die welt des islams

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GLOBAL Eine Grafik und Stichworte zur weltweiten Verbreitung des Islams SEITE 6,7 NATIONAL Eine türkische Familie in Deutschland erzählt ihr Leben SEITE 13 Berlin, Montag 13. April 2015 www.das-parlament.de 65. Jahrgang | Nr. 16 -17 | Preis 1 € | A 5544 Sonderthema: Die Welt des Islams Facetten einer Weltreligion Zwei Seiten einer Medaille ISLAM Salafismus und Islamfeindlichkeit bedingen sich und müssen gleichzeitig bekämpft werden W ir können es fast jeden Tag und fast überall sehen: Der Islam ist in Deutschland und in Europa ange- kommen. Muslime begegnen uns im All- tag, Moscheen werden aus den Hinterhö- fen ausgelagert und in repräsentativen Ge- bäuden eingerichtet. Von dieser zuneh- menden Sichtbarkeit der Religion gehen zwei unterschiedliche Botschaften aus. Zum einen bekundet sie eine gelungene Integration: Denn nur wo man dauerhaft bleiben will, richtet man sich gemütlich ein und zeigt es auch. Zum anderen besagt sie deutlicher als alles andere, dass sich die deutsche Gesellschaft verändert. Das macht vor allem den Alteingesessenen Angst, denn manche davon wollen diese Verände- rungen partout nicht. Einige stehen offen zu dieser Haltung, andere versuchen sie zu kaschieren. Beide Botschaften, die von der zunehmen- den Sichtbarkeit des Islams ausgehen, kul- minierten schon vor Jahren in der Sarra- zin-Debatte. „Ich muss niemanden aner- kennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt […] und ständig neue kleine Kopf- tuchmädchen produziert.“ So äußerte sich der SPD-Politiker Thilo Sarrazin 2009. In großen Teilen der Bevölkerung hieß es: „Endlich jemand, der sich traut, die Wahr- heit auszusprechen.“ Auch zahlreiche Jour- nalisten und Politiker lobten Sarrazin für seine „mutigen“ Worte. Und das war fatal. Es hat mit dazu beigetragen, dass die Feindlichkeit gegenüber Fremden im Allge- meinen und Muslimen im Speziellen im- mer weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringen konnte, wie inzwischen alle Studien in diesem Bereich belegen. Und der Beifall für Sarrazin hat noch mehr be- wirkt: Er hat den Weg für die islamfeindli- chen Massenproteste der Pegida in Dres- den frei geräumt und er hat auch den Weg nach Tröglitz mit dem erzwungenen Rück- tritt des Bürgermeisters und dem Feuer in einer Flüchtlingsunterkunft geebnet. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), meinte, Tröglitz sei überall. Er hat Recht. 2014 gab es etwa 153 Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte, da- runter 35 Brandstiftungen, und 77 Übergriffe auf Flüchtlinge. In diesen Vor- fällen kommen die altbe- kannten Ausländer- und Fremdenfeindlichkeiten in Deutschland wieder zum Vorschein. Lange ließen sie sich verstecken unter dem Deckmantel einer ver- meintlichen Islamkritik. Spätestens seit den islamistischen Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 griffen Frem- denfeinde verstärkt darauf zurück. Nach den Angriffen von Solingen, Mölln oder Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre waren die rechtsradikalen Parolen außerhalb einschlägiger Kreise verpönt. Abwertende Äußerungen über Türken oder Asylanten ließen sich der bürgerlichen Mit- te nicht mehr verkaufen. „Islamkritik“ da- gegen war zum neuen Trend geworden – sie fand zur Primetime im Fernsehen statt, in den Feuilletons renommierter Zeitungen und in Beraterkreisen von Politikern. Man konnte beinahe ohne Hemmungen über Muslime und ihre Religion herziehen. Im Zweifel ließ sich immer darauf verweisen, dass man bloß die gewaltbereiten Islamis- ten im Sinn habe, was ja wohl legitim sei. So konnte sich die Fremdenfeindlichkeit gesellschaftlich ausbreiten. Auch Pegida verlief nach diesem Muster: Anfangs be- mühte man sich, sich bürgerlich-mittig zu geben, inzwischen haben die Radikalen of- fen das Ruder übernommen. Abwehrreflexe der Mehrheit Ich habe es schon vor Jahren gesagt und geschrieben: Ich bin Muslimin, Tante, Tochter, spreche mehrere Sprachen, habe dunkle Haare, schaue gern Fußball und kämpfe dafür, endlich muslimisch und deutsch sein zu dürfen. Ich kämpfe dafür, nicht mehr als Fremde im eigenen Land betrachtet zu werden. Ich kämpfe dafür, dass man Men- schen wie mich nicht länger „Migranten“ oder „Ausländer“ nennt. Ich bin nie in die- ses Land immigriert. Für mich ist es völlig selbstverständlich, dass ich deutsche Staats- bürgerin bin, die die Demokratie und die damit verbundenen Aufgaben schätzt. Doch genau das wird mir nach wie vor von manchen Deutschen streitig gemacht. Diese Beobachtungen lehren: Je mehr sich Muslime integrieren, gesellschaftlich parti- zipieren, selbstbewusst auftreten und die üblichen Grundrechte einfordern, desto stärker werden die Abwehrreflexe in der Mehrheitsgesellschaft. Daraus kann man nur einen Schluss ziehen: Wir müssen viel stärker in Fragen der Integration die Mehrheitsbevölkerung in den Blick nehmen. Ihnen zum einen offen erklären, dass sich die deutsche Ge- sellschaft verändern wird. Dass neue Menschen kom- men und diesem Land auch einen Stempel auf- drücken werden. Dass dies in der Geschichte schon immer der Fall gewesen ist und keine Bedrohung dar- stellt. Alle Teile der Bevölkerung müssen verstehen, was es bedeutet, eine Einwande- rungsgesellschaft zu sein. Die Forderung an Migranten und deren Nachkommen, sich einzufügen, die Sprache zu erlernen, sich an Recht und Gesetz zu halten, sind richtig. Aber sie sind seit langem auf dem Tisch. Sie werden von Politikern aller Par- teien vertreten. Was sich kaum einer traut, ist, Forderungen an die Mehrheitsgesell- schaft zu artikulieren. Integration sei keine Einbahnstraße, heißt es zwar immer. Bis- lang sind solche Äußerungen aber nicht mehr als Sonntagsreden. Die Auseinander- setzung mit der Mehrheitsgesellschaft ist eine der wichtigsten Aufgaben der Integra- tionspolitik. Da muss man ran. Sonst ma- chen sich andere daran, die Versäumnisse und deren Folgen zu instrumentalisieren. Die Salafisten zum Beispiel. Und das kann uns in keinem Fall recht sein. Karriere des Salafismus-Begriffs Es gibt wenige Begriffe, die in Deutschland so schnell Karriere gemacht haben wie der des „Salafis- mus“. Das Wort war vor we- nigen Jahren vielleicht ein paar Experten bekannt. Sa- lafismus ist Teil des funda- mentalistischen Spektrums im Islam. Wir haben es so- mit mit einem sehr neuen Phänomen des Extremis- mus zu tun, das neben die bekannten Formen des Rechts- und des Linksextre- mismus getreten ist. Anders als viele glauben, ist der Auslöser für das Abgleiten in die Szene aber nicht etwa das Streben nach irgendei- nem gottgefälligen Verhalten. Die Auslöser sind vornehmlich ganz weltlich. Die Radi- kalisierung hat primär mit den Familien zu tun und mit dem Alltag in Dörfern und Städten. Interviews mit Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern der Szene weisen oft in eine Richtung: Die zumeist jungen Mitläufer sind gefrustet von ihrem Leben, von mangelnden Zukunftschancen, von Ablehnung durch die Mehrheitsgesell- schaft. Jede Sarrazin-Debatte, jede Pegida- Demonstration bestätigt ihnen: Ihr gehört nicht zu Deutschland. Verstärkt wird das Gefühl, wenn bekannte Politiker wie der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel sich mit den Pegida-Sympathisan- ten zusammensetzt und öffentlichkeits- wirksam nach deren Ängsten fragt. Das wirft bei den angefeindeten Gruppen zwangsläufig die Frage auf: „Und wer fragt nach meinen Ängsten, wer setzt sich mit mir zusammen?“ Die meisten Muslime ignorieren solche Aspekte und schauen weg. Doch nicht alle können das. Bei ein paar Leuten bleibt das Gefühl von Ohnmacht und Wut. Sie treibt der Wunsch an, Rache zu nehmen, es dieser Gesellschaft heimzu- zahlen. Und die salafisti- schen Vordenker bieten ih- nen dafür eine Möglichkeit an. Wir haben es also im Hin- blick speziell auf Muslime als ein Teil der Integrati- onspolitik mit einem ernsten Problem zu tun. Und darin liegt gehöriger gesellschaft- licher Sprengstoff. Weil der Salafismus na- türlich etwas mit dem Islam zu tun hat, nutzen Teile der Gesellschaft diese Verbin- dung aus, um die Islamfeindlichkeit weiter zu schüren. So wie die Salafisten islam- feindliche Tendenzen nutzen, um sich zu radikalisieren, nutzen die Islamfeinde sala- fistische Bestrebungen, um ihre Stim- mungsmache gegen muslimische Einhei- mische und Einwanderer zu rechtfertigen. Islamfeindlichkeit und Salafismus sind mithin zwei Seiten derselben Medaille. Sie fördern und bedingen sich gegenseitig. Die übrige Gesellschaft muss daher aufpassen, dass sie zwischen diesen beiden extremen Polen künftig nicht zerrieben wird. Das geht nur, indem beides gleichzeitig be- kämpft wirft. Lamya Kaddor T Die Autorin ist Islamwissenschaftlerin und Lehrerin für islamische Religion. Sie hat syrische Eltern. Im Februar erschien ihr Buch „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“ (Piper Verlag). Zeichen des Angekommen-Seins: Moscheen werden in Deutschland zunehmend aus den Hinterhöfen an repräsentative Orte verlagert. © picture-alliance/dpa Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper Mittendrin: Absolventen der Universität in Bonn © picture-alliance/joker EDITORIAL Es fehlt an Wissen VON JÖRG BIALLAS Religiöser Fanatismus begleitet die Weltge- schichte seit Jahrtausenden. Bei nahezu allen Glaubensrichtungen gibt es Beispiele für über- steigerten Geltungsdrang und fanatische Heilsbotschaften, die sich in Gewaltexzessen gegenüber Andersgläubigen Bahn gebrochen haben. In der historischen Betrachtung sind Christen wie Muslime jeweils Opfer und Täter. Wer angesichts des islamistischen Terrors ge- neigt ist, die Täterrolle einseitig zuzuweisen, vergisst Ereignisse wie das Massaker von Sre- brenica. Vor 20 Jahre wurden dort Tausende bosnische Muslime ermordet. Derzeit richtet sich der Fokus auf den militan- ten Islamismus. Aus gutem Grund, wie nahezu täglich neue Terrormeldungen auf grauenhafte Weise belegen. Das Massaker an den Studen- ten in Kenia, der Bürgerkrieg in Syrien, die blu- tigen Konflikte im Jemen, die zunehmend unsi- chere Lage im Irak, aber auch die latent ange- spannte Situation in anderen Teilen Asiens und Afrikas: Das alles schürt in der westlichen Welt die Sorge, fanatische Islamisten könnten wei- ter erstarken und schlimmstenfalls sogar au- ßerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereiches Unheil anrichten. Nüchtern betrachtet bleibt diese Gefahr schwer auszumachen, aber über- schaubar. Auch das politische Kapital, das sich aus dem angeblichen Islamismus-Import schlagen lässt, ist endlich, wie die gescheiterte „Pegida“-Bewegung belegt. Gerade in Deutschland sollte aus dem Holo- caust das Bewusstsein erwachsen sein, dass mangelndes Wissen über die Inhalte einer Re- ligion verheerende Auswirkungen haben kann. Besonders junge Menschen muss diese Bot- schaft erreichen. Jeder mag mit sich selbst ausmachen, wie die monatelang diskutierte Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, zu beantworten ist. Hilf- reich wäre aber in jedem Fall eine Auseinan- dersetzung mit dieser Religion: der Besuch ei- ner Moschee, die Lektüre des Korans und des- sen Interpretationen, Gespräche mit Musli- men. Am Ende dieser Bemühungen wird die Erkenntnis stehen, dass in dem gleichen Maß, wie es ein Gebot der Menschlichkeit ist, den gewaltbereiten Islamismus zu verdammen, der Islam als Weltreligion zu akzeptieren ist. Und ganz nebenbei mag sich dann auch klären, wieso ausgerechnet diejenigen, die den Islam am heftigsten kritisieren, oft dieselben sind, die den Opfern selbsterklärter Gotteskrieger die Flüchtlingshilfe verwehren wollen. Ich möchte nicht als »Migrantin« bezeichnet werden. Denn ich bin nie immigriert. Der Beifall für Sarrazin hat den Weg für die Pegida- Proteste frei geräumt. KOPF DER WOCHE Eine Frau führt das Dachgremium Nurhan Soykan Sie gehört zu den muslimischen Frauen in Deutschland, die mit oder auch trotz des Kopftuchs Karriere gemacht haben. Die Kölner An - wältin Nurhan Soykan ist seit 1. April als erste Frau Sprecherin des Ko- ordinationsrats der Muslime. Der Rat ver - tritt die vier größten muslimischen Dachver - bände hierzulande. Die Sprecher wechseln halbjährlich unter den Vereinigungen. Soykan ist seit 2010 General - sekretärin des Zentralrats der Muslime, des kleinsten der Spitzenverbände. Sie wurde 1970 in der Türkei geboren und kam mit drei Jahren mit ihrer Familie – der Vater ist Imam – nach Deutschland. Sie ficht auf vielen Ebenen für die Interessen der hiesigen Musli - me, so auch in der Deutschen Islamkonferenz. Mit 25 wurde sie deutsche Staatsbürgerin, seit sie 26 ist, trägt sie als Zeichen des Glaubens das Kopftuch.Als Nurhan Soykan im März vom Karlsruher Urteil mit der Rücknahme des Kopftuchverbots für Lehrer hör - te, habe sie vor Freude geweint,sagt sie. kru T © picture-alliance/dpa ZAHL DER WOCHE 2070 könnte der Islam das Christentum als größte Glau - bensgemeinschaft der Welt ablösen. Zu diesem Schluss kommt das US-Institut Pew Research Center. 2050 werde der Anteil der Christen bei 31,4 Prozent etwa konstant bleiben, während die Zahl der Musli - me von derzeit 23,2 auf 29,7 Prozent steigen werde. IN DIESER WOCHE THEMA Interview Die muslimische CDU-Abgeordnete Cemile Giousouf im Gespräch Seite 2 Europa Seit eineinhalb Jahrtausend gibt es auf dem Kontinent islamische Einflüsse Seite 3 Arabischer Frühling Eine zwiespältige Bilanz nach den Aufständen Seite 8 Islamischer Staat Wie die Terrormiliz ihre Kämpfer rekrutiert Seite 16 KEHRSEITE Ausstellung Die Geschichte des deutschen Parlamentarismus im Deutschen Dom Seite 18 ZITAT DER WOCHE »Wir müssen geeint bleibenKardinal John Njue, Erzbischof von Nairobi, in einer Predigt nach dem Massaker an mehr als 140 christlichen Studenten an der keniani- schen Universität Garissa durch Islamisten MIT DER BEILAGE Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH 60268 Frankfurt am Main 4 194560 401004 11716

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- Facetten Einer Weltreligion 2015 Das Parlament

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GLOBALEine Grafik und Stichworte zurweltweiten Verbreitung des Islams SEITE 6,7

NATIONALEine türkische Familie inDeutschland erzählt ihr Leben SEITE 13

Berlin, Montag 13. April 2015 www.das-parlament.de 65. Jahrgang | Nr. 16 -17 | Preis 1 € | A 5544

Sonder

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Zwei Seiten einer MedailleISLAM Salafismus und Islamfeindlichkeit bedingen sich und müssen gleichzeitig bekämpft werden

