch in der Lage ist, all das zu transformieren, was in seinen Sinnesfeldern auftaucht, was in seinem Geist in der Situation auftaucht. Das heißt aber nicht, dass er seine Mönche in die Disco geschickt hat! Normalerweise ist die Disco kein Ort, wo man sehr hilfreich sein kann. Aber es gibt Aus­nahmen. Das ist gemeint mit „die geringste Handlung unterlassend, die ein wirklich Weiser rügen würde“. Alle. Das bedeutet: alle Handlungen, die die Ichbezogenheit verstärken. Alle solche Handlungen würden von einem weisen Menschen kritisiert.

Nach diesem einleitenden Absatz, der die Basis, das Fundament legt, wendet der Buddha sich dem eigentlichen Entwickeln von Liebe oder liebender Güte zu und sagt: „Möge es allen Wesen wohl ergehen“. Damit ist das relative Wohlergehen gemeint. Möge es ihnen gesund­heitlich, materiell und in der Familie und im Beruf wohl ergehen.

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Und „mögen sie sicher sein“, in Sicherheit sein. Damit ist gemeint, dass alle Wesen gut auf­gehoben sein mögen. Bewahrt vor Gefahren und speziell eben auch vor der Gefahr, nicht dem Dharma zu begegnen. Mögen alle Wesen wahre Zuflucht erfahren. Zuflucht bedeutet: Möge ihr Leben vor dem Ansammeln von immer mehr Leid geschützt sein, dass sie aus dem Kreis­lauf, in dem es aufgrund von ichbezogenem Handeln zu immer mehr Leid kommt aussteigen können. Mögen sie eine Zuflucht finden, wo ihnen der Weg gezeigt werden kann, wo sie aus dem Kreislauf des Leidens aussteigen können.

Daran schließt er an: „Mögen sie alle glücklich sein“. Mögen alle Wesen glücklich sein. Mö­gen sie nicht nur auf relativer Ebene glücklich sein, sondern mögen sie das höchste Glück der Erleuchtung erlangen.

„Möge niemand irgendwo im ganzen Universum seine Gefährten“ – damit sind alle Wesen gemeint – „betrügen oder verachten“. Möge alle Hinterlist, möge alle Vortäuschung, um sich den eigenen Vorteil zu erwerben, mögen all diese Handlungen zum Erliegen kommen und möge es nirgendwo Verachtung des einen für den anderen geben. Mögen wir in der Ach­tung vor dem anderen leben. Der Buddha hat das in den Mahayana-Sutras noch stärker ausge­führt: Achtung vor der Buddhanatur im anderen zu haben, Achtung vor – was Menschen angeht – vor seiner Menschlichkeit, seinem Menschsein. Das bedeutet nicht, dass wir alles gutheißen müssen. Aber wir verachten einen Menschen nicht aufgrund dessen, dass er zum Beispiel in starker Ichbezogenheit ist, dass er sehr egoistisch ist. Wir verachten niemanden, weil wir wissen, wie leicht das ist, in eine egoistische Geisteshaltung abzugleiten. Verachten ist im Grunde genommen eine Haltung, in der wir den anderen nicht verstehen. Verachtung ist aus Unverständnis geboren.

„Möge niemand dem anderen Schaden wünschen aus Abneigung oder Hass“. Möge der Geist aller Wesen frei von Böswilligkeit sein. Schaden wünschen bedeutet auch, dass wir dem anderen Verlust wünschen, dass wir ihm Einbußen im Geschäft wünschen, dass wir ihm wün­schen, dass er seinen Partner, seine Partnerin verliert, dass wir ihm wünschen, dass er auch einmal das erlebt, was ich gerade durchmachen musste... All das ist damit gemeint. Möge der Geist aller Wesen wirklich von Gutwilligkeit, der Abwesenheit von Böswilligkeit erfüllt sein!

„So wie eine Mutter, die ihr Leben geben würde, um ihren Sohn, ihr eigenes Kind, zu schützen. Genauso sei du erfüllt vom Gedanken grenzenloser Liebe für alle Wesen“. Der Buddha nimmt die Mutter als Beispiel. Er nimmt nicht den Partner oder die Partnerin. Es war für Mütter in Indien das größte Geschenk, wenn sie einen Sohn gebaren. Das war kulturell so bedingt. Es musste einen Sohn geben. Auch heute noch werden Gebete gemacht, damit Söhne geboren werden, weil – ein Sohn das Non-plus-Ultra ist. Heute würden wir das einfach als „Kind“ übersetzen. Um es wirklich zuzuspitzen, nimmt der Buddha die Liebe der Mutter zum einzigen Kind als Beispiel und obendrein ist das auch noch ein Sohn. Da wird dieses Sich-Aufopfern sehr deutlich: Eine Mutter, die ihr Kind in Gefahr sieht, würde den Impuls haben, sich z.B. vor das Auto zu werfen, das den Sohn gerade überfahren würde, oder ohne nachzu­denken sofort hinterher zu springen, wenn das Kind in einen Fluss fällt, selbst wenn sie nicht schwimmen kann. Diese Impulse, sofort alles zu geben, um das Kind vor Schaden zu bewah­ren, das spricht der Buddha an.

Natürlich könnten Väter das auch, aber das Band einer Mutter zum Kind ist schon etwas Spe­zielles und dass ein Vater dieselbe Innigkeit entwickelt ist nicht so ohne weiteres gegeben. Deswegen nimmt der Buddha das Beispiel der Mutter.

Wir kommen in den buddhistischen Unterweisungen immer wieder auf die Mutter zu spre­chen, weil die Mutter neun Monate sozusagen Vorschussarbeit leistet. Sie weiß überhaupt nicht, was für eine Kröte da raus kommt! Aber neun Monate trägt sie das Kind und es ist nicht nur leicht. Die völlig leichten Schwangerschaften sind eher die Seltenheit. Jede Schwanger­schaft geht durch schwierige Zeiten. Das macht die Mutter durch, ohne das Kind überhaupt zu

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kennen. Dann kommen die Stillzeit und die Zeit der Säuglingspflege und da ist manchmal der Vater auch sehr intensiv beteiligt, aber meistens ist es doch die Mutter, die an erster Stelle steht.

Jetzt sagt der Buddha: So wie eine Mutter sich ihrem einzigen Kind gegenüber verhält, so verhalte du dich gegenüber allen Lebewesen! Das heißt, er nimmt die intensivste Form der Hingabe, der Zuwendung, die es als Beispiel im normalen Leben gibt und sagt: Sei so mit allen Lebewesen. Das ist keine geschmälerte Form von Liebe, sondern das Höchstmass an Liebe für alle Lebewesen. Natürlich ist sie dann mit Weisheit gepaart, es ist nicht die unweise Liebe der Mutter, die manchmal sehr unweise handeln kann, weil es eine besessene Liebe ist. Die weise Liebe der Mutter mit dieser Kraft der Hingabe und der völligen Öffnung, der Be­reitschaft, alles zu tun, um zu helfen – diese Fähigkeit nimmt der Buddha als Beispiel. Er nennt das die grenzenlose Liebe für alle Wesen, aus der kein einziges Wesen ausgeschlossen wird.

Dann sagt er: “Nähre einen allumfassenden Geist der Liebe“. Möge in dieser Liebe, dieser Geisteshaltung, nichts ausgeschlossen sein. Wenn wir etwas ausschließen, dann ist unsere Liebe wieder nur eine partielle Liebe. Sie ist nicht mehr allumfassend. Gerade auf unserem Weg als Dharmapraktizierende ist es wichtig, darauf aufmerksam zu werden, wo wir etwas aus unserer Liebe ausschließen, wo wir jemanden oder einen Teil einer Person aus unserer Liebe ausschließen.

Liebe versteht. Wenn ich jemanden kriminell handeln sehe, Kindesmissbrauch z.B., die Liebe schließt selbst so etwas nicht aus ihrem Bewusstsein aus. Es ist eine Geisteshaltung, die durchaus das volle Bewusstsein hat über all das Furchtbare und Schreckliche, das ein Mensch tun kann. Durch diese Schichten der Verwirrung hindurch öffnen wir uns für das Wahre, das Tiefste im anderen und wenden uns dem zu. Wir sind den schlummernden Qualitäten im anderen liebevoll zugewandt.

Das bedeutet nicht, dass wir alle äußeren Handlungen tolerieren. Wir müssen unter Um­ständen energisch einschreiten, was das äußere Verhalten angeht, aber immer aus einem Geist des liebevollen Zugewandtseins zur Essenz des Menschen, zur Buddhanatur. Um es diesem Menschen zu ermöglichen, den Zugang zu seiner eigenen Buddhanatur zu finden, müssen wir manchmal sehr klar auftreten. Da darf keine falsche Toleranz geübt werden. Die Toleranz be­steht darin, den Menschen nicht als Menschen abzulehnen, sondern sein Verhalten abzulehnen – nicht das Menschsein, nicht sein Wesen an sich, dieses tiefste Wesen. Es gibt vielleicht einen unglaublichen Weg zu gehen, einen langen Weg des Aufarbeitens von ichbezogenen Tendenzen. Wir sind bereit – wenn dieser Mensch bereit ist – diesen Weg mit ihm zu gehen. Das ist Liebe.

„Nähre einen allumfassenden Geist der Liebe für alle in allen Universen“. Das bedeutet „oberhalb und unterhalb und überall um uns herum“. Damit greift der Buddha das auf, was wir schon beim Vortrag gehört haben: in die eine Himmelsrichtung, dann in die andere, Osten, Süden, Westen, Norden, dann die Zwischenhimmelsrichtungen, oben und unten. Wir dehnen unser Bewusstsein aus und lassen es an keiner Grenze halten. Es gibt keine Ländergrenzen hier auf dem Planeten, wo unsere liebevolle Haltung anhalten würde, keine Rassengrenzen, wir machen keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, alt und jung.

Dann geht er weiter. „Uneingeschränkte Liebe“ nennt er das, „frei von jeglicher Feindse­ligkeit und Hass“. Die normale Liebe ist eingeschränkt. Sie richtet sich auf die uns lieben Menschen. Sie wird auch wieder entzogen, sie entzieht sich, wenn diese Menschen sich nicht so verhalten, wie wir es wünschen. Dann spüren wir keine Liebe mehr gegenüber diesen Men­schen. Was ist eigentlich passiert? Warum haben wir sie mal geliebt und lieben sie dann nicht mehr? In dieser Liebe war offenbar ein großer Anteil an eigenen Wünschen und Hoffnungen. Solange diesen Wünschen und Hoffnungen entgegen gekommen wurde, war das in Ordnung.

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Da konnte sich unser Herz auftun. Aber dann, als diese Hoffnungen und Wünsche enttäuscht wurden, begann unser Herz sich zu verschließen. Manchmal ging es wieder auf, dann verschloss es sich wieder, dann ging es wieder auf – und dann ging es immer seltener auf. Wir begannen daran zu haften, daran hängen zu bleiben, was der andere alles nicht ist, was er uns nicht gibt und uns nicht geben kann, an seinen Unzulänglichkeiten.

Dann haften wir an dem, was wir nicht geben können, wo wir unseren eigenen Erwartungen nicht entsprechen und dann verschließt sich unser Herz auch uns selbst gegenüber. Wenn un­ser Herz sich einem Menschen gegenüber verschließt, verschließt es sich auch teilweise uns selbst gegenüber, es ist nie einseitig. Wir können etwas im anderen nicht annehmen, nicht sein lassen – das bedeutet, dass wir diese Tendenz auch in uns nicht sein lassen können, nicht annehmen können. Wir nehmen diese Verschlossenheit mit, obwohl wir uns aus der Bezie­hung lösen. Wir werden mit dieser Verschlossenheit wieder in Berührung kommen, sobald wir uns einem anderen Menschen öffnen möchten. Dann wird dieses Thema wieder aktiviert, da, wo wir uns verschlossen haben, da, wo die Enttäuschung eingezogen ist, da, wo der Groll eingezogen ist. All das wird sich wieder zeigen, wenn wir in dem Bedürfnis sind, das Herz zu öffnen, dann werden sich die Barrieren zeigen, die sich aufgebaut haben.

Wenn wir in diesem Seminar Herzensöffnung praktizieren, dann zeigen sich unsere Barrieren, dann zeigt sich unsere Trauer, unser Misstrauen, unsere Angst – all die Barrieren, die Be­grenzungen, die verhindern, dass wir in unbeschränkter Liebe sind. Das ist ganz normal und es gibt zum Glück einen Weg, der da heraus führt, einen Weg, in diese unbeschränkte Liebe hinein zu finden. Da ist die buddhistische Lehre einfach meisterhaft, weil dieser Weg sehr ge­nau beschrieben wird, sehr einfach gemacht und mit vielen Mitteln, vielen Methoden ausge­stattet ist, um zu einer wirklichen Geistesöffnung finden zu können.

„Ob du stehst, gehst, sitzt oder dich hinlegst, solange du bewusst bist“, d.h. solange du nicht eingeschlafen bist, solange du nicht das Bewusstsein verloren hast, „entwickle diese Achtsamkeit mit aller Kraft“. Mit Achtsamkeit ist hier gemeint, dass der Geist in Liebe verweilt. Entwickle diese Geisteshaltung voller Achtsamkeit mit aller Kraft. Mit Gedanken der liebevollen Güte wach zu werden, das als erstes zu kultivieren und als letztes zu kultivieren beim Einschlafen –Das hilft unglaublich. Es ist unglaublich, wie einfach das den Weg macht. Deswegen würde ich mir wünschen, dass diese Sätze des Buddhas nicht einfach unbemerkt oder kaum bemerkt verloren gehen, sondern dass ihr das als Schlüssel nehmt für eine Praxis, die durch nichts mehr übertroffen werden kann. Es gibt nichts Besseres als das. Es gibt keinen direkteren Weg zur Erleuchtung. Es gibt keinen schnelleren Weg. Alle Lehrer werden immer wieder diesen Aspekt unterrichten.

Wenn wir Achtsamkeit schulen, dann schulen wir diese Achtsamkeit, um bei dem bleiben zu können, worauf wir unsere Achtsamkeit richten möchten. Das Beste ist: alles, was die Ichbe­zogenheit reduziert. Liebe an erster Stelle. Damit die Liebe tiefer wird, braucht es Weisheit. Damit die Weisheit tiefer wird, braucht es Liebe. Die beiden müssen sich ergänzen. Des­wegen: es gibt nichts Wichtigeres, als das zu praktizieren. Darum lasst keine Zeit verstrei­chen, bis ihr es zum 10. Male hört. Man kann es auch praktizieren, wenn man es zum ersten Mal hört. Man muss nicht unbedingt warten. Wir lehren Euch das nach 10, 20 oder mehr Jah­ren der Praxis, weil es wirklich das Wichtigste ist. Das musste mir selbst erst mal klar werden und nachdem ich noch einmal die Urschriften des Buddha herausgeholt und nachgelesen habe: Es ist wirklich das Herz! Wer sich das zu Eigen macht, kann sich jahrelanges Herumir­ren in der Praxis ersparen, hier mal ein bisschen ausprobieren und da mal ein bisschen auspro­bieren, dort mal ein bisschen kosten... Praktiziert diese Einheit von Liebe und Weisheit. Dann seid ihr auf dem richtigen Weg. Dann gibt es nichts Schnelleres. Ob ihr dann noch Niederwer­fungen zählt oder Mantras oder was auch immer, es kann nicht schneller gehen. Wenn wir Guru Yoga praktizieren, bedeutet das, uns mit dem Geist von Liebe und Weisheit aller Meis­ter zu verbinden. Wenn wir Reinigungspraxis praktizieren, Vajrasattva, Dorje Sempa machen,

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bedeutet da eigentlich nur, dass wir den Nektarstrom des Bodhicitta in uns aufnehmen, den Erleuchtungsgeist in uns hinein kommen lassen, damit all die Ichbezogenheit aufgelöst wird durch das immer stärker werdende Bewusstsein von Liebe, Mitgefühl und Weisheit. Jede Pra­xis hat eigentlich nur diesen Sinn. Sonst wäre es keine Dharmapraxis.

Und dann sagt der Buddha: „Entwickle also in allen Lebenslagen diese Geisteshaltung mit aller Kraft. Das ist, was hier Brahmavihara genannt wird“. Brahmavihara ist der Sanskrit­ausdruck für die vier Grenzenlosen. Vihara bedeutet eigentlich eine Wohnstätte, eine Stätte, wo man sich aufhalten kann, eine Herberge. Die ersten buddhistischen Klöster hießen Viha­ras. Das waren die Stätten, an denen die Sangha die drei Monsunmonate verbrachte. Dann wurden dauerhafte Viharas eingerichtet, in denen das ganze Jahr über die Sangha, Mönche und Nonnen, zusammen lebten. Der Begriff bedeutet also: ein Ort, an dem man verweilt.

Brahma ist der höchste Gott in der indischen Mythologie. Er regiert als Götterkönig über den Bereich der Form und ist in der buddhistischen Weltsicht unter den ersten Schülern Buddhas. Brahma und Indra sind gekommen und haben Buddha empfangen, als er geboren wurde, haben ihn gebeten zu lehren, als er die Erleuchtung erlangt hat und sind Bodhisattvas ge­worden. Aber Brahma hat noch eine andere Bedeutung. Brahma bedeutet eigentlich: rein, je­mand Reines, jemand, der in Reinheit verweilt.

So haben diese vier Grenzenlosen eine doppelte Bedeutung: Wenn wir sie ohne durch­dringende Weisheit praktizieren, ohne die Weisheit, die die illusorische Natur der Dinge er­kennt, dann führt die Praxis dieser vier Grenzenlosen dazu, dass wir in Gesellschaft von Brahma wiedergeboren werden, das heißt am Gipfel samsarischer Existenz, in den Götterbe­reichen. Das war zwar nicht die Absicht von Buddha. Es ist das Beste, was einem in Samsara passieren kann. Allerdings ist es dort fast unmöglich, den Dharma zu praktizieren, weil es an Leid und dessen Bewusstsein mangelt. Es geht einem zu gut.

Der Buddha gab diesem Ausdruck die Bedeutung von „Verweilen im Reinen“. Aber es gab einmal eine Situation, als ein Brahmanenschüler zu Buddha kam und fragte: Wie kann ich in der Gegenwart Brahmas wiedergeboren werden? Dann hat ihn der Buddha in diesen vier Grenzenlosen unterrichtet, ihn aber dann darauf aufmerksam gemacht, dass es ein Ende der Existenzen gibt, ein Ende der gezwungenen Wiedergeburt und dass die Wiedergeburt unter den Göttern Brahmas auch nur zeitweilig ist. Er zeigte ihm, dass der spirituelle Weg weit über eine solche Wiedergeburt hinausgehen kann, wenn sich diese vier Qualitäten mit Weisheit verbinden. Deswegen übersetzen wir diesen Ausdruck Brahmavihara als das „Verweilen im zutiefst Reinen“, weil unsere Geisteshaltung frei von Ichbezogenheit ist, wenn wir diese vier Qualitäten praktizieren. „Rein“ in buddhistischer Terminologie bedeutet: frei von Dualität. Eine Geisteshaltung ist nur dann wirklich rein, wenn sie frei ist von Ichbezogenheit. Das ist im Dharma mit Reinheit gemeint, nicht äußere Reinheit.

Einer von den Brahmanen, die von Buddha diese Unterweisung über die vier Brahmaviharas erhalten hatte, fragte den Buddha danach: Gautama, gehen Sie auch in den und den heiligen Fluss baden, nehmen Sie auch diese rituellen Waschungen vor? Da sagte der Buddha: Nein, ich gehe weder im Ganges, noch in dem, noch in dem Fluss – er zählte all die heiligen Flüsse Indiens auf – ich gehe in keinem einzigen von diesen Flüssen baden. Die wirkliche Reinheit ist nicht durch äußere Waschungen zu verwirklichen. Reinheit ist eine Frage der Geis­teshaltung. Dann erklärte er dem Brahmanen, wie wirkliche Reinheit zu erlangen sei.

Der Buddha schließt seine Unterweisung mit: Nicht mehr an verkehrten Ansichten festhal­tend… Damit sind vor allen Dingen zwei Ansichten gemeint: die Anschauung, dass es ein Ich gäbe und die Anschauung, dass Handlungen keine Folgen hätten. Das sind die beiden wichtigsten verkehrten Anschauungen. Es lässt sich kein permanentes, unveränderliches Ich oder Selbst finden. Und: Handlungen haben durchaus Folgen.

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Das eine ist die verkehrte Anschauung über das Letztendliche, zu meinen, es gäbe da ein abgegrenztes Atman, was unveränderlich von einer Existenz zur anderen weiter besteht. Ein Selbst, eine Seele, wie wir in Europa sagen, eine solche Seele, die unveränderlich wäre, gibt es nicht – aber das müsst ihr natürlich selbst herausfinden. Das herauszufinden, ist eben der ganze Dharmaweg. Diese Ich-Illusion aufzulösen, das ist der Dharmaweg.

Und dann, die zweite Untersuchung, die im Relativen sehr wichtig ist: Gibt es Beziehungen von Ursache und Wirkung, das heißt Beziehungen zwischen dem, was ich tue und dem, was mir widerfährt, was mir begegnet? Gibt es da Beziehungen oder gibt es da keine? Ist das, was ich erlebe, Zufall? Ist es etwas, was mir jemand anders aufzwingt? Was ein nicht weiter be­gründetes Schicksal ist? Oder hat es mit den eigenen Handlungen zu tun? In wie weit kann ich das, was mir widerfährt, beeinflussen? Das ist das Thema, das uns im Leben stark beschäftigt. Was kann ich mit meinem Handeln, d.h. mit meinen Gedanken, Worten und meinen körperli­chen Handlungen, tun, um mein Leben positiv zu gestalten?

Wenn davon ausgegangen wird, dass Situationen vorbestimmt sind, dann brauche ich mich nicht darum zu kümmern, wie ich handle. Dann kann ich tun und lassen, was ich will, es passiert sowieso das, was mein Schicksal ist. Das haben der Buddha und seither alle buddhis­tischen Meister als nicht zutreffend erkannt. Es gibt Beziehungen zwischen Handlungen und dem, was wir erfahren. Diese Beziehungen gilt es immer tiefer zu verstehen. Da können wir als Lehrer Anhaltspunkte geben, wo man hinschauen kann, wie man das untersuchen kann, aber der Dharmaweg ist eben auch ein immer klareres Sehen dieser Zusammenhänge.

Wenn ich Freigebigkeit übe und praktiziere, dann kommen immer mehr Situationen auf mich zu, in denen mir geschenkt wird, in denen alles ganz leicht zu mir kommt. Es scheint, als wenn man sich gar keine Sorgen um das materielle Wohlergehen zu machen bräuchte. Man beginnt diese Zusammenhänge zu sehen: wenn ich habgierig bin, wenn ich Dinge nur für mich behalten möchte, wird es immer schwieriger, Dinge zu finden, Dinge zu bekommen, die Welt wird als immer feindseliger erlebt.

Wenn ich immer aufrichtig spreche, merke ich, dass immer mehr Menschen zuhören, meinem Wort Glauben schenken, obwohl sie mich gar nicht kennen. Das passiert sogar mit Menschen, die mich vorher noch nie als aufrichtig erlebt haben, aber irgendwie beginnt etwas zu wirken, was andere aufhorchen lässt. Das sind die Auswirkungen von vielen Leben des Handelns in Aufrichtigkeit, in Ehrlichkeit.

Wenn ich lüge und betrüge, dann wird es offenkundig, dass auch Menschen, die mich sonst gar nicht kennen, mir mit Misstrauen begegnen und dass mein Wort keine Beachtung findet. Im Laufe der Zeit, nicht als sofortige Wirkung! Es ist nicht so, dass die Handlungen von heute schon unbedingt morgen ihre Auswirkungen hätten. Ein Teil der Auswirkungen kommt sofort und ein Teil der Auswirkungen ist viel langfristiger. Das kann sich über Leben hinziehen.

Als Dharmapraktizierende sollten wir dieses Bewusstsein der Zusammenhänge kultivieren, und das tun wir durch die Meditation. In der Meditation wird uns immer klarer, wie Ursache und Wirkung funktionieren.

Dann sagt der Buddha also: Nicht mehr an verkehrten Ansichten festhaltend, „voller Tugend und Einsicht in die Wahrheit“. Tugend ist das Verhalten im Relativen, das bedeutet, heil­same Handlungen ausführen. Das ist hier mit Tugend gemeint. Alles Heilsame tun. Dann fehlt noch das Letztendliche, das ist die Einsicht in das, was wirklich ist, die Wahrheit.

„Das Verlangen nach Sinnesvergnügen überwunden, wirst du nie wieder in eine Ge­bärmutter zurückkehren“. Es sind nicht die Sinnesfreuden, die das Problem sind. Das Verlangen nach Sinnesfreuden ist das Problem. Wichtiger Punkt! Das wird oft missverstanden und hat auch dazu geführt, dass manche Praktizierende den Teufel, Mara, also die Versu­chung, zu stark in den Sinnesfreuden selbst sahen, also dass die Sinneseindrücke selbst schul­

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dig gemacht wurden. Aber das Verlangen, das Festhalten an den Sinneseindrücken ist es, was den Geist gefangen nimmt, nicht der Sinneseindruck selbst. Für einen Mann ist es nicht die Frau, die ihn gefangen nimmt, sondern sein Verlangen nach der Frau! Für eine Frau ist es nicht der Mann, der sie gefangen nimmt, sondern ihr Verlangen nach dem Mann! Das Verlangen macht unseren Geist unfrei, nicht die Begegnung mit den Sinneseindrücken.

Dieses Verlangen nach Sinneseindrücken ist der Motor für Wiedergeburt, der Motor dafür, dass wir aus Verlangen und Unfreiheit immer wieder eine Existenz annehmen. Wenn das überwunden ist, wenn sich das aufgelöst hat – überwunden bedeutet hier nicht niederge­rungen, sondern etwas ist überwunden, in dem wir es durch und durch erkannt haben – dann hört das Geburtannehmen aus Unfreiheit auf. Weil die Ichbezogenheit sich aufgelöst hat, ist die Einsicht da. Es wurden die nicht-heilsamen Tendenzen gereinigt. Das Verlangen nach Sinneseindrücken, nach konkreter materieller Existenz löst sich auf und dann erlischt die Not­wendigkeit, immer wieder zwanghafte Geburt anzunehmen, eine Geburt nach der anderen. Es geht darum, das Begehren aufzulösen, nicht die Sinneskontakte. Die sind völlig neutral. Sinneswahrnehmung ist in sich neutral, ist weder gut noch schlecht. Da ist nichts, was irgend­wie abzulehnen oder zu fördern wäre, Sinneswahrnehmungen sind wie sie sind.

6. Meditation Richtet den Geist auf den Atem.

Lasst den Atem auf ganz natürliche Art und Weise fließen – egal, wie langsam oder schnell er fließt.

Wir sind uns des Einatmens bewusst und des Ausatmens bewusst.

Wenn es Pausen gibt, sind wir uns der Pausen bewusst.

Frei von Bewertungen, folgen wir einfach dem Atem.

Der Geist reitet auf dem Atem. --- (Stille)

Jetzt wenden wir das Bewusstsein uns selber zu – dieser Person, die sich auf dem Weg zur Er­leuchtung befindet und wir nehmen diese Person, diesen Geistesstrom an, mit all den Schwä­chen und Qualitäten, mit all dem Haften und all den wunderschönen Seiten.

Der Atem streicht ein und streicht aus.

Liebevoll nehmen wir uns selbst an, so wie wir sind.

Wer sind wir auch schon? Eigentlich ist da nur offene Weite, Kreativität, ein immer schöpfe­rischer Geist, der die Fähigkeit hat, Verwirrung hervorzubringen, der die Fähigkeit hat, Liebe hervorzubringen.

Immer aktiv, immer schöpferisch, dieser Geist. Manchmal ruhiger, manchmal bewegter.

Liebevoll streicht der Atem ein und aus, im Annehmen von dem, was ist.

Bildlich gesprochen lassen wir jetzt den Atem in den Raum hinausgehen – diesen Raum hier, in dem wir gerade sitzen.

Wir atmen ein, wir atmen aus.

Die Menschen, die hier im Raum sitzen, teilen mit uns denselben Atem.

Wir nehmen uns an, wir nehmen die anderen an, so wie wir sind.

Es ist, als würde Licht vom Herzen ausgehen, das uns alle einhüllt, das uns umfängt und durchdringt und annimmt, wie wir sind.

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Dieses Licht unterstützt uns.

Dieses Licht hilft uns, Qualitäten freizusetzen.

Woher kommt es? Das Licht kommt aus dem Herzen, aus der Liebe und aus dem Verständnis.

Es ist das Verständnis, dass jedem Wesen Qualitäten innewohnen.

Dieselben Qualitäten, derselbe Geist.

Es ist die Liebe, die sagt: Wach auf zu deinen Qualitäten! Wach auf zu den Qualitäten, die allen Wesen eigen sind.

Das Licht strahlt auch zu all den unsichtbaren Wesen, die hier mit uns im Raum verweilen.

Es geht hinaus und füllt das ganze Haus. Er geht hinaus und füllt den Garten, die Straße auf beiden Seiten, alle Häuser, alle Menschen, alle unsichtbaren Wesen, alle Tiere. Alle werden von diesem Licht berührt.

Liebevoll berührt das Licht ein jedes Wesen.

Es ist als würden wir alle denselben Atem verspüren.

Jeder wünscht dem anderen, glücklich zu sein.

Selbstverständlich geht das Licht weit über diese Straße hinaus, in die ganze Stadt, in das ganze Land – wir nehmen uns Zeit, uns vorzustellen, wie sich dieses Licht über die Erdober­fläche verbreitet: Deutschland, Frankreich, Europa, Asien, Amerika, Australien, Afrika, die Pole und die Ozeane, die Tiefen der Meere, die Lüfte – so viele Menschen, so immens viele Tiere und noch viel mehr unsichtbare Wesen.

Ihnen allen schenken wir unsere Liebe, die Liebe, die dem Geist einfach innewohnt.

Sie braucht nicht erzeugt zu werden.

Sie braucht nur freigelegt zu werden, diese Liebe.

Wir stellen uns vor, dass sie in allen Wesen freigelegt wird.

Die Begegnung mit der Liebe hilft ihnen, die Liebe zu spüren.

Wir gehen mit unserem Bewusstsein ins Erdinnere und ins All hinaus.

Wir haben ja keine Ahnung, wo überall Wesen leben!

Möge unser Atem überall hingehen, wo es Wesen gibt.

Möge der Atem der Liebe überall hingehen, wo auch immer es nur ein einziges Wesen gibt und dieses Wesen berühren:

„Mögest du glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögest du frei von Leid und dessen Ursachen sein.

Mögest du niemals von leidfreier Freude getrennt sein.

Mögest du bei nah und fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen.

Wo auch immer in diesem Universum Lebewesen sind, ob groß oder klein, mögen sie alle von der Liebe erreicht werden.

Mögen sie alle von diesen heilsamen Gedanken erreicht werden. Mögen sie Anteil haben am Erleuchtungsweg.

Mögen sie Zugang finden zur völligen Freiheit des Herzens.“

Wieder kehren wir zu unserem Atem zurück, der eigentlich keine Begrenzung hat. --- (Stille)

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Die vier Grenzenlosen in der Mahayana PraxisWir gehen jetzt einen Schritt weiter. Bislang habe ich über die vier Grenzenlosen vorwiegend aus der Perspektive des Pali Kanons gesprochen. Jetzt im zweiten Teil des Kurses werde ich verstärkt auf die Mahayana Praxis der vier Unermesslichen eingehen und diese vier Uner­messlichen im Rahmen der Kagyü-Schule beschreiben. Da ist kein großer Unterschied. Das ist einfach noch ein kleiner Schritt weiter. Weil die vier Unermesslichen immer stärker ins Zentrum der Praxis gerückt werden, brauchen die Menschen natürlich auch Methoden, um das umsetzen zu können. Auf der Ebene des Tantra Mahayana ist das z.B. die Tschenresi Praxis.

Zunächst eine kleine Erklärung zu dem, was Mahayana, großes Fahrzeug, genannt wird. Das ist ein Fahrzeug, in dem man alle Wesen mit auf den Erleuchtungsweg nehmen kann. Man schafft sich ein großes Auto an, wenn man eine große Familie hat. Das ist Ausdruck dessen, dass man die ganze Familie mit auf den Weg nehmen möchte. Deswegen wurde der Ausdruck „Großes Fahrzeug“ gewählt.

Im Mahayana, im Großen Fahrzeug, gibt es eine Unterteilung in zwei Aspekte: Der erste ist das, was wir Sutra Mahayana nennen, der zweite ist der Tantra Mahayana.

Sutra Mahayana beruht auf den schriftlich festgehaltenen Unterweisungen Buddha Shakya­munis, die die Lehren des großen Fahrzeugs darstellen. Sie werden in vollem Umfang z.B. in Tibet, China, Japan, Vietnam, Nepal, Bhutan und in anderen Ländern des Mahayana Buddhis­mus praktiziert. Diese Mahayana - Lehrreden sind das Gemeinsame, das alle Mahayana Bud­dhisten miteinander haben. Von diesen Lehrreden wird gesagt, dass der Buddha sie in physischer Gestalt gegeben habe.

Es sind sich nicht alle darüber einig, ob er sie nun wirklich in physischer Gestalt gegeben hat, weil die Beschreibungen der Szenerie, in der Buddha gelehrt hat, schwierig zu interpretieren sind. Zu Beginn eines Mahayana Sutra werden die Namen einiger Arhats aufgezählt und dann steht da: „…und 1500 weitere Mönche aus dem Gefolge des Buddhas“. Bis dahin herrscht Einigkeit, mit so einer Gefolgschaft, von etwa dieser Zahl, ist der Buddha normalerweise ge­reist. Doch dann heißt es: „Weitere Zuhörer waren Manjushri, Avalokiteshvara, Vajrapani usw.“, es werden die Bodhisattva-Namen genannt, „…und weitere 10.000 oder 20.000 Bodhi­sattvas“. Jetzt fängt es schon an schwierig zu werden, sich das allein räumlich vorzustellen. Aber die Mahayana Sutra Beschreibungen hören da noch nicht auf: „Es waren auch noch un­zählige unsichtbare Wesen versammelt, die Götter Indra und Brahma“, andere Götternamen werden noch genannt, „ …ein jeder mit einem Gefolge von 10 Millionen Wesen“, zum Bei­spiel.

Da weiß man als kritischer Leser oft nicht, was man davon halten soll. Hat das wirklich so stattgefunden? Allein die 10.000 oder 20.000 Bodhisattvas in einem Park unterzubringen – bis 1500 Zuhörer geht’s ja noch, aber wenn es darüber hinausgeht, wird es schwierig. Wenn man weiterliest, drängt sich einem das Gefühl auf, dass es nicht nur eine Lehrrede von einem Tag war. Es scheint so, als ob Buddha Shakyamuni diese Sutras über viele Tage, wenn nicht sogar über viele Jahre hinweg unterrichtet hat. Einige Sutras klingen geradezu so, dass sie in unbe­grenzten Zeiträumen stattgefunden haben, dass sie zeitlich gar nicht mehr einzuordnen sind – also ein Phänomen einer anfangs- und endlosen Lehrübertragung.

Da wird gesagt, dass diese selbe Lehrrede bereits von unzähligen früheren Buddhas gelehrt wurde und in der Zukunft von weiteren unzähligen Buddhas gelehrt werden wird und dass dieser Buddha sie jetzt gerade gibt, weil es jetzt die Zeit ist, das Rad des Dharma zu drehen. Da tauchen wir in eine Sicht von Raum und Zeit ein, die deutlich anders ist als die sehr greif­bare Sicht der Pali Sutras.

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Es kann sein, dass der Buddha Shakyamuni in seinem physischen Leben bereits so gelehrt hat. Das wird aber nicht von allen buddhistischen Traditionen so akzeptiert. Der Theravada Bud­dhismus akzeptiert die Mahayana Sutras nicht. Der Theravada Buddhismus akzeptiert zum größten Teil wohl die Inhalte, weil die mit dem, was ich euch gelehrt habe, fast identisch sind.

Aber die Behauptung, der Buddha habe das zu Lebzeiten selbst gelehrt, wird nicht akzeptiert, und wir fragen uns: Wie kommt es dazu? Da lügt doch keiner! Das sind doch alles erleuchtete Meister, die die Mahayana Sutren lehren und die die Theravada Sutren lehren, wie geht denn das zusammen?

Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Es ist bekannt, dass manche Meister an mehreren Orten zugleich sein können. Gampopa war z.B. ein Meister dieser Fähigkeit. Es kann sein, dass der Buddha an einem Ort das Eine gelehrt hat und zur gleichen Zeit an einem anderen Ort eine andere Schülerschaft etwas anderes gelehrt hat. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Es gibt die Möglichkeit, dass entwickelte Schüler Visionen von Buddha persönlich haben. Bis zum heutigen Tag haben spirituell Praktizierende Visionen von Meistern, Buddhas, auch von Bud­dha Shakyamuni. In den Visionen werden Unterweisungen gegeben, die zum Teil so klar sind, dass der Schüler sie nachher Wort für Wort aufschreiben kann. Diese Visionen sind in der Kagyü-Schule tausendfach belegt, und in unserer Schule sind sie seit Jahrhunderten ein enormer Quell der Inspiration. Ein Buddha ist nicht auf das Wahrnehmbare limitiert. Er kann z.B. ganz anders als wir mit Materie umgehen– er könnte durch die Wand gehen oder sich durch Raum und Zeit fortbewegen, ohne an die normalen Beschränkungen gebunden zu sein. Für uns Westler macht es das manchmal sehr schwierig, all diese Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, die Ebenen der Vision oder der gleichzeitigen Präsenz an mehreren Orten.

Dann gibt es noch eine andere Erklärung: Es gibt die Möglichkeit von umfassender und teil­weiser Wahrnehmung. Wir können z.B. hier im selben Raum sitzen und einige von euch nehmen wahr, dass noch unzählige andere Wesen zuhören. Andere nehmen das nicht wahr. Was ist die Wahrheit, die man der Nachwelt überliefern kann?

Buddha Shakyamuni geht in Nordindien über Land, die Wege sind staubig, die Erde ist tro­cken. Einige Menschen werden dann einen ausgemergelten alten Mann über die Straße gehen sehen. Andere sehen einen würdevoll wandelnden Weisen. Bei anderen breitet sich ein großer Frieden im Geist aus und sie haben das Gefühl, dass auf den Bäumen am Wegesrand die Blü­ten zum Vorschein kommen, dass die Atmosphäre anders duftet.

Was ist denn jetzt wahr? Ist nur die beschränkte Sicht wahr, dass ein alter ausgemergelter Mann über die Landstraße geht, oder darf man auch sagen, dass wahr ist, was mit dem inneren Auge gesehen wurde?

Diese Fragen tauchen auf, wenn wir Mahayana Buddhismus und Theravada Buddhismus mit­einander vergleichen. Wir alle können ja sagen zu dem nüchternen Beschreiben von dem, was ist. Schwierig wird es, wenn es in das Visionäre geht, wo unsere gewöhnlichen Raum- und Zeitvorstellungen gesprengt werden, wo der Buddha unmittelbar nach seiner Geburt sieben Schritte macht und im Moment wachsen Lotusse hervor – es ist schwierig, uns vorzustellen, dass ein Neugeborenes sich auf die eigenen Füße stellt, sieben Schritte macht und auch noch sagt: „Ich bin der Erhabene der Welt, der gekommen ist, um euch allen zu helfen“ – so aber auch in der Theravada Überlieferung.

Ich nenne diese Unterschiede zwischen den buddhistischen Richtungen offen beim Namen. Man sollte nicht blind sein und denken, dass es nur die Kagyü Schule gäbe und nichts anderes. Die Möglichkeit, mit diesen verschiedenen Schichten der Wahrnehmung umzugehen, ist: davon auszugehen, dass alle diese Lehrer nicht lügen und alles zugleich wahr sein kann. Das ist für unseren westlichen Geist schwer nachzuvollziehen. Wir suchen immer nach der einen, einzigen Wahrheit.

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Es kann verschiedene Sichtweisen eines Geschehens geben. Ein einziges Geschehen kann sehr vielschichtig beschrieben werden. Manche Menschen kommen aus einer Unterweisung und haben das Gefühl, sie hätten Buddha Shakyamuni gehört, andere kommen aus derselben Unterweisung und sagen, es wurde nur Blödsinn geredet. So groß ist die Spanne der Wahr­nehmung. Was ist eigentlich wahr in der Situation? Ich würde sagen, beides ist wahr. Für den einen wurde Blödsinn geredet und für den anderen hat Buddha Shakyamuni gesprochen.

Wenn wir zulassen können, dass Wahrnehmung ein persönliches Phänomen ist und es die ab­solut allein richtige Wahrnehmung nicht gibt, dann können wir anfangen, uns in der Vielfalt der Unterweisungen frei zu bewegen und schauen, was uns anspricht und hilft, den Geist zu öffnen. Dazu brauchen wir Maßstäbe. Was ist hilfreich? Wie könnt ihr wissen, ob diese vier Tage, die wir miteinander verbringen, hilfreich für euch sind? Es gibt sofortige und langfris­tige Signale, die langfristigen sind die wichtigeren. Im Moment kann es sein, dass ihr begeis­tert seid. Das ist noch kein verlässlicher Hinweis darauf, dass diese Unterweisung zutiefst hilfreich ist. Wenn ihr nach einer Weile merkt, dass das, was ihr hier gehört habt, immer wieder euren Geist öffnet, Vertrauen auslöst und euch Mut für die nächsten Schritte gibt, dann könnt ihr sagen: „Stimmt, das war echt“.

Unsere erste Reaktion kann sogar Ablehnung sein. Wenn zunächst Kritik, Ablehnung und Zweifel aufkommen, ist das nicht schlimm – und dann macht das Gesagte seinen Weg. Ir­gendwann merkt man: „Hm, es war gut, dass das mal jemand gesagt hat. Es hat mir Schwie­rigkeiten erspart und es mir leichter gemacht, zu Lösungen zu finden in Situationen, in denen ich ohne diese Hinweise keine Lösungen gefunden hätte“.

Ich stütze mich hier auf eine Kernaussage der Meister der Vajrayana Tradition im Tantra Ma­hayana, wo es heißt, dass diejenigen, die Verwirklichung des Dharma erlangt haben, die Einheit aller Lehren Buddhas verstehen. Die Unterweisungen, die in den verschiedenen Fahr­zeugen gegeben wurden auf den verschiedenen Ebenen von Verständnis, stammen alle aus der Verwirklichung des Wahrheitskörpers und haben alle dasselbe Ziel. Es gibt keine verschie­denen Ziele, wo die einen Arhats, die anderen Pratyekabuddhas, wieder andere Bodhisattvas und dann Buddhas werden, sondern alle Unterweisungen dienen dem einen Ziel des vollkom­menen Erwachens aller Wesen.

Wenn dieses tiefe Verständnis des Dharmas erwacht, merken wir, dass in den Unterwei­sungen, die scheinbar einem geringeren Fahrzeug angehören, alles enthalten ist, was zum vollen Erwachen führt. Die Unterweisungen im großen oder auch im unzerstörbaren Fahrzeug sind eigentlich alle nur Ausformulierungen des Grundsätzlichen, das wir schon in einfacheren Formulierungen finden. Ich spreche aus dieser Überzeugung und möchte euch unterrichten, damit ihr selbst spüren könnt, wo euer Platz ist. So wird euch nicht nur angeboten, was zum Tantra Mahayana gehört, sondern ihr lernt auch das Fundament kennen und könnt dann eure Praxis eurer eigenen Situation anpassen.

Ich selbst habe zunächst bei Shamar Rinpotsche Zuflucht genommen. Der hat mir erlaubt ins Vipassana zu gehen. Das habe ich dann drei Jahre lang praktiziert. Vorher hatte ich auch Zen Buddhismus praktiziert. Erst danach bin ich wieder zum tibetischen Buddhismus gekommen. Deswegen habe ich das feste Vertrauen, dass alle diese Praxisrichtungen authentisch sind und alle zum vollkommenen Erwachen führen. Es gibt keinen Grund, die eine oder andere Praxis­richtung abzulehnen, es kommt nur darauf an zu spüren, wo ich mich zuhause fühle. Wichtig ist, zu erkennen, wo ich mich gut aufgehoben fühle, wo sich mein Geist öffnet und was mir hilft, den Geist zu stabilisieren, die Emotionen aufzulösen und von Ichbezogenheit frei zu werden.

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Erklärungen von Djamgön Kongtrul

Djamgön Kongtrul Rinpotsche hat vor etwa 150 Jahren gelebt, er war auch ein Freund und Wegbegleiter des 15. Karmapas. Das Buch, in dem er die vorbereitenden Übungen für maha­mudra erklärt, ist „Das Licht des wahren Sinnes“. Djamgön Kongtrul beschreibt die vier Un­ermesslichen im Anschluss an die Praxis von Zuflucht und Niederwerfungen, wo wir das Bodhisattva-Gelübde nehmen und anschließend die vier Unermesslichen rezitieren, bevor sich der Zufluchtsbaum auflöst. Er schreibt:

„Liebe ist der Wunsch, alle Wesen in die Begegnung mit dem ihnen noch unbekannten neuen Glück zu führen und sie in heilsamen Handlungen, der Ursache des Glücks, anzu­leiten.“Es geht nicht um das Glück, das wir schon kennen, sondern es geht um das Glück, das wir noch nicht kennen, von dem wir vielleicht eine Ahnung haben, dass es das geben könnte. Selbst wenn wir nicht einmal eine Ahnung haben, geht es darum, Wesen zum Glück der Er­leuchtung zu führen. Es geht nicht darum, Samsara zu verbessern, sondern „sie in heilsamen Handlungen, der Ursache des Glücks, anzuleiten.“ Und weiter:

„Mitgefühl ist der Wunsch, sie von ihrem gegenwärtigen Leid (in all seinen Schattierungen) zu befreien und sie zu bewegen, in Zukunft nicht heilsame Handlungen, die Ursache des Leides, zu unterlassen.“ Wir sind nicht mehr nur auf der Ebene des Wunsches. Wir werden tatsächlich aufgefordert, etwas zu tun: durch unser Beispiel, andere zu bewegen, das zu unterlassen, was zu weiterem Leid führt. Damit ist nicht gemeint, sie zu missionieren, sondern sie zu inspirieren, etwas in Bewegung setzen, damit sich ihre Verhaltensweisen ändern, dass sie z. B. aufzuhören, Angeln als Sport zu betreiben.