Wir können es fastjeden Tag und fastüberall sehen: DerIslam ist inDeutschland undin Europa ange-

kommen. Muslime begegnen uns im All-tag, Moscheen werden aus den Hinterhö-fen ausgelagert und in repräsentativen Ge-bäuden eingerichtet. Von dieser zuneh-menden Sichtbarkeit der Religion gehenzwei unterschiedliche Botschaften aus.Zum einen bekundet sie eine gelungeneIntegration: Denn nur wo man dauerhaftbleiben will, richtet man sich gemütlichein und zeigt es auch. Zum anderen besagtsie deutlicher als alles andere, dass sich diedeutsche Gesellschaft verändert. Das machtvor allem den Alteingesessenen Angst,denn manche davon wollen diese Verände-rungen partout nicht. Einige stehen offenzu dieser Haltung, andere versuchen sie zukaschieren.Beide Botschaften, die von der zunehmen-den Sichtbarkeit des Islams ausgehen, kul-minierten schon vor Jahren in der Sarra-zin-Debatte. „Ich muss niemanden aner-kennen, der vom Staat lebt, diesen Staatablehnt […] und ständig neue kleine Kopf-tuchmädchen produziert.“ So äußerte sichder SPD-Politiker Thilo Sarrazin 2009. Ingroßen Teilen der Bevölkerung hieß es:„Endlich jemand, der sich traut, die Wahr-heit auszusprechen.“ Auch zahlreiche Jour-nalisten und Politiker lobten Sarrazin fürseine „mutigen“ Worte. Und das war fatal.Es hat mit dazu beigetragen, dass dieFeindlichkeit gegenüber Fremden im Allge-meinen und Muslimen im Speziellen im-mer weiter in die Mitte der Gesellschaftvordringen konnte, wie inzwischen alleStudien in diesem Bereich belegen. Undder Beifall für Sarrazin hat noch mehr be-wirkt: Er hat den Weg für die islamfeindli-chen Massenproteste der Pegida in Dres-den frei geräumt und er hat auch den Wegnach Tröglitz mit dem erzwungenen Rück-tritt des Bürgermeisters und dem Feuer ineiner Flüchtlingsunterkunft geebnet.Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt,Reiner Haseloff (CDU),meinte, Tröglitz sei überall.Er hat Recht. 2014 gab esetwa 153 Attacken aufFlüchtlingsunterkünfte, da-runter 35 Brandstiftungen,und 77 Übergriffe aufFlüchtlinge. In diesen Vor-fällen kommen die altbe-kannten Ausländer- undFremdenfeindlichkeiten inDeutschland wieder zumVorschein. Lange ließen siesich verstecken – unterdem Deckmantel einer ver-meintlichen Islamkritik. Spätestens seitden islamistischen Terroranschlägen in denUSA vom 11. September 2001 griffen Frem-denfeinde verstärkt darauf zurück. Nachden Angriffen von Solingen, Mölln oderRostock-Lichtenhagen Anfang der 1990erJahre waren die rechtsradikalen Parolenaußerhalb einschlägiger Kreise verpönt.Abwertende Äußerungen über Türken oderAsylanten ließen sich der bürgerlichen Mit-te nicht mehr verkaufen. „Islamkritik“ da-gegen war zum neuen Trend geworden –sie fand zur Primetime im Fernsehen statt,in den Feuilletons renommierter Zeitungenund in Beraterkreisen von Politikern. Mankonnte beinahe ohne Hemmungen überMuslime und ihre Religion herziehen. ImZweifel ließ sich immer darauf verweisen,dass man bloß die gewaltbereiten Islamis-ten im Sinn habe, was ja wohl legitim sei.So konnte sich die Fremdenfeindlichkeitgesellschaftlich ausbreiten. Auch Pegidaverlief nach diesem Muster: Anfangs be-mühte man sich, sich bürgerlich-mittig zugeben, inzwischen haben die Radikalen of-fen das Ruder übernommen.

Abwehrreflexe der Mehrheit Ich habe esschon vor Jahren gesagt und geschrieben:Ich bin Muslimin, Tante, Tochter, sprechemehrere Sprachen, habe dunkle Haare,schaue gern Fußball und kämpfe dafür,endlich muslimisch und deutsch sein zudürfen. Ich kämpfe dafür, nicht mehr als

Fremde im eigenen Land betrachtet zuwerden. Ich kämpfe dafür, dass man Men-schen wie mich nicht länger „Migranten“oder „Ausländer“ nennt. Ich bin nie in die-ses Land immigriert. Für mich ist es völligselbstverständlich, dass ich deutsche Staats-bürgerin bin, die die Demokratie und diedamit verbundenen Aufgaben schätzt.Doch genau das wird mir nach wie vor vonmanchen Deutschen streitig gemacht.Diese Beobachtungen lehren: Je mehr sichMuslime integrieren, gesellschaftlich parti-zipieren, selbstbewusst auftreten und dieüblichen Grundrechte einfordern, destostärker werden die Abwehrreflexe in derMehrheitsgesellschaft. Daraus kann man

nur einen Schluss ziehen:Wir müssen viel stärker inFragen der Integration dieMehrheitsbevölkerung inden Blick nehmen. Ihnenzum einen offen erklären,dass sich die deutsche Ge-sellschaft verändern wird.Dass neue Menschen kom-men und diesem Landauch einen Stempel auf-drücken werden. Dass diesin der Geschichte schonimmer der Fall gewesen istund keine Bedrohung dar-

stellt. Alle Teile der Bevölkerung müssenverstehen, was es bedeutet, eine Einwande-rungsgesellschaft zu sein. Die Forderungan Migranten und deren Nachkommen,sich einzufügen, die Sprache zu erlernen,sich an Recht und Gesetz zu halten, sindrichtig. Aber sie sind seit langem auf demTisch. Sie werden von Politikern aller Par-

teien vertreten. Was sich kaum einer traut,ist, Forderungen an die Mehrheitsgesell-schaft zu artikulieren. Integration sei keineEinbahnstraße, heißt es zwar immer. Bis-lang sind solche Äußerungen aber nichtmehr als Sonntagsreden. Die Auseinander-setzung mit der Mehrheitsgesellschaft isteine der wichtigsten Aufgaben der Integra-tionspolitik. Da muss man ran. Sonst ma-chen sich andere daran, die Versäumnisseund deren Folgen zu instrumentalisieren.Die Salafisten zum Beispiel. Und das kannuns in keinem Fall recht sein.

Karriere des Salafismus-Begriffs Es gibtwenige Begriffe, die in Deutschland soschnell Karriere gemachthaben wie der des „Salafis-mus“. Das Wort war vor we-nigen Jahren vielleicht einpaar Experten bekannt. Sa-lafismus ist Teil des funda-mentalistischen Spektrumsim Islam. Wir haben es so-mit mit einem sehr neuenPhänomen des Extremis-mus zu tun, das neben diebekannten Formen desRechts- und des Linksextre-mismus getreten ist. Andersals viele glauben, ist derAuslöser für das Abgleiten in die Szeneaber nicht etwa das Streben nach irgendei-nem gottgefälligen Verhalten. Die Auslösersind vornehmlich ganz weltlich. Die Radi-kalisierung hat primär mit den Familien zutun und mit dem Alltag in Dörfern undStädten. Interviews mit Mitgliedern undehemaligen Mitgliedern der Szene weisen

oft in eine Richtung: Die zumeist jungenMitläufer sind gefrustet von ihrem Leben,von mangelnden Zukunftschancen, vonAblehnung durch die Mehrheitsgesell-schaft. Jede Sarrazin-Debatte, jede Pegida-Demonstration bestätigt ihnen: Ihr gehörtnicht zu Deutschland. Verstärkt wird dasGefühl, wenn bekannte Politiker wie derSPD-Vorsitzende und Vizekanzler SigmarGabriel sich mit den Pegida-Sympathisan-ten zusammensetzt und öffentlichkeits-wirksam nach deren Ängsten fragt. Daswirft bei den angefeindeten Gruppenzwangsläufig die Frage auf: „Und wer fragtnach meinen Ängsten, wer setzt sich mitmir zusammen?“ Die meisten Muslime

ignorieren solche Aspekteund schauen weg. Dochnicht alle können das. Beiein paar Leuten bleibt dasGefühl von Ohnmacht undWut. Sie treibt der Wunschan, Rache zu nehmen, esdieser Gesellschaft heimzu-zahlen. Und die salafisti-schen Vordenker bieten ih-nen dafür eine Möglichkeitan.Wir haben es also im Hin-blick speziell auf Muslimeals ein Teil der Integrati-

onspolitik mit einem ernsten Problem zutun. Und darin liegt gehöriger gesellschaft-licher Sprengstoff. Weil der Salafismus na-türlich etwas mit dem Islam zu tun hat,nutzen Teile der Gesellschaft diese Verbin-dung aus, um die Islamfeindlichkeit weiterzu schüren. So wie die Salafisten islam-feindliche Tendenzen nutzen, um sich zuradikalisieren, nutzen die Islamfeinde sala-fistische Bestrebungen, um ihre Stim-mungsmache gegen muslimische Einhei-mische und Einwanderer zu rechtfertigen.Islamfeindlichkeit und Salafismus sindmithin zwei Seiten derselben Medaille. Siefördern und bedingen sich gegenseitig. Dieübrige Gesellschaft muss daher aufpassen,dass sie zwischen diesen beiden extremenPolen künftig nicht zerrieben wird. Dasgeht nur, indem beides gleichzeitig be-kämpft wirft. Lamya Kaddor T

Die Autorin ist Islamwissenschaftlerinund Lehrerin für islamische Religion.

Sie hat syrische Eltern. Im Februarerschien ihr Buch „Zum Töten bereit.Warum deutsche Jugendliche in den

Dschihad ziehen“ (Piper Verlag).

Zeichen des Angekommen-Seins: Moscheen werden in Deutschland zunehmend aus den Hinterhöfen an repräsentative Orte verlagert. © picture-alliance/dpa

Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-PaperMittendrin: Absolventen der Universität in Bonn © picture-alliance/joker

EDITORIAL

Es fehltan Wissen

VON JÖRG BIALLAS

Religiöser Fanatismus begleitet die Weltge-schichte seit Jahrtausenden. Bei nahezu allenGlaubensrichtungen gibt es Beispiele für über-steigerten Geltungsdrang und fanatischeHeilsbotschaften, die sich in Gewaltexzessengegenüber Andersgläubigen Bahn gebrochenhaben. In der historischen Betrachtung sindChristen wie Muslime jeweils Opfer und Täter.Wer angesichts des islamistischen Terrors ge-neigt ist, die Täterrolle einseitig zuzuweisen,vergisst Ereignisse wie das Massaker von Sre-brenica. Vor 20 Jahre wurden dort Tausendebosnische Muslime ermordet.Derzeit richtet sich der Fokus auf den militan-ten Islamismus. Aus gutem Grund, wie nahezutäglich neue Terrormeldungen auf grauenhafteWeise belegen. Das Massaker an den Studen-ten in Kenia, der Bürgerkrieg in Syrien, die blu-tigen Konflikte im Jemen, die zunehmend unsi-chere Lage im Irak, aber auch die latent ange-spannte Situation in anderen Teilen Asiens undAfrikas: Das alles schürt in der westlichen Weltdie Sorge, fanatische Islamisten könnten wei-ter erstarken und schlimmstenfalls sogar au-ßerhalb ihres unmittelbaren EinflussbereichesUnheil anrichten. Nüchtern betrachtet bleibtdiese Gefahr schwer auszumachen, aber über-schaubar. Auch das politische Kapital, das sichaus dem angeblichen Islamismus-Importschlagen lässt, ist endlich, wie die gescheiterte„Pegida“-Bewegung belegt.Gerade in Deutschland sollte aus dem Holo-caust das Bewusstsein erwachsen sein, dassmangelndes Wissen über die Inhalte einer Re-ligion verheerende Auswirkungen haben kann.Besonders junge Menschen muss diese Bot-schaft erreichen.Jeder mag mit sich selbst ausmachen, wie diemonatelang diskutierte Frage, ob der Islam zuDeutschland gehört, zu beantworten ist. Hilf-reich wäre aber in jedem Fall eine Auseinan-dersetzung mit dieser Religion: der Besuch ei-ner Moschee, die Lektüre des Korans und des-sen Interpretationen, Gespräche mit Musli-men. Am Ende dieser Bemühungen wird dieErkenntnis stehen, dass in dem gleichen Maß,wie es ein Gebot der Menschlichkeit ist, dengewaltbereiten Islamismus zu verdammen, derIslam als Weltreligion zu akzeptieren ist. Undganz nebenbei mag sich dann auch klären,wieso ausgerechnet diejenigen, die den Islamam heftigsten kritisieren, oft dieselben sind,die den Opfern selbsterklärter Gotteskriegerdie Flüchtlingshilfe verwehren wollen.

Ich möchtenicht als

»Migrantin«bezeichnet

werden. Dennich bin nieimmigriert.

Der Beifallfür Sarrazin

hat denWeg für die

Pegida-Proteste

frei geräumt.

KOPF DER WOCHE

Eine Frau führtdas DachgremiumNurhan Soykan Sie gehört zu den muslimischenFrauen in Deutschland, die mit oder auch trotz desKopftuchs Karriere gemacht haben. Die Kölner An-

wältin Nurhan Soykanist seit 1. April als ersteFrau Sprecherin des Ko-ordinationsrats derMuslime. Der Rat ver-tritt die vier größtenmuslimischen Dachver-bände hierzulande. DieSprecher wechselnhalbjährlich unter denVereinigungen. Soykanist seit 2010 General-

sekretärin des Zentralrats der Muslime, des kleinstender Spitzenverbände. Sie wurde 1970 in der Türkeigeboren und kam mit drei Jahren mit ihrer Familie –der Vater ist Imam – nach Deutschland. Sie ficht aufvielen Ebenen für die Interessen der hiesigen Musli-me, so auch in der Deutschen Islamkonferenz. Mit25 wurde sie deutsche Staatsbürgerin, seit sie 26 ist,trägt sie als Zeichen des Glaubens das Kopftuch. AlsNurhan Soykan im März vom Karlsruher Urteil mitder Rücknahme des Kopftuchverbots für Lehrer hör-te, habe sie vor Freude geweint, sagt sie. kru T

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ZAHL DER WOCHE

2070könnte der Islam das Christentum als größte Glau-bensgemeinschaft der Welt ablösen. Zu diesemSchluss kommt das US-Institut Pew Research Center.2050 werde der Anteil der Christen bei 31,4 Prozentetwa konstant bleiben, während die Zahl der Musli-me von derzeit 23,2 auf 29,7 Prozent steigen werde.

IN DIESER WOCHE

THEMAInterview Die muslimische CDU-AbgeordneteCemile Giousouf im Gespräch Seite 2

Europa Seit eineinhalb Jahrtausend gibt esauf dem Kontinent islamische EinflüsseSeite 3

Arabischer Frühling Eine zwiespältigeBilanz nach den Aufständen Seite 8

Islamischer Staat Wie die Terrormilizihre Kämpfer rekrutiert Seite 16

KEHRSEITEAusstellung Die Geschichte des deutschenParlamentarismus im Deutschen Dom Seite 18

ZITAT DER WOCHE

»Wirmüssengeeintbleiben.«Kardinal John Njue, Erzbischof von Nairobi,in einer Predigt nach dem Massaker an mehrals 140 christlichen Studenten an der keniani-schen Universität Garissa durch Islamisten

MIT DER BEILAGE

Das ParlamentFrankfurter Societäts-Druckerei GmbH60268 Frankfurt am Main

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2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

Herausgeber Deutscher BundestagPlatz der Republik 1, 11011 Berlin

Mit der ständigen BeilageAus Politik und ZeitgeschichteISSN 0479-611 x(verantwortlich: Bundeszentralefür politische Bildung)

Anschrift der Redaktion(außer Beilage)Platz der Republik 1, 11011 BerlinTelefon (030)227-30515Telefax (030)227-36524Internet:http://www.das-parlament.deE-Mail:[email protected]

ChefredakteurJörg Biallas (jbi)

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FotosStephan Roters

Redaktionsschluss10. April 2015

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PARLAMENTARISCHES PROFIL

Die Alevitin: Ekin Deligöz

Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtszum Tragen des Kopftuches an deutschen Schulenfindet Ekin Deligöz „herausfordernd“. Lehrerin-nen, so das Gericht, dürften an staatlichen Schu-

len grundsätzlich aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen.Ein pauschales Verbot sei rechtswidrig. „Das ist kein Ja undauch kein Nein. Es macht die Debatte zu dem, was es ist: nichtzu einer juristischen, sondern zu einer gesellschaftlichen Fra-ge“, sagt die Grünen-Abgeordnete. In der Kopftuchfrage hatsich Ekin Deligöz schon 2006 nicht nur Freunde gemacht, alssie via „Bild“-Zeitung an muslimische Frauen appellierte, dasKopftuch als „Symbol der Frauenunterdrückung“ abzulegen.Heute sagt sie: „Ich wäre in der Frage gern sehr locker. Schließ-lich ist es ja eigentlich nicht wichtig, was eine Lehrerin auf demKopf trägt.“ Aber dass die Islamverbände das Urteil bejubeln,mache sie stutzig. „Mir fehlt im Moment das Vertrauen in dieVerbände“, sagt sie. Als Beleg führt sie eine Begebenheit ausihrem Wahlkreis Neu-Ulm an. „Mitten in Bayern“, so Deligöz,„haben Schüler antisemitische Parolen von sich gegeben.“ Dieshabe eine Lehrerin öffentlich gemacht. „Der örtliche Islam-Ver-ein hatte aber nichts Besseres zu tun, als die Lehrerin dafür zukritisieren, statt klarzustellen: Hier haben wir ein ernstes Pro-blem, das wir nur gemeinsam angehen können.“Integration sei schließlich keine Einbahnstraße. „Wir erwartenvom deutschen Staat zu Recht, dass er sich darauf einlässt,dass Muslime ein Teil der Gesellschaft sind. Dafür arbeite auch

ich sehr hart“, betont sie. „Dann erwarte ich aber, dass sichauch die Migranten darauf einlassen“, setzt sie hinzu. VieleMigranten machten diesen Schritt. „Ich erwarte das aber auchvon den muslimischen Verbänden“, stellt sie klar.Bei aller Kritik an Islamverbänden und Lehrerinnen mit Kopftü-chern: Eines möchte Ekin Deligöz auf gar keinen Fall: Mit Islam-kritikern wie Sarrazin oder Pegida „in einen Topf gepackt undin die Ecke gedrängt werden, nur weil ich Probleme benenne“.