„Freude ist das Sich-Erfreuen am gegenwärtigen körperlichen und geistigen Glück anderer.“ Damit sind alle Formen von glücklichen, freudvollen Zuständen gemeint. Djamgön Kongtrul folgt damit der Auslegung im Kommentar von Buddhagosha, einem berühmten Kommentator der Theravada Tradition, der diese Freude als eine Mitfreude am Glück anderer definiert hat. Beim Buddha selbst war das noch etwas offener, einfach die Freude am Heilsamen. Andere erleuchtete Meister dehnen den Begriff aus als die Freude am Heilsamen, nicht nur am Glück anderer, sondern an allem Heilsamen, das in der Welt ist.

„Gleichmut ist, sämtliche Lebewesen, die alle wie unsere Mütter sind, ohne Unterschied als gleichwertig und gleich wichtig zu betrachten. Dies beinhaltet, allen gegenüber dieselbe Haltung zu haben und weder an einigen zu haften, noch andere abzulehnen. Denn sämtliche Wesen sind uns gleich nah oder fern.“ Djamgön Kongtrul ist in dieser Beschreibung von Gleichmut sehr ausführlich. Er definiert ihn als Gleichmut im Hinblick auf Lebewesen. Damit schränkt er ihn auf die wichtigste Art von Gleichmut ein: im Hinblick auf andere gleichmütig zu sein – und spricht direkt von „unseren Müttern“, wie wir es heute auch in den Metta Sutra gehört haben. Er geht einen Schritt weiter – und das so in den Vordergrund zu stellen, ist typisch Mahayana – alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Das heißt, es geht nicht nur darum, selbst wie eine Mutter ihrem einzigen Kind gegenüber zu fühlen und zu handeln, sondern auch zu denken, dass andere un­sere Mütter waren. Das ist hier für Djamgön Kongtrul der springende Punkt. Er schreibt wei­ter: „In dieser Weise über die unermesslich vielen Lebewesen zu meditieren, die den Welten­raum bis an seine Grenzen füllen, ohne in Freund, Feind und neutral zu unterscheiden,

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das wird die vier Unermesslichen genannt. Sie sind das Herz des Dharmas und sollten von dem Moment an, wo wir mit der Praxis des großen Fahrzeugs beginnen, zum Zentrum unserer Übungen werden.“ Es ist wirklich das Zentrum der Übungen und zwar speziell für die, die den großen Anspruch an sich selbst stellen, das große Fahrzeug zu praktizieren. Diejenigen, die gerne große Autos fahren, in denen sie alle mitnehmen können! Es sind die vier Unermesslichen, die das Fahr­zeug steuern. Deswegen: Vom ersten Moment an müssen die vier Unermesslichen im Zentrum der Praxis stehen.

Es gibt auch bescheidenere Formen, die eigene Praxis zu definieren, in der man nicht gleich große Autos fahren möchte. Das ist der einzige Unterschied in der Theravada-Praxis. Ich hatte dieses Jahr Gelegenheit mit Theravada-Mönchen zu diskutieren; es ist einfach ihre Be­scheidenheit, die im Vordergrund steht, sie sagen: „Wir würden uns ja gerne um alle küm­mern, aber es ist so unrealistisch! Der eigene Geist ist so beschränkt! Und noch so schwach in Liebe und Mitgefühl! Die Verwirklichung ist noch nicht tief genug. Ich glaube, das Ziel, sich um alle kümmern zu wollen, ist etwas zu hoch gesteckt. Darum, ich als Theravada-Prakti­zierender, backe lieber kleinere Brötchen und kümmere mich, so gut ich kann, um alle, widme mich aber in erster Linie der Arbeit mit den eigenen Emotionen, der Praxis mit dem eigenen Geist.“ Das klingt soweit ganz überzeugend.

Der Mahayana-Praktizierende antwortet darauf: „Stimmt, auch mein Geist ist beschränkt, auch meine Verwirklichung ist gering und auch ich finde, den Gedanken, allen Wesen helfen zu können, ziemlich unrealistisch. Aber da gibt es etwas in diesem Gedanken, das in meinem Herzen Türen aufmacht: daran zu denken, dass mein Weg von Anfang bis Ende dem Wohl aller Wesen dient, dass ich mich darauf vorbereite, völlige Buddhaschaft zu erlangen, das hat für mich eine sehr starke, inspirierende Kraft. Deswegen, in aller Bescheidenheit, halte ich doch an diesem Wunsch fest und stelle ihn ins Zentrum meiner Praxis: Möge ich Erleuchtung zum Wohle aller Wesen erlangen und auf diesem Weg bereits alles tun, um alle Wesen zur Erleuchtung zu führen.“

Das heißt, der Bodhisattva ist nicht weniger bescheiden, er hat einfach eine große Inspiration, so umfassend zu denken und nährt diese Inspiration mit seiner täglichen Praxis, ohne aber in den Irrtum zu verfallen, schon ein großer Bodhisattva zu sein. Djamgön Kongtrul fährt fort: „Bei dieser Praxis der vier Unermesslichen sollten wir Liebe und die anderen Unermess­lichen in unserem Geistesstrom hervorbringen, indem wir den Anweisungen der Ka­dampa-Tradition folgend den siebenfachen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung kontemplieren.“

Die Kadampa Schule geht zurück auf Atisha, den großen indischen Meister, der im 12./13. Jahrhundert von Indien aus von der Nalanda Universität nach Tibet gegangen ist und dort die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hat. Dieser große Meister hat Zuflucht und Bodhicitta in den Vordergrund gestellt, obwohl er ein Vajrayana Lehrer war. Die Übertragung des Geistestrainings in sieben Punkten geht auf Atisha zurück. Der hat sie von Serlingpa, einem Lehrer aus Burma, der wieder hat sie von indischen Lehrern. In der Kagyü-Schule folgen wir dieser Erklärung, wie sie von Atisha zu uns gekommen ist, weil Gampopa, einer der Begründer der Kagyü Linie, diese Übertragung in vollem Umfang erhalten und mit in die Kagyü Linie hinein gebracht hatte. Alle tibetischen Linien beziehen sich auf Atisha, was diese Praxis des Geistestrainings angeht.

Der siebenfache Zusammenhang zwischen Ursache und WirkungDer siebenfache Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung beginnt mit dem Entschluss: „Ich muss unbedingt und mit allen Mitteln Buddhaschaft erlangen, um allen Wesen helfen zu

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können.“ Wenn ich das nicht beabsichtige, kann ich auch kleinere Ziele ansteuern. Aber wenn ich in der Lage sein möchte, den Dharma im Einklang mit der Geistesverfassung eines jeden Wesens darzulegen und inspirierend auf all die verschiedenen Wesen zu wirken, dann muss ich unbegrenzt das innere Potential entwickeln, bis die grundlegende Buddhanatur zur Bud­dhaschaft offen gelegt worden ist. Wenn ich Buddhaschaft erlangen möchte, braucht es dafür den Erleuchtungsgeist, Bodhicitta.

Zwischenfrage: Du hast gesagt, wenn man was will, ist das nicht okay. Wenn ich jetzt Bud­dhaschaft will - dann ist das für mich ein Widerspruch!Ja, aber nur weil das Wort „wollen“ vorkommt, du kannst auch „anstreben“ sagen. Das Pro­blem ist aus dem Ich heraus zu wollen. Wenn ein Bodhisattva tiefe Verwirklichung des Geis­tes erlangt hat, geschieht das Streben nach Buddhaschaft nicht mehr aus dem Ich heraus. Das ist nur in der Anfangsphase. Der Strom der Praxis geht natürlicherweise in Richtung auf das volle Erwachen. Das ist nicht mehr aus dem Ich heraus, da ist niemand mehr, der zur Erleuch­tung kommen möchte – und ehrlich gesagt: es kommt auch nie ein Ich zur Erleuchtung! Das Ich kann nicht erleuchtet werden! Der Geist kann frei von Schleiern werden, aber er war schon erleuchtet, bevor die Schleier gelüftet wurden. Es geht darum, diese Schleier zu lüften. Gendün Rinpotsche meinte es einmal in einen Satz zusammengefasst: Das letzte Anhaften, das wir loslassen sollten, ist das Anhaften an die Erleuchtung. Auch das muss losgelassen werden, aber das ist nicht unser wichtigstes Problem. Das hat bis jetzt noch kein Leid ver­ursacht.

Ein Antrieb muss da sein. Das was du Erinnern nennst, das ist genau das Wort, das die Tibeter auch benutzen: drenpa auf tibetisch heißt erinnern und bedeutet auch Achtsamkeit. Dieses Er­innern ist das Erinnern an den natürlichen Zustand. Wir erinnern uns an den Geist, wie er schon einmal war, als wir die Nondualität gekostet haben und dieses Erinnern an den voll­kommenen offenen Geist ist der Motor, um immer wieder die Schleier aufzulösen. Es ist ein Erinnern, das zum Motor wird. Die Diskrepanz allein zwischen beschränktem und freiem Zu­stand ist der Unterschied.

Zu Anfang ist es eine Ahnung – während ihr hier in diesem Raum sitzt und mir zuhört, werden einige von euch etwas erspüren, worum es wohl geht und was dieser völlig offene Geisteszustand sein könnte. Ihr könnt mit etwas in euch Kontakt aufnehmen, euch fehlen im Moment die Worte um das zu beschreiben. Wenn wir auf den Vorhang am Fenster schauen, können wir das Licht dahinter erahnen, wir sehen etwas Helles, aber wir sehen nicht klar, was dahinter ist. So erahnen wir auch aus unserer Beschränktheit heraus den freien Geisteszu­stand. Das gibt uns Mut und Kraft, als wenn wir in einem Tunnel wären und auf das Licht zugehen würden. Durch diese Zustände von Nondualität gehen wir täglich, wenn wir ein­schlafen und aufwachen. Da gibt es ein momentanes Eintauchen in die Nondualität, was wir aber nicht bewusst wahrnehmen, aber das hinterlässt Spuren und so haben wir einen stän­digen, wenn auch unbewussten Kontakt damit. Auch was Liebe angeht, haben wir Ahnungen. Jeder von uns hat Ahnungen, was echte Liebe sein könnte. Ob wir es in diesem oder in frühe­ren Leben erfahren haben, spielt keine Rolle. Wir spüren, was es sein könnte und dieses au­thentische Gefühl leitet uns. Also die sieben Punkte sind:

1. Ich möchte unbedingt Buddhaschaft erlangen, um anderen Wesen helfen zu können.

2. Dafür brauche ich aber unbedingt Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist.

3. Für Bodhicitta brauche ich dessen Ursache: Mitgefühl.

4. Um Mitgefühl zu entwickeln, brauche ich dessen Ursache: Liebe.

5. Um Liebe freisetzen zu können für alle Lebewesen, brauche ich das Bewusstwerden und Erinnern der hilfreichen Handlungen anderer, sowie

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6. das Erwidernwollen dieser Güte.

7. Um dieses Verständnis entwickeln zu können, brauche ich das Verständnis, dass sämt­liche Wesen unsere Väter und Mütter sind.

Wer Buddhaschaft erlangen möchte, braucht die Motivation Buddhaschaft erlangen zu wollen. So weit können wir folgen. Diese Motivation, Bodhicitta genannt, nährt sich aus dem Mitgefühl für alle Wesen. Wir spüren, dass wir sind nicht alleine sind, andere leiden wie wir, stecken in Dualität, Ichbezogenheit und Emotionen fest. Zu spüren, dass andere ähnlich erleben wie wir, das ist Mitgefühl. Dieses Mitgefühl könnte uns egal sein, wenn wir andere nicht auch lieben würden, wenn wir ihnen nicht liebevoll zugewendet wären. Mitgefühl und Liebe müssen zusammengehen - nur zu spüren, was der andere leidet und wie er leidet, reicht nicht aus. Es braucht auch eine wirkliche Hinwendung zum anderen, einen Wunsch, dass es dem anderen gut gehen möge! Ein ganz starker Motor für Liebe ist Dankbarkeit für das, was dieser Mensch mir und anderen Gutes getan hat.

Wenn die romantische Liebe vorbei ist, was hält ein Ehepaar zusammen? Ein starkes Element ist die Dankbarkeit für die vielen Momente des Austausches, die vielen Momente, in denen sich jemand um mich gekümmert hat, als ich krank war und gepflegt wurde, als ich Hunger hatte und etwas zu essen bekam, als ich traurig war und mir ein Lächeln geschenkt wurde, – das ist Dankbarkeit für die Güte des anderen Menschen. Wenn ihr alte Paare, die schon 40 oder 50 Jahre zusammen sind, fragt: Warum seid ihr eigentlich jetzt noch zusammen, abgese­hen von der Gewöhnung daran? Dann sagen sie oft: Wir haben schon so viel miteinander ge­teilt, da ist ein Mensch, der mich so tief versteht, wie kein anderer. Dieses Verständnis, das ich spüre und diese Zuwendung, die immer wieder da ist, wenn ich Hilfe brauche, das ist es – aus diesen Beweggründen bleiben wir zusammen. Ich möchte aus Dankbarkeit für all das, was ich schon erfahren habe, meinen Lebenspartner oder meine Lebensgefährtin pflegen, wenn sie krank ist, oder helfen, wenn er nicht mehr alleine laufen kann.

Wir nennen das dann einfach Liebe, aber diese Liebe speist sich aus Dankbarkeit. Nicht nur – da mögen andere Faktoren noch eine Rolle spielen, aber Dankbarkeit spielt eine zentrale Rolle. Wenn wir sagen: Ich habe da eine Lehrerin in der Schule gehabt, die liebte ich heiß und innig – was ist dahinter, wenn ich so etwas sage? Diese Lehrerin hat sich um mich geküm­mert. Sie war aufmerksam, sie hat Freude und Enthusiasmus in mir freigesetzt.

Deshalb benutzt Djamgön Kongtrul in Übereinstimmung mit der Kadampa Linie dieses Bindeglied und schreibt: dass wir uns bewusst werden und die hilfreichen Handlungen anderer erinnern und diese Güte erwidern wollen.

Wenn wir uns nicht erinnern können: zum Beispiel hat jemand mich in der ganz frühen Kind­heit gepflegt, die ersten Jahre sich unglaublich um mich gekümmert und geht dann aus meinem Leben, dann kann ich mich nicht daran erinnern. Das führt nicht zu dieser aktiven Liebe, es kann sogar sein, dass uns gar nicht bewusst wird, dass dieser Mensch in unserem Leben war. Aber wenn wir oder andere uns daran erinnern, dann ruft das Sich-Erinnern an die Güte der anderen diese liebevolle Dankbarkeit in uns wach. Es geht darum, dass es nicht bei Dankbarkeit bleibt, sondern zu einem Erwidernwollen dieser Güte führt, dass wir bereit wä­ren, das für die andere Person zu tun, was sie für uns getan hat – nicht dasselbe, aber dass wir in irgendeiner Weise dazu beitragen, dass es dieser Person gut geht, die sich um uns geküm­mert hat.

Wenn wir das jetzt auf alle Wesen anwenden, geht es darum, uns bewusst zu werden, dass alle Wesen bereits sehr gütig zu uns waren, damit wir diesen Motor der Dankbarkeit in Gang setzen können. Wir greifen uns aus dem karmischen Geschehen einen Aspekt heraus, der besonders hilfreich ist, um Dankbarkeit freizusetzen: Alle Wesen waren schon einmal unsere Väter und Mütter. Darum schreibt Djamgön Kongtrul:

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„Wer dies versteht, beginnt das Kultivieren von Liebe damit, zunächst die Güte der eigenen Mutter zu kontemplieren. Dann dehnen wir diese Kontemplation in ähnlicher Weise mehr und mehr auf alle Lebewesen aus und schließen darin alle ein, die leben und atmen.“

Fragen In der Therapie geht man davon aus, dass es die „idealen Eltern“ gar nicht gibt und deshalb sind die Eltern, die wir haben immer eine eher unzureichende Lösung.Die ideale Mutter, der ideale Vater interessieren uns im Dharma gar nicht. Überhaupt nicht. Die ideale Mutter und den idealen Vater gibt’s nicht. Der Dharma arbeitet damit, was war. Und zwar: die Tatsache, dass wir hier alle im Raum sitzen, erwachsen, fähig zuzuhören und aufzunehmen, fähig zu sprechen und uns auszudrücken – diese grundlegenden Fähigkeiten, dass wir es bis hierhin geschafft haben und kommunizieren können, dafür danken wir unseren Eltern. Wir sind daran gewöhnt, uns über unsere Eltern zu beklagen, weil sie nicht perfekt waren, weil sie nicht liebevoll genug waren, weil sie uns geschlagen und eingesperrt haben, weil sie mürrisch waren, getrunken haben, was auch immer. Es gibt viel Unschönes zu berich­ten aus unserem Elternhaus und damit halten wir uns immer auf.

Das ist für uns emotional belastend – der Dharma wendet aber den Blick auf das ganz Einfa­che: Meine Mutter hat mich in ihrem Bauch getragen. Diese zusätzlichen Kilos zu tragen, war nicht leicht. Sie hat in der Zeit Perioden von Übelkeit, Schläfrigkeit gehabt, hat nicht schlafen können, hatte Schmerzen, sie konnte sich kaum noch hinsetzen, sie fühlte sich auch von der Umgebung getrennt, weil sie mit ihrem dicken Bauch nicht überall hingehen wollte, sie hat auf vieles verzichtet, bestimmte Nahrungsmittel hat sie nicht mehr essen können, sie konnte nicht mehr tanzen, sie konnte vieles, das ihr lieb war, nicht mehr machen. Sie hat es einfach neun Monate lang durch gestanden. Dann hat sie uns geboren. Wir behaupten nicht, dass die Geburt für den Säugling angenehm war, aber für die Mutter war sie auch nicht angenehm. Es ist für wenige Mütter ein körperlich angenehmes Erlebnis. Danach kam die Zeit, diesen Winz­ling aufzuziehen. Das heißt, ständig aufzupassen, das Baby zu füttern und zu wenig zu schlafen.

Wir als Dharmapraktizierende gehen Schritt für Schritt all die Handlungen durch, die Vater und Mutter ausgeführt haben, um uns zum Laufen, zum Essen und zum Sprechen zu bringen, um uns in den Kindergarten zu fahren, um uns zum Einschlafen ins Bett zu bringen und uns dann wieder aufzuwecken, um uns während Krankheiten zu pflegen, um uns anzuziehen, um uns den Umgang mit anderen Menschen beizubringen, bis wir dann so einigermaßen flügge waren. Da gibt es welche, die haben sich abgeschuftet, um das Geld zusammen zu kriegen, um die Erziehung und Ernährung der Kinder sicher zu stellen.

Dass wir hier sitzen und laufen, essen und reden können, haben wir unseren Eltern zu ver­danken. Vielleicht sind unsere Eltern früh gestorben oder wir waren ein Waisenkind, ein Findelkind oder was auch immer, dann haben es andere gemacht. Irgendjemand hat diese Rolle übernommen. Wir sind ihm dafür dankbar.

Wir reklamieren, was sie nicht gemacht haben, dass sie uns zuwenig Liebe geschenkt haben – zu wenig Liebe aus unserer Sicht! Die Tausenden von Handlungen, die sie ausgeführt haben, um uns zu helfen ! Einige Handlungen haben gefehlt, die wir monieren und da sagen wir: das war zu wenig. Aber Tausende von Handlungen, Gedanken waren da, um uns zu schützen.

Da hat eine Kuh es viel einfacher!Ich weiß nicht, du hast wohl in letzter Zeit keine Kälber beobachtet, oder? Hast du schon mal gehört, wenn Kälber von ihrer Mutter getrennt werden? Wenn sie mit neun Monaten von ihrer Mutter getrennt werden – hast du das Schreien schon mal gehört? Das geht zwei, drei Tage

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lang! Es ist ein Wunder, wie Kälber ihre Mütter identifizieren, wie sie liebevoll die Mutter le­cken, nicht nur die Mutter leckt das Kalb ! Natürlich sind Kälber viel schneller selbständig. Bei den Kälbern ist es so, dass sie zunächst von der Milch der Mutterkuh leben. Aber beden­ke, welche Strecken z.B. Vögel fliegen müssen, um ihre Kleinen zu ernähren, sie sind den ganzen Tag unterwegs!

Es ist nicht so, dass der Dharma behaupten würde, dass alles aus Liebe geschieht. Wir sagen nicht, dass die Vogelmutter aus Liebe zu ihrem Kind fliegt, aber sie tut es! Wir wissen nicht, warum sie es tut. Wir können ihr Liebe unterstellen, wir können es auch sein lassen. Sie tut’s. Und das ist bei den Menschen genau so. Wir wissen nicht, ob unsere Mutter aus großer Liebe gehandelt hat. Aber sie hat es getan.

Das zählt im Dharma mehr als die nobelsten Geisteshaltungen. Wenn man nichts tut, dann hat die Geisteshaltung kaum Bedeutung, es wird doch nichts getan. Freigebigkeit im Geist zu haben und dann das Geschenk nicht zu machen – das bringt nicht viel. Wir schauen im Dharma auf das, was getan wird mit Körper, Rede und Geist. Es ist schön, einen freigebigen Moment im Geist zu haben, aber es ist stärker, wenn wir diesen geistigen Impuls dann auch umsetzen.

Es gibt Mütter, die zu mir kommen und sagen:“ Ich empfinde so wenig Liebe für mein Kind“, aber trotzdem kümmern sie sich. Da ist es manchmal wichtig, die Mütter darauf hinzuweisen, dass sie vielleicht keine romantischen warmen Gefühle für ihr Kind haben, aber was sie prak­tizieren sind bereits Zeichen von Hinwendung. Das Wohl des Kindes ist ihnen nicht gleich­gültig. Wenn es ihnen gleichgültig wäre und das kommt leider vor, würden sie es liegen lassen, wenn es ihnen zu viel wird.

Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, dass wirklich alle Wesen meine Mütter waren.Ja, das ist der nächste Punkt, den ich klären muss. Warst Du meine Mutter oder nicht? War ich deine Mutter oder nicht? Waren wir alle füreinander Mutter und Vater in früheren Leben? Die Antwort der erleuchteten Meister ist eindeutig. Wir waren alle füreinander bereits zig Male Vater und Mutter. Ich kann das nicht aus meiner Erfahrung beantworten, aber – von Buddha Shakyamuni angefangen, sind sich alle Meister, die die Vorleben von Wesen sehen können, darin einig.

Offenbar sind die Zeiten gar nicht abzusehen, wie lange dieser Geistesstrom schon durch ver­schiedene Verkörperungen geht. Mal waren wir Götter, mal Menschen, mal Tiere, mal Geistwesen, haben schon alle möglichen Existenzen angenommen. Wir hatten schon auf viel­fältigste Art und Weise Kontakt miteinander. Wir haben uns umgebracht, uns nicht nur als Vater und Mutter unterstützt. Wir waren Feinde, Geliebte, Freunde, Lehrer und Schüler, Kinder, Großeltern, Lebensgefährten und sogar einfach nur die Nahrung füreinander.

Aus all dem, was ich in diesem Leben erlebt habe, greife ich mir heraus, dass meine Eltern sich tatsächlich um mich gekümmert haben! Aus dem schon im Daseinskreislauf Erfahrenen greifen wir den Aspekt heraus, dass sich jeder schon um uns gekümmert hat, wie nur eine Mutter oder ein Vater sich um jemanden kümmert. Dass sie danach wieder unsere Feinde ge­worden sind, wir uns wieder geschlachtet haben, nehmen wir zur Kenntnis, aber darauf rich­ten wir nicht speziell unser Augenmerk. Das wird erst einmal nicht berücksichtigt, es wird zu einem späteren Zeitpunkt Thema.

Wenn der Buddha sein Auge über die Welt schweifen lässt und schaut, sieht er Kinder ihre Eltern auffressen und Eltern ihre Kinder auffressen. Er sah das bei einem Mann, der am Wegesrand saß und einen Fisch aß. Der Fisch war vormals als Mensch der Vater des Mannes, jetzt war er als Fisch wiedergeboren und im Grunde genommen aß der Sohn seinen eigenen Vater. Ein Buddha kann solche Zusammenhänge sehen, weil der Schleier der Unwissenheit,

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der sich durch jede Wiedergeburt in unserem Geist bildet, sich gelichtet hat, sodass die Er­innerung ununterbrochen ist.

Es gibt übrigens inzwischen sogar wissenschaftlich fundierte Werke darüber. Sie doku­mentieren hundert oder tausend Kinder, die klare Erinnerungen aus früheren Leben haben, wobei sich das, woran sie sich erinnern, auf noch lebende Personen bezieht, so dass man das nachprüfen konnte. Es gibt Kinder, die die eigenen neuen Eltern an den Ort geführt haben, an dem sie vorher gelebt hatten und den sie ihnen vorher beschreiben konnten. Diese Dinge sind aufgezeichnet worden. Das geht natürlich nur für Menschen, die wieder als Menschen gebo­ren werden. Das ist diese spezielle Situation.

Wo ist das Buch erschienen?Das ist auf Französisch und auf Englisch erschienen, der französische Autor, der das zu­sammengefasst hat, heißt Jean Pierre Schnetzler und lebt in Montchardon, Frankreich. Es trägt den Titel: „De la mort à la vie – dialogue orient-occident sur la transmigration“, bei Éditions Dervie in Paris erschienen. Er hat das aus einer großen Studie, zu der sich amerikanische Uni­versitäten zusammen getan und 4000 Fälle untersucht haben. Das Schöne an dem Werk ist die wissenschaftliche Grundlage, mit Fotos, Zeugenaussagen usw.

Die Kette unserer Vorleben reicht so unglaublich weit zurück, dass der Buddha dafür den Ausdruck „anfangslose Zeit“ benutzt hat. Seit anfangsloser Zeit irren wir im Daseinskreislauf. In den Mahayana-Sutren heißt es: „Wenn wir für jedes Mal, wo meine jetzige Mutter bereits meine Mutter war, einen Wacholdersamen nehmen und damit die Erdoberfläche abdecken würden, dann würde die gesamte Erdoberfläche nicht ausreichen, die Anzahl der Geburten, bei denen meine Mutter schon einmal meine Mutter war, zu zeigen. Es ist nicht einfach sich auf diese Dimensionen einzulassen, doch letzten Endes kommt es darauf an, dass wir Liebe und Mitgefühl entwickeln!

Wissen die Meister das aus Erfahrung?Durchaus! Es gibt Meister, die unglaubliche Klarsicht haben, ihre eigenen Vorleben und auch die Vorleben von Menschen kennen, denen sie begegnen. Bei Buddha Shakyamuni wird be­schrieben, dass er eben mit der Erleuchtung die Fähigkeit hatte, die Vorleben aller Wesen zu sehen. Er konnte den Blick auf die unglaublichen Vernetzungen und Verwicklungen der Lebenswege richten. Aufgrund dieses umfassenden Blickes wurde ihm auch das Wirken von Ursache und Wirkung klar, wie eine Handlung in diesem Leben zu Auswirkungen in späteren Leben führt und wie viele Leben es dauern mag, bis etwas zur Auswirkung kommt. Die Lehre vom Karma ist mit der Lehre von Wiedergeburt vernetzt und auch mit der Lehre von einer immensen Zahl von Wiedergeburten.

Auch die Meister waren bereits unsere Mütter! Vielleicht waren sie damals keine Meister, aber vielleicht waren wir auch schon zigmal Schüler in vergangenen Leben und lernen immer ein bisschen dazu. Es gibt unglaubliche Möglichkeiten, was alles schon war. Wir sitzen hier und hören uns das alles an – es ist mehr dazu gedacht, unseren Geist zu öffnen und es in Be­tracht zu ziehen um den Gedanken hervorzubringen: „Na, wenn du meine Mutter warst, - herzlichen Dank!“ Einfach diese Dankbarkeit wachzurufen, die eigentlich nicht auf bewusster Erinnerung beruht, sondern auf Vertrauen, dass das wohl vermutlich so war. Hier können wir unsere Grenzen ausdehnen.

Mir fällt es schwer, all das zu glauben.Glaube nichts von alledem, bis du überzeugende Hinweise erhalten hast, dass es tatsächlich so ist. Bis du es selber gesehen hast. Ich habe bisher auch nur ganz wenig davon gesehen, aber ich habe von Menschen, denen ich traue, dass sie nicht lügen, gehört, was die gesehen haben. Einiges habe ich selbst gesehen, aber nicht viel. Ich habe noch niemanden fliegen sehen! Die

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Hellsichtigkeit unseres Lehrers Gendün Rinpotsche war ein fast tägliches Phänomen. Er konnte problemlos unsere Gedanken lesen. Du konntest nichts vor ihm verheimlichen, keinen einzigen Gedanken. Er wusste selbst 1000 km entfernt, was wir denken. Das ist eine Fähig­keit, die ist für mich sonnenklar.

Shamar Rinpotsche hat mir Dinge über meine Eltern gesagt, die er gar nicht kannte, die sehr zutreffend waren. Ich saß vor ihm, es war, als ob er meine Eltern mit mir zusammen sah und über sie sprechen konnte. Es gibt Lehrer, die Voraussagen machen können, dass dieses oder jenes eintreffen wird. Und es bewahrheitet sich dann tatsächlich. Nun Schluss mit der Theo­rie, rein in die Praxis.

7. MeditationIch löse den Geist von allen Sinneswahrnehmungen und Gedanken, nichts ist wichtig.

Den Dingen, die im Leben sonst wichtig sind, kann ich mich später zuwenden. Jetzt gerade habe ich Ferien.

Ich bin gerade nicht erreichbar für die alltäglichen Sorgen, dies sind meine privaten zehn Mi­nuten.

Das sind Minuten, in denen ich mir einfach Gutes tue.

Meine Sorgen laufen mir nicht davon, aber es ist jetzt gerade Pause.

Allem, was mich beschäftigt, kann ich mich später wieder zuwenden.

Auch die Sinneswahrnehmungen laufen mir nicht davon. Es werden noch Millionen von Sinneseindrücken auf mich zukommen.

Es ist nicht wichtig, mich mit jeder einzelnen Sinneswahrnehmung gerade jetzt zu beschäf­tigen.

Der Atem strömt ein und aus. Der Geist reitet auf dem Atem.

Es ist in Ordnung, du darfst dich einfach entspannen. --- (Stille)

Lasst uns dies gemeinsam zum Wohle aller Wesen widmen.

Die Leiden in den sechs DaseinsbereichenWenn ihr noch mehr nachlesen wollt, wie man die Meditation über die Mutter anwendet, könnt ihr im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa über das Entwickeln von Liebe und Mitgefühl lesen. Da gibt es ein Kapitel über Liebe und ein Unterkapitel über Mit­gefühl, es wird jeweils die Mutter als Beispiel genommen.

Alles wird im Detail beschrieben und wir können daraus eine Meditation machen. Wir können uns hinsetzen und Satz für Satz meditieren, was unsere Eltern uns alles geschenkt haben. Im Kapitel über Mitgefühl stellen wir uns vor, dass die eigene Mutter stellvertretend für die anderen Wesen in einem der sechs Daseinsbereiche wiedergeboren wird. Wir stellen uns vor, unsere Mutter wäre als Zugpferd, als Lastentier oder als Fisch im Ozean wiedergeboren worden und wir denken daran, welches Leid sie in einer solchen Existenz erfahren hätte durch die Knechtschaft bei den Menschen, die ständige Angst usw. – all die verschiedenen Leiden, die Tiere durchmachen.

Dann stellen wir uns vor, dass sie eine Geburt in der Welt der hungrigen Geister annimmt, das sind diejenigen, die ständig Hunger und Durst leiden und unter dem Gefühl, dass sie verfolgt werden und dass ihnen der Zugang zu Nahrung verwehrt ist, dass es sie innerlich wie von

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Flammen verzehrt, wie kalt und wie heiß es ihnen werden kann, wie allein sie sich fühlen. Wir gehen durch alle die Leiden, die für die jeweiligen Bereiche beschrieben sind und stellen uns vor, es sei unsere eigene Mutter, die leidet. Um solch eine Meditation ausführen zu können, brauchen wir natürlich ein Vertrauen darein, dass es tatsächlich eine Wiedergeburt gibt, sonst müssen wir uns den Zugang mehr theoretisch schaffen und uns vorstellen, was Tie­re und andere Wesen allgemein an Leiden erleben. Es gibt Bücher über die vielen Leiden der Tiere, die wir ständig essen, was sie durchmachen in der Zeit, wenn sie in Riesenstallungen großgezogen werden, beim Transport, im Moment des Getötet- Werdens, all diese vielen Leiden.

Dann stellen wir uns vor, unsere Mutter wird in einem Höllenbereich wiedergeboren und ma­len uns das aus – macht es realistisch! Das ist ein meditativer Prozess, sich in Einzelheiten vorzustellen, unsere Mutter würde das jetzt durchleben.

Auch für den Menschenbereich stellen wir uns das vor, dass sie eine x-beliebige menschliche Geburt annimmt und stellen uns die Leiden dieser Existenz vor. Sie würde in Afrika, in der Sahelzone, wiedergeboren, sie würde in New York in einem Slum wiedergeboren oder wird als Millionärin wiedergeboren, so dass sie die ganzen Leiden eines Millionärs zu durchleben hat, die zum Teil in den Selbstmord führen.

Dann stellen wir uns vor, dass sie unter den Halbgöttern und Göttern geboren wird, mit all dem, was wir darüber wissen.

Sich vorzustellen, dass es die eigene Mutter ist oder jemand, der uns sehr ans Herz gewachsen ist, bedeutet: es geht uns etwas an, es berührt uns wirklich.

Wirklicher GleichmutDie klassische Reaktion ist wie beim Seebeben in Südostasien. Dann kommt die Reaktion: „Waren auch Deutsche dabei?“ Nur weil uns das dann etwas mehr angeht! Das ist doch egal, welcher Nationalität die Menschen sind, die umkommen, ob wir sie kennen oder nicht. Aber die unmittelbare Reaktion ist: „Geht es mich etwas an?“ „Die kennen wir alle“, sagt der Dharma, wir kennen alle diese Menschen, die umgekommen sind, weil sie schon einmal unse­re Mütter und Väter waren! Es ist eine Brücke, die nur der nutzen kann, der an vielfältige Wiedergeburt glaubt. Wenn wir uns aber nicht darauf einlassen können, können wir uns vor­stellen, dass es unsere Verwandten wären. Es hindert uns ja nichts daran. Wer sagt denn, dass ich mich mehr um meine eigene Familie kümmern soll als um die Familien anderer? Das ist ein willkürliches Kriterium. Ich bin in der Familie geboren und darum kümmere ich mich, das ist selbstverständlich. Wieso sollte ich mich nicht um die Familie meines Nachbarn kümmern, die ich ja auch kenne? Es ist eine ganz persönliche Bevorzugung eines kleinen Kreises von Menschen und aus dieser Bevorzugung einzelner Menschen möchte uns der Dharma heraus­holen. Nur dann entsteht wirklicher Gleichmut.

Gleichmut bedeutet, mir ist das Schicksal dieser Menschen genauso wichtig wie das Schicksal meiner Angehörigen. Gendün Rinpotsche war ein sehr gutes Beispiel dafür. Er ist Tibeter, war aus dem chinesisch besetzten Tibet unter Lebensgefahr geflüchtet. Er erhielt viele Briefe von entfernten Verwandten, die von ihrem Onkel im Westen dachten, er wäre jetzt ein reicher Lama im Westen, die Unterstützung wollten und eingeladen werden wollten... Gendün Rin­potsche ist nicht darauf eingegangen. Er sagte: Diese Menschen sind mir nicht näher und nicht ferner als Menschen überall in der Welt. Er hat unsere ganze Sangha so geführt, dass wir nicht zu Tibet-Fans wurden. Bloß weil der Dharma von tibetischen Lehrern gelehrt wird, bedeutet das nicht, dass wir uns nicht genauso um Afrikaner kümmern sollten! Das ist der tiefe Gleich­mut, den er verwirklicht hatte, alle Menschen gleich gütig zu behandeln und nicht zu sagen,

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da sei ein Volk, das unsere ganz besondere Aufmerksamkeit braucht. Wieso ist die Unter­drückung in Tibet schlimmer als die in Chile, in Ruanda oder sonst wo? Es gibt so viele Dik­taturen in der Welt. Es sind große Gräuel verübt worden und die Menschen, die davon betrof­fen sind, brauchen unsere Aufmerksamkeit und Hilfe, aber eben nicht mit einer Geis­teshaltung, die aufgrund persönlicher Vorlieben entstanden ist.

Es existiert eine Dankbarkeit – das hat Gendün Rinpotsche klargemacht – Dankbarkeit dem Dharma gegenüber. Er sagt: „Das größte Geschenk, das ihr mir als Lehrer machen könnt und auch der Überlieferungslinie, die durch Tibet zu euch gekommen ist: haltet diese Linie leben­dig! Gebt sie weiter! Macht dieses Geschenk an andere! Dadurch zeigt ihr eure Dankbarkeit.“ Das ist das wichtigste Zeichen der Dankbarkeit und nicht, politisierte Tibet-Fans zu werden.

Überall, wo wir Menschen begegnen, können wir einfach mit dem Gedanken spielen: „Könn­te ja meine Mutter gewesen sein, könnte ja mein Vater gewesen sein.“ Das verändert nämlich etwas in unserer Wahrnehmung der Situation. Es ist, als würde etwas in uns weich werden, Trungpa nannte das „Soft Spot“, ein weicher Punkt – wir öffnen uns mehr für den Menschen, der vor uns steht, wenn wir uns das vorstellen.

Ein anderer Gedanke ist, sich vorzustellen, dass dieser Mensch, der mir gegenüber sitzt, für andere eine innig geliebte Person darstellt. Dass es Menschen gibt, die diesen Menschen mit Augen tiefer Wertschätzung und Liebe betrachten. Ich denke dann, dass ich stellvertretend für den, der nicht da ist, handeln würde. Wenn ich mit den gleichen Augen auf die Qualitäten des Menschen schauen würde, was braucht dieser Mensch? So habe ich für jemanden, der mir sonst völlig egal ist, einen anderen Blick eingenommen, und der andere erscheint plötzlich sehr liebenswert.

Es geht darum, die Herangehensweise zu finden, die in uns etwas öffnet. Diesen etwas unge­wöhnlichen Zugang zur Tiefe des Menschen, dem wir begegnen. Den Blick immer wieder so zu öffnen, bewirkt, dass sich unser ganzes Leben verändert. Plötzlich gibt es keine langwei­ligen Situationen mehr. Es gibt es keine Menschen mehr, die uns nichts angehen. Das alles führt in die Richtung, dass wir allmählich alle Wesen als unsere Eltern oder aber als unsere Kinder betrachten können.

Unterweisungen von Matschig Labdrön

Ich werde euch jetzt eine Unterweisung geben, die von Matschigma stammt, die auch Mat­schig Labdrön heißt. Das ist eine voll verwirklichte Meisterin, die zur Zeit Milaräpas in Tibet gelebt hat und die Begründerin der Linie des Tschö, des Durchtrennens aller Ichbezogenheit ist. Sie hat sehr viele Praktizierende auf ihrem Weg inspiriert. In ihren Gesammelten Werken findet sich ein ganzes Kapitel über die vier Unermesslichen.

Grenzenlose Liebe Zunächst geht es um grenzenlose Liebe. Drei Formen von Liebe werden traditionell im Maha­yana gelehrt. Da gibt es die Liebe mit Lebewesen, mit fühlenden Wesen als Bezugspunkt, die Liebe mit der Erkenntnis der Natur der Phänomene als Bezugspunkt und die Liebe ohne jegli­chen Bezugspunkt. Zuerst die Liebe mit Lebewesen als Bezug: Liebe mit Lebewesen als Bezugspunkt„Nicht ein einziges all der fühlenden Wesen, die bestehen aus denen, die uns geschadet haben und all den anderen, nicht ein einziges von ihnen war noch nicht unser Vater und unsere Mutter in der Vergangenheit. Zahllose Male, eine nicht wägbare Anzahl von Ma­len haben sie bereits als unsere tatsächliche Mutter gehandelt, waren in unzähligen

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Leben unsere Mütter. Ohne sich zurückzuhalten mit ihrem Körper, ihrem Reichtum, was auch immer ihnen gehörte, haben sie sich um uns gekümmert, das heißt, sie haben ihren Körper, ihren Reichtum eingesetzt, um uns, ihrem Kind, zu helfen. Sie haben uns genährt, während sie selbst viele Schwierigkeiten ertragen haben. Sie haben sich selbst schädlichen Handlungen ausgesetzt, viel Leid, haben abwertende Rede unseretwegen er­tragen, haben Streit unseretwegen ertragen usw. Sie haben so viele Schwierigkeiten für uns durchgestanden, dass wir von so manchen dieser Schwierigkeiten noch gar nie etwas gehört haben. Auf diese Weise waren alle diese Lebewesen unsere Mütter. Bitte bedenkt dies – bitte denkt tief darüber nach. Wenn du jetzt diese deine Mütter in all ihrem Leid siehst, entwickle den Wunsch und sage dir: Um all diese Mütter von Leid zu befreien und ihnen eine Hilfe zu sein, opfere ich meinen Körper, meinen gesamten Reichtum, alle Wurzeln der Tugend – also alles Heilsame, was ich je getan habe und tun werde – all dies ohne Ausnahme widme ich meinen Müttern - schenke ich, opfere ich meinen Müttern. Bis Samsara geleert ist – bis es kein Wesen mehr in Samsara gibt – werde ich das Wohl der Wesen bewirken, damit sie alle, meine Mütter, Glück erfahren und die Ursachen des Glückes besitzen – d.h. heilsame Aktivität in all ihren Facetten. Während du dies denkst, entwickle einen einsgerichteten Geist starken Strebens und handle dann dementsprechend. Dies wird Liebe in Bezug auf Lebewesen genannt.“Matschigma setzt voraus, dass alle Wesen viele Male unsere Mütter waren und beschreibt das, was bei Gampopa ausführlicher steht, wie sie sich um uns gekümmert haben. Dann geht sie den nächsten Schritt und betrachtet den Umstand, dass diese Wesen alle in Samsara gefangen sind, sie sind nicht frei. Einige mögen inzwischen die Befreiung erlangt haben, aber es geht um die, die noch in der Ichbezogenheit feststecken. Sie sagt: „Ja, die haben mir sehr geholfen, aber sie sind auch gefangen. Aus Dankbarkeit tue ich jetzt, was sie bereits für uns getan haben, ich werde meinen Körper, meinen Besitz und alle meine Fähigkeiten einsetzen, um ih­nen zu helfen.“ Das ist was eine Mutter in den ersten Lebensjahren für ihr Kind tut.

Ich werde es nicht bei dem Gedanken belassen, sondern ich werde so handeln. Ich mache den Schritt in das Handeln und verpflichte mich dazu, bis Samsara geleert ist. Das ist das Bodhi­sattva-Versprechen, eine immense Dimension, die sich uns auftut. Ein immenser Einsatz zum Wohle der Wesen.

Es geht nicht darum, dass ihr alle das sofort macht. Sondern es geht darum, dass ihr davon hört, dass es Menschen wie Matschigma und andere gibt. Dass ihr einige von denen, die solch ein Versprechen aus der Tiefe ihres Herzens geben und umsetzen, kennt oder sie kennen werdet, wenn ihr es euch von Herzen wünscht. Matschigma war ein Beispiel dafür. Sie ist immer dorthin gegangen, wo es am schwierigsten war, wo Menschen von Geisteskrankheiten geplagt waren, wo sie von Seuchen geplagt waren, wo Geister und Dämonen ihr Unwesen trieben, sie ist nackt – völlig unbekleidet hat sie in Tibet gelebt – an diese Orte gegangen und hat dort praktiziert. Im Laufe ihrer nur etwa 40 Jahre währenden Lehrtätigkeit hat sie Zig­tausende von Schülern um sich gesammelt. Sie hat erst recht spät angefangen, da sie zuerst Mutter war und Kinder großgezogen hat. Sie war eine angstfreie Bodhisattvi.

Liebe mit der Erkenntnis der Natur aller Phänomene als BezugspunktDann spricht sie über Liebe mit der Erkenntnis der Natur aller Phänomene als Bezugspunkt. Wenn man das in Dharmatexten findet, dann findet man nur die Kurzformel: Liebe mit Phä­nomenen als Bezug, das bedeutet aber die Erkenntnis der Natur der Phänomene. Matschigma sagt:

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„Im Letztendlichen gibt es nichts, was wirklich existiert. Aber dennoch gibt es auf der relativen Ebene eine konkrete Aufgabe. Denn meine früheren Mütter, all diese Lebe­wesen, haben noch nicht Erleuchtung erlangt – sie haben diese Erkenntnis noch nicht erreicht. Deswegen muss ich selbst Erleuchtung erlangen, um ihnen das zeigen zu können. Ich habe unbedingt die Erleuchtung zu erlangen, um das Wohl aller Wesen, meiner Mütter, verwirklichen zu können, dieser Mütter, die mir solch außerordentliche Güte gezeigt haben. Ich bin mir bewusst, dass alle Phänomene, alle Erscheinungen, alles, was wahrgenommen wird, nicht einmal eine Haarspitze wahrer Existenz hat – also nicht ein Stäubchen wahrer Existenz. Sie sind alle wie ein Traum, illusorisch. Aber da die fühlenden Wesen dies nicht verstehen und an illusorischen Erscheinungen als wirklich festhalten, handeln sie ständig auf nicht heilsame Art und Weise und müssen deswegen endloses Leid ertragen. Während du über dies nachdenkst, entscheide dich. Ich werde sie alle auf den Pfad der Erleuchtung führen und ihnen das selbstgewah­re, zeitlose Gewahrsein zeigen, wodurch sie von der Unwissenheit befreit sein werden, der Unwissenheit, die bewirkt, dass sie an einem Selbst festhalten, an einem Selbst, wo es kein Selbst gibt. Das nennen wir Liebe mit der Erkenntnis der Natur der Phänomene als Bezugspunkt.“Die Motivation für das liebevolle Handeln muss sich aus der Erkenntnis speisen, aus der Er­kenntnis der Natur der Phänomene genährt werden. Das ist der eigentliche Bezugspunkt.

Der Bodhisattva mit dieser Erkenntnis weiß bereits, dass das Leiden der Wesen illusorisch ist, dass es keine Substanz hat. Allerdings besteht es wirklich im Geist derer, die leiden! Da sie noch nicht erkannt haben, was die illusorische Natur aller Wahrnehmungen, Erscheinungen, Gedanken und Gefühle ist, muss ich mich darum kümmern, sie zu dieser Erkenntnis zu füh­ren. Das ist das Anliegen eines Bodhisattvas, dessen Liebe sich nicht mehr auf das äußerlich wahrnehmbare Leid und die Sympathie, die dadurch entsteht, gründet. Das Leid kennt der Bodhisattva aus der Erfahrung der Verwirrung. Er weiß, wie schmerzhaft das ist, die Dinge so zu erleben. Der Geist ist völlig vereinnahmt von dem, was für wirklich gehalten wird. Der Bodhisattva kennt die andere Dimension der Befreiung und den Kontrast zwischen Befreiung und normaler Existenz. Was sich da aufgetan hat, muss ich allen Wesen zugänglich machen. Aus der Kenntnis des erleuchteten Zustandes nährt sich die Motivation, in die Welt der Er­scheinungen zu gehen und Wesen, so gut und so schnell wie es geht, aus dieser Verwicklung in die Welt der Illusionen heraus zu führen.