Viel lieber würde sie ihre Zeit dafür aufwenden, auf die Verbän-de zuzugehen. „Stattdessen muss ich mich mit dem stumpfenNationalismus von Pegida auseinandersetzen.“ Aber auch „lei-der viel zu oft“ den Islam als Glaubensrichtung verteidigen.Nicht zuletzt angesichts der Gräueltaten der Terrorgruppe „Isla-mischer Staat“ (IS). „Die reden nicht im Namen meines Islamsund auch nicht im Namen der meisten Muslime“, macht sie

deutlich. Gewalt lasse sich weder kulturell noch religiös recht-fertigen, sagt sie.Deligöz selbst ist Alevitin und gehört damit einer liberalen Rich-tung innerhalb des Islams an. Als sie 1979 als Achtjährige nachDeutschland kam, galten Türken als Gastarbeiter, deren Integra-tion nicht gewünscht war. „Ich kam in eine türkische Schule mittürkischen Lehrern. Angesichts von nur zwei Deutschstunden proWoche war es gar nicht gewollt, dass wir die Sprache lernen. Wirwaren Gäste und sollten gefälligst auch wieder zurückgehen“,blickt die Diplom-Verwaltungswissenschaftlerin zurück.An der „Türkenschule“ habe es sogar eine räumliche Trennungvon den deutschen Schülern gegeben. „Zwischen den Pausen-bereichen stand ein Zaun“, erinnert sie sich und fordert, dieFehler von damals nicht zu wiederholen. Eine Heimat hättendie Migranten in ihrem Herkunftsland nämlich längst nichtmehr. Wenn sie diese auch in Deutschland nicht finden, sei derZuspruch zu islamischen Vereinen wenig verwunderlich.Bildung ist aus Sicht von Ekin Deligöz, die seit 1998 im Bundestagsitzt und derzeit dem Haushaltsausschuss angehört, lange Jahreaber auch Bildungs- und Familienpolitik gemacht hat, der Schlüsselzu allem. „Es ist der einzige Weg für die Migranten, den Aufstieg zuschaffen.“ Gerade in die schlechten Schulen müsse daher viel in-vestiert werden, „damit sie zu guten Schulen werden“. Hinderlichdabei ist aus ihrer Sicht das Kooperationsverbot. „Ein Land, das soauf den Fachkräftemangel hinsteuert, kann sich eigentlich so eineKleinstaaterei nicht leisten“, findet sie. Götz Hausding T

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»Mit Islamkritikern wiePegida möchte ich nicht

in eine Ecke gedrängtwerden, nur weil ichProbleme benenne.«

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Frau Giousouf, Sie wurden in Lever-kusen als Kind von Gastarbeitern gebo-ren, haben studiert und sind nun die ers-te CDU-Bundestagsabgeordnete muslimi-schen Glaubens, eine Integrationskarrie-re wie aus dem Bilderbuch.Meine Geschichte ist eine von vielen Er-folgsgeschichten, denn Deutschland ist einLand, in dem der soziale Aufstieg möglichist. Und in der so genannten Gastarbeiter-generation ist die Bildungsmotivation we-gen der Migrationserfahrung besondersgroß gewesen. Wie viele Eltern, haben auchmeine immer gesagt: Du sollst nicht amFließband arbeiten, du sollst eine bessereArbeit haben als wir. Ich persönlich habein der Schule keine Diskriminierung erlebt.Aber ich habe immer wieder erlebt, wiemeine Eltern diskriminiert wurden.

Zum Beispiel?In verschiedenen Situationen wurde desÖfteren versucht, die Situation auszunut-zen, dass sie nicht so gut Deutsch können– sei es bei Behördengängen, beim Arztoder Arbeitgeber. Ich selbst habe bei derWohnungssuche erlebt, dass ich wegenmeines Namens anders behandelt werde.

Was zieht eine gläubige Musliminzur CDU?Ich habe über viele Menschen die Brückein die CDU gefunden, bei denen ich ge-merkt habe, denen sind gleiche Dingewichtig: eine gute Familien- oder Arbeits-marktpolitik aber auch, dass Religion inder Öffentlichkeit seinen Raum hat undnicht ins Private verdrängt wird. In derCDU habe ich viele gläubige Menschenkennengelernt, die mir sehr viel näher wa-ren als solche in Parteien, wo Religioneben eher keine Rolle spielt.

Sie repräsentieren dennoch eine klei-ne Minderheit innerhalb der Unions-Fraktion. Hat das auch Vorteile?Na klar hilft dieses Alleinstellungsmerk-mal, weil ich CDU-Politik auch in dieCommunities kommunizieren kann. Aberwenn wir viele Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte für unsere Politik gewin-nen wollen, dann reicht es nicht, nur achtAbgeordnete mit Zuwanderungsgeschichtezu haben. Die Gesellschaft hat sich verän-dert und das müssen wir auch im Bundes-tag repräsentieren.

In der Öffentlichkeit werden Musli-me meistens in Opfer oder Täter katego-risiert. Können Sie verstehen, dass dieMehrheit darauf frustriert reagiert?Absolut. Wie wir über den Islam sprechen,geht komplett an den Realitäten unseresLandes vorbei. Wir reden häufig davon,dass irgendetwas gescheitert sei, weil der is-lamistische Extremismus die größte Sicher-heitsgefahr ist. Aber diese Verbindung istkomplett falsch. Dieses Land hat es ge-schafft, über Jahrzehnte unterschiedlicheGruppen von Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte auf friedliche Art zu inte-grieren. Auch die muslimische Communityist sehr heterogen, mit unterschiedlichenGlaubensgraden. Aber wir betrachten im-mer nur die Randgruppen, indem wir dieExtremisten betrachten. Wir müssen viel-mehr über die große Mehrheit sprechen –ohne die Probleme des Extremismus zu re-lativieren.

Andererseits: Tun die muslimischenVerbände genug, um sich von extremisti-schen Strömungen abzugrenzen?Ich wünsche mir, dass Muslime sich nochstärker mit dem Problem des Extremismusauseinandersetzen, Konzepte entwickelnund proaktiv auf die aktuellen Fragen rea-gieren. Sie können nicht so tun, als hättendiese Fragen nichts mit dem Islam zu tun.Andererseits werden auch viele Aktivitäteninnerhalb der Community, die sich klar ge-gen Extremismus engagieren, in der Öf-

fentlichkeit nicht registriert. Die Vernet-zung zwischen Medien und diesen neuenInitiativen muss stärker werden, damit sieauch in das politische Blickfeld geraten.

Jugendlicher Dschihadismus ist gera-de eines der Top-Themen. Kann man die-se Gefahr mit Gesetzen bekämpfen?Ich glaube auf jeden Fall, dass es hilft, dieAusreisetätigkeit stärker zu kontrollieren,das reicht aber bei weitem nicht aus. Wirhaben viele Vereinigungen, in denen Ju-gendliche kriminalisiert werden. Wir brau-

chen Sozialarbeiter, die diese Jugendlichenfrühzeitig abfangen. Wir müssen in denGefängnissen verhindern, dass dort Inhaf-tierte radikalisiert werden. Wir müssen inden Schulen aufklären und wir müssen dieLehrer unterstützen, weil sie häufig völligohnmächtig diesem Problem gegenüber-stehen und wir müssen unsere Imame, diejetzt an Hochschulen ausgebildet werden,in ihrer Rolle stärken, in den Gemeindenaktiv werden zu können. In all diesenPunkten stehen wir ganz am Anfang undhaben bislang keine guten Strukturen.

Finden Sie es problematisch, dass Ima-me aus anderen Ländern nach Deutschlandentsandt werden, um hier zu predigen?Historisch gesehen hatte das zunächst seineBerechtigung, weil sich am Anfang niemandum die Muslime hier gekümmert hat. Unddie bisherige Gemeindearbeit ist als Boll-werk gegen Radikalisierung anzuerkennen.Langfristig ist es aber wichtig, dass Imame,die Deutsch sprechen, hier Religion vermit-teln und dass nicht die Türkei mit am Tischsitzt, wenn über muslimisches Leben inDeutschland verhandelt wird.

Als Angela Merkel Anfang des Jahresden Satz, der Islam gehöre zu Deutsch-land, bejahte, ging ein großer Aufschreidurch Ihre Partei. Was reizt Ihre Partei-freunde so daran?Die Kernaussage des Satzes, dass die Musli-me, die Ja zum Grundgesetz und zum Le-ben in Deutschland sagen, auch zuDeutschland gehören, ist gar nicht umstrit-ten. Ich glaube vielmehr, dass die Fragewar, ob damit auch Extremisten zu unserenReihen gehören. Aber das will auch dieMehrheit der Muslime nicht.

Die Debatte um die Verortung des Is-lams hat wieder an Fahrt gewonnen. Wiebeurteilen Sie das jüngste Urteil des Bun-desverfassungsgerichts, dass ein pauscha-les Verbot von Kopftüchern an Schulengrundgesetzwidrig ist?Wir müssen jetzt einen dialogischen Pro-zess in den Ländern starten, mit Lehrern,Schülern und Eltern. Wir müssen heraus-finden, ob die Vermutung stimmt, dass nurdurch das Tragen eines Kopftuches ein be-stimmter Einfluss auf die Kinder ausgeübtwird. Bislang fehlt da jeglicher Beleg. Oderob es nicht eher so ist, dass da eine gesell-schaftliche Realität in die Klassenzimmergetragen wird, mit der die Schüler wenigerProbleme haben als häufig die Eltern, dievielleicht in einer anderen Generation auf-gewachsen sind. Diese Prozesse müssen wirmiteinander aushandeln. Das können wir.Das haben wir auch als Land immer wie-der bewiesen und ich bin optimistisch,dass wir das auch schaffen werden.

Wie bewerten Sie in diesem Zusam-menhang den Vorschlag der SPD nach ei-nem neuen Einwanderungsgesetz?Die CDU hat in den letzten Jahren entschie-den die Integrationspolitik in diesem Landgestaltet. Aber wir stellen einfach fest, dassdie bürokratischen Hürden bei der Umset-zung vieler Gesetze sehr hoch sind. Wir krie-gen nicht die Fachkräfte, die wir weiterhinbrauchen. Die Willkommenskultur ist inunseren Behörden ausbaufähig und vonChancengleichheit im Bildungssystem kön-nen wir auch noch nicht sprechen. DieKriegsflüchtlinge, die zu uns kommen undauch hier bleiben werden, müssen wir gutund schnell in unsere Gesellschaft integrie-ren. Ob es am Ende Einwanderungsgesetzheißen muss, darüber diskutieren wir gera-de. Aber wir brauchen auf jeden Fall eineDiskussion, wie wir die Zukunft der Integra-tionspolitik weiter gestalten.

Das Gespräch führteClaudia Heine.

Cemile Giousouf ist seit 2013Bundestagsabgeordnete und

Integrationsbeauftragte der Union.Die Tochter türkischstämmiger

Eltern aus Griechenland ist Vor-sitzende des LandesnetzwerkesIntegration der CDU Nordrhein-

Westfalen.

© picture-alliance/dpa

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»An derRealitätvorbei«CEMILE GIOUSOUF Die Debatteüber den Islam wird der Mehrheitder Muslime nicht gerecht, findetdie CDU-Abgeordnete

GASTKOMMENTAREKOPFTUCH IN SCHULEN?

Wie Kreuz und KippaPRO Der Islam gehört zu Deutschland. Nun ist

der Satz des früheren BundespräsidentChristian Wulff auch in Karlsruhe ange-kommen. Mehr als zehn Jahre nach sei-

nem ersten „Kopftuch-Urteil“ hat das Bundesver-fassungsgericht die Linie seiner Rechtsprechungkorrigiert. Wenn religiöse Symbole in Schulen er-laubt sind, dann gilt das nicht nur für das christli-che Kreuz und die jüdische Kippa. Auch das Kopf-tuch gehört zu Deutschland.Zehn Bundesländer müssen nun ihre Bestimmun-gen für die Schulen, zum Teil für den gesamten öf-fentlichen Dienst revidieren. Die Richter haben in-des nur den generellen Ausschluss des Kopftuchsuntersagt. Ausnahmen sind erlaubt. Heftige De-batten stehen bevor, wann ein Kopftuch oder an-deres religiöses Symbol das Zusammenleben in ei-ner Schule oder Behörde stört. Tonlage und Ergeb-nis werden Aufschluss darüber geben, wie es stehtmit Anerkennung und Toleranz in diesem Land.Die Diskussion, die seit dem Urteil geführt wird,greift jedenfalls zu kurz. Es geht gerade nicht da-rum, ob die Entscheidung „pro Tuch“ die falschen,die dogmatischen Kräfte im Islam stärkt. Denn dieRichter haben nicht nur über die Verhüllung desKopfes weiblicher Amtspersonen entschieden. Siehaben auch die Vorschrift im nordrhein-westfäli-schen Schulgesetz gekippt, nach der christlicheWerte und Traditionen bevorzugt werden sollen.Was heißt das für den üblichen christlichen Religi-onsunterricht? Welche Folgen hat das für unsereSchulbücher? Darüber müssen wir reden: Christenmit Muslimen, Juden und Vertretern anderer Reli-gionsgemeinschaften, aber auch die Christen un-tereinander. Und dabei eins bitte nicht vergessen:Unsere Gesellschaft ist längst nicht so christlich,wie sie vorgibt, wenn es um den Islam geht.

Thomas KröterDumont-Hauptstadredaktion

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Das Urteil spaltetCONTRA Wer sich Fotografien aus den 1970er

Jahren anschaut, aufgenommen inMetropolen der islamischen Welt, inTeheran, Bagdad, Kairo, Istanbul,

wird nur wenige verschleierte Frauen auf den Stra-ßen entdecken. Das hat sich grundlegend verän-dert, auch in Deutschland. War das Kopftuch langevor allem Symbol des politischen Islams, der Un-terwerfung unter Regeln der Geschlechtertren-nung, soll es jetzt herhalten für außerordentlicheToleranz. Das ist grotesk. Denn was immer die Klä-gerinnen bewegte, für diese auch im Islam um-strittene „religiöse Bedeckungsregel“ zu kämpfen,wichtig ist das Signal, das sie aussenden. Sie beto-nen ihre kulturelle Differenz, demonstrieren An-derssein. Der Beschluss zielt auf unser Selbstver-ständnis von der Gleichheit der Geschlechter, vonSittlichkeit, die nicht zur Schau gestellt werdenmuss, die weder Männern noch Jungen unterstellt,sie sähen in Frauen Objekte ihrer Begierde. Vor al-lem aber polarisiert er gerade dort, wo für die In-tegration Millionen Euro ausgeben werden: im be-kenntnisfreien Schutzraum Schule.Er macht es muslimischen Mädchen noch schwe-rer, frei über ihre Lebensart zu entscheiden. Er be-dient die Vorurteile erzkonservativer Patriarchen,die säkulare Lehrerinnen beargwöhnen, wenn siedafür eintreten, dass auch muslimische Töchter anKlassenfahrten teilnehmen. Und er setzt alle Kin-der diesem Diktat aus. Der Beschluss greift alsoauch in das Erziehungsrecht von Eltern ein, die re-ligiöse Demonstrationen dieser Art missbilligen.Wer kann, wird seine Kinder von solchen Schulennehmen. Die Spaltung unserer Gesellschaft indie einen und die offensichtlich anderen wird zu-nehmen.