Fragen Auf geistiger Ebene ist mir das klar. Aber angenommen, Menschen haben einen Blinddarm­durchbruch oder eine Zahnerkrankung, das es letztendlich nicht existiert, das kann ich schon verstehen, aber akut ist da ja was präsent, dass der Zahn behandelt, der Blinddarm operiert werden muss. Praktizieren! Fang mal mit dem kleinen Zahnweh an. Praktiziere mit den kleinen Dingen, be­vor du dich den großen, schwierig zu meisternden Dingen zuwendest. Praktiziere mit den Schmerzen im Knie! Praktiziere damit, entspann dich hinein und schau mal, wie wirklich die sind. Die Notwendigkeit zu handeln wird nicht abgestritten, der Bodhisattva handelt! Wenn jemand einen Blinddarmdurchbruch hat, muss er ins Krankenhaus gebracht werden. Aber die Frage ist, ob der Geist bei solch einer schmerzhaften körperlichen Erfahrung leidet. Das ist der Weg, das selbst herauszufinden und nicht vorgefertigte Antworten nachzusprechen. Wir müssen selbst die Weisheit entwickeln: Wann brauche ich den Zahnarzt und wann nicht? Wann muss ich die Haltung ändern und wann nicht? Auf welche Schmerzen muss ich hören und auf welche nicht?

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Immer mehr den Freiheitsraum vergrößern – Weisheit ist, das aus eigener Erfahrung zu wissen. Nicht zu meinen, bloß weil ich den Dharma praktiziere, bräuchte ich keine Ärzte mehr. Das wäre ein großes Missverständnis. Aber ich kann voller Angst zum Arzt rennen oder ich kann gelassen zum Arzt gehen, das ist ein Unterschied! Mit welcher Haltung ich dem Leid begegne. Versteht das nicht als Aufforderung, ihr müsstet jetzt so tun, als hättet ihr diese Ich-Illusion schon aufgelöst. Oder wenn wir hungrig sind – macht nichts aus! Wenn wir uns alleine fühlen – macht nichts aus! Dieses „macht nichts aus“ ist nur ein spiritueller Mantel, der darüber geworfen wird und der unsere Unfähigkeit zudeckt, mit der Situation direkt um­zugehen. Es geht um echte Erkenntnis, die ist anstrengungslos und braucht kein Schauspiel. Das ist nicht etwas, was man einer Situation überstülpt. Es ist die Natur der Situation zu er­kennen, die sich spontan auftut bei dem, dessen Geist sich dafür öffnet.

Wir können versuchen herauszufinden, wie solide die Erfahrungen wirklich sind. Ist eine Erfahrung von Schmerz, ein solider Knoten im Bauch oder im Kopf? Ist das etwas Festes? Oder lässt sich bereits Wandel feststellen, was darauf hinweist, dass die Dinge vergänglich sind?

Ein erster Schritt in die Erkenntnis der illusorischen Natur der Dinge ist, wenn wir ihre Vergänglichkeit wahrnehmen. Wenn wir wahrnehmen können, dass Emotionen vergänglich sind, können die Emotionen nicht mehr so anwachsen zu einem Block, der wie eine Wand in unserem Geist steht, ihn ganz ausfüllt und scheinbar allgegenwärtig ist. Der Trennungs­schmerz hat etwas Ewiges an sich, aber im direkten Erleben ist die Erfahrung ständigen Wandels – es gilt, uns in der sich immer zeigenden Vergänglichkeit zu schulen. Das ist ein erster Schritt, wie wir Zugang zu der illusorischen Natur der Phänomene finden können. Alles andere entwickelt sich dann von selbst. Die Vergänglichkeit eröffnet uns das Verständnis der Leerheit aller Erscheinungen und das führt direkt zum Erkennen der illusorischen Natur der Erscheinungen.

Liebe ohne BezugspunktJetzt spricht Matschigma über Liebe ohne Bezugspunkt:

„Das Objekt unserer Meditation über Liebe, nämlich unsere Mütter, die Lebewesen, wie auch wir selbst und die Liebe selbst, alle drei: die die wir lieben, der, der liebt und die Liebe selbst, sind in Wirklichkeit nicht existent. Sie sind leer von einer bleibenden Wesensnatur, etwas das bleibt, das unveränderlich bleiben würde. Aber diese leere un­gehinderte Strahlkraft des Geistes manifestiert sich als dieser liebevolle Geist, der anderen helfen möchte, nützlich sein möchte.“

Diese leere ungehinderte Strahlkraft des Geistes manifestiert sich als eine deutlich wahr­nehmbare Geistesregung, in der eine liebevolle Regung gespürt wird, die anderen helfen möchte. Obwohl ihre Natur leer ist, obwohl es nichts Bleibendes, nichts Solides daran gibt.

„Der Geist, dessen wahre Natur Klarheit ist, frei von all den Extremen geistiger Projek­tionen, ohne irgendwelches dualistisches Haften, ruht inmitten des offenen Raumes.“Wenn der Geist frei von Anhaften ist, öffnet sich der Geistesraum frei von Anhaften und darin ist trotzdem noch Gewahrsein, das Gewahrsein hört nicht auf. Dieses Gewahrsein nennen wir die Klarheit des Geistes. Die Fähigkeit wahrzunehmen hört nicht auf, bloß weil die Ichbezo­genheit sich auflöst.

„Diesen selbstgewahren, aus sich selbst heraus gewahren Geistesstrom zu wahren, darin aufzugehen, nennen wir große Liebe oder Liebe ohne Bezugspunkt. Es ist notwendig, sich darin für lange Zeit zu üben, bis der Geist vollkommen eins geworden ist damit. Das nennen wir dann grenzenlose Liebe.“

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Wir kommen auf das zurück, was Buddha Shakyamuni gesagt hat. Grenzenlose Liebe ist die Liebe, die sich mit dem Erkennen der Natur des Geistes verbindet. Der natürlich belassene Geist, der in seiner eigenen Klarheit ruht, ist frei von dem Haften an einem Ich, ist die eigent­liche grenzenlose Liebe, in der spontan die Hinwendung zu anderen auftaucht, ganz einfach weil es keine Ichbezogenheit mehr gibt.

8. MeditationLasst uns damit beginnen, den Atem zu fühlen. --- (Stille)

Der Atem strömt ein und aus, ganz von selbst. Es gibt nichts zu tun.

Entspanne den Körper, entspanne den Geist.

Wir sind in Ordnung so, wie wir jetzt gerade sind.

Ich lade euch ein, eure Mutter in euer Bewusstsein zu rufen. Wir sehen unsere Mutter vor uns und sagen einfach danke. Ganz natürlich, ohne großes Aufhebens zu machen: „Danke für all das, was du für mich getan hast.“

Dann rufen wir unseren Vater ins Bewusstsein: „Danke! --- Danke für all das, was du für mich getan hast.“

Der Atem strömt ein und aus, wir brauchen das Bild der Eltern nicht weiter festzuhalten.

--- (Stille)

Dann lassen wir den Geist sich öffnen und laden alle Wesen ein, in unser Bewusstsein zu tre­ten. Wir denken an die unzähligen Menschen, an all die unzähligen Tiere, die es gibt. Wir zie­hen in Betracht, dass es ebenso unzählige Geistwesen gibt, die wir noch nie gesehen haben.

„Wo immer ihr seid und was immer unsere frühere Beziehung gewesen sein mag, falls ihr mir Gutes getan habt, euch um mich gekümmert habt: Danke!

Danke für all das, was ihr mir an Hilfe habt zukommen lassen.

Danke für die Male, wo ihr mir vielleicht eine Mutter wart – ein Vater – ein Lebensgefährte – Freund, danke für all das.“

Wenn ich die Ohren spitze, höre ich vielleicht einige dieser Wesen rufen: „Wir brauchen Hil­fe. Kannst du uns helfen?“

Ehrlicherweise müssen wir vielleicht sagen: „Im Moment kann ich noch nicht so viel tun. Ich kann an euch denken. Ich kann euch in meine Gebete einbeziehen, aber ich muss selber noch den Weg gehen. Ich werde euch nicht vergessen.

Ich werde euch nicht vergessen und auch wenn ich euch, jedem einzelnen, vielleicht nicht sehr hilfreich sein kann, werde ich mich doch einigen von euch liebevoll zuwenden und mein Bestes tun.“

„Mögen sie stellvertretend für all die unter euch stehen, für die meine Kräfte nicht ausreichen.

Mögen die, die meine Liebe empfangen, stellvertretend für alle Lebewesen stehen.

Möge ich in denen, die ich liebe, alle Lebewesen lieben.“

Ich kehre wieder zum Atem zurück. --- (Stille)

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Grenzenloses Mitgefühl Mitgefühl mit Lebewesen als BezugspunktIn Gampopas Schmuck der Befreiung steht:

„Wenn eure Mutter blind, ohne es zu wissen, auf einen Abgrund zulaufen würde und es gäbe niemanden, der sie warnen würde, hättet ihr nicht den Impuls herbeizueilen und sie vor dem Absturz in den Abgrund zu bewahren?“Eigentlich ist das ein natürlicher Impuls für einen Menschen, der uns lieb ist. Im Mahayana Weg geht es darum, immer wieder diesen Gedanken wachzurufen und die Motivation zur täglichen Praxis und zum täglichen Handeln aus diesem Gedanken abzuleiten, es wirklich aus dem Impuls heraus zu tun, anderen zu helfen und nicht abzustürzen, sich nicht in immer noch mehr Leid zu verfangen. Wenn wir den Weg nicht selbst gehen, werden wir ihn auch anderen nicht zeigen können.

Wenn wir gemeinsam meditieren, ist es immer wieder so, dass sich das Öffnen für Liebe und Mitgefühl unglaublich ausgleichend, harmonisierend und beruhigend auf den Geist auswirkt. Selbst wenn es uns nur darum ginge, den Geist zu beruhigen, wäre es schon eine wunderbare Methode. Aber es geht uns nicht nur darum, den Geist zu beruhigen. Es geht tatsächlich dar­um, so in der Welt zu sein, dass es für alle hilfreich ist.

Matschigma schreibt über die drei Formen von Mitgefühl: Mitgefühl mit Lebewesen als Be­zugspunkt, Mitgefühl mit Erkenntnis der Natur der Phänomene als Bezugspunkt und Mitge­fühl ohne Bezugspunkt.

„Diese Mütter, die uns so große Güte gezeigt haben, werden gefoltert von Unglück und Leid. Sie nähren ständig weitere Ursachen des Leidens und erfahren die Früchte dieser Handlungen als Leid.“Vielleicht erscheint euch das als schwarz gemalt, wenn ich so viel über Leid spreche. Vergesst nicht, das Wort Leid bedeutet hier, in der Dualität gefangen zu sein und dass wir von einem Glück sprechen, das die meisten Wesen noch gar nicht kennen. Aus der Perspektive der Erleuchtung betrachtet sind selbst unsere glücklicheren Seinszustände stark beschränkt. Aus der Perspektive einer Erleuchteten wie Matschigma ist selbst das menschliche Dasein, das doch relativ viele glückliche Momente aufweist, eigentlich nur Leid, da dieser völlig offene Geist, der unser tiefster innerer Reichtum ist, nicht verfügbar ist. Wir sind gefangen im Anhaften an angenehmen Erfahrungen und Ablehnen von unangenehmen Erfahrungen und Stumpfheit, merken gar nicht, was eigentlich wirklich abläuft! Für einen verwirklichten Meis­ter ist selbst die Erfahrung tiefen meditativen Ausgeglichenseins, die wir in Samatha, der Pra­xis der geistigen Ruhe erfahren können, noch eng, obwohl Erfahrungen von großer Geistes­weite gemacht werden, die uns als das Schönste vorkommt, was wir je erlebt haben. Aus der Sicht von jemandem, der Mahamudra, die Natur des Geistes kennt, ist das eine immer noch enge Geisteserfahrung und fällt immer noch unter die Bezeichnung ‚Leid’.

Man möchte nicht damit konfrontiert sein, dass es sich tatsächlich um Leid handelt – mit un­befriedigenden Situationen können wir lernen zu leben. Der Erleuchtete strebt nicht nach der Erfüllung seiner Wünsche – er entspannt sich einfach in den natürlichen Zustand: völliger Frieden, völlige Weite und Offenheit. Wenn sich der Geist in diesem Gewahrsein auf das richtet, was andere erfahren oder was dieser Geistesstrom selbst in dualistischen Situationen erfährt, dann wird deutlich, wie groß der Unterschied ist zwischen Befreiung und Gefangen­sein. Aus dieser Perspektive spricht Matschigma, wenn sie Samsara anschaut und fährt fort:

„All diese fühlenden Wesen kennen nicht die Mittel, das Leid aufzulösen. Sie besitzen auch gar nicht die Bedingungen, um Leid loslassen zu können. Sie haben keinen au­thentischen Meister. Sie sind blind, ohne einen Führer. All diese Mütter sind unfähig,

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sich selbst zu helfen. Sie haben keinerlei Freiheit. Unter dem Einfluss heftiger Emo­tionen verhalten sie sich wie Verrückte und führen jede Menge nicht heilsamer Hand­lungen aus, deren gemeinsame Frucht es ist, weiter in Samsara herumzuwandern. Um es genauer zu sagen, begegnen sie dem unerträglichen Leiden der drei niederen Daseinsbe­reiche, wo es keinerlei Hoffnung gibt, Schutz zu erfahren und angeleitet zu werden. In ihrem Leid in den drei niederen Daseinsbereichen haben sie nicht einmal einen Moment Pause, um nachzudenken und um sich ihrer Situation klar zu werden. Ihre Erfahrung ist wie die ständige Strömung eines Flusses. Das Leid ist unaufhörlich. Oh wie stark empfinde ich dieses Mitgefühl. Bedenke dies und meditiere darüber, bis dich Tränen erfüllen.“Es geht nicht darum, ständig weiter zu weinen und so zu verbleiben, aber um Mitgefühl zu wecken, geht es darum, sich tief berühren zu lassen.

„Wir sehen, dass unsere Mütter solches Leid erfahren und der Grund dafür ist das Haften an einem Selbst, wo es kein Selbst gibt, an etwas als wirklich festzuhalten, das als solches nicht existiert. Zu glauben, dass das Vergängliche dauerhaft sei und zu denken, dass Leid Glück sei, an Sinneserfahrungen, Sinnesfreuden festzuhalten, an Sinnesfreu­den dieses Lebens, die nur wie ein Traum sind. Die Folge davon ist, dass man wieder und wieder in den niederen Daseinsbereichen geboren wird. Oh welch tiefes Mitgefühl empfinde ich für diese Mütter! Wie es mir mein Herz umdreht. Ich werde alles tun, um sie selbst von Leid zu befreien. Dies ist Mitgefühl mit Lebewesen als Bezugspunkt.“Für Glück zu halten, was eigentlich Leid ist – dieser Punkt des Dharma ist für uns hier im Westen am schwierigsten zu verstehen. Wenn man jetzt aus der Unterweisung herausgehen würde, ohne sie verstanden zu haben, dann ginge man raus und würde sagen: „Der spricht doch nur über Leid, was ist denn das für ein morbider Typ.“ Ist nicht der Fall! Die Dinge werden beim Namen genannt und zwar aus der Sicht der Erleuchtung. Es geht nicht darum, sich nicht mehr freuen zu können! Es geht nicht darum zu sagen, das Leben ist es nicht wert gelebt zu werden, da es ja nur Leid ist! Sondern lasst uns den Buddha bitten: „Ja, wenn es noch was Besseres als dieses Glück gibt, zeig mir das doch bitte. Zeig mir doch den Weg. Ich würde mich freuen, weitere Geisteszustände kennen zu lernen.“ Wir gehen den Weg mit dieser positiven Geisteshaltung.

Es ist wichtig zu hören, dass aus der Perspektive eines Buddhas all das, was wir jetzt erfahren, beschränkte Geisteszustände sind. Dass wir mit unserem Ringen nach glücklichen Erfah­rungen sehr viele nicht heilsame, ichbezogene, aus engem Geist heraus geformte Handlungen ausführen. Wir führen auch Handlungen aus, die aus heilsamen Geisteszuständen resultieren. Das gibt diese Mischung glücklicher und leidvoller Erfahrungen, die so typisch für unser menschliches Dasein ist. Oft wissen wir gar nicht, warum unser Geist betrübt wird. Wir wissen, es war nur eine Kleinigkeit, doch warum ärgere ich mich? Warum ist das etwas, das mich so betroffen macht? Unser Haften an vermeintlicher Wirklichkeit lässt die Dinge sehr solide erscheinen. Geburt und Tod, Zusammenkommen und Trennen, körperliches Glück und körperliches Leid erscheinen uns sehr wirklich. Und wir haften daran. Wir geben dem große Bedeutung.

Matschigma macht uns darauf aufmerksam, dass das die eigentlichen Ursachen des Leidens sind. Das Leid kommt nicht von irgendwoher. Die Ursachen für unsere engen Geisteszustände lassen sich benennen und identifizieren und sie lassen sich auch ausräumen. Sie fallen nicht einfach vom Himmel. In jeder Situation haben sie ganz klar benennbare Ursachen. Die allge­meine Ursache ist das Haften an der Ich-Illusion und in der Situation lässt sich die Ausge­staltung dieses grundlegenden Haftens genau nachverfolgen, wie ich einem Wort, das der andere gesagt hat, eine Bedeutung beigemessen habe, weil es mich in meiner Identifikation trifft und weil ich genau darauf anspringe. Ich kann bis in den kleinsten Gedankengang nach­

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vollziehen, wo diese Identifikation zu Leid führt, wo diese Kette des entweder Anhaftens an Angenehmem oder Ablehnens von Unangenehmem anfängt. Die Meditation setzt an beim Entspannen dieser fast automatischen Reaktionen. Wenn ich etwas Raum für neuen Umgang mit den Situationen schaffe, dann beginnt der Weg der Befreiung sich abzuzeichnen. Da muss ich etwas Luft reinbringen. Wenn ich von jemandem angegriffen werde und keine Luft habe, bin ich in der automatischen Reaktion der Verteidigung und des Gegenangriffs oder der Flucht. Das sind die automatischen Reaktionen. Wenn etwas Raum reinkommt, gibt es vielleicht für uns ungewöhnlichere Handlungsweisen.

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Mitgefühl mit Bezug auf die Erkenntnis der Natur der Phänomene. Unsere Mütter sind ständig unter dem Einfluss des Haftens an einem Selbst. Deswegen leiden sie. Aufgrund dieses Haftens am Selbst tauchen Gedanken an Vergänglichkeit und dergleichen Gedanken, also zum Beispiel Gedanken auch der Liebe und des Mitge­fühls, einfach nicht auf. Nicht mal für einen Augenblick. Sie würden vielleicht gerne den Dharma praktizieren, aber wenn sie es dann versuchen, aufgrund ihres Haftens an vermeintlicher Wirklichkeit und verwirrten, irrigen Vorstellungen und Annahmen über die Wirklichkeit, wird ihre Dharmapraxis nicht wirklich zum Pfad der Befreiung. Statt­dessen nehmen die Emotionen zu. Stolz stellt sich ein. Wieder schaffen sie nur neue Ursachen für Samsara. Ach ihr unübertrefflichen Mütter! Was für ein Mitgefühl empfinde ich für euch! Wie schade, wie schade! Um euch, all meine Mütter, zu befreien, ihr, die ihr nie loslasst von dem Glauben an vermeintliche Wirklichkeit, um euch alle von den Wurzeln des Leidens loszureißen, dieses Haften an der Wirklichkeit, um euch allen die selbstgewahre Weis­heit, das selbstgewahre Gewahrsein zu zeigen, das auf einem Verständnis der Nicht­wirklichkeit beruht, werde ich selbst Buddhaschaft verwirklichen müssen, um euch alle dann zur Buddhaschaft zu führen, um euch alle in dieser Weisheit, diesem Gewahrsein zu etablieren, in dieser Weisheit, die alles kennt und alles weiß. Nur dadurch werdet ihr vom Leid und den Ursachen des Leides befreit sein. Diese Haltung nennen wir Mitgefühl mit Erkenntnis der Natur der Phänomene als Bezugspunkt.“Der Punkt, dass die Lebewesen wohl schon den Dharma praktizieren und es deswegen auch versuchen, aber mit ihrer Dharmapraxis unter Umständen nur Ursachen für weitere Verwick­lung und Verstrickung schaffen, ist das Allerschwierigste. Wir sprechen über uns hier im Raum! Ich spreche nicht über abstrakte andere Lebewesen, sondern über mich. Ich habe es in meiner Dharmapraxis erleben müssen, dass meine Praxis dazu geführt hat, dass der Stolz stär­ker wurde. Ich hatte mich in meiner Praxis so eingerichtet, dass ich immer friedliche Geis­teszustände anstrebte und mich nicht rühren wollte, um anderen zu helfen. Es gefiel mir so gut darin und wenn dann jemand kam und mich in meinem Frieden stören wollte, wurde ich gran­tig. Da war der Dharma noch kein Heilmittel gegen Ichanhaften! Es war nur eine neue Möglichkeit, subtilere Formen von angenehmen Erfahrungen zu machen!

Das waren die Motivationen, die zunächst vordergründig aktiv waren. Wenn es mir zu viel wurde, zog ich mich zurück – Kerze an, meditieren. Das war eigentlich eine Methode, um weg zu laufen und keine Methode, die Weisheit oder Liebe und Mitgefühl freisetzt.

Dank meiner Lehrer hat sich das allmählich geändert. Es ist noch nicht vorbei, es sind noch nicht alle Tendenzen aufgelöst. Aber meine Lehrer haben versucht, mir einen Zahn nach dem anderen zu ziehen, mich aufmerksam zu machen auf all diese irrigen Arten der Praxis. Ich wollte Niederwerfungen machen, aber ich wollte keine Schmerzen haben. Da habe ich mir einen Teppich unter das Niederwerfungsbrett gelegt, dann war es ein bisschen abgefedert und es tat kaum noch weh! Ich dachte: „Mensch, habe ich ein gutes Karma, unter so tollen Be­dingungen Niederwerfungen machen zu können!“ Dann brachte mir Gendün Rinpotsche bei, dass es auch ohne Brett und ohne Teppich geht, einfach auf dem Boden! Da kam ich in Be­rührung mit meinen Anhaftungen an diesen Körper, meinen Knien speziell. Wir brauchen Lehrer, die uns führen.

Deswegen sagt Matschigma: „und sie haben keine authentischen Meister“. Dieser Satz ist das Bedrückendste. Sobald Lebewesen sich führen lassen von authentischen Meistern, die das Erwachen kennen, dann ist es sicher, dass sie sich auf dem rechten Weg befinden, egal, wie lang es auch dauert, sie werden sicher das Ziel erreichen. Das heißt, wenn sie sich auf diese Arbeitsbeziehung einlassen und die Hinweise wirklich umsetzen. Wer aber an den eigenen Anschauungen festhalten möchte und nicht bereit ist, im Labor des eigenen Geistes zu testen,

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was die Meister sagen, wird trotz aller vermeintlicher Dharmapraxis nicht zur Erleuchtung ge­langen. Wenn ich ein Chemiepraktikum mache, mich querstelle und meine, ich müsste alles noch einmal von Anfang an aufrollen, die Formeln selbst aufstellen und selbst herausfinden, welche Mischung denn nun stimmig ist, so habe ich einen langen Weg vor mir. Wenn ich hin­gegen die Anleitung aufs Milligramm genau berücksichtige, kann ich mit dem ersten Versuch bereits die beschriebene Erfahrung machen.

Der Dharmaweg ist auch ein sehr gut getesteter Weg, er ist verlässlich. Es sind jetzt zwei­einhalbtausend Jahre vergangen und dieser Weg führt immer noch zur Befreiung. Dharmaleh­rer wissen, wie der Weg zur Befreiung aussieht, aber wir müssen uns darauf einlassen.

Es kommt nur auf die Erfahrung an, alles andere ist nur, um unseren Stolz abzutragen. Die fehlgeschlagenen Versuche in der Meditation sind nur dazu da, um uns auf Blockaden im Geist aufmerksam zu machen, dass wir nicht wirklich so praktizieren, wie die Anleitung lautet. Dann müssen wir fragen: „Wenn es noch nicht so weit ist, was mache ich falsch?“

Die Meditation über Liebe und Mitgefühl führt zu einer Beruhigung des Geistes. Wenn ich es nicht erfahren habe: „hat sich mein Geist dann nicht für Liebe und Mitgefühl geöffnet?“ – Das wäre mein erster Gedanke. Oder: er hat sich schon geöffnet dafür, aber Liebe und Mitgefühl waren noch von so viel Haften durchtränkt, dass das, woran wir mit Liebe und Mitgefühl ge­dacht haben, sofort unser Ablehnen und Anhaften ausgelöst hat und wir in neuen Gedanken­ketten verwickelt waren. Wir haben Liebe und Mitgefühl mit zu wenig Gleichmut praktiziert. Es gibt definierbare Gründe dafür, warum sich bestimmte Erfahrungen nicht im Geist ausbrei­ten. Die Formeln: „Liebe plus Weisheit gibt Erleuchtung“ oder „Loslassen von allen Sinneser­scheinungen gibt ruhigen Geist“ stimmen. Ausprobieren!

Dann fragen wir uns: „Macht ruhiger Geist glücklich?“ das gilt es zu testen! Ruhiger Geist, sagt der Buddha, macht nur glücklich, wenn er mit Weisheit verbunden ist. Warum? – Testen!

So müssen wir die Formelsprache des Dharma, bei der wir es ja immer wieder mit den selben Begriffen zu tun haben, wirklich durch das eigene Ausprobieren auf seinen Wahrheitsgehalt testen! Der Buddha ruft uns dazu auf: „Finde es selbst heraus und glaube nicht einfach, du kannst dich überzeugen.“ Gewissheit ist besser als Glauben. Glauben ist auch gut, aber nicht stabil, wenn schwierige Situationen auftauchen. Glauben ist vor allen Dingen gut, wenn wir faul sind. Als faule Menschen neigen wir dazu, lieber zu glauben als auszuprobieren. Nur wenn schwierige Situationen auftauchen, muss der Glaube diesen Situationen gewachsen sein. Angesichts des Todes, schwerer Erkrankungen und leidhafter Trennung ist das oft nicht der Fall. Dann bricht alles zusammen und der Glaube ist damit zerbrochen.

Es gibt den Buddhismus auch als Glaubensreligion. Schaut euch ganz normale Tibeter oder andere Leute in traditionell buddhistischen Ländern an. Dort ist der Buddhismus häufig eine Volksreligion, die auf Glauben basiert, genauso wie der christliche Glauben auch. Für Men­schen, die weit gehen wollen, reicht das nicht aus.

Mit Glauben kann man vieles auflösen, vor allem wenn er sich auf korrekte Anschauung stützt. An die Aussagen von erleuchteten Meistern, die im innigen Kontakt mit der Wirklich­keit sind, zu glauben, ist hilfreich. Aber es braucht Stabilität und die erlangen wir nur durch eigene Erfahrung. Der Buddhismus im Westen ist keine Glaubensreligion. Was wir hier leh­ren und was die Menschen im Westen wollen, sind Erklärungen, die zu Verständnis führen und nicht einfach nur, dass ich euch sage: „Glaubt mir, es ist so!“ oder: „Glaubt dem Buddha, er hat es ja schließlich gesagt!“ Der nächste Schritt ist euer Schritt, nämlich das, was gesagt wird, auch umzusetzen. Setzt euch zuhause hin und geht Schritt für Schritt die Meditationen wieder durch, die wir hier zusammen gemacht haben. Das kann euch niemand abnehmen. Da­durch zeichnet sich der Weg ab und tiefes Vertrauen entsteht, das auf Erfahrung aufbaut. Da kann niemand mehr kommen und sagen: „Das ist so und nicht so.“ Ihr wisst genau, was für

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Geisteszustände es gibt, wie man dahin kommt, was sie für Auswirkungen haben, was für Anzeichen usw.

Mitgefühl ohne Bezugspunkt„In all dem sind das Objekt unseres Mitgefühls (das Gegenüber, mit dem wir Mitgefühl haben), der Mitfühlende selbst und das Mitgefühl, alle drei, ohne einen Wesenskern. Sie haben keine tatsächliche Wirklichkeit, keine bleibende Wirklichkeit. Sie sind leer von einer bleibenden Essenz, von einem bleibenden Wesenskern. Diese Leerheit ist ungehinderte Strahlkraft. Diese Leerheit ist der Geist des Großen Mitgefühls, der ständig in der Of­fenheit frei von dualistischem Haften verweilt, vergleichbar mit dem Himmelsraum. Dies ist, was wir Mitgefühl ohne Bezugspunkte nennen. Es heißt: ‚Das Herz der Leerheit ist Mitgefühl’ in den Dharmatexten. Dies zu verwirklichen wird grenzenloses Mitgefühl genannt.“

Leerheit bedeutet: es ist kein bleibendes Selbst zu finden. Die Erkenntnis der Leerheit ist, dass es keinen bleibenden Wesenskern in diesem Strom des Seins gibt, dass der Fluss unseres Seins jeden Moment wieder anders ist. Ich bin jetzt nicht mehr dieselbe Person, die ich gerade eben war. Es hat sich schon wieder etwas verändert, schon wieder ist etwas dazu gekommen und etwas anderes hat sich aufgelöst. Dieses Gewahrsein, im ständigen Fluss zu sein, ist ein sich ständig wandelnder Geistesstrom.

Ein bleibendes Selbst zu haben würde bedeuten, dass der Lhündrub, der heute vor euch sitzt, dasselbe Selbst hat wie der Tilman, der vor mehr als 40 Jahren auf die Welt gekommen ist. Da ist viel Gemeinsames, aber selbst in der Tiefe des Wesens haben sich Dinge verändert. Tatsa­che ist, dass es nichts gibt, was wirklich bleibt und unser tiefstes Wesen die Fähigkeit hat, völ­lig flexibel mit Situationen umzugehen, immer neue Gestalt anzunehmen. Diese Fähigkeit wird mit Leerheit bezeichnet, Matschigma sagt dann zugleich: „Das ist die ungehinderte Strahlkraft des Geistes, die ungehinderte Ausdruckskraft des Geistes.“ Dieser Geistesstrom kann immer wieder neue Formen annehmen. Das ist seine ungehinderte Ausdruckskraft. Er ist nicht in einem Wesenskern gefangen, der nur so sein kann und nicht anders.

Die Idee von einem Selbst ist ja auch, das es verschieden von einem anderen Selbst ist, von jedem einzelnen. Eine bleibendes Ich wäre, dass jeder von uns eine andere Seele hat und diese Seele gleich bleibend ist. In Indien war das der Begriff Atman, dass es ein gleich bleibendes Seelengebilde gibt, das bleibt, unveränderlich und das getrennt von anderen ist. Es gab spätere Ausformulierungen dieses Atman-Glaubens, in denen die Einheit von Atman und Brahman formuliert wurde, das Advaita-Vedanta, wo von einer Form von Nondualität die Sprache ist. Das ist die höchste Entwicklung der hinduistischen Philosophie. Auch dort wurde klar, dass es nicht sein kann, dass ein abgegrenztes Ich besteht, das nicht mit allem anderen eins wäre.

In der buddhistischen Terminologie beschreiben wir das noch genauer als einen dynamischen Geistesstrom. Der Geistesstrom von jedem von uns hat auf der Oberfläche individualisierende Merkmale, die uns einen vom anderen unterscheiden und in der Tiefe ist das, was wir die Buddhanatur nennen. Das ist wieder ein anderer Begriff für diese dynamische Qualität des Geistes. Diese grundlegenden geistigen Fähigkeiten sind vom einen zum anderen nicht ver­schieden, sie erfahren aber ihre Ausgestaltung durch die sich verändernde Oberflächenstruktur einer jeden Person, die den Einflüssen von Gedanken, Worten und körperlichen Handlungen ausgesetzt ist. Was zutiefst unser Wesen ausmacht, ist völlig unberührt von diesen Hand­lungen mit Körper, Rede und Geist.

Sich zu entspannen in diese Dimension, die von all dem Oberflächengeplänkel vollkommen unberührt ist, das nennt Matschigma „grenzenloses Mitgefühl“ oder „grenzenlose Liebe“. Auf dieser Ebene ist kein Unterschied zwischen Liebe und Mitgefühl, sie sind identisch. Dort wird

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nicht mehr in Subjekt, Objekt und Handlung unterschieden. Die drei Kategorien von ich, Du und das, was zwischen uns passiert, fallen in diesem Geistesraum weg.

Fragen Wie kann ich Tschenresi Praxis und die Praxis der vier Grenzenlosen verbinden?Du kannst die vier Grenzenlosen innerhalb der Mantra-Phase der Tschenresi Praxis machen. Wenn wir meditieren und diese Übung machen, senden wir Licht oder wenden unsere Ge­danken den Lebewesen zu und in der Tschenresi Praxis würden wir zusätzlich noch das Man­tra OM MANI PEME HUNG sagen, als einen Klang, der zu den Wesen geht und das Univer­sum füllt. Das Licht, das von Tschenresi ausstrahlt und zu allen Wesen geht, drückt diese vier Unermesslichen aus: unsere Liebe, unser Mitgefühl, unsere Freude und auch Gleichmut – gleichmütig in dem Sinn, dass es gleichermaßen zu allen Wesen geht, oben, unten, vorne, hin­ten, rechts und links, es geht überall hin. Die Tschenresi Praxis wird zum Ausdruck der vier Grenzenlosen. Vielen Tschenresi Praktizierenden ist das gar nicht bewusst und es tut gut, sich daran zu erinnern, dass wir gerade diese vier Grenzenlosen praktizieren und das auch bewusst tun, diese Herzensöffnung entstehen zu lassen. Aber du brauchst nicht eine extra Phase einzu­legen.

Wenn du eine extra Phase machen möchtest, kannst du sie an verschiedenen Stellen der Praxis einfügen. Du kannst direkt nach der Zuflucht, bevor du überhaupt Tschenresi anrufst und bei jedem OM MANI PEME HUNG im Gebet der sechs Daseinsbereiche innehalten z.B. bei dem OM MANI PEME HUNG der Höllenbereiche und dann dort speziell die vier Grenzenlosen und OM MANI PEME HUNG für diesen Bereich praktizieren. Dann gehst du zum nächsten Bereich, bis du die sechs Bereiche durch hast und für jeden dieser Bereiche kannst du das spe­ziell üben. Du kannst dir eine Stelle aussuchen, wo du es machen willst, aber es ist schon in der Tschenresi Praxis enthalten.

Die letzten Tage ging es ganz gut mit dem Meditieren. Aber heute bin ich unruhig, die Me­ditation ist wie so ein Urlaubsfilm, Situationen spulen sich wieder ab, da weiß ich nicht, ob ich richtig dabei bin. Dein Geist ist heute etwas aufgewühlter und vielleicht müde von der Übung der letzten Tage. Die anfängliche Faszination oder Begeisterung ist verflogen, jetzt beginnt es, normal zu werden und da eigentlich beginnt die richtige Praxis. Jetzt geht es darum, die Bedingungen herzustellen, dass wir den Geist zur Ruhe kommen lassen und jedes Mal neu auf geschickte Art und Weise hinein fühlen, wie man diese vier Grenzenlosen praktizieren kann. Ihr habt vielleicht gemerkt, dass jede Meditation, die ich mit euch mache, anders ist. Ich sitze und lasse den Geist zur Ruhe kommen, dann schaue ich, auf welche Art und Weise dieser Geis­tesstrom den Zugang zur Dimension von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut finden kann und das ist jedes Mal neu. Die Methode, die gerade in der Sitzung vorher hervorragend funktioniert hat – jetzt würde sie künstlich wirken und wäre wie aufgezwungen – das ist es nicht. Ich muss jedes Mal aufs Neue spüren, wie mein Geist überhaupt willens ist, sich auf andere einzulassen und darin zu verweilen. Das geschieht immer wieder auf eine ähnliche Weise, aber doch immer wieder frisch. Das kann dir niemand abnehmen. Das musst du her­ausfinden, wie es jetzt gerade geht.

Wir sind jetzt auf der Ebene von Mahayana Praxis und es ist nicht so, dass man immer dieselben Visualisationen ausführen muss. Es geht nur darum, das Herz zu öffnen. Das andere sind Hilfsmittel. Visualisationen sind Ausdruck dessen, was wir denken. Auf der Ebene von Visualisation sind Licht oder Klang, die zu anderen Wesen gehen, nur Ausdruck dessen, was wir ohnehin denken, um das anschaulicher zu machen und weiter zu üben.

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Wenn ich mir vor einem Jahr vorgestellt habe, dass ich Liebe ausstrahle, habe ich die Liebe immer im Herzen gespürt. Jetzt ist das nicht mehr so. Es ist eher so, dass es wie von außen kommt. Liebe spür ich schon noch, aber ich habe nicht den Eindruck, dass das aus meinem Innern kommt. Die Liebe kommt von nirgendwo her. Sie kommt eigentlich nicht aus dem Herzen. Liebe lässt sich nicht lokalisieren. Und doch schwingt das Herzchakra sehr stark mit, wenn wir Liebe empfinden. Wir könnten Liebe auch aus dem Bauch oder von der Stirn ausstrahlen, oder uns einfach für die Liebe öffnen, die im Geist selbst ist, ohne dass irgendein Körperbereich stärker angesprochen wäre.

Was ich aber heraushöre ist, dass du dir selbst etwas fremder geworden bist in diesem Jahr – dass die Liebe von außen kommt, du sie schon spürst, aber eher von außen, das ist wohl auch ein Zeichen, dass du mehr nach der Frische in der Praxis suchen solltest. Diesen frischen Zugang zur Liebe. Immer wieder neu, nicht etwas, das wir schon mal erlebt haben. Das ist das Geheimnis: das, was da schon mal war und bei dem wir innerlich vollständig beteiligt waren, können wir nicht einfach wieder erzeugen genauso wie es war, sondern wir müssen jedes Mal neu den Zugang zur Liebe finden, jedes Mal frisch.

Wenn wir eine Liebesmeditation aus der Erinnerung heraus machen, kommen wir zwar noch in Berührung mit dem Gefühl der Liebe, aber es hat auch etwas Abstraktes, Abgestandenes, ist ein bisschen verstaubt und ist nicht dieselbe Form von Liebe, die wir schon einmal gespürt haben. Das ist das, was uns Praktizierenden alle Mühe macht, immer wieder den frischen Zugang zu finden. Da hilft keine Methode, nur Sitzen, Spüren und ganz behutsam gucken, wo sich kleine Türchen aufstoßen lassen, wo kann ich weich werden zuerst für mich selbst und immer in Richtung mehr Herzensöffnung gehen. Nicht zu schnell auf große Bereiche aus­dehnen! Normalerweise ist es ein guter Hinweis, langsam vorzugehen aber manchmal ist es gerade umgekehrt, da ist es viel leichter, Liebe für alle Lebewesen als Ganzes zu spüren und dann aus dieser ganz weit ausgedehnten Liebe zum Konkreten zu finden.

Es hat gar keinen Zweck in Richtung Liebe-Mitgefühl zu gehen, wenn der Geist nicht ein bisschen zur Ruhe gekommen ist. Den Atem spüren, da sein, ankommen und dann spüren, wie der Geist gerade ist. Ist er verfangen, ist er hart, weich, geschmeidig, gibt es Sorgen oder Gedanken, die immer wieder auftauchen? Lauft dann nicht weg, sondern wendet euch dem zu und entspannt da hinein, nehmt es an, wie es gerade ist.

Alles, was im Geist auftaucht, wird in Beziehung gesetzt zu dem Thema, und es öffnet in diese Richtung. Dann findet mehr und mehr ein Eintauchen statt in das, worüber kontempliert wird. Das ist ein intuitiver Prozess, es geht darum, viel Geduld zu haben und nicht zu meinen, man müsste in diesem Moment „Vergänglichkeit“ meditieren und im nächsten Moment „Mö­gen alle Wesen glücklich sein!“. Das geht nur dann, wenn ich schon sehr geübt bin, dann kann ich mit einem einzigen Gedanken die Tür aufmachen, durch ein einziges Erinnern an das, was schon war. Aber wenn es etwas Neues ist, sollten wir uns Zeit lassen als würden wir das The­ma träumen. Liebe zu träumen, mich hinein zu fühlen, der Traum ist immer ein bisschen anders. Greift das Thema Vergänglichkeit wie einen Traum auf. Oder egal welches Thema euch beschäftigt, lasst den Geist darauf ruhen und geht damit dann in die Tiefe. So beginnt es sich zu öffnen, verselbständigt sich, es kommt eine Dynamik in Gang, die uns einfach so weit trägt, wie es halt sein soll. Irgendwann ist es abgeschlossen, wenn ich das merke, insistiere ich nicht weiter: das ist jetzt genug für heute. Ich kann später noch einmal darauf zurückkommen, aber für den Moment reicht es.

(An die Drublas:) Sagt mal, geht es euch genauso, ihr habt doch auch Retreats gemacht, er­kennt ihr das wieder aus eurem eigenen Prozess, was ich hier beschreibe, oder wie sieht das aus für euch?

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Antworten der Drublas :– Irgendwie schon, man hat das Gefühl, so als trüge man Meilenstiefel, alles scheint neu

und faszinierend zu sein, dann kommt der Punkt, wo es stagniert, da man erkennt, dass man Nachfühlen und eine Menge Geduldhaben muss.

– Es geht darum, überhaupt erst mal anzukommen, wo man da ist, wahrnehmen, wer man gerade ist, wie es einem gerade geht und dann mit dem praktizieren, was da ist. Nicht aus einer Vorstellung heraus: „Jetzt meditier ich, so wird das dann sein, aber so“ – in dem Moment sind wir weit weg sowohl von uns selbst als auch von der Praxis. Für mich fängt es damit an, zu versuchen, mit sich in Kontakt zu kommen so schmerzhaft das manchmal auch sein mag. Von da aus kommt dann die Öffnung sowohl für sich selbst als auch für andere. In langen Retreats muss man auch durch viele Dinge durchgehen, die nicht so leicht abzulegen sind.

– „Stop and go“ – man rennt eine gewisse Strecke, um ein Aha-Erlebnis zu bekommen und das geht eine ganze Weile und irgendwann kommt eine lange Ebene. Über lange Sicht se­hen wir, dass unser Leben generell nicht authentisch ist und so auch unsere Rangehens­weise an die Praxis und an uns selbst.

– Interessant ist auch, dass das Herz sich öffnet in dem Moment, wo der Geist mit sich selbst in Kontakt kommt, es lässt sich nirgends woanders finden.

Frage: Wie kann ich merken, dass es Liebe ist und nicht Anhaften? Das ist nicht nur für Liebe eine gute Frage, sondern: wie kann ich merken, dass ich anhafte? Was ist, wenn es vorbei ist? Das ist die eine Sache, die ich beobachten kann. Was ist, wenn es nicht erwidert wird? Entsteht ein Gefühl, das immer wieder haben zu wollen? Ein Verlangen nach mehr und noch mehr? Diese Fragen kannst du dir anschauen und du hast die Antwort. Wenn du deinen Geist sehr gut kennst, wirst du das Anhaften schon in dem Moment spüren, wo es eintritt. Weil du merkst, dass der Geist jetzt eng wird. Im Gefühl der Liebe selbst wird der Geist bereits wieder enger, von Hoffnung und Furcht erfüllt. Von der Hoffnung, es möge andauern und der Sorge, dass es nicht anhält. Von der Hoffnung, dass es erwidert wird und der Sorge, nicht erwidert zu werden. Du merkst, dass diese Gedanken deinen Geist schon enger machen als vorher, wo er zum Beispiel im spontanen Geben war. Es stellen sich ichbe­zogene Gedanken ein und schon ist der Geist nicht mehr so in der Liebe, wie er vorher war.

Wir können gar nicht richtig lieben, wenn wir Liebe nicht auch annehmen können. Liebe, die uns von anderen entgegengebracht wird, müssen wir lernen anzunehmen, wie könnten wir sonst lieben? Wir würden von anderen erwarten, dass sie mit unserer Liebe etwas anfangen können und wir können es selbst nicht mit der Liebe von anderen. Liebe ist immer ein Aus­tausch, es kann nicht einseitig bleiben. Wenn wir lieben, kommt Liebe zu uns zurück, von ir­gendwoher. Wir können gar nicht lieben, ohne selbst mit Liebe erfüllt zu werden. Zwangsläu­fig werden wir lernen, Liebe auch anzunehmen. Das ist noch kein Anhaften. Anhaften ist, wenn wir anfangen, uns wohlig darin zu fühlen und nach mehr zu verlangen.

Was ist der Unterschied, ob ich auf die vier Grenzenlosen meditiere oder kontempliere?Das eine führt zum anderen. Kontemplieren ist, wenn ich mir sozusagen den Begriff auf der Zunge zergehen lasse, mich allmählich einstimme, das nenne ich kontemplieren. Das dann darin Aufgehen, wo sich das Ich verliert und wo es dann anstrengungslos wird, das würde ich meditieren nennen. So benutze ich die beiden Begriffe. Beim Kontemplieren sind noch Be­griffe mit im Spiel, da bemerkt und analysiert noch jemand und wenn es weitergeht, kommt es zum Fluss der Meditation. Aber vielleicht begegnest du auch mal einem Lehrer, der die Be­griffe genau andersrum verwendet. Es geht um den Prozess.

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Wie soll ich die Zeit praktisch enteilen, zwischen der Praxis mit mir selbst und der Praxis mit anderen?Viel mit sich selbst und immer wieder auch mit anderen. Wenn wir zu lange Zeit intensiv diese Arbeit nur mit uns machen, vergessen wir dann irgendwann, das auf andere auszuwei­ten. Es ist gut, zwischendurch schon zu versuchen andere einzubeziehen, aber bei dieser wichtigen Arbeit mit uns selbst als Hauptarbeit zu bleiben.

Als wir gerade Licht in alle Richtungen ausgestrahlt haben, kam ein gewisser Gleichmut. Dann kam ein Moment, als ob das ganze Universum gleichmütig ist. Es hört alles auf sich zu bewegen, es wird ganz still. Dann: da passiert ja gar nichts! Du hast nichts verstanden! Ganz offenkundig haben wir noch nicht genug über Gleichmut gesprochen und noch nicht genug praktiziert. Du bist genau in diese Assoziation reinge­rutscht, dass wir mit Gleichmut so etwas Stoisches und Unbewegliches verbinden. Der Gleichmut, von dem wir hier sprechen, ist etwas, das uns unglaublich flexibel macht und eigentlich Raum für Frische gibt. Weil: jedes Bewerten von „habe ich lieber“ beengt den Geist, engt die Flexibilität ein. In Gleichmut kannst du alles, was auftaucht, wahrnehmen, aber weil kein Anhaften und Ablehnen eintritt, ist es möglich, direkt weiter zum Nächsten zu gehen. Du kannst fließen mit der Situation. Es ist der Gleichmut eines entspannten, nicht greifenden Geistes.