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Kontakt: [email protected]

Regina Mönch„Frankfurter AllgemeineZeitung“

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Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 3

Doppelter GeburtshelferMITTELALTER Der Islam gehört zur Geschichte Europas und hat dessen Kultur tiefgreifende Impulse verliehen

Als Herodot im 5. Jahrhun-dert vor Christus die be-wohnten Teile der Erde be-schreiben wollte, verzwei-felte er an seinen geringenKenntnissen über Europa,

den dritten der Kontinente. Aus der Per-spektive eines Griechen ge-sehen, blieb ihm vor allemder europäische Westenunbestimmt, man wissenicht einmal, ob die Land-masse im Osten oder Nor-den vom Wasser umflos-sen sei. Rund zweitausendJahre später berichtete einanderer Grieche von einerReise durch die nordi-schen Länder und be-schrieb Preußen und Nor-wegen, Schweden, Livland,das Slawenland mit Lü-beck, Dänemark, Islandund England. Tatsächlich hatte es fast ge-nau diesen langen Zeitraum gedauert, dassEuropa im Ganzen entdeckt und durch-drungen war, eine Leistung vor allem desMittelalters. Entscheidend war, dass sichvon Süden nach Norden die Kirche undnach dem Vorbild Kaiser Konstantins desGroßen das christliche Königtum verbrei-tet hatte.Die Konzentration Europas auf sich selbsthatten freilich fremde Eroberer erzwun-gen, Muslime, die schon seit den erstenJahrzehnten nach dem Tod des Prophetendie Einheit der Mittelmeerwelt zerstörtenund sich, abgesehen von Nordafrika undKleinasien, auch in Spanien (seit 711), Si-zilien (902) und an der Wolga (um 921)festsetzten. Als sie in späteren Jahrhunder-ten wieder vertrieben waren, hatten andereihrer Glaubensbrüder im Osten, besondersauf dem Balkan, neue Herrschaften errich-tet und vor allem das Kaiserreich von By-zanz ausgelöscht. Der Islam gehörte alsoseit seinen Anfängen stets zur GeschichteEuropas und hat, ohne ins Herz des Konti-nents vorzustoßen, dessen Kultur tiefgrei-fende Impulse verliehen.Ohne den Ausgriff der Araber auch im Os-ten nach Asien hinein wäre dies freilichunmöglich gewesen. Mit dem „islami-schen Reich“ war eine riesige Zone für die

Verbreitung von Gütern, Ideen und Tech-niken entstanden, die von China und In-dien bis nach England reichte. Die Begeg-nung von Völkern, Kulturen und Religio-nen, nicht zuletzt des Islams mit Christen-tum und Judentum, haben Innovationenund Erfindungen von höchst nachhaltiger

Wirkung angeregt.Agrarische Gesellschaftenprofitieren dabei zunächstdurch Verbreitung neuerKulturpflanzen. So habendie Araber dem Westen ausIndien Reis, Zuckerrohr, Zi-trusfrüchte und Baumwol-le, aus Persien Auberginenund Artischocken, wohlauch den Spinat, vermittelt.Was in Monsungebietenüppig gedeiht, muss an-derswo künstlich bewässertwerden, so dass die neuenPflanzen auch zur techno-

logischen Übernahme beitrugen. Im mus-limischen Spanien setzte sich die syrischeIrrigation so erfolgreich durch, dass mangeradezu von einer „Schöpfradrevolution“spricht. Die Steigerung der landwirtschaft-lichen Produktivität verschaffte Handelund Städtewesen Aufschwung und Wohl-stand.

Verbreitung des Papiers Viel einschnei-dender noch als die Bereicherung des Spei-sezettels war die Verbreitung des Papiers,das wiederum die Araber durch ihre krie-gerischen Begegnungen mit den Chinesenim 7. Jahrhundert kennengelernt und imKalifat von Bagdad auf Kosten des Papyruseingeführt hatten. In Europa verdrängte esdas Pergament, das für eine Massenpro-duktion von Schriftgut viel zu teuer war.Zusammen mit den Pflanzen und denTechnologien hatte die Araber selbst ausAsien ein Strom wissenschaftlicher Litera-tur erreicht. Chinesische Werke warenzwar nicht darunter, dafür aber die reicheÜberlieferung Indiens und Persiens, wäh-rend die Eroberung byzantinischer Städteund Klöster den Muslimen auch Zugangzur antiken Naturwissenschaft und Philo-sophie der Griechen verschaffte. Angerei-chert durch die Kommentare und Ergän-zungen der Araber floss das gelehrte Wis-

sen aus dem Orient bis zum hohen Mittel-alter auch Unteritalien und Spanien zu,wo es adaptiert und weiter bearbeitet wur-de. Im Osten wie im Westen entstandenregelrechte Übersetzerkreise, die die ur-sprünglich fremdsprachigen Abhandlun-gen den neuen Lesern im Arabischen, Kas-tilischen/Katalanischen und Lateinischenbesser zugänglich machten. In Bagdad re-zipierten muslimische Gelehrte beispiels-weise im frühen 9. Jahrhundert die indi-sche Mathematik einschließlich der indi-schen – später arabisch genannten – Zah-len. In der Philosophie waren sie sogründlich, dass sie im 10. Jahrhundert denganzen Aristoteles übersetzten und vonPlaton einige Dialoge in arabischer Spra-che hatten. Von den Medizinern Hippo-krates und Galen erstrebten sie erschöp-fende Textcorpora in ihrer eigenen Spra-che, in den Naturwissenschaften schätztensie Euklid, Archimedes und Ptolemaios.Wiederum ging die Aneignung antiker Tex-te mit der Abfassung eigener Traktate ein-her.

Mobile Gelehrte Spätestens in der Mittedes 11. Jahrhunderts ging das „goldeneZeitalter“ der islamischen Kultur in Bag-dad zu Ende. Zur gleichen Zeit hatten dievon Arabern übersetzten, kommentiertenund selbstständig fortentwickelten Lehren

griechischer und fernöstlicher Gelehrsam-keit das Interesse der westeuropäischenGelehrten geweckt. Im muslimischen Spa-nien bildeten die Fremdgläubigen Schulenaus, die sich auf bestimmte Fächer oderGebiete konzentrierten. (siehe auch Bei-trag unten) Im Allgemeinen betätigtensich die Gelehrten zugleich als Philoso-phen, Theologen, Naturwissenschaftlerund sogar Poeten. Unerfüllter Erkenntnis-trieb machte sie auch mobil, so dass sie„aus Liebe zur Wissenschaft“ in den Ori-ent reisten und dabei bis zum mongoli-schen Observatorium in Aserbaidschanvorstießen. Andererseits verbreitete sichder Ruhm der arabischen Wissenschaftenin Spanien bis nach England. Junge Schü-ler zogen beispielsweise, um „die Studiender Araber zu durchdringen“, nach Südeu-ropa und von dort weiter bis nach Antio-chien in Syrien. So kamen sie mit der mo-dernen Mathematik in Berührung, über-setzten erstmals die „Elemente“ des anti-ken Euklid vollständig vom Arabischen insLateinische oder verfassten eigene Ab-handlungen wie zum Beispiel über diemathematisch-astronomischen GeräteAbakus und Astrolab.So wenig über den Lebensweg der Wiss-begierigen meistens bekannt ist, lässtsich erkennen, dass sie im Übrigen ausvielen Ländern des westlichen Europas

kamen, darunter wohl auch aus demrömisch-deutschen Reich. Ähnlich wiein Spanien förderten auch in Sizilienchristliche Herren, wie der NormanneRoger II. oder der Staufer Friedrich II.,die Wissenschaft. Pilger nach Santiagode Compostela oder nach Rom undsonstige Reisende verbreiteten denRuhm der neuen Wissen-schaft und die Kenntnisder latinisierten Schriftender Griechen und Araberim ganzen Westen. Be-sonders in den französi-schen Kathedralschulen,die ihrerseits Studierendeauch aus Deutschlandanzogen, blühte die Ge-lehrsamkeit auf. In Char-tres beispielsweise konn-ten die lateinischenDichter und Schriftstellerder Antike ebenso stu-diert werden wie die griechisch-römi-schen Philosophen und Naturwissen-schaftler.

Die verschlossene Universität Nicht zu-letzt erregten aber die muslimischen Au-toren selbst Aufmerksamkeit, denn dieAraber galten als „die Philosophen“schlechthin. Avicenna, Arzt, Physiker,

Philosoph, Jurist, Mathematiker, Astro-nom und Alchemist aus Persien, standals Autorität neben Aristoteles. Indemsie den Lateinern eine völlig neueGrundlage der Wissenschaft zugänglichmachten, wurden die Araber nach ihrenmilitärischen Eroberungen auf wissen-schaftlichem Gebiet im hohen Mittelal-

ter zum zweiten Mal zuGeburtshelfern Europas.Der Ort, an dem die Wis-senschaft jetzt zur Entfal-tung kommen sollte, warfreilich eine rein lateini-sche Einrichtung: dieUniversität. Ob in Paris,Bologna oder in Oxford,wurden hier jedoch Mus-lime und Juden fast voll-ständig ausgeschlossen.Das gemeinsame Bemü-hen von Angehörigendreier Religionen um das

rechte Verständnis der alten griechischenund neuen arabischen Texte im 12. oderauch im 13. Jahrhundert hatte keinetranskulturelle Arbeitsform von Dauerbegründet. Michael Borgolte T

Der Autor ist Professor für die Geschichtedes Mittelalters an der Humboldt-

Universität zu Berlin.

Spuren islamischer Herrschaft zeigen sich noch heuteGESCHICHTE Jahrhunderte muslimischer Vergangenheit prägten die iberische Halbinsel ebenso wie den Balkan

Die Geschichte des Islam in Europa ist mitSpanien, arabisch Al-Andalus, und dem Os-manischen Reich verknüpft. Die IberischeHalbinsel war acht Jahrhunderte lang fastganz oder in Teilen „maurisch“, bevor diechristliche Reconquista 1492 mit dem Siegder beiden katholischen Majestäten Ferdi-nand und Isabella über Boabdil, den letztenHerrscher Granadas, vollendet wurde; unddie türkischen Sultane herrschten fast 600Jahre lang, bis 1912, über den größten Teilder Balkanhalbinsel. Bis heute zeigt Spanienarchitektonische und kulturelle Spuren die-ser muslimischen Vergangenheit, bis hineinin die Sprache, Mentalität und Denkweiseder Bevölkerung. Ähnliches gilt für die Völ-ker des Balkans, die zum großen Teil christ-lichen Konfessionen angehören.Man versteht, dass die Muslime diese Epo-chen in der Rückschau anders bewerten alsihre vormals christlichen „Untertanen“.Während die Balkanvölker diese Epoche bisheute als „Türkenjoch“ (Turkokratia) ver-dammen, weisen die Türken auf das hoheMaß an Selbständigkeit hin, das der osmani-sche Staat den christlichen und jüdischenUntertanen gewährte. In Spanien galt es lan-ge Zeit als ausgemacht, dass die moderneNation sich im Widerstand gegen die musli-mische Herrschaft herausgebildet habe; die-se Theorie vertrat vor allem der HistorikerSanchez-Albornoz. Heute ist das Urteil dif-ferenzierter: Nicht zuletzt dank den Arbeitenvon Americo Castro sieht man jetzt Spanienals eine Synthese iberisch-christlicher undmuslimischer Elemente, die hier und daauch zu Bewunderung Anlass gibt, insbeson-dere in Andalusien, dem südlichsten Lan-

desteil, der am längsten von den „Moros“geprägt wurde.Die Frage, wie tolerant der Islam in Spanienund im Osmanischen Reich war, ist nur diffe-renziert zu beantworten. Das islamischeRecht sieht in Juden und Christen verwandteMonotheisten und bezeichnet sie als „Leutedes Buches“ (ahl al-kitab), das heißt Besitzereiner heiligen Schrift. Judentum und Chris-tentum gelten als Vorläuferreligionen des Is-lams, ihre Anhänger als „Schutzbefohlene“(ahl al-dhimma). Gegen Zahlung einer Kopf-steuer waren sie vom Kriegsdienst befreit undkonnten ihren Ritus pflegen, ihre religiösenOberhäupter bestimmen und viele rechtlicheAngelegenheiten selbst regeln. Dennoch wa-ren sie nie mit den Muslimen gleichberech-tigt, da sie einer Reihe von Nachteilen unddiskriminierenden Bestimmungen in der Öf-fentlichkeit unterworfen blieben.Insbesondere unter der glanzvollen Herr-schaft der Omajjaden im 9. und 10. Jahrhun-dert kam es in Andalus zu jener „Conviven-cia“ der drei Buchreligionen, die manchenbis heute Bewunderung abnötigt. Jüdischeund christliche Gelehrte oder Dichter wettei-ferten mit Muslimen, die arabische Sprachewar ihr gemeinsames Verständigungsmittel.Ideal freilich waren die Verhältnisse zu kei-ner Zeit. Nach 1031, als die zentrale Machtin Kleinfürstentümer zersplitterte, kam es zuPogromen, und auch unter den späten anda-lusischen Dynastien, die dem Druck der Re-conquista ausgesetzt waren, beendete derFundamentalismus etwa der Almohaden dieconvivencia. So musste der jüdische Philo-soph Maimonides, geboren zu Córdoba,Spanien verlassen; er ging nach Ägypten.

Im Osmanischen Reich wurde das Systemder Schutzbefohlenen perfektioniert. Dassogenannte Millet-System gestand den re-ligiösen Minderheitwen eine recht großeAutonomie zu; sie konnte so weit gehenwie im Fall der Phanarioten, der Griechenaus dem Istanbuler Phanar-Viertel, die imNamen des Sultans die Donaufürstentü-mer verwalteten. In der Meritokratie diesesStaates konnten fähige Leute aller Ethnienalles werden, sofern sie zum Islam über-traten. Doch auch wenn sie bei ihremGlauben blieben, war ihr Leben in der Re-gel leichter als etwa das der Juden imchristlichen Europa. So spricht es Bände,dass die Juden nach dem Fall Granadas

nicht in das christlich beherrschte Spanienübersiedelten, sondern in das OsmanischeReich. Dort konnten sie blühende Gemein-den bilden, etwa in Saloniki. Vor allemchristliche Armenier und Griechen bildetendas wirtschaftliche Rückgrat des Imperiums,während Muslime die Geistlichen, Soldatenund Beamten stellten. Als das riesige Reichschwächelte, als die „orientalische Frage“nach dem erfolgreichen Aufstand der Grie-chen (1821-1830) immer drängender wur-de und die westlichen Mächte das Reich indie Zange nahmen, gerieten die Minderhei-ten stärker unter Druck, kam es zu Katastro-phen. In diesem Jahr jähren sich die Massa-ker des jungtürkischen Regimes an den Ar-meniern zum 100. Mal.Muslime leben auch heute auf dem Bal-kan. Während in Bosnien-Herzegowinaein durchaus selbstbewusster „Euro-Is-lam“ im Aufwind ist, sind die albani-schen Muslime in Albanien, im Kosovooder in Mazedonien eher lax in ihrer re-ligiösen Ausrichtung. Auch die bulgari-schen Muslime und die türkische Min-derheit im griechischen Thrakien sindRelikte der osmanischen Geschichte.

Wolfgang Günter Lerch T

Der Autor lebt als freier Journalist undOrientalist in Neu-Isenburg.

Den Reis brachten die Araber aus Indien nach Europa. © picture-alliance/Robert Harding

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Kleinod islamischen Erbes: der Löwenhofder Alhambra im spanischen Granada

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Im zehntenJahrhundertübersetztenmuslimische

Gelehrteden ganzenAristoteles.

Der Ruhmder arabischen

Wissen-schaftenreichte

bis nachEngland.

Ob die Verbreitung von Papier oder medizinischen Erkenntnissen – in beidem profitierte Europa von arabischen Einflüssen. Auf einer Malerei aus dem 15. Jahrhundert ist der bedeutende islamische Gelehrte Avicenna (2. von rechts) zu sehen. © picture-alliance/akg-images/Westend61

4 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

Mit der Flucht des Propheten nach Medina (rechts) begann 622 die islamische Zeitrechnung. Einige Jahre und mehrere Feldzüge später kehrte Mohammed in seine Geburtsstadt Mekka zurück. Die dort stehende Kaaba (links)ist das zentrale Heiligtum des Islams. © picture-alliance/dpa/AFP Creative

Die fünf Säulendes IslamsDer Islam, seine Bräuche, Riten und Tradi-tionen sind bunt und vielfältig. Doch diesogenannten fünf Säulen des Islams sindein Grundkonsens. Sie zu achten, ist einePflicht für alle gläubigen Muslime.

Das Glaubensbekenntnis („Shahada“) istzentraler Ausdruck des Glaubens. Mit derFormel „la illaha illa Allah“ (Es gibt keinenGott außer Gott) und „Muhammad rasulAllah“ (Mohammed ist der Prophet Got-tes) bekennen sich die Gläubigen zum Is-lam.

Das Gebet („Salat“) gehört ebenfalls zuden Pflichten der Gläubigen. Nach islami-scher Tradition soll jeder volljährige Mus-lim fünfmal am Tag zu bestimmten Zeitenbeten. Die Gebetsrichtung ist dabei dieKaaba in Mekka. Insbesondere das Mittags-gebet am Freitag ist von besonderer Bedeu-tung, da hier auch eine Predigt vorgesehenist.

Beim Fasten („Saum“) während des Mo-nats Ramadan verzichten die Gläubigenauf Nahrungs- und Genussmittel zwischenMorgendämmerung und Sonnenunter-gang. Ausnahmen sind für Schwangere,Kranke und Kinder gestattet.

Die Almosenabgabe („Zakat“) sieht vor,dass die Gläubigen einen Teil ihres Besitzesfür bedürftige Menschen aufgeben. Inmanchen islamischen Staaten wird Zakatwie eine tatsächliche Steuer behandelt, an-derswo gilt das Freiwilligkeitsprinzip.

Die Pilgerfahrt („Haddsch“) soll ein Mus-lim einmal im Leben absolvieren. Ziel sinddabei die heiligen Stätten in Mekka in Sau-di-Arabien. scr T

ANFÄNGE DES ISLAMS

Die islamische Geschichte ist langund vielschichtig, daher hier nur ei-ne kurze Übersicht der wichtigstenStationen der Frühgeschichte.

Zu Mohammeds Lebzeiten

Zirka 570 Mohammed wird in Mekkageboren.Zirka 609 Mohammed hat Visionen dergöttlichen Offenbarung622 Mohammed und seine Anhängerziehen aus nach Medina. Die islamischeZeitrechnung beginnt.623-630 Diverse Feldzüge gegen Mek-ka, schließlich wird Mekka an Moham-med übergeben.632 Mohammed stirbt in Medina undhinterlässt eine Tochter, Fatima.

Die vier Kalifen

632-661 Nach dem Tod des Prophetenbeginnt die sogenannte Ära der rechts-geleiteten Kalifen: Abu Bakr (632-634),Umar ibn al-Chattab (634-644), Uthmanibn Affan (644-656) und Ali ibn Abi Talib(656-661).635 Arabische Heere erobern Damaskus638 ... und Jerusalem642 ... und Alexandria.651 Erste Welle der Expansion ebbt ab.

Spaltung

656 Kamel-Schlacht zwischen Kalif AlisTruppen und Muawiyas, Spaltung derGemeinde setzt ein (siehe Text unten).660 Muawiya ruft in Damaskus ein Ge-gen-Kalifat aus.661 Ali wird ermordet.

Umayyaden

661-750 Das von Muawiya begründeteKalifat der Umayyaden regiert über diearabische Welt. Die Dynastie stellt in Da-maskus insgesamt 14 Kalifen.679 Frieden mit dem OströmischenReich, nach Feldzügen gen Kleinasienund Konstantinopel.680 Schlacht von Kerbela, innerislami-sche Auseinandersetzungen dauern biszirka 692 an.705-715 Unter dem Reigen von Al-Wa-lid I. beginnt eine zweite Phase der Ex-pansion. Muslime erobern die iberischeHalbinsel und stoßen bis nach Indienvor.

Abbasiden

750 Die Abbasiden vertreiben dieUmayyaden. Sie regieren bis 1258, Bag-dad wird zum neuen Zentrum des Rei-ches. Nachfolger der Umayyaden errich-ten zunächst das Emirat von Córdoba(756-929), dann das Kalifat von Córdoba(929-1031). scr T

Von Kamel-Schlachten und BüßernVIELFÄLTIGE GRUPPEN Der Trennung von Schiiten und Sunniten ging eine politische Auseinandersetzung voraus

Üblicherweise werden Muslime in Schiitenund Sunniten eingeteilt. Sunniten, so weißman, repräsentieren den Mehrheits-Islam,während Schiiten etwa zwölf Prozent allerMuslime ausmachen. Eine solche bipolareEinteilung ist allerdings stark vereinfa-chend. Als Analysekategorie ist sie nur vongeringem Wert. Das gilt nicht nur für diepolitischen Ereignisse unserer Tage im Irakoder im Jemen, sondern spiegelt sich auchin historischen Entwicklungen wider.Betrachtet man die Geschichte islamisch-geprägter Gesellschaften, so muss sie als ei-ne Geschichte zahlreicher, zum Teil mitei-nander konkurrierender politischer, theo-logischer oder ethnischer Gruppen angese-hen werden. Selbst eine zeitweise dominie-rende Stellung einer Gruppe in den Berei-chen Herrschaft oder Religion führte niezur vollständigen Verdrängung oder Ein-gliederung anderer Gruppen.Vor diesem Hintergrund ist auch die Ent-wicklung schiitischer Gruppen zu sehen.Die Schiat Ali, wörtlich: die Partei Alis,wird zum ersten Mal in historischen Quel-len im Zusammenhang mit dem politi-schen Konflikt um die Nachfolge Uthmans(reg. 644-656) erwähnt, der die muslimi-sche Gemeinde nach Mohammeds Tod alsdritter Kalif geführt hat. Die „Partei Alis“unterstützte die Kandidatur Ali ibn Abi Ta-libs, des Cousin und Schwiegersohn Mo-

hammeds, während andere Gruppen fürandere Kandidaten eintraten. Ali und seineAnhänger, deren Hausmacht im Südirakwar, besiegten eine konkurrierende Gruppein der sogenannten Kamel-Schlacht, unter-warfen sich aber später einem Schiedsge-richtsverfahren. Das Gericht entschied zu-gunsten von Alis Kontrahenten Muawiya.Ali, der das Urteil nicht anerkannte, wurdewenig später ermordet. Seine Anhänger ga-ben ihren politischen Kampf jedoch nichtauf und hoben etwa drei Jahrzehnte späterAlis zweitältesten Sohn, al-Husain, als neu-en politischen Führer auf den Schild. Als

dieser sich 680 von Medina auf den Wegzu seinen Anhängern in den Südirakmachte, wurde er auf Befehl vom amtieren-den Umayyaden-Kalifen Yazid bei Kerbelaangegriffen und, ohne dass ihm einer sei-ner Anhänger zu Hilfe kam, getötet.

Unterschiede Zu diesem Zeitpunkt be-standen noch keine theologischen Unter-schiede zwischen den Konfliktparteien.Das sollte sich jedoch nach dem Tode al-Husains ändern. Denn im südirakischenKufa bildete sich unter den Anhängern al-Husains eine Gruppe heraus, die sich „dieBüßer“ nannten. Diese Leute wollten ihrVersagen, al-Husain nicht zu Hilfe gekom-men zu sein, dadurch büßen, dass sie sichim Kampf opferten. Eine kleine Gruppe„der Büßer“ zog ohne weitere politischeZiele 684 aus Kufa Richtung Norden undwurde von den dort stationierten Truppendes Umayyaden-Kalifen niedergemetzelt.So entstand neben anderen sich langsamherausbildenden religiösen (später als sun-nitisch bezeichneten) Gruppen in Medinaund Damaskus eine religiöse Bewegung inKufa, welche die Keimzelle zahlreicher spä-terer schiitischer Gruppen bildete.Diese schiitischen Gruppen waren sich da-rüber uneinig, welchen Grad des politi-schen Aktivismus sie an den Tag legen undwer der richtige politisch-religiöse Führer

nach al-Husain sein sollte. Ein Enkel al-Husains namens Zaid beispielsweise ent-schied sich 740 für den Kampf. Obwohl erdabei zu Tode kam, etablierten sich seineAnhänger als eigenständige schiitischeGruppe im Jemen, die sogenannten Zai-diyya, mit eigenen politischen und theolo-gischen Vorstellungen.Dschafar as-Sadiq, ein Ur-Enkel al-Hu-sains, hingegen versagte sich politischenBestrebungen und beschäftigte sich in Me-dina zusammen mit Gelehrten, an denensich spätere sunnitische Gruppen orientier-ten, mit Überlieferungen über den Prophe-ten Muhammad und mit Fragen des isla-mischen Rechts. Dschafars Rechtsauffas-sungen wurden von zeitgenössischen undspäteren Anhänger als schiitisch rezipiert.Der politische Zerfall des (sunnitischen)Reiches der abbasidischen Kalifen ermög-lichte die Entstehung zweier schiitischerGruppen mit eigenen theologischen undpolitischen Vorstellungen, die sich auf diebeiden Söhne Dschafars, Ismail und Musa,zurückführten. Aus der Gruppe um Ismailgingen die sogenannten Ismailiten hervor,die ab dem 10. Jahrhundert über weite Tei-le Nordafrikas und Ägyptens herrschten.Aus den Anhängern Musas entwickeltensich die späteren Zwölfer-Schiiten, diezahlreiche Gemeinden im Irak und ab dem16. Jahrhundert auch in Iran hatten, wo sie

sunnitische Gruppen nach und nach ver-drängten. Die zwölfer-schiitischen Gelehr-ten entwickelten in Bagdad beziehungswei-se in Hilla ihre zentralen theologischenPositionen, etwa den Imam- beziehungs-weise Mahdi-Glauben, die Stellvertreter-schaft der Gelehrten und die nicht zu hin-terfragende Befolgung der Gelehrtenmei-nungen durch die Gläubigen. Sie waren esauch, die (spätestens) im 10. Jahrhundertdie Bußprozessionen und die Passionsspie-le in Erinnerung an al-Husain eingeführthatten. Diese Prozesse geschahen parallelzu denjenigen der sich entwickelnden sun-nitischen Gruppen.Das bedeutet, dass sich die Trennung zwi-schen schiitischen und sunnitischen Grup-pen zwar an einem politischen Ereignisentzündet hat, deren Ausdifferenzierungde facto aber einen Prozess darstellt, dermehrere Jahrhunderte angedauert hat. Die-se Gruppen stellten somit nie die heute sogern zitierten Einheiten „Schiiten“ bezie-hungsweise „Sunniten“ dar, sondern zerfie-len immer in verschiedene Gruppierungen,die miteinander sowohl im Austausch alsauch im Konflikt standen. Jens Scheiner T

Der Autor ist Islamwissenschaftler und His-toriker und am Courant Forschungs-

zentrum EDRIS der Universität Göttingenals Juniorprofessor beschäftigt.

Blutiges Spektakel: Schiitische Passions-prozession in Bahrain 2012

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Der Zufall half mitISLAMISCHE FRÜHGESCHICHTE Von Mekka nach Medina, wieder zurück und dann raus in die Welt

Eine solche Expansion hatte esin der Geschichte bisher sonicht gegeben. Innerhalb vonrund 100 Jahren nach demTod des Propheten Moham-med um das Jahr 632 hatte

der von ihm verkündete Islam sein Herr-schaftsgebiet massiv ausgeweitet (sieheLeiste links oben). Ausgehend vom heuti-gen Saudi-Arabien war es den arabischenArmeen gelungen, im Osten bis nach In-dien und im Westen bis auf die IberischeHalbinsel vorzustoßen. Was sich im Nach-hinein als eine Erfolgsgeschichte liest, istjedoch zu einem beträchtlichen Teil diver-sen Zufällen der Geschichte geschuldet.Als Mohammed zu Anfang des 7. Jahrhun-derts in Mekka als Prophet auftrat und sei-ne Mitmenschen zur Umkehr und zumGlauben an den einen Gott aufrief, deutetezunächst wenig darauf hin, dass diese Bot-schaft auf fruchtbaren Boden fallen würde.Seine Stammesgenossen, die im Wesentli-chen die Bevölkerung Mekkas im heutigenSaudi-Arabien ausmachten, hörten seineBotschaft zwar zunächst mit Interesse undNeugier; einige wenige schlossen sich ihmauch an. Als Mohammed jedoch begann,sich gegen die althergebrachten Stammes-götter und -sitten zu wenden, brachen siemit ihm. Er und seine Anhänger wurdenisoliert. Aus Stammesräson war das nach-vollziehbar: Der Stamm profitierte von derPilgerfahrt zum lokalen Heiligtum, der Ka-aba, die damals noch eng mit den altenStammesgöttern verbunden war. Mit den

Verkündigungen Mohammeds drohten da-her Ansehen und Einnahmequellen desStammes empfindlich zu leiden.

Flucht aus Mekka Diese Opposition wur-de gefährlich für Mohammed und seineAnhänger. Sie flüchteten nach Medina –ein entscheidender Wendepunkt in der Ge-schichte des Islams, der den Beginn der is-lamischen Zeitrechnung markiert. DieRahmenbedingungen in Medina unter-schieden sich fundamental von der Situati-on in Mekka. Medina war von mehrerenStämmen bevölkert, von denen sich einigein einem anhaltenden Konflikt befanden.Zudem gab es in der Stadt eine starke jüdi-sche Präsenz; monotheistisches Gedanken-gut war den Medinensern also vertraut.Aufgrund der inneren Streitigkeiten wardie Bevölkerung bereit, eine neue Gesell-schaftsordnung mitzutragen, deren wich-tigster Bezugspunkt nicht länger derStamm war. Stattdessen wurden „Gott undMohammed“ als letzte Instanz in Konflik-ten akzeptiert. Dies hatte eine gewisse Vor-machtstellung der neuen Religion zur Fol-ge, ohne dass damit notwendigerweise eineKonversion der Bevölkerung einherging.Allerdings wird die klare Botschaft einessich offenbarenden Gottes auch eine großeFaszination ausgeübt haben.Das neue Ordnungsprinzip mit dem Islamals zentralem Bezugspunkt, das zunächstneben die hergebrachten Stammesloyalitä-ten trat und diese allmählich in den Hin-tergrund drängte (ohne sie jedoch je gänz-

lich abzulösen), erwies sich als entschei-dend für den Erfolg des Islams. So wurdenmit der Zeit immer mehr der von Moham-med verkündeten Regeln verbindlich fürdie gesamte Gemeinschaft. Zudem bedeu-tete die übergeordnete göttliche Autorität,dass unter dem Islam geschlossene Bünd-nisse auch über den Tod Mohammeds hi-naus Gültigkeit beanspruchen konnten.Eine weitere wichtige Ent-wicklung stellt die schritt-weise Distanzierung desPropheten vom Judentumdar, ausgelöst wohl durchdie ausbleibende Akzep-tanz Mohammeds als Pro-phet bei den jüdischenStämmen. In Folge dessenänderte sich zum Beispieldie Gebetsrichtung: Bete-ten die frühen Muslimeerst gen Jerusalem, richte-ten sie sich danach nachMekka. Bereits vor seinerFlucht hatte Mohammed die Kaaba als ab-rahimitisches Heiligtum gesehen, nun wur-de sie zentraler Bezugspunkt des Islams.Mohammed und seine Anhänger warenauch militärisch aktiv. Hauptzielpunktewaren dabei Mohammeds Stamm und sei-ne Heimatstadt Mekka, die er nach mehre-ren kriegerischen Auseinandersetzungenschließlich kampflos einnehmen konnte.Einige der Grundlagen, die Mohammedgelegt hatte, waren auch für den Erfolg derislamischen Eroberungen nach seinem Tod

von Bedeutung. Auch hier war das glückli-che Zusammenspiel zahlreicher Faktorenentscheidend. Die Einigung der Stämmeunter dem Dach des Islam half dabei, Kräf-te zu bündeln und einem gemeinsamenZiel unterzuordnen. Das muslimische Be-wusstsein von der göttlichen Unterstüt-zung der Eroberungen, bestärkt durch frü-he Erfolge, darf dabei ebenfalls nicht un-

terschätzt werden. Die Mög-lichkeit des Zusammenle-bens mit Nichtmuslimenohne den Zwang zur Kon-version war durch das Bei-spiel Mohammeds ebensolegitimiert wie der Einsatzvon Gewalt zur Verbreitungdes Herrschaftsbereiches.Weitere Erfolgsfaktoren wa-ren unter anderem die Mo-bilität der muslimischenStreitkräfte sowie die Flexi-bilität der Eroberer beimAushandeln von Verträgen

mit der lokalen Bevölkerung, die zudemteilweise die Muslime aktiv gegen die bis-herigen Machthaber unterstützten. Hilf-reich war zudem, dass die gegnerischen Ar-meen der Perser und Byzantiner sich injahrelangen Kriegen aufgerieben hatten.