Angenommen alle Wesen des Universums würden zur gleichen Zeit in Gleichmut, dann wären alle ganz still und keiner würde mehr was wollen.Die würden nichts mehr wollen und wären alle so wie Gemüse. Meinst du das?

Gleichmut geht mit Freude zusammen. Wenn du diese Flexibilität des Geistes erfährst, ist da freudige Frische von Moment zu Moment. Nicht am letzten Moment festzuhalten, das ist mit Gleichmut gemeint. Es ist gleicher Mut, es gibt keinen Übermut und keinen Schwermut, es ist ein freudiges Sein, frei vom Zugriff der Emotionen. Stell dir mal vor, wir wären hier alle gleichmütig. Da würde sich eine Freude ausbreiten! Weil die Dinge, nicht sofort von ‚central headquarters’, vom Ich-Kontrolleur hier oben, als angenehm und unangenehm verbucht würden. Wir könnten auf den anderen eingehen und es wäre uns recht, uns selbst zu vergessen. Es wären enorme Spielmöglichkeiten. Jemand könnte die Musik voll aufdrehen und in deinem Geist wäre nicht sofort: „Buh, was macht denn der jetzt, der zerstört ja die ganze Atmosphäre im Haus!“ Es könnte jemand hier aufstehen und freudig einen Tanz ma­chen. Wäre in Ordnung! Da können wir gucken, ob die Person dabei noch gleichmütig bleibt oder ob wir als Zuschauer gleichmütig bleiben?

Gleichmütig bedeutet nicht, dass wir nicht handeln, sondern dass wir aus dem Reagieren raus­kommen in das Agieren hinein. Das sinnvolle, auch freudige und spontane Handeln – es ist nur spontan, weil es kein Reagieren ist. Gleichmut bedeutet, dass die Reaktionen ein Ende haben und dass die Aktionen stattfinden können.

Offenbar habt ihr das Gefühl, dass es im Gleichmut nicht mehr zu spontanen Regungen des Geistes kommt. Jemand, der gleichmütig ist, könnte nicht mehr zu einem Instrument greifen und ein schönes Lied spielen. Da kann man Meister sehen, die trällernd durch den Garten ge­hen und ihr Liedchen summen oder spontan Musik machen, Gedichte schreiben. Die Dyna­mik des Geistes drückt sich weiterhin so aus, wie sie sich vorher durch Anhaften beschränkt ausgedrückt hat, so drückt sie sich jetzt unbeschränkt ohne Anhaften aus.

Erleuchtete Meister sind unglaublich kreativ und kommunikationsfreudig! Es ist Freiheit im Umgang, keine Scheu, keine Angst, – stell dir mal vor, all die Blockaden fallen weg! Der Buddha hat gesagt:

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„Praktiziere so gleichmütig wie die Erde. Praktiziere so gleichmütig wie das Wasser. Praktiziere so gleichmütig wie das Feuer. Praktiziere so gleichmütig wie der Wind.“ Gleichmütig wie die Erde bedeutet: so wie die Erde keinen Unterschied macht, wen sie trägt, sie verfällt nicht in Anhaftung oder Abneigung gegenüber all denen, die auf ihr herumlaufen.

Gleichmütig wie das Feuer: es verzehrt alles, was in es hineingeworfen wird. Ohne Unter­schied ob angenehm, unangenehm. Das ist das Weisheitsfeuer, gleich was kommt, jede Emo­tion, jede Situation, alles wird in das ursprüngliche Gewahrsein hinein genommen.

Gleichmütig wie das Wasser: Dem Wasser ist es egal, was in es hineinfällt! Alles darf ins Wasser hineinfallen und wird umschlossen, das Wasser fließt drum herum. Das Wasser, das den Fluss hinunterfließt, da ist eine Klippe, es fällt hinunter, da ist ein Felsen, es fließt drum herum, es fließt unter der Brücke durch,– das ist diese Anpassungsfähigkeit, dieses total Fle­xible des Wassers.

So gleichmütig wie der Wind: alle Gerüche und alle Blätter und alles, was sich in die Luft erheben mag, werden vom Wind mitgenommen und weggetragen.

Drubla: Es herrscht dieser Konflikt in uns, wir können mit der Dynamik unseres Geistes nicht umgehen. Entweder überrollt es uns, oder wir pressen es runter, weil wir kein Geschick haben um damit umzugehen. Je mehr Training wir haben, so wächst die Flexibilität im Geist, dann kann sich die Dynamik des eigenen Geistes ungehindert die eigenen Wege suchen.Langeweile ist eng verknüpft mit verkehrten Ansichten über Gleichmut. Es wäre fürchterlich, wenn die Welt ganz langweilig würde. Langeweile beinhaltet nicht mehr genug Stimulation zu haben. Schon bevor man die Natur des Geistes kennen lernt, löst sich Langeweile in der Praxis von Geistesruhe auf. Der Geist wird ruhiger und zugleich lösen sich zwei Dämonen auf: Langeweile und das Gefühl von Einsamkeit. Diese beiden Gefühle, denen wir ständig wieder zu entrinnen suchen, lösen sich auf, wenn der Geist allmählich in seiner Natürlichkeit Einkehr hält. Es hat noch nichts mit der Erkenntnis der Natur des Geistes zu tun. Diese Frische stellt sich ein, wenn der Geist entspannt. Durch zunehmende Entspannung kommt es zu immer feinerer Wahrnehmung, sie wird immer frischer. Es kommt uns so vor, als hätten wir zum ersten Mal die Tautropfen auf dem Grashalm gesehen, als hätten wir zum ersten Mal dem Wind zugehört, als würden wir unseren Körper zum ersten Mal wahrnehmen. Meister, die über diese Geistesruhe hinaus noch diese spontane, intuitive Einsicht entwickelt haben und im natürlichen Gewahrsein aufgehen, erleben das Ganze noch freier.

Das Gefühl von Einsamkeit ist ein Ausdruck eines sehr stark haftenden Geistes. „Ich, der ich allein bin und kein anderer ist da.“ Das löst sich auf, wenn der Geist in feinere Bereiche geht, plötzlich fühlen wir uns nicht mehr von anderen getrennt, obwohl wir alleine im Zimmer sind.

Gleichmut kann eine Erfahrung sein – du hast Hochs und Tiefs im Leben, erlebst sie aber alle mit Freude! Du bist nicht abhängig davon, ob äußerlich schlechte oder gute Bedingungen herrschen. Gleichmut entsteht durch die Kraft der Weisheit, die die Gleichwertigkeit aller Phänomene erkennt, dass alle Erscheinungen denselben Geschmack der Leerheit haben. Ihnen wohnt keine letztendliche Wirklichkeit inne als etwas, worauf wir unbedingt reagieren müss­ten. Gleichmut ist das äußere Zeichen von Weisheit. Wo es keine Weisheit gibt, gibt es auch keinen wahren Gleichmut. Wahres tiefes Verständnis dessen, was ist, führt zu Gleichmut.

Ich denke, wenn man die Dinge rational verstehen könnte, d.h. ohne emotionelle Verwirrung, dann könnte man in Situationen auch Gleichmütig sein. Rationales Erkennen hilft schon, um gleichmütiger zu werden, aber ich sprach gerade über das nicht begriffliche Erkennen, was wir Verwirklichung nennen. Du hast das bei Matschigma sehr schön nachvollziehen können, die bedingte Liebe und das bedingte Mitgefühl sind die ersten beiden Stufen, wo es noch Bezugspunkte gibt. Nur Liebe und Mitgefühl ohne Be­

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zugspunkte sind nicht mehr bedingte Liebe und Mitgefühl. Die vier Qualitäten gibt es in be­dingter und in unbedingter Form.

In einem buddhistischen Vortrag habe ich gehört, die Buddhaweisheiten sind im Raum und werden durch die Ichbezogenheit in uns zu Störgefühlen. Es ist ja auch gesagt worden, dass die Störgefühle Rohstoff sind, dass daraus Buddhaweisheiten entstehen. Ja, also das ist ein wenig verdreht ausgedrückt, aber nicht falsch. Was wir die Buddhaweishei­ten nennen, ist ein einziges Gewahrsein, das im Vajrayana in fünf Aspekten beschrieben wird. Es handelt sich aber immer um dasselbe zeitlose Gewahrsein. Dieses zeitlose Gewahrsein wird nicht zu einer Emotion. Das zeitlose Gewahrsein ist rein, frei davon. Es ist auch nicht ir­gendwo im Raum und doch ist es überall. Wo Geist ist, wo Wahrnehmung ist, da ist die Essenz, die Natur des Geistes, ist zeitloses Gewahrsein.

Es ist nicht so, dass eine Emotion mutiert oder transformiert wird in eine Buddhaweisheit und dass eine Buddhaweisheit eine Emotion wird, sondern über dieses zeitlose Gewahrsein, diese Buddhaweisheit legen sich Schleier dualistischer Wahrnehmung und diese Schleier nennen wir Emotionen. Wenn die Schleier gelüftet sind und man sieht, was unter den Schleiern ist, entdeckt man wieder das zeitlose Gewahrsein. Um das klarer zu sagen: Es gibt keine Trans­formation.

In dem Buch von Lama Gendün gibt es eine Seite, da wir vom Beten gesprochen. Ich versteh das so, dass es zwei verschiedene Arten von Beten gibt. Einmal, dass man den Lama um et­was bittet und zum anderen heißt es da: Das Verweilen in der Natur des Geistes ist natürli­ches Beten. Ist das so?Es gibt noch mehr Formen des Betens. Beten hat viele Ausprägungen. Die simpelste Form vom Beten ist, dass man um etwas bittet. Wunschgebete sind die häufigste Form in der Dharmapraxis. Man macht zum Beispiel das Dewatschen Gebet am Ende der Tschenresi Pra­xis, um in Dewatschen wiedergeboren zu werden, oder man macht Wünsche wie: „Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glückes besitzen“. Zum einen wird in dem Gebet eine Vision aufgezeigt von dem, was sein könnte und dann lassen wir uns bei Dharmagebeten darauf ein, diesen Weg dann auch zu gehen. Mönlam auf tibetisch heißt Wunschpfad, nicht Wunschgebet. Es wird ein Ziel in den Raum gestellt und es gibt einen Weg dorthin.

Beten ist Teil des Weges und drückt sich im Alltag, im Verhalten aus. Wir begeben uns auf einen Pfad, wir verpflichten uns gleichzeitig mit dem Gebet. Das ist anders als in der Form von Gebet, in dem wir denken, „bitte gib mir“ und wir verpflichten uns zu nichts. Das eigent­liche buddhistische Gebet geht einher mit der Bitte, alle Unterstützung zu bekommen, um den Weg gehen zu können. Wir verpflichten uns gleichzeitig, das umzusetzen, was wir beten. Da ist also ein Aspekt, der im herkömmlichen Verständnis des Wortes Gebet gar nicht durch­kommt, weil wir immer nur an Bitten denken. Hiermit ist eine Verpflichtung, ein Engagement gemeint. Pranidhana auf Sanskrit ist das Wort Mönlam, das ich gerade erklärt habe, es ist ein ganzer Lebensweg. Das ist der ganze Weg zur Erleuchtung.

Bei der Entwicklung des Erleuchtungsgeistes widmen wir alles Positive allen Wesen. Ich frage mich, was wir denn sonst im Alltag machen? Widmen wir da nicht auch? Ich habe den Eindruck, dass wir normalerweise bewusst oder unbewusst, wenn wir nicht auf dem buddhis­tischen Weg sind, alles unserem Ich widmen. Da gibt es jetzt eine Transformation, dass die Widmung nicht mehr auf unser Ich ist, sondern für alle Wesen. Das ist eine gute Art, das auszudrücken. Es gibt auch im Alltag unbewusste, halb bewusste Widmungen zum Wohl der Wesen. Im Dharma machen wir daraus eine bewusste Widmung zum Wohl der Wesen, damit es stärker wird, damit die Tendenz gestärkt wird, das Heilsame, das wir erfahren, wegzuschenken.

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Es gibt übrigens buddhistische Traditionen, in denen nicht so viel über Widmung gesprochen wird wie bei den tibetischen Buddhisten, aber in der Geisteshaltung sind sich alle buddhis­tischen Schulen einig. Im tibetischen Buddhismus wird die Haltung des Widmens besonders betont, um den heilsamen Handlungen nachträglich noch den Boden zu entziehen, dass sie nicht als selbstzufriedene Verstärkung der Ichbezogenheit dienen.

Grenzenlose FreudeWir verlassen die Dreiteilung von vorher und sprechen jetzt mit Matschigma einfach über grenzenlose Freude.

„Solange wir nicht verstanden haben, dass alle Lebewesen, unsere lieben Mütter, die Grundlage und die Bedingung für solche Liebe und solches Mitgefühl sind, werden wir an Feinden und Freunden anhaften. Wir werden unter dem Einfluss unseres negativen Karmas sein und endloses Leiden in Samsara erfahren. Wenn wir dann aber denken, all dieses Leid von allen Wesen, meinen Müttern, werde ich vollständig auf mich nehmen und all mein Glück und Tugend, was immer ich auch habe, werde ich den Wesen schen­ken, daran werde ich mich erfreuen. Um alle Wesen, meine Mütter, zum Glück zu füh­ren und so lange wie Samsara noch nicht geleert ist, mache ich den Wunsch, dass ihr Leid und die Ursachen des Leidens ebenso wie auch ihre schädlichen Handlungen und all die Ursachen und Früchte dieser Handlungen in mir heranreifen, dass all ihr Leid und all ihr schwieriges Karma in mir heranreift. Ich freue mich daran zu sehen, wie alle meine Mütter in der höchsten Freude Einkehr halten. Indem ich meinen Körper, meinen Besitz, meinen Reichtum, meine Kraft und meine Macht zusammen mit den Wurzeln des Heilsamen der drei Zeiten all meinen Vätern und Müttern widme und nicht einmal daran denke, einen einzigen Moment des Friedens und des Wohlergehens für mich selbst zu erlangen, indem ich so das Wohl der Wesen verwirkliche, mögen all meine Mütter glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. So zu denken nennen wir das Üben von Freude.“Wir kommen mit einem Erleben von Freude in Berührung, zu dem Matschigma uns sagt, „meine Freude ist, alles Leid der Wesen auf mich zu nehmen und alles Glück, das ich kenne, alles was ich habe, herzuschenken. Dies so lange zu tun, bis Samsara geleert ist! Und nicht einen einzigen Moment dabei nach meinem eigenen Wohlergehen zu streben.“ Das ist ihre Freude und ist das Gegenteil samsarischer Freude. Normalerweise ist Freude an unser eigenes Wohlergehen gekoppelt.

Aber Matschigma geht viel weiter. Das sich Erfreuen daran, anderen alles hinzugeben und völliger Diener oder Dienerin aller Wesen zu werden, der Wunsch, alles Leid auf mich zu nehmen und alle Schwierigkeiten zu mir kommen zu lassen, was immer ich anderen ab­nehmen kann, möge zu mir kommen. Man könnte denken, sie sei masochistisch veranlagt, das ist aber nicht der Fall. Sie ist eine erleuchtete Meisterin, die aus der Kraft von Liebe und Mit­gefühl heraus die größte Freude darin erlebt, andere befreit von Leid und wirklich glücklich zu sehen. Sie war so glücklich, weil sie sich in jedem Moment vergessen hat. Da war nichts mehr zu vergessen. Diese Ichbezogenheit, die noch reklamierte, überhaupt beachtet zu werden, war vergessen. Da lag ein langer Weg hinter Matschigma. Matschigma hatte schon eine Vielzahl von Leben als Lehrer und Lehrerin verbracht, bevor sie dann diese Geburt annahm.

Es ist zu fühlen, dass die größte Freude darin besteht, sich ganz und gar am Wohlergehen der anderen zu freuen und alles dafür zu tun. Alles zu tun bedeutet: Schwierigkeiten zu mir, das Glück den anderen. Als dualistische Grundhaltung. Sie geht weiter und sagt:

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„Bei alldem gilt, was alle Lebewesen im Allgemeinen angeht, besonders aber die, die einem Schaden zufügen, dass ich all ihre Krankheiten, all ihr Leid, all ihre schwierigen Umstände, ihre Feinde und alle Hindernisse auf mich nehme. Was auch immer er­scheint, speziell das, was die Wesen angeht, die anderen Schaden zufügen, möge es in mir heranreifen. Dies zu wünschen ohne jegliches Zögern. Ohne jegliche Feigheit. Ich nehme auf mich all das Leid aller Wesen, um es in mir reifen zu lassen und ich werde mich daran erfreuen, dieses Leid in mir heranreifen zu sehen, es zu erfahren (d.h. zu erfahren, dass es möglich ist, Schwierigkeiten auf mich zu nehmen, die sonst andere durchma­chen würden.)

Alle Wesen von ihrem Leid befreit zu haben lässt eine besondere Freude entstehen. Diese Freude ist kein gewöhnlicher Geisteszustand. Wir sollten uns darin üben und uns auf diese Art und Weise von aller Bevorzugung befreien. Das ist außerordentlich wichtig. Dieses dann zu verstehen, frei von jeglichem Haften an Wirklichkeit, so wie ein Traum, wie eine Illusion, das nennen wir dann ‚grenzenlose Freude’“. Wenn der Weisheitsaspekt hineinkommt, werden Freude und Leid als illusorisch erkannt, der oder diejenige, die das erfährt, wird als von Natur aus ohne Selbst erkannt. Das nennen wir dann ‚grenzenlose Freude’.

Fragen Ist das die Tonglen Praxis?In der Tonglen Praxis üben wir genau das. Wir nähern uns dieser Praxis an und achten dabei darauf, dass es nicht zu neurotischen Verdrehungen dieser Praxis kommt und dass sie wirklich aus dem Herzen kommt. Deswegen geht es immer um die kleinen Schritte. Immer wieder stillsitzen, spüren, gucken, was in mir los ist. Probiert es einmal aus: Wie ist das, wenn ich be­wusst eine Schwierigkeit einstecke, wie fühlt sich das im Geist an und was sind die Aus­wirkungen? Schadet das anderen, schadet es ihnen nicht? Was dann übrig bleibt, ist eine freu­dige Bereitschaft, aber Schwierigkeiten werden nicht per se einfach als meine Aufgaben be­trachtet, sondern dann, wenn es sinnvoll ist, dann tue ich’s.

Wo besteht der Unterschied zwischen Achtsamkeit und Paranoia?Ja, das musst du noch herausfinden. Das ist ja das Entwickeln von Weisheit. Dafür musst du den Geist kennen. Ich kann in einer Neurose davon ausgehen, ich müsste immer überall, wo ich bin, den Tisch abräumen und das Geschirr spülen und am besten noch den Küchenboden fegen, auch wenn ich Gast bin. Das tue ich, um allen zu zeigen, dass ich mich einsetze und Schwierigkeiten nicht scheue. Es ist nicht sinnvoll, das zu tun. Aber wenn es wirklich das Sinnvollste ist, dann sollte ich freudig bereit zu sein, es zu tun!

Die umgekehrte Neurose wäre, das nie zu tun und sich überall nur bedienen zu lassen. Weis­heit ist hier gefragt: Es ist manchmal sinnvoll, dass andere auch lernen, etwas zu tun. Wenn ich es immer für sie tue, lernen sie es nie! Ich nehme Abstand von einer Verhaltensweise, die anderen eine Lernerfahrung unmöglich macht.

Als Mutter: wenn das Kind laufen lernt und immer hinfällt, nicht zu helfen – also es hat mir geholfen, das zu verstehen. Ja, es gibt einen Zeitpunkt, wo man das Kind nicht mehr an der Hand halten sollte, wenn es laufen lernen möchte. Dieses Wissen kommt nur durch achtsame Lebenserfahrung.

Ich arbeite im Krankenhaus mit Krebskranken und oft denke ich, dass ich doch nicht richtig helfen kann.Die Haltung ist das Wichtige. Sich wirklich einzusetzen für den anderen. Wir können den anderen Menschen ihren Krebs nicht abnehmen. Aber diese angstfreie Haltung: „Wenn es

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doch möglich wäre.“ So wie eine Mutter, wenn ihr Kind mit über 40 Fieber daliegt, nur einen Wusch hat: „Wenn ich doch nur das Fieber haben könnte anstelle meines Kindes.“ Sie kann das Kind nicht durch bloßes Wünschen von etwas befreien. Aber die Haltung setzt innere Wärme frei, zu tun, was auch immer notwendig ist. Es ist die Bereitschaft, sich und den anderen auszutauschen. Die Grenzen zwischen Ich und Du tauen auf. Es ist im Grunde ge­nommen egal, wer ich bin. Ich bin dann nur Werkzeug für andere. Der eigene Geist geht auf in der Situation, es wird spontan geholfen, ohne dass Gedanken darüber entstehen, dass ich je­mandem helfe. Es wird einfach gemacht, was zu machen ist.

Grenzenloser GleichmutMatschig Labdrön ist nicht alleine mit dem, was sie sagt. Sie drückt aus, was alle Lehrer der tibetischen Traditionen so ausdrücken würden. Sie sagt:

„Aufgrund dieser Liebe, dieses Mitgefühls und dieser Freude erwacht ein wirklich wohl­wollender Geist, der sich allen Wesen zuwendet, eine große Liebe, die uns ein starkes Anhaften an alle Wesen fühlen lässt. Wenn diese Geisteshaltung, dieser Geist dann frei von aller Bevorzugung ist, dann wird es zur Geisteshaltung des Großen Fahrzeugs, dem Bodhicitta.“Aber wir sollten uns bewusst sein, dass diese Liebe, die an allen Wesen anhaftet, wie auch wir selbst, die wir diese Liebe spüren, und das Anhaften selbst von Natur aus leer sind.

„In diesem völlig offenen Geisteszustand sind das Nichthaften und der Nichthaftende völlig untrennbar von nichthaftendem Handeln. Ein solcher Geist ist nicht aufgewühlt. Nichts, was auch immer erscheint, bringt den Geist in Erschütterung. Diese Geis­teshaltung ist der natürliche, leere Urgrund, auf dem wohlwollendes Anhaften an alle Wesen sich ausbreitet. Diese Geisteshaltung, die sich um das Wohl aller Wesen küm­mert, so dass ihr Geist im Frieden der Natur der Dinge zur Ruhe kommt, eins wird mit all den dualistischen Regungen des Geistes. Dies wird Gleichmut genannt.“Es ist ein Text voller Paradoxe, sie spricht über die große Liebe voll von Anhaftung! Anhaf­tung ist hier Anhaftung allen Wesen gleichermaßen gegenüber. Indem wir die normale Anhaf­tung, die wir normalerweise auf eine Person projizieren, ausweiten und auf das Wohl aller Wesen projizieren, ist uns das Wohl aller Wesen so ins Herz gewachsen, als wären es die Per­sonen oder Dinge, an denen wir sonst so stark anhaften – dadurch explodiert unser Anhaften. Es wird eine Verpflichtung, allen Wesen zu helfen. Anhaften wird zu Nichtanhaften. Für den dualistischen Geist ist es völlig unmöglich, an allen Wesen anzuhaften. Die Lebewesen sind viel zu zahlreich, als dass wir mit unseren beschränkten Projektionen da noch mithalten könn­ten.