Neue Ordnung Die Erfolge des Prophetenim kleinen und die Expansion im großenMaßstab betrafen vor allem die Durchset-zung einer neuen Gesellschaftsordnungund weniger den religiösen Bereich. Zwar

wurden auch die Grundlagen der neuenReligion bereits zu Mohammeds Lebzeitengelegt, in einer engen Auseinandersetzungmit spätantikem, jüdisch und christlich ge-prägtem Gedankengut. Die konkrete Aus-gestaltung erfolgte jedoch erst in dennächsten zwei bis drei Jahrhunderten in in-ternen Kontroversen, aber auch im Kontaktmit den verschiedenen nichtmuslimischenGruppen, die noch über Jahrhunderte dieMehrheit in den meisten Gebieten des isla-mischen Herrschaftsbereiches bildeten. Indieser Zeit entwickelte sich auch eines derprägenden Merkmale der islamischen Reli-gion und vor allem des islamischen Rechts,nämlich die innere Vielfalt, die unter-schiedliche, ja sich widersprechende Ausle-gungen als gleichermaßen islamisch ne-beneinander anerkennt.Die spätere muslimische Tradition hat dieFrühzeit und insbesondere das Leben Mo-hammeds stark idealisiert und heilsge-schichtlich überprägt. Spätere religiöse undrechtliche Bestimmungen sollten so bereitsauf Mohammed zurückgeführt werden.Was sich in der Tradition als lineare Ent-wicklung mit einem Beginn bei Moham-med liest, war jedoch ein langwieriger undvon inneren Auseinandersetzungen gepräg-ter Prozess, dessen Spuren sich in der Viel-falt der religiösen, rechtlichen und theolo-gischen Traditionen des Islam bis heute er-kennen lassen. Andreas Görke T

Der Autor ist Islamwissenschaftler undlehrt an der Universität Edinburgh.

DieislamischeTradition

idealisiertedas Leben

Mohammedsstark.

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 5

Kein feststehendes GesetzbuchSCHARIA Die islamische Rechtsordnung hat sich über 1.400 Jahre entwickelt und ist interpretationsfähig

Der Begriff der Scharia ist in der Debatte überden Islam belastet wie kaum ein anderer. ImNamen der Scharia begehen Kriminelle Verbre-chen, errichten extremistische OrganisationenTerrorregimes. So erschöpft sich in den Augenvieler die Scharia in drakonischen Körperstra-fen, Ungleichbehandlung von Geschlechternund Religionen bis hin zu brutaler Repression.Aber ist das charakteristisch für die Scharia?Die Scharia ist das Gegenteil eines feststehen-den „Gesetzbuches“. Der Begriff beschreibt diegesamte Normenlehre des Islams, einschließ-lich der Auslegungsmethoden. Der größte Teilbesteht aus religiösen Vorschriften wie Ritual-gebeten oder Speisevorschriften. Er genießt inDeutschland den Schutz der Religionsfreiheit.Daneben finden sich Rechtsvorschriften in un-terschiedlicher Dichte, die in einer fast1.400-jährigen Geschichte mit sehr unter-schiedlichen Ergebnissen entwickelt wurden.Die Vorstellung einer „gottgegebenen“ Rechts-ordnung trifft kaum die Realität: Auch soweitRegelungen im Koran oder der Prophetentradi-tion vorhanden sind, müssen sie nach ihrerAuslegung und ihrer räumlichen, personellenund zeitlichen Gültigkeit befragt werden. Hier-zu hat sich ein bemerkenswerter Meinungsplu-ralismus entwickelt. Diese rechtlichen Vor-schriften dienen wie alle Rechtsordnungen derWelt dazu, menschliches Zusammenlebenmöglichst friedlich und mit gerechtem Interes-

senausgleich zu gestalten. Die Wege und Zieledorthin sind wie alle anderen Rechtsordnun-gen den gesellschaftlichen Entwicklungen un-terworfen. Drakonische Körperstrafen galtenfrüher als angemessen, heute sind sie auch inden meisten Teilen der islamischen Welt abge-schafft. Unrühmliche Ausnahmen sind zumBeispiel Saudi-Arabien, Iran und das Herr-schaftsgebiet des „Islamischen Staats“ (IS).

Deutsches Recht gilt Neue Wege sind vorallem auf der Grundlage des breitflächig aner-kannten „Idschtihad“ (eigenständiges Nach-denken und Interpretieren) und der Frage nachden höheren Zielen von Normen (Maqasid) er-öffnet. Damit löst man sich davon, am Wort-laut von Normen verhaftet zu bleiben, wennihr Sinn damit verfälscht wird. Zweierlei istfestzuhalten: Zum einen gelten bei rechtlichenNormenkonflikten in Deutschland die deut-schen Rechtsvorschriften. Zum anderen kön-nen die Normen der Scharia je nach ihrer Inter-pretation in Übereinstimmung mit dem deut-schen Recht gebracht werden. Extremisten undTraditionalisten, die zu gegenteiligen Ergebnis-sen kommen, sollte man daher nicht das Deu-tungsmonopol zuschreiben.Die hier angestellten Überlegungen beruhenauf Prämissen, welche der modernen rechtsver-gleichenden Forschung zugrunde liegen. So istfestzustellen, dass alle Rechtsordnungen be-

stimmte Ordnungsaufgaben im menschlichenZusammenleben zu lösen haben. Die Lösun-gen fallen je nach sozialen, ökonomischen undkulturellen Verhältnissen und Überzeugungensehr unterschiedlich aus, während die Rege-lungsgegenstände (zum Beispiel Schutz lebens-wichtiger Rechtsgüter gegen Eingriffe, Bedarfs-deckung durch vertragliche Bindung, Regelungvon Rechten und Pflichten innerhalb von Fa-milien) große Konstanz aufweisen.Anders als die im Wesentlichen als unveränder-lich angesehenen religiösen Vorschriften sollendanach Rechtsvorschriften dem Allgemeinwohl(maslaha) als oberstem Zweck dienen, der sei-nerseits menschlicher Verstandeserkenntnis zu-gänglich ist. Abu Ishaq al-Šatibi als prominen-tester Vertreter dieser Richtung konkretisiert diehöheren Zwecke der Scharia in maßstabsbil-dender Weise. Er findet solche Zwecke imSchutz von fünf allgemeinen, unter allen Völ-kern anerkannten Gütern („Notwendigkeiten“,daruriyat): Religion (din), Leben (nafs), Nach-wuchs (nasl), Eigentum (mal) und Verstand(aql). Schariagemäße Handlungen seien keinSelbstzweck: Wenn die äußerlichen Umständefür eine Handlung gegeben seien, aber nichtdem (bezweckten) Nutzen entsprächen, sei ih-re Ausführung verfehlt und normwidrig.Die Besteuerung wird zum Beispiel grundsätz-lich (die Praxis ging und geht häufig ganz an-dere Wege) an der Leistungsfähigkeit des Steu-

erpflichtigen ausgerichtet. Zudem kennt auchdas islamische Recht die Regel „Not kennt keinGebot“; „Notwendigkeit“ (darura) erlaubt etwaden Mundraub oder die Notwehr.Das islamische Recht strebt wie alle anderenRechtsordnungen nach Gerechtigkeit. Theoreti-sche Ausführungen zur Präzisierung des Ge-rechtigkeitspostulats sind eher selten. Die in-haltliche Ausfüllung ist in hohem Maße vonsozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rah-menbedingungen abhängig und einem Wandelder Zeiten unterworfen. Das zeigt sich an derRechtsposition von Frauen. Gerade hierbeizeigt sich, wie sehr das Vorverständnis derRechtsinterpreten das Ergebnis der Rechtsan-wendung beeinflussen kann. Allerdings findensich auch anthropologische Grundkonstantenwie der Minderjährigenschutz oder Schutz ge-gen Übervorteilung, die zu allen Zeiten in ver-gleichbarer Weise angegangen werden.

Unnötiges Kalifat Hingegen harren neueFragestellungen noch breiterer Debatten: Kannes Gerechtigkeit für Muslime auch im nicht-is-lamischen Staat und seiner Rechtsordnung ge-ben, ist also Gerechtigkeit auch aus islamischerSicht inhaltlich und nicht institutionell gebun-den und damit universell? Eine europäisch-muslimische Antwort hierauf gibt es. Der pro-minente bosnische Gelehrte Enes Karic hat sichdahingehend geäußert , dass das Kalifat, also

die weltliche Herrschaft durch einen muslimi-schen Herrscher, kein Teil der Religion des Is-lams sei. Die Scharia sei ein Kompendium vonRegeln mit moralischen Zielen, welche von sä-kularen Staaten umgesetzt werden können. EinStaat, der ein ausreichendes Sozialsystem, etwafinanzielle Unterstützung für Studierende undRentner bereithält, der wirtschaftliche und so-ziale Gerechtigkeit herstellen will und die Men-schenrechte respektiert und durchsetzt, sei einislamischer Staat in solchem Sinne. Er zitiertein diesem Zusammenhang das Sprichwort: „adlal-dawla imanuha, zulm al-dawla kufruha“ –der Glaube eines Staats ist Gerechtigkeit, Unge-rechtigkeit sein Unglaube. Mit dieser Maximelassen sich Islam und säkularer Rechtsstaat inder Suche nach Gerechtigkeit überzeugend inEinklang bringen. Mathias Rohe T

Der Autor ist Islamwissenschaftler undProfessor für Bürgerliches Recht, Internationales

Privatrecht und Rechtsvergleichung an derUniversität Erlangen-Nürnberg.

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Was ist ein islamischerStaat? Verträgt sichder Islam als Religi-on mit einer moder-nen säkularenRechtsordnung?

Und kann ein islamischer Staat überhauptsäkular sein? Solche Fragen stehen im Zen-trum gegenwärtiger Debatten über das Ver-hältnis von Islam, Politik und Recht. DieseDiskussionen werden sowohl von Muslimenals auch von Nicht-Muslimen geführt. Diescheinbar klarsten Antworten, die medial diegrößte Aufmerksamkeit bekommen, liefernzum einen Islamisten und Salafisten, zumanderen die so genannten Islamkritiker. Siealle sind sich darin einig, dass der Islam undder säkulare Staat nicht zusammenpassen.Doch wie begründen sie das?Islamisten verstehen den Islam als Ideologiezur Veränderung der Gegenwart. Salafistenbeziehen sich auf das Vorbild der ersten dreiGenerationen der Muslime, die verehrungs-würdigen Vorfahren (arabisch salaf, im Pluralaslaf), die nach ihrer Meinung ein Staats-und Gesellschaftsmodell für die Gegenwartdarstellen, bei dem Religion, Staat, Politikund Moral eins sein sollen. Die salafistischeLesart geht in ihrer Absolutheit und Härteüber die muslimische Tradition hinaus, inder ebenfalls der Prophet Mohammed unddie frühen Muslime als Vorbilder gelten. So-wohl Islamisten als auch Salafisten betonenzumeist, dass der Islam nicht mit dem säku-laren, „westlichen“ Staat vereinbar ist. Dage-gen stellen sie die Vorstellung eines idealenislamischen Staates, in dem die Sittlichkeitder Gemeinschaft gewährleistet sein soll.Dieses Ideal ist für sie wiederum gewisserma-ßen direkt abrufbar aus einem als zeitlos ver-standen Normensystem Islam.

Differenzierungen ausgeblendet Dieses Bildeines zeitlosen Islams deckt sich weitgehendmit dem der Islamkritiker. Diese nehmen fürsich zumeist in Anspruch, Kritik am Islam imNamen der westlichen Aufklärung zu betrei-ben. Wie Islamisten und Salafisten halten sieden Islam in seiner derzeitigen Form und denmodernen säkularen Staat für unvereinbar. Sosei der Islam nicht wie das Christentum unddas Judentum durch die Aufklärung gegan-gen, sei nicht individualistisch ausgerichtetund führe mit seinem absoluten Geltungsan-spruch und dem Fehlen einer Trennung vonReligion und Politik quasi notwendig zu einerTheokratie und zur Gewalt. Es ist bezeich-nend, dass alle drei Gruppen – Islamisten, Sa-lafisten und Islamkritiker – vom Islam unddem modernen säkularen Staat als etwas re-den, das sie genau und mit absoluter Gewiss-heit kennen.Wer sich mit solchen schematischen Antwor-ten nicht ganz so schnell zufrieden gebenmöchte, muss sich fragen, ob Islamisten, Sa-lafisten und Islamkritiker uns wirklich allesüber den Islam und sein Verhältnis zu mo-dernem Staat und modernen Recht sagenkönnen, was zu sagen ist. Schon ein kursori-scher Blick auf Gegenwart und Geschichtevon Muslimen in mehrheitlich muslimischenund nicht-muslimischen Gesellschaften zeigt,dass dem nicht so ist. Islamisten, Salafistenund Islamkritiker müssen sehr viele Detailsund Differenzierungen ausblenden, um ihrscheinbar eindeutiges Bild eines unwandel-baren Islams und seiner völligen Unverein-barkeit mit dem säkularen Staat aufrechter-halten zu können.Erstens wäre endgültig die Idee aufzugeben,die islamische Geschichte habe keinerlei Un-terscheidung von Religion und Politik ge-kannt. Diese Vorstellung über die Geschichtedes Islams hält sich hartnäckig, auch wenn sieungefähr so plausibel ist wie die Annahme,dass die Geschichte des Papsttums allein ausreligiösen Beweggründen heraus zu verstehenwäre. Niemand würde hier behaupten, dass esPolitik in diesem Fall einfach nicht gab. Diefaktische Existenz von Politik als einer genui-nen Dimension der islamischen Geschichteist bereits in der abwertenden Rede von der

„orientalischen Despotie“ enthalten. Dochimmer wieder ist die Geschichte der Muslimegedeutet worden, als ob sie durch einen un-wandelbaren Islam, gleichsam als gesteuerteAutomaten, bestimmt gewesen seien undnoch immer sind. Dieses Bild von Geschichteist so absurd wie die Schreckbilder, die die li-berale Religionskritik im 19. Jahrhundert vomKatholizismus zeichnete. Zahllose Untersu-chungen zeigen dagegen eindrücklich, dassReligion und Politik in islamisch geprägtenReichen nicht mehr und nicht weniger aufei-nander bezogen waren als im mittelalterli-

chen und neuzeitlichen Westeuropa.Der islamische Staat war eine Institution, umOrdnung und Sicherheit zu garantieren, da-mit die Gläubigen ihren religiösen Pflichtennachkommen konnten. Entscheidend war inder Theorie das Gesetz das Wort Gottes, wes-halb der islamische Staat, so der PolitologeNazih Ayubi, weder eine Theokratie noch einAutokratie war, sondern eine Nomokratie.Doch war das islamische Kalifat (arabisch fürNachfolge und Stellvertretung des Prophe-ten) auch eine politische Institution. Alleinunter dem Propheten Mohammed konnten

Religion und Staat als vereint gelten. SpätereHerrscher bedienten sich der Religion zur Le-gitimation der eigenen Herrschaft und ver-suchten, die Religions- und Rechtsgelehrtenzu kontrollieren. Manche muslimische Stim-men verweisen darauf, dass es im Grundeüberhaupt nie einen islamischen Staat gege-ben hat, weil er ein utopisches Ideal bezeich-net, an dem sich das Handeln der Muslimeausrichten soll, ohne das Menschen diesesIdeal je vollständig erreichen könnten.Heutzutage leben Muslime faktisch in ganzunterschiedlichen, auch säkularen politi-

schen Systemen. In vorwiegend muslimischgeprägten Gesellschaften finden sich ver-schiedene Formen der Monarchie wie Saudi-Arabien, Jordanien und dem besonderen FallMarokko, wo der König religiöse Autoritätbeansprucht, Diktaturen wie Syrien oderdem „Islamischen Staat“ (IS), autoritäre Re-gime wie Ägypten und schließlich Demokra-tien wie Tunesien, Indonesien und Indien.Ebenso wäre hier an Muslime in den westli-chen Demokratien wie Deutschland und de-nen der EU sowie den USA zu denken. Meh-rere moderne Entwicklungen haben die Be-

dingungen dafür verändert, wie der Islamheutzutage begriffen werden kann: Die Ein-teilung der Welt in Nationalstaaten bedeuteteeinen Bruch mit älteren politischen Organi-sationsformen wie dem Kalifat. Die Einfüh-rung von modernem Recht und modernenVerfassungen – in Tunesien trat etwa die erstemoderne Verfassung 1861 in Kraft – führteim Unterschied zur älteren Rechtspraxis zurZusammenfassung von islamischen Rechts-normen in positiver Gesetzesform. Zugleichblieb die Spannung zu den als überzeitlichgültigen begriffenen Vorgaben aus dem isla-mischen Recht erhalten. Die institutionelleVerknüpfung von islamischen mit nicht-isla-mischen, „westlichen“ Gesetzesnormen führ-te zu einer noch lange nicht abgeschlossenenDebatte über das Verhältnis jener verschiede-nen rechtlichen Traditionen in Theorie undPraxis. Das betrifft etwa die Anwendung derScharia, dem religiösen islamischen Gesetz,im Familien- und Erbrecht artikuliert.Schließlich hat der weltweite Einfluss desmodernen Liberalismus mit seiner vorgeblichklaren Trennung von Privatem als dem Ortder Religion sowie dem Öffentlichen als demOrt des Säkularen die Stellung von Religionim Staat grundlegend verändert. Religionsoll, so die liberale Idee, in der Moderne Pri-vatsache sein. Welche Konsequenzen sich ausdiesen Entwicklungen für das Verhältnis vonIslam und Staat ergeben, ist seit Ende des 19.Jahrhunderts bis heute Gegenstand heftigerDiskussionen unter Muslimen. In diesen De-batten werden ganz unterschiedliche Vorstel-lungen – sowohl säkular als auch religiös –über jene Fragen artikuliert.

Liberale Trennung Die von Islamisten immerwieder propagierte Behauptung, der Islam seizugleich Religion und Staat („al-islam din wadaula“), ist unter anderem eine moderneAntwort auf ebendiese moderne liberaleTrennung von Privatem und Öffentlichem.Die Formel selbst ist modernen Ursprungsund findet sich als solche gar nicht in derjahrhundertealten islamischen Tradition.Vielmehr lässt sie sich so deuten, dass Isla-misten mit ihr das aus liberaler Sicht ver-meintlich Private, die Religion, repolitisierenwollen, um so gegen die moderne liberaleVorgabe anzugehen, nach der im modernensäkularen Staat Religion keine tragende Rollespielen dürfe.In dieser Kritik liegt ein gewisser Anknüp-fungspunkt an das gestiegene Bewusstsein fürdie anhaltende bzw. erneut wahrgenommeneRolle von Religion auch in westlichen Gesell-schaften. Zudem ist deutlich geworden, dassVorstellungen von Religion und Säkularität inmodernen westlichen Gesellschaften wie et-wa Frankreich und Deutschland selbst auchvom Erbe des Christentums beeinflusst sind.Deren gesetzliche Regelungen zu Religionund Säkularität sind also keineswegs einfach„neutral“, sondern sind selbst Teil einer be-stimmten Geschichte. Darauf hinzuweisenbedeutet nicht, die Frage nach der Möglich-keit von Pluralismus und staatlicher Neutra-lität einfach aufzugeben. Es geht vielmehrdarum, Säkularität – ebensowenig wie den Is-lam – als etwas Zeitloses zu verstehen. So wiedie moderne säkulare Ordnung aus dem reli-giösen und politischen Streit entstanden ist,so sehr ist ihre Form faktisch umstritten. Dasillustriert auch das neue Urteil des Bundes-verfassungsgerichts zum Tragen des Kopf-tuchs. Die Spannung zwischen der Rechts-ordnung moderner Nationalstaaten mit ih-ren national definierten Kulturen und ande-ren Traditionen wie dem Islam offenbart,dass es durchaus Diskussionsbedarf darübergibt, was als säkular gelten kann. Das Säkula-re auf diese Weise neu zu verhandeln, könntewomöglich dabei helfen, die Idee des islami-schen Staates aus seiner islamistischen undsalafistischen Umklammerung zu befreien.

Nils Riecken T

Der Autor ist promovierter Historiker, Islam-und Politikwissenschaftler und arbeitet

beim Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Scharia-Polizei im Einsatz: Die Ordnungshüter prüfen bei einer Kontrolle im indonesischen Banda Aceh bei Frauen die Einhaltung strenger Kleidungsvorschriften. © picture-alliance/dpa

Die UmklammerungDISPUT Die islamistische Idee der Einheit von Staat und Religion verstört säkulare Gesellschaften

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Quelle: Pew Forum On Religion & Public Life; Auswärtiges Amt; CIA World Factbook Grafikquelle: dpa•18311 (editiert) Bearbeitung: Stephan Roters

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Quelle: Pew Forum On Religion & Public Life Grafik: Stephan Roters

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Verbreitung des IslamsMuslimischer Bevölkerungsanteil nach Ländern

Quelle: Pew Forum On Religion & Public Life; Auswärtiges Amt; CIA World Factbook Grafikquelle: dpa•18311 (editiert) Bearbeitung: Stephan Roters

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Montenegro

KosovoBosnien

Herzegowina

Syrien

Jord

anie

n

LibanonIrak

Kuwait

Iran

Turkmenistan

Usbekistan

Kasachstan

Georgien

Aser-baidschan

Tadschikistan

Kirgisien

Indien

Indonesien

Malaysia

Singapur

BruneiSri Lanka

Bangladesch

Russland

Pakistan

Afghanistan

Libyen

TschadSudan Eritrea

Dschibuti

Äthiopien

Somalia

Niger

Tunesien

MaliMauretanien

Senegal

Gambia

Guinea-Bissau

Guinea

SierraLeone

Liberia

Elfenbein-küste

BurkinaFaso

Nigeria

Kamerun

ZentralafrikanischeRepublik

Gabun

Ugan

da

Kenia

Tansania

Malawi

Mosambik

Ghana

Togo

Benin

Wes

tsah

ara

Süd-Sudan

10 %Schiiten

85 %Sunniten

5 %Andere

Sunniten und SchiitenAnteile der verschiedenen Glaubensrichtung innerhalb das Islams

30 %

25 %

20 %

15 %

10 %

5 %

0 %

19,9 %23,4 %

24,9 %21,6 %

26,3 %

Bevölkerungsanteil von MuslimenEntwicklung bis 2010 und Prognose bis 2030 in Prozent an der Weltbevölkerung

Quelle: Pew Forum On Religion & Public Life Grafik: Stephan Roters

’90 ’00 ’10 ’20 ’30

Verbreitung des IslamsMuslimischer Bevölkerungsanteil nach Ländern

Aufstand: Tausende Ägypter demonstrieren im Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen das Regime von Präsident Mubarak. © picture-alliance/dpa

8 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

CHRONIK 2011/2012

TunesienAus Protest gegen Polizeiwillkür verbrenntsich am 17. Dezember 2010 der Gemüse-händler Mohammed Bouazizi. In der Folgekommt es im ganzen Land zu Demonstra-tionen, die in gewaltsamen Unruhen mün-den. Am 14. Januar 2011 flüchtet Staats-präsident Zine el-Abidine Ben Ali nach Sau-di-Arabien. Die von Ministerpräsident Mo-hammed Ghannouchi gebildete Über-gangsregierung muss nach weiteren Pro-testen der Bevölkerung am 27. Februar zu-rücktreten, neuer Regierungschef wird BejiCaid Essebsi. Am 23. Oktober 2011 findendie ersten freien Wahlen zur verfassungs-gebenden Versammlung statt, die einenMonat später erstmals zusammentritt.

Ägypten

Am 25. Januar demonstrieren erstmalszehntausende Ägypter gegen die Herr-schaft von Präsident Hosni Mubarak undbesetzen den Tahrir-Platz in der HauptstadtKairo (Tag des Zorns). Am 11. Februar trittMubarak ab. Ein Militärrat übernimmt dieMacht und verspricht freie Wahlen. Muba-rak wird am 2. Juni 2012 zu lebenslangerHaft verurteilt und ein Jahr später in einemMilitärkrankenhaus unter Hausarrest ge-stellt. Bei den Wahlen zwischen Ende 2011und Mitte 2012 erringen die Muslimbrüderund andere islamische Parteien die Mehr-heit im Parlament und der verfassungsge-benden Verfassung. Zum neuen Präsidentwird der Muslimbruder Mohammed Mursigewählt, Dies führt zu Protesten liberalerund säkularer Kräfte, die Ende November2012 eskalieren, nachdem Mursi sich wei-tere Machtbefugnisse gegenüber der Justizeinräumen lässt und sich der Entwurf fürdie neue Verfassung auf Grundsätze derScharia beruft. Die Verfassung wird in ei-nem Referendum am 15. Dezember trotz-dem von der Mehrheit der Bevölkerung an-genommen. Anfang Juli 2013 putscht dasMilitär, nachdem die Proteste gegen Mursinicht abreißen.

Libyen

Ab Mitte Februar 2011 kommt es zu Mas-senprotesten gegen das Regime vonStaatschef Muammar al-Gaddafi, die zubürgerkriegsähnlichen Zuständen führen.Am 17. März fordert die Uno schließlich ei-ne Flugverbotszone über Libyen. In einemmehrmonatigem Bürgerkrieg bringen dieRebellen unter Führung eines NationalenÜbergangsrates mit Unterstützung vonNato-Luftangriffen das Land unter Kontrol-le. Gadddafi wird am 20. Oktober erschos-sen aufgefunden. Der Übergangsrat kannseine Autorität jedoch nur mit Mühe imLand durchsetzen. Am 7. Juli 2012 wird einNationalkongress gewählt. Aus der Wahlgeht die Allianz Nationaler Kräfte vonMahmud Dschibril als Sieger hervor. Seit-dem wird das Land jedoch weiterhin voneinem Bürgerkrieg rivalisierender Milizenerschüttert.

Syrien

Protestaufrufe führen im Februar 2011zur Verhaftung von Oppositionellen. Inden folgenden Wochen demonstrierentausende Syrer im ganzen Land gegendas Regime von Präsident Baschar al-As-sad und fordern dessen Rücktritt. Sicher-heitskräfte gehen ab März gewaltsamgegen die Demonstranten vor. Syrien ge-rät in einen blutigen Bürgerkrieg, der bisheute anhält.

Schwierige Partnerschaft mit dem Königreich der WidersprücheSAUDI-ARABIEN Der vermeintliche Stabilitätsanker am Persischen Golf betreibt eine zunehmend aggressive Regionalpolitik und schürt Konflikte

Am 26. März 2015 begann das KönigreichSaudi-Arabien Luftangriffe in Jemen aufStellungen der Huthi-Rebellen und mit ih-nen verbündeter Armeeeinheiten, um dieRegierung des Präsidenten Abd RabbuhMansur Hadi vor dem endgültigen Zusam-menbruch zu retten. So spektakulär dieAngriffe auf das Nachbarland sind, zeigtensie doch zum wiederholten Male, dass Sau-di-Arabien seit einigen Jahren eine immeraggressivere Regionalpolitik führt undauch vor militärischer Gewalt nicht zurück-schreckt. Bereits 2011 hatte Saudi-Arabiengemeinsam mit den Vereinigten Arabi-schen Emiraten Truppen nach Bahrain ent-sandt, um die verbündete KönigsfamilieKhalifa vor einem Umsturz zu bewahren.In den folgenden Jahren ergriff Riad mehr-fach Partei für diejenigen politischen Kräf-te, die ihm Stabilität versprachen. So unter-stützte es den Staatsstreich des ägyptischenMilitärs im Juli 2013, der die Herrschaftder Muslimbrüder beendete und GeneralAbd al-Fattah as-Sisi an die Macht brachte.

Im Bürgerkrieg in Libyen schließlich hilftSaudi-Arabien der Koalition unter der Füh-rung von General Khalifa Haftar, der eben-so wie Sisi auf die Errichtung eines autori-tären Regimes abzielt.

Schwieriger Partner Geschuldet ist dieseaktive Regionalpolitik vor allem der Furchtvor Instabilität, verbunden mit der vor ei-ner Machtübernahme durch die Muslim-bruderschaft und einen Machtzuwachs fürden Iran. In der westlichen Welt hat diesdazu beigetragen, Auseinandersetzungenüber den richtigen Umgang mit dem Kö-nigreich hervorzurufen. Es gibt nur wenigeStaaten weltweit, über die in Deutschlanddie Meinungen so weit auseinandergehenwie Saudi-Arabien. Dies hat zwar auch mitder deutschen Innenpolitik zu tun, dochspiegelt die Debatte die häufig geradezugrotesken Widersprüche der saudi-arabi-schen Politik und Gesellschaft wider. Derzentralste dieser Widersprüche ist der zwi-schen einer prowestlichen Außenpolitik,die Saudi-Arabien in den vergangenen vierJahrzehnten zu einem der bedeutendstenund verlässlichsten Partner des Westens imNahen Osten gemacht hat, und einer isla-mistischen Innenpolitik, die mit teilsschweren Menschenrechtsverletzungeneinhergeht.

Vor allem die enormen saudi-arabischenÖlvorkommen sind es, die das Land auchin den kommenden Jahrzehnten zu einemwichtigen Partner Deutschlands undEuropas machen. Doch ist das Königreichweit über den Energiesektor hinaus bedeu-tend, denn es setzte seine beträchtlichen fi-nanziellen Ressourcen und seine Reputati-on als eine Führungsmacht des sunniti-schen Islams mehrfach zugunsten der ame-rikanischen Weltpolitik ein. Seit einer An-schlagswelle im Mai 2003 in Riad wurde es

auch zu einem wichtigen Verbündeten imKampf gegen islamistische Terroristen.Häufiger als zuvor zeigte sich nach 2001überdies, dass saudi-arabische und euro-päische Positionen übereinstimmten. Diesgalt vor allem für den israelisch-palästinen-sischen Konflikt. So legte König Abdallah2002 einen Friedensplan vor, der ziemlichgenau den europäischen Vorstellungen voneiner Zweistaatenlösung entspricht.