Darum spricht sie davon, dass in diesem liebevollen Geist voller Anhaften an alle Lebewesen das Nichthaften, der Nichthaftende und die nichthaftende Handlung untrennbar sind. Dieses Nichthaften voller Sorge um alle Wesen nennt sie Gleichmut, weil es sich auf alle Wesen gleichermaßen erstreckt.

Sie sagt: „Das ist der leere natürliche Urgrund, auf dem sich wahres Wohlwollen für alle Wesen ausbreitet.“ Damit meint sie, dass wir in der Praxis der grenzenlosen Liebe in eine Dimension frei von Ichbezogenheit eintauchen. Aus dieser Dimension taucht wahre Hin­wendung zu anderen auf, die nicht aus dem Ich gespeist ist. Das nennt sie den Urgrund.

Wenn wir aufgehen in diesem Urgrund, wird Liebe eins mit allen dualistischen Geistesre­gungen. Das heißt, wenn in einem Geist wahrer Liebe dualistische Geistesregungen auftau­chen, dann lösen sie sich sofort auf wie Wolken, die gerade nur für einen Moment am

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Himmel erscheinen und schon wieder eins werden mit dem blauen Himmel. So können wir uns das vorstellen. Die Gedanken gehen sofort auf, sie werden durch die Kraft der Liebe so­fort wieder aufgelöst und führen nicht zu weiteren dualistischen Projektionen. Das nennt sie Gleichmut, das ist wirklich die Geisteshaltung frei von Anhaften und Ablehnung.

Bisher hat Matschigma in ihren Erklärungen immer wieder Bezug auf Liebe genommen. Sie hat Mitgefühl durch Liebe erklärt, Freude durch Liebe erklärt und jetzt erklärt sie Gleichmut durch Liebe. Diese vier Qualitäten sind nur Ausformungen ein und derselben Geisteshaltung. Die zusätzlichen Beschreibungen dienen nur zur Abrundung unseres Verständnisses dessen, was Liebe oder Mitgefühl bedeutet. Jetzt spricht sie weiter:

„Der Wunsch, wenn wir uns sagen: ‚Möge ich fähig sein, ich alleine, die große Last auf mich zu nehmen, alle fühlenden Wesen vom Leid Samsaras zu befreien’, dieser Wunsch wird die höhere oder ausgezeichnete Motivation genannt, die Bodhisattva-Motivation. Diese Geisteshaltung großen Wohlwollens allen Wesen gegenüber sowie auch das Anhaften an allen fühlenden Wesen und auch der Hass, all dies existiert in gewöhnlichen Wesen. Das Objekt des Geistes ist Begierde und Hass, Anhaften und Ablehnung. Das Objekt unseres Geistes sind fühlende Wesen, jene die anhaften und ablehnen und wir selbst, das Subjekt und dann auch eben die Begierde und der Hass, die wir erfahren. Wir sollten wirklich untersuchen, was die wahre Natur dieser drei ist. Wir selbst mit un­serer Begierde und unserem Hass, fühlende Wesen mit ihrem Anhaften und Ablehnen und all die Schattierungen der Emotionen von Anhaften und Ablehnen, Begierde und Hass, die es gibt. Was ist die wahre Natur dieser drei?“Wir sollten uns fragen: „Existieren die fühlenden Wesen, die das Objekt unseres Anhaftens sind, wirklich? Gibt es ihren Körper und ihren Geist und ihr Leid wirklich? Oder nicht?“ Das sollten wir zutiefst untersuchen.

„Wenn wir die Abwesenheit jeglicher innewohnender bleibender Wirklichkeit entde­cken, dann gibt es kein Objekt für unser Haften mehr. Die große Freiheit, das große Freisein von Begrifflichkeit, von Konzepten, das Freisein von allem Anhaften zeigt sich. Das Gleiche sollten wir dann mit Hass und Ablehnung tun. Wir sollten untersuchen, ob Hass im Körper existiert, ob es ihn im Geist zu finden gibt und ob das Leid des Hasses, das Leid der Ablehnung wirklich existiert. Wenn wir so uns selbst und alle Personen hinsichtlich Körper, Geist und Emotionen untersuchen, dann werden wir frei von Vor­stellungen über die Wirklichkeit, von dem Verweilen in Begriffen. Begierde und Hass werden befreit in ihrer eigenen wahren Natur, Dharmata, der Natur der Dinge. Die große Leerheit, die Dimension des einen, desselben Geschmackes, tut sich uns auf und wir sind frei von Anhaften und Ablehnung. Dies wird dann „großer Gleichmut“ ge­nannt. In diesem großen Gleichmut, in dieser Erkenntnis der Wahrheit tief verankert zu sein und stabil darin zu verweilen, wird dann ‚grenzenloser Gleichmut’ genannt.“ Was uns abhält davon, in tiefem weisen Gleichmut zu verweilen, sind die Geistesregungen von Anhaften und Ablehnung. Jetzt beschreibt uns Matschigma, wie wir das herausfinden können. Was sie beschreibt, ist nicht etwas, das man in einem Moment einfach so praktizieren könnte. Es geht darum, immer wieder hinein zu schauen in Subjekt, Objekt und was zwischen den beiden passiert. Subjekt, das bin ich, die denkende Person, derjenige, der beobachtet, wahrnimmt, denkt. Ich schaue hinein und brauche dafür natürlich einen Geist, der meditativ sehr ruhig geworden ist und deshalb sehr fein und genau schauen kann. Und schaue: „Wo ist denn dieses Ich? Wo kann ich diesen Beobachter finden? Wo ist das Selbst?“ Ich suche im Körper, im Gehirn, im Herzen, auch in meinen Zehen suche ich, in den zehn Fingern, meinen Armen, meinen Beinen, überall schaue ich. Ich suche nach etwas, das definierbar wäre als die letzte Einheit dessen, was ich ein Ich nennen kann. Danach schaut der eigene Geist. Wir wenden uns dem eigenen Geiste zu.

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Wenn wir eine Emotion verspüren, so schauen wir in die Emotion hinein. Wir wenden den Blick ab vom Objekt der Emotion und versuchen, die Emotion selbst zu erwischen. Wenn da Ärger ist, kommt uns das sehr wirklich vor. Wenn wir voller Begierde, Stolz, Eifersucht, auch Freude sind, selbst voller heilsamer Geistesregungen, dann kommt uns das alles wirklich vor. Wir versuchen die Geistesregung selbst zu entdecken: wo ist sie, als was existiert sie?

Im Versuch, den Ärger aufzuspüren, machen wir seltsame Entdeckungen. Wir landen immer nur in einer großen Offenheit des Geistes. Wir können nichts wirklich finden. Es ist über­raschend, wenn es zum ersten Mal passiert, danach gewöhnt man sich daran. Gerade war ich noch voller Ärger, ich hätte jemanden ohrfeigen können doch ich habe die Geistesgegenwart, dem Ärger auf den Grund zu gehen. Wo ist der Ärger? Ich finde nur ein Vibrieren im Körper, das abklingt, und im Geist, kaum dass ich hinschaue – ist nichts zu entdecken. Wenn wieder Gedanken des Ärgers auftauchen, so schaue ich wieder hin – und wieder lässt sich nichts finden. In diesem Nichtfinden ist der Ärger auch verschwunden. Erst wenn ich wieder hafte, kommt er wieder und dann schaue ich wieder hin und er ist wieder verschwunden. Das ma­chen wir mit allen Emotionen.

Wir machen das auch mit dem, was wir über die Außenwelt denken und wahrnehmen. Wir schauen hinein: Irgendjemand taucht im Geist auf, wo ist der jemand? Gibt es diese Person in meinem Geist? Gibt es das Objekt, an das ich denke? Gibt es die Erfahrung, die uns mitein­ander verbindet, die gerade eben oder vor langer Zeit stattgefunden hat – wo ist das? Immer wieder lösen sich die geistigen Gestaltungen unter dem Blick selbst auf, sie sind nicht als sol­che bleibend vorhanden. Doch nehmen wir sie deutlich wahr. Aber wir nehmen auch wahr, dass sie in dem Moment, wenn wir hinschauen, schon wieder vorbei sind, sich schon wieder aufgelöst haben.

Es ist, als ob wir Dinge nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen könnten – wenn wir hin­schauen, sind sie weg. Sobald der Blick sich klar auf eine Emotion richtet, löst sie sich auf. Damit löst sich auch unser Anhaften und Ablehnen auf. Das ist die befreiende Entdeckung. Wenn wir sie vertieft haben und zu einer tiefen Erkenntnis der Natur des Geistes gekommen sind, in der wir das Zusammenspiel von relativer und letztendlicher Ebene verstehen, dann nennen wir das Befreiung, nennen wir es das Verständnis der Natur des Geistes.

Beim Verweilen in der Natur des Geistes, wenn Dinge im Geist auftauchen, können wir zum Beispiel an alle Lebewesen denken, wir können einen Geist haben, der von Hingabe, Liebe und Anhaften an all diese Wesen erfüllt ist – und zugleich ist da ein Gewahrsein, dass all das jeglicher Substanz entbehrt, dass es nichts Bleibendes ist. Wir schauen uns unser eigenes Leid an, wir untersuchen, woran wir jetzt gerade leiden, an Schmerzen im Körper oder an geis­tigem Leid, wir untersuchen es und nehmen wahr: „Ja, es manifestiert sich etwas, aber unter dem direkten Blick löst es sich auch wieder auf.“ Das nennt man „das Erkennen der illuso­rischen Natur des Leides“. Es ist manifest, aber doch nicht dauerhaft existent als ein solides Etwas, das nur eine Sekunde oder auch ein paar Minuten als ein unveränderliches Etwas existent wäre.

Wenn wir das für uns geklärt haben, können wir das auch für das Leid anderer klären und erfahren. Wo ist das Leid der anderen? Wo steckt ihr Schmerz, ihr Leid? Gibt es vielleicht einen Unterschied zwischen meinem Geist und dem Geist der anderen? Wenn es keinen Un­terscheid gibt, dann haben die anderen genauso Schwierigkeiten, ihr Ich zu finden wie ich Schwierigkeiten habe, mein eigenes Ich zu finden. Wenn es keinen Unterschied gibt, so ma­chen sie dieselbe Erfahrung, wenn sie ihr Leid anschauen, dass es sich genauso verflüchtigt, wie wenn ich mein eigenes Leid anschaue. Wenn sie ihre Emotionen anschauen, machen sie dieselbe Erfahrung, wie wenn ich meine Emotionen anschaue.

Erkenntnis der Natur des Geistes bedeutet auch, dass wir im gleichen Moment des Erkennens merken: „Das ist keine konstruierte Erkenntnis. Das ist nicht etwas, das auf Anstrengung be­

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ruht. Diese Dimension war immer schon da. Ich habe nichts dafür getan, um diese Dimension zu erzeugen, zu erschaffen.“ Es entsteht eine Gewissheit aus der Erfahrung des natürlichen Zustandes heraus, dass dieser natürliche Zustand nicht auf meinen Geist beschränkt ist, dass dieser natürliche Zustand auch im Geist von anderen zu finden ist.

Das ist die eigentliche Liebe, das eigentliche Mitgefühl, diesen Weg zu zeigen. Zu wissen, dass es einen Ausweg gibt und die Anstrengung zu machen, anderen diesen Weg zu zeigen. Die Geduld zu haben, es zu tun und den Gleichmut, es für alle ohne Unterschied zu tun.

Den Geist in den vier Grenzenlosen übenMatschigma: „Was nun diese vier grenzenlosen Qualitäten angeht, so ist es außerordentlich wichtig, es ist notwendig, dass wir zunächst unseren Geist korrekt trainieren, üben sollten. Dann sollten wir ein starkes inniges Streben entwickeln, dann vollständig in diesen Geisteszu­stand eintreten und schließlich vollkommen geübt werden in dieser Geisteshaltung. Das sind vier Stufen.“Den Geist auf richtige Art und Weise zu üben bedeutet, dass wir uns mit Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut befassen und die konzeptuellen Übungen ausführen, dass wir zunächst Achtsamkeit üben und dann den Geist mit unserer Mutter verbinden und dann mit Menschen, die für uns neutral sind, und dann mit schwierigen Menschen. Übt die erste Methode und strebt dabei an, dass der Wunsch immer inniger wird, die Qualitäten von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut in unserem Geist freizusetzen. Dieses innige Streben führt uns immer tiefer in die Praxis hinein, bis wir eintreten können in Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleich­mut, bis wir diesen Geisteszustand kennen. Wir kennen und spüren die Qualitäten, sie leben als Erfahrung in uns. Doch ist es so, dass wir immer noch aus dieser Geisteshaltung von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut herausfallen. Die letzte Stufe ist das völlige Geübt­sein. Selbst wenn wir durch anderes abgelenkt sind, verweilen wir immer in diesen vier Geis­teshaltungen. Das wird beschrieben wie jemand, der ein außerordentlich guter Reiter ist und bei langen Ritten durch die Berge Tibets auf dem Pferd einschlafen kann, aber trotzdem nicht herunterfällt. Obwohl abgelenkt und eingeschlafen, gibt es etwas im Geist, das den Körper so­fort aufrichtet, wenn er anfängt, ins Rutschen zu kommen. Wir bleiben auf dem Pferd.

Das ist in die Sprache der vier Grenzenlosen übertragen: Wenn unser Geist ins Ichanhaften abrutscht, gibt es eine automatische Tendenz des Aufrichtens im Geist, die uns in Liebe, Mit­gefühl, Freude und Gleichmut zurückführt.

Jetzt ist es wichtig, dass wir auf Stufe eins anfangen und dort üben, wo wir sind. Wir legen die Grundlagen durch das Entwickeln von Geistesruhe. Diese Geistesruhe kommt durch ständige Übung. Wenn unser Geist jetzt aufgewühlt ist, sollten wir die für uns hilfreichen Mittel her­ausfinden, die den Geist entspannen und zur Ruhe kommen lassen. Wir brauchen aber nicht frei zu werden von Gedanken. Einfach bleiben zu können mit dem, was ist.

Tag für Tag gehen wir durch diesen Prozess. Wir beginnen, wo wir gerade sind und dehnen den Geist aus, bis er alle Wesen umfasst. Dann kommen wir wieder zurück und stellen uns den nächsten Situationen. Wenn wir diesen Prozess jeden Tag machen, aus dem Konkreten in die reine Sicht der Liebe für alle Lebewesen zu kommen und wieder aus dieser reinen Sicht in den konkreten Alltag, dann beginnen Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut in unseren Alltag Einzug zu halten. Der Geist gewöhnt sich daran, immer wieder in diese Öffnung zu gehen. Wenn es schwierig wird in unseren Beziehungen, dann erinnert uns etwas daran, dass das nur eine Sicht der Dinge ist und dass es eine andere Sicht gibt, die sehr hilfreich ist – die Sicht von Liebe und Mitgefühl. Wir öffnen uns dafür und wir finden neue Lösungen. Wenn wir sie

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nicht in der Situation finden, gehen wir zurück aufs Kissen und meditieren die schwierige Si­tuation. So lernen wir allmählich diese vier grenzenlosen Geisteshaltungen aus der eigenen Erfahrung kennen. Das Vertrauen in diese Praxis wächst immer mehr, bis wir so geübt sind und eine natürliche innere Kraft erleben, die uns immer wieder zurückbringt in diese Offen­heit, diese Hinwendung zu allen Wesen. Das nennen wir Mitgefühl und Weisheit.

Frage: Bevor man eine Emotion hat, gibt es einen Gedanken. Wenn ich Ärger oder Begierde nehme, dann scheint es sich auch körperlich zu manifestieren, – dann kann ich den illuso­rischen Aspekt nicht mehr sehen...? Emotionen beginnen mit Gedanken. Emotionen hören nicht auf Gedanken zu sein. Ärger und andere Emotionen sind alle Bewegungen im Geist. Die nennen wir einfach Gedanken. Es gibt Gedanken, die sehr wenig und Gedanken, die sehr stark emotional geladen sind. Je stärker ein Muster bei uns ist, desto unmittelbarer kommt es zu emotional sehr stark geladenen Ge­danken. Das heißt, die Kette, die zu einer Emotion führt, wird unheimlich gekürzt. Der zweite Gedanke kann schon ein emotional unheimlich stark geladener Gedanke sein. Vielleicht sogar schon der erste.

Wenn wir meditieren, finden wir heraus, dass jeder Gedanke mit einer Veränderung im Kör­per einhergeht. Selbst die scheinbar nicht emotional geladenen Gedanken gehen mit subtilen Veränderungen in unserem Körper einher. Wer seinen Organismus ganz fein wahrnimmt, merkt, dass eine Emotion – egal, wie schwach sie ist, immer von einer Reaktion im Körper begleitet wird. Das ist ein sofortiges Wechselspiel zwischen Geist und Körper. Jeder einzelne Gedanke bewirkt das! Wenn die Wahrnehmung noch sehr grob und der Geist noch nicht besonders ruhig geworden ist, nehmen wir nur die Auswirkungen der starken Gedanken auf unseren Körper wahr. Aber während du mir jetzt ruhig zuhörst, gibt es auch Rückwirkungen auf den Körper. Während ich spreche, gibt es auch Rückwirkungen auf meinen Körper, die sofort spürbar sind. Wer in Berührung damit ist, spürt, wie sich der Atem leicht verändert, der Energiefluss im Körper leicht verändert, – überall verändert sich etwas, mit jedem Gedanken, der durch den Geist geht, verändert sich auch im Körper etwas.

Die Befreiung, also das Erkennen der illusorischen Natur, der vergänglichen Natur von Ge­danken bewirkt auch unmittelbar im Körper etwas. Befreiung führt zu einer sofortigen Ent­spannung im Körper. Diese Beziehung zwischen Körper und Geist ist so innig, dass wir man­chmal erst durch den Körper aufmerksam werden, dass da Gedanken waren, die wir so gar nicht realisiert haben. Der Körper signalisiert uns, dass da etwas war.

Diese Beziehung zwischen Körper und Geist tiefer und tiefer kennen zu lernen ist die Medita­tionspraxis eines Yogis. Wir gehen in das Labor des eigenen Geistes, schaffen uns eine sehr stabile Umgebung, in der wenig störende Einflüsse aufkommen und arbeiten nur mit dem, was im Geist auftaucht. Dann spüren wir diese Wechselwirkungen. Wir spüren auch, wie Ursachen und Wirkungen in den momentanen Gedankenketten funktionieren, wie eins das andere auslöst – wenn da ein Anhaften hineinkommt, wie sich das verändert, wenn da ein Loslassen hineinkommt, wie sich das verändert, wenn da ein Dharmagedanke sich dazwi­schen schiebt, der Gedanke über Vergänglichkeit zum Beispiel, oder ein Gedanke über Zu­flucht, wenn sich das dazwischen schiebt, wie das die weitere Entwicklung verändert, wie das auf den Körper zurückwirkt. So lernen wir allmählich unseren Geist kennen.

Oft erscheint mir die Angst unüberwindbar.Wir hatten einen Schüler im Dreijahres-Retreat, der hatte während der ersten anderthalb Jahre fast jede Nacht Albträume von Panik und immenser Angst, in denen er jedes Mal davonlief. Die Instruktion, sich Panik und Angst zuzuwenden, hatte er direkt zu Anfang erhalten. Aber das wirklich umzusetzen war ihm erst nach anderthalb Jahren möglich. Er hat das einige Male praktiziert und die Albträume haben sich aufgelöst. Es braucht großen Mut, sich der Angst zu­

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zuwenden! Nicht mehr zu rennen, nicht mehr zu vermeiden, sondern inne zu halten und dann direkt darauf zuzugehen. Dann entdecken wir, dass dieser Dämon, der uns zerstören wollte, als solcher gar nicht zu finden ist. Das waren Geistesbewegungen, sehr starke Emotionen, die aber kein Zentrum haben, – nichts, vor dem man sich schützen müsste.

Es ist eine geballte Täuschung. Wie eine schwarze Wolke. Und sie ist wirklich da! Wenn wir reingehen, ist sie nicht wirklich da. Wenn du es mit der Segenskraft angehst, in das Zentrum hinein zu gehen, dann hast du einen Riesenschritt gemacht, dann macht dir nichts mehr Angst. Im Dunkeln z.B. mögen die Gefahren immer noch da sein, welche auch immer! – aber die Angst ist unnötig. Da findet eine Reaktion in unserem Geist statt. Diese Reaktion nennen wir Angst und sie ist nicht sehr hilfreich. Vorsicht ist angemessen, aber Angst macht uns verrückt, unfähig zu handeln. Es reicht, sich dem zuzuwenden und diese Angst sich auflösen zu lassen, dann bleibt einfach die weise Vorsicht. Und wir sind entspannt dabei.

Brauchen Menschen mit chronischen Schmerzzuständen anderen Umgang mit den Schmerzen oder ist es immer der gleiche Ansatz?Chronische Schmerzzustände sind besonders schwierig, weil sie auch psychisch zur Erschöp­fung führen. Es ist sehr schwer, in solchen Schmerzzuständen die Klarheit des Geistes wach­zurufen, um den Geist lenken zu können. Deshalb ist es besser zu üben, bevor wir in chronischen Schmerzzuständen sind. Wenn wir in solch langen Phasen von Schmerzen sind, würde ich sagen, dass es manchmal sehr gut ist, starke Schmerzmittel zu nehmen, um wieder ein bisschen Freiheit im Geist zu haben und danach mit den neu auftauchenden Schmerzen zu arbeiten.

Was du gerade beschrieben hast, was sozusagen auch dann noch da ist, wenn man schläft, das könnte man vielleicht als Gewahrsein beschreiben? Ist das identisch mit dem Beobachter? Oder ist das noch was anderes?Nein, das geht sogar ohne Beobachter. Der Beobachter kann auch wohlwollend sein, aber wenn wir schlafen oder in unbewusstere Zustände abgleiten - kommt dieser Impuls aus noch tieferen Schichten als der Beobachter. Er kommt aus dem Verbundensein mit diesen Qualitä­ten. Wenn der Geist eng wird, gibt es eine Reaktion, die nicht aus dem Beobachter kommt, die das richtet. Es ist nicht so – zum Beispiel wie der Tibeter, der auf dem Pferd einschläft – dass er wach werden müsste, um sich im Sattel zu halten.

Mit geführten Meditationen fällt es mir besonders leicht, in die Praxis einzutauchen aber selbst fällt es mir schwer. Ich will aber auch nicht immer die gleiche Kassette laufen lassen und mich auf eingefahrene Bahnen halten.Ich habe gestern den subtilen Prozess erklärt, wie im eigenen Geist das Hineinfinden in die Meditation stattfindet: lasse den Geist zur Ruhe kommen, taste das Thema ab, schaue, wo die Tür sich öffnet, dann gehe weiter und finde allmählich in eine Vertiefung in diese Qualitäten hinein. Das ist der eigentliche Prozess. Den kann euch niemand abnehmen.

Die Abschriften der geführten Meditationen enthalten eine Auswahl von verschiedenen Zu­gängen – jede Meditation war ja anders, so habt ihr eine Auswahl, und daran kann sich vielleicht euer innerer Prozess entzünden.

Ich finde das nicht erfreulich, mir vorzustellen, dass ihr in eurem Zimmer sitzt und hört zum hundertsten Mal Lama Lhündrub eine Meditation über Liebe und Mitgefühl anleiten. Ich den­ke, dann verdreht es sich vielleicht ins Gegenteil. Ich möchte euch selbständig machen in eu­rer Meditation. Wenn ihr solche CDs benutzt, tut es nur zur Inspiration. Achtet darauf, dass ihr eure innere Selbständigkeit entwickelt, die dann bewirkt, dass ihr selbst mit der Kraft des eigenen Geistes in Mitgefühl hinein finden könnt.

ENDE

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