Wahhabismus Dennoch steht die prowest-liche Außenpolitik des Landes immer imWiderspruch zu seiner inneren Verfasstheit.Saudi-Arabien wird durch eine enge Bin-dung zwischen Staat und Religion geprägt,und die offizielle Islam-Interpretation, derWahhabismus, ist eine Spielart des Islamis-mus. Die Religionsgelehrten sind so starkwie in keinem anderen arabischen Land,und sie prägen die politische Kultur desKönigreichs, indem sie dem Regierungs-handeln enge Grenzen setzen. Dies betrifftbeispielsweise die zwei bis drei MillionenSchiiten, die mehrheitlich im Osten desLandes leben und schlimmen Benachteili-gungen ausgesetzt sind. Da sie den Wahha-biten als besonders verabscheuungswürdi-ge Ungläubige gelten, ist eine Gleichbe-rechtigung ausgeschlossen. Reformen sto-ßen immer wieder an religiös definierte

Grenzen, und die Kritik an Menschen-rechtsverletzungen nimmt weltweit zu.Es ist kein Wunder, dass ein Staat, der sol-che Widersprüche duldet und seine Welt-anschauung auch in andere Staaten expor-tiert, kontroverse Reaktionen auslöst. Den-noch kommt Deutschland an einer seriö-sen Auseinandersetzung mit dem bis heuteweitgehend unbekannten Saudi-Arabiennicht herum. Als eine der führenden In-dustrienationen muss Deutschland gegen-über dem Staat, der über rund ein Viertelder Welterdölreserven verfügt, eine durch-dachte politische Vorgehensweise entwi-ckeln. Und hierfür ist die Einsicht grundle-gend, dass Saudi-Arabien ein unverzichtba-rer Partner in der Energie-, Sicherheits- undRegionalpolitik ist.Trotzdem ist die Kategorisierung des Lan-des als „Stabilitätsfaktor“ falsch, denn sei-ne Innenpolitik – und hier insbesondereseine Diskriminierung der Schiiten – ga-rantiert künftige Unruhen. Hinzu kommt,dass die aktuelle Politik Saudi-ArabiensKonflikte in der Region schürt und nichtzu einer Lösung beiträgt. Dies gilt für denJemen, wo die Intervention des König-reichs und seiner Verbündeten einen lan-gen Bürgerkrieg einläuten könnte. Aberauch in Ägypten dürfte die relative Ruhevon kurzer Dauer sein. Präsident Sisi ist

nicht viel mehr als ein Militärdiktator, des-sen repressive Innenpolitik die Problemedes Landes nicht lösen wird. Auch in Liby-en wird die saudi-arabische Parteinahmefür einen starken Mann wie Khalifa Haftarden Bürgerkrieg nicht beenden können.Die deutsche Politik sollte dies spiegelnund auf größere Distanz zu Riad gehen. Ihrgrößter Fehler war, dass sie schon nach2001 immer engere Beziehungen zu denDiktatoren im Nahen Osten unterhielt undübersah, dass deren Politik erst zur Entste-hung von Al-Qaida und anderen Terror-gruppen geführt hatte. Seit 2013 gibt eswieder deutliche Anzeichen dafür, dass dieBundesregierung zuallererst auf Stabilitätsetzt und dabei übersieht, dass Regime wiein Saudi-Arabien nur kurzfristig Stabilitäts-garanten sind. Auch wenn die Zusammen-arbeit mit ihnen unabdingbar ist, mussviel deutlicher werden, dass eine enge undvertrauensvolle Kooperation nur mit Staa-ten möglich ist, die langsamen politischenWandel zulassen und nicht die autoritäreRestauration im gesamten Nahen Ostenvorantreiben. Saudi-Arabien gehört nichtzu ihnen. Guido Steinberg T

Der Autor ist Islamwissenschaftler undarbeitet für die Stiftung Wissenschaft

und Politik in Berlin

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD)zu Besuch bei Saudi-Arabiens König Sal-man ibn Abd-al-Asis in Riad.

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Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-Paper

Erfrorene TräumeARABISCHER FRÜHLING Eine weitgehend ernüchternde Bilanz für die Demokratiebewegungen

Verschwinde! Verschwinde!“,skandierten tausende vonMenschen auf der AvenueBourgiba im Stadtzentrumvon Tunis. Die Sicherheits-kräfte setzten Wasserwerfer

ein, knüppelten die Demonstranten niederund verhafteten sie reihenweise. Doch nie-mand ließ sich mehr einschüchtern. DieMenschen hatten ein für alle Mal genug vonZensur, Folter und Polizeistaat. So passierte,was keiner für möglich gehalten hatte: Nach22-jähriger Amtszeit floh der verhasste Präsi-dent am 14. Januar 2011 Hals über Kopf insExil nach Saudi-Arabien. Zine el Abidine BenAli war das erste autokratische Staatsober-haupt, das dem Arabischen Frühling zumOpfer fiel.Die sogenannte Jasmin-Revolution in Tune-sien war der Startschuss für weitere Umstürzein Nordafrika. Im Februar erzwangen Mas-senproteste in Ägypten den Rücktritt vonHosni Mubarak, der 30 Jahre lang das Nil-Land mit eiserner Faust regiert hatte. Danachtraf es Muammar Gaddafi. Der exzentrischeHerrscher aus dem Nachbarland Libyen woll-te weder zurücktreten, noch fliehen, sondernin seiner Heimat sterben – und so kam esauch. Er wurde am 20. Oktober 2011 von Re-bellen in seiner Geburtsstadt Sirte ermordet.Der Fall der drei Diktatoren ließ andere ara-bische Präsidenten, Emire und Könige zitter-ten. Sie fürchteten, die Welle der Revolutionkönnte auch auf ihre Länder überschwappen.Für ihre Untertanen dagegen galt der Arabi-sche Frühling als Zauberwort. Freiheit undDemokratie schienen in erreichbarer Nähezu sein. Davon ist heute, vier Jahre später,nichts mehr zu spüren. Es sind keine weite-ren Diktatoren gestürzt worden. Die Herr-

scher am Persischen Golf sitzen fest im Sattel.Nur in Bahrein gab es Proteste der schiiti-schen Bevölkerung, aber die wurden brutalniedergeschlagen.In Nordafrika blieb es ebenfalls ruhig. In Ma-rokko und Algerien kam es zu einigen klei-nen, verhaltenen Demonstrationen gegen Re-gime und König. In beiden Ländern scheintdie Bevölkerung keinen großen Appetit aufRevolutionen zu haben. In Algerien ist derBürgerkrieg (1991-2002) zwischen Staat undradikalen Islamisten nochim Bewusstsein. Laut Schät-zungen sollen dabei über100.000 Menschen das Le-ben verloren haben.

Reformen In Marokko refor-mierte man die Verfassungnach dem Beispiel der kon-stitutionellen Monarchie inSpanien. Die InfrastrukturMarokkos wurde in einembisher nie gekannten Aus-maß erneuert. Die Wirt-schaft boomt. Von der Krisein Europa ist dort nichts zu spüren. Spanierund Franzosen finden im nordafrikanischenKönigreich leichter und eine besser bezahlteArbeit, als in ihren Heimatländern. In Ma-rokko wurde nach der Thronbesteigung Mo-hammeds VI. bereits eine „Wahrheitskom-mission“ eingesetzt, die die Verbrechen desRegimes seines Vater Hassan II. aufklärte. DieSitzungen über die „bleierne Zeit“ wurdenLive im nationalen Fernsehen übertragen.Das Königreich ist heute im Vergleich zu an-deren arabischen Ländern das liberalste undtoleranteste. Für Marokkaner sind Verhältnis-se, wie etwa in Libyen oder Syrien, undenk-

bar. In Syrien tobt weiterhin der Bürgerkriegund eine Entscheidung ist nicht in Sicht. AufRebellenseite gibt es so oder so keinen positi-ven Ausblick. Zur Zeit existiert da nur die Al-ternative zwischen den Terrororgruppen Al-Qaida oder „Islamischer Staat“ (IS) – eineschreckliche Wahlmöglichkeit.Selbst vier Jahre danach ist aus dem Frühlingnoch kein Sommer geworden. Im Gegenteil –er hat sich in einen Herbst und in einigenFällen in einen bitteren Winter verwandelt.

Einer der Hauptgründe dafürist der politische Islam. Erwar der Trittbrettfahrer derRevolutionen. In Libyen, Tu-nesien und Ägypten hieltendie Islamisten still, bis sie si-cher waren, das alte Regimehat keine Chance mehr.Dann schlossen sie sich denRevolutionen an und über-nahmen sie. Ob sogenanntemoderate oder extremisti-sche Islamisten – sie ruinier-ten die Bestrebungen nachFrieden und Freiheit.

Bürgerkrieg In Libyen wollte man nach demTod Gaddafis eine neue Verfassung und einendemokratischen Staat errichten. Nichts vondem ist eingetroffen. Libyen trudelte mehrund mehr ins Chaos. Heute befindet sich daserdöl- und gasreiche Land mitten im Bürger-krieg. Zwei rivalisierende Regierungen be-kämpfen sich mit ihren Milizen. Radikale Is-lamisten der Al-Qaida-Gruppe Ansar al-Scha-ria kämpfen auf der Seite der Oppositionsre-gierung. Diese hatte das international aner-kannte Kabinett im letzten August 2014 ge-waltsam aus der Hauptstadt Tripolis vertrie-

ben. Seit Dezember ist die IS-Terrormiliz inLibyen präsent und sorgte mit einem Videovon der Enthauptung von 21 koptischenChristen für weltweites Entsetzen. Unklarbleibt, ob die laufenden Friedensgesprächezwischen den beiden Regierungen eine Lö-sung bringen. Aber selbst bei einem positivenAusgang: Die militanten Islamisten wollenaus Libyen einen theokratischen Staat ma-chen. General Khalifa Haftar will sie mit Ge-walt stoppen. Der Stabschef der offiziellen li-byschen Armee bekämpft sie seit Mai letztenJahres in Bengasi. Seine Truppen stehen auchvor Tripoli, um die Hauptstadt von der Ge-genregierung zu befreien.In Ägypten spuckte Mohammed Mursi derRevolution gehörig in den Topf. Sie war vonmeist jungen, liberal und vielfach säkulareingestellten Leuten getragen worden. Als ers-ter frei gewählter Präsident nach den dreiJahrzehnten unter Mubarak, verlor Mursi diesonst so oft apostrophierte muslimische Tu-gend der Geduld. Der Parteigänger der Mus-limbruderschaft wollte sich zum Alleinherr-scher Ägyptens machen. Die Straße rebellier-te und General Fatha al-Sisi nahm das für ei-nen Putsch zum Anlass. Die Machtübernah-me der Islamisten sollte verhindert werden.Al-Sisi, ein Vertreter des gestürzten Mubarak-Regiems, ließ sich 2014 zum Präsidentenwählen. Heute ist Ägypten wieder auf demStand vor der Revolution: Es gibt keine Pres-sefreiheit und Menschenrechte werden mitFüßen getreten.Als einzige positive Ausnahme gilt Tunesien.Es hat die ersten vier rauen Jahre überstan-den. Die Islamisten der Ennahda-Partei hat-ten 2011 die ersten Wahlen nach dem SturzBen Alis gewonnen. Diese Partei der Muslim-bruderschaft versuchte, wie Mursi in Ägypten,

die Macht zu übernehmen und die Gesell-schaft islamistisch umzukrempeln. Sieschickte Religionspolizisten auf die StraßenTunesiens, um die Bevölkerung zu tugend-haftem Verhalten anzuleiten. Der Ennahda-Parteichef Raschid Ghannouchi suchte dieNähe zu radikalen Salafisten. Er nannte sie„Brüder“ und bat sie um „etwas Geduld“, wieein Video zeigte, das an die Öffentlichkeit ge-langte. Die Salafisten demonstrierten regel-mäßig gegen die Unmoral in Tunesien. BeiProtesten gegen die Ausstrahlung des Films„Persepolis“ hatte es im Oktober 2011 gewalt-tätige Ausschreitungen gegeben.

Zivilgesellschaft Als 2013 zwei Oppositions-politiker mitten in Tunis ermordet wurden,hatte die liberale Zivilgesellschaft genug. ZuHunderttausenden gingen die Menschen aufdie Straße. Die Regierungspartei Ennhadagalt als Schuldiger der Attentate. Diese Pro-teste verschärften die politische Krise undbrachten Ennahda dazu, ihre Führungsrollein der Regierung aufzugeben. Nach langemZögern stimmte die Partei der neu geschrie-benen tunesischen Verfassung zu, die die Ba-sis für ein offenes, demokratisches Systemschuf. Nur eine starke Zivilgesellschaft, die esin anderen arabischen Ländern nicht gibt,hat Tunesien vor der Übernahme der Islamis-ten bewahrt. Seit den Wahlen 2014 regiert inTunis eine säkulare Regierung und Ennahdaist in der Opposition. Auch islamistische At-tentate, wie auf das Bardo-Museum, könnenTunesien und die neue Demokratie nicht er-schüttern. Alfred Hackensberger T

Der Autor berichtet als freier Korrespondentaus Nordafrika und den Ländern der

arabischen Welt.

Spanier findenim boomenden

und refor-mierten

Marokko ein-facher Arbeitals daheim.

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 9

Die Büchsen der PandoraAUSSENPOLITIK Vom Sturz Mossadeghs bis zum Einmarsch in den Irak – die Politik des Westens hat die islamische Welt in weiten Teilen destabilisiert

Gerne nimmt westliche Politik für sich inAnspruch, „werteorientiert“ zu handeln.Im Nahen und Mittleren Osten aber, undnicht nur dort, hat sie vielfach verbrannteErde hinterlassen. Die Akteure sind dabeiin erster Linie die USA und ihr engster Ver-bündeter, Großbritannien. Spätestens seitdem 11. September 2001 gehören aberauch die übrigen Mitgliedstaaten der EUdazu, nicht zuletzt Deutschland.Wer die Konflikte der Gegenwart, darunterden Vormarsch des „Islamischen Staates“,die Konfrontation mit dem Iran oder denKrieg in Syrien verstehen will, muss sichmit westlicher Politik und ihrer Einfluss-nahme auf die Region seit dem Ende desZweiten Weltkrieges befassen. Selbstver-ständlich ist sie nicht der alleinige Brand-stifter, aber ein verlässlicher.

Sündenfall Iran Es fängt an mit dem Sturzdes iranischen Premierministers Moham-mad Mossadegh 1953, dem Sündenfallschlechthin. Seither hat sich das Grund-muster westlicher Interventionen in derarabisch-islamischen Welt kaum verändert.Allem voran die Neigung, die Konfliktpar-teien in „gut“ und „böse“ zu unterteilen.Mossadegh, der 1951 die von Großbritan-nien kontrollierte iranische Erdölindustrieverstaatlich hatte, bezahlte dafür zwei Jahrespäter mit einem von britischen und US-Geheimdiensten inszenierten Putsch. Ihmfolgte der ägyptische Präsident Gamal Ab-

del Nasser, der 1956 den Suezkanal ver-staatlicht hatte. Mit Hilfe des Suezkriegessollte er gestürzt werden – ohne Erfolg.Das absolut Böse hat natürlich sein Pen-dant, das selbstlos Gute nämlich. Die Gu-ten sind wir, die westliche Politik, weil siefür Freiheit, Demokratie und Menschen-rechte steht. Westliche Politiker vermeidenes nach Möglichkeit, von Interessen zu re-den. Lieber erwecken sie den Eindruck, siebetrieben ein weltweit angelegtes Demo-kratisierungs- und Wohlfahrtsprogramm.Eigene Fehler, Versäumnisse, Lügen undVerbrechen, die in der arabisch-islami-schen Welt allein seit 9/11 hunderttausen-de Menschen das Leben gekostet haben,vor allem im Irak, werden nicht seltengroßzügig übersehen. Und selbstverständ-lich haben die Guten das Recht, die Bösenzu bestrafen, mit Hilfe etwa von Wirt-schaftssanktionen. Immer in der leisenHoffnung auf einen Regimewechsel. Injüngster Zeit sind sie vor allem gegen denIran und Russland verhängt worden.Die Guten glauben, dass ihre Moral eineüberlegene sei, weil sie für die Freiheit derUkraine oder Menschenrechte im Iranstreiten. Oft geht es aber darum, geopoliti-sche Widersacher auszuschalten, zuschwächen oder kleinzuhalten. Der Um-stand, dass Länder wie China, Indien oderBrasilien der Sanktionspolitik des Westensnicht folgen, weder gegenüber Russlandnoch dem Iran, irritiert deren Verfechter

nicht – ihnen gilt Washington als Nabelder Welt. Sie empfinden es auch nicht alsWiderspruch, dass die viel beschworenen„Werte“ im Umgang mit befreundetenStaaten kaum eine Rolle spielen. Das giltzum Beispiel hinsichtlich des radikalenwahhabitischen Staatsislam in Saudi-Ara-bien, dem ideologischen Bruder im Geistevon Al-Qaida, den Taliban oder dem „Isla-mischen Staat“.Die USA haben seit 2001 in sieben mehr-heitlich muslimischen Ländern militärischinterveniert oder sie mit Drohnen angegrif-fen: Afghanistan, Irak, Somalia, den Je-men, Pakistan, Libyen, Syrien. In welchem

dieser Staaten haben sich anschließend dieLebensbedingungen der Bewohner verbes-sert, zeichnen sich Stabilität und Sicherheitab? Gibt es eine einzige militärische Inter-vention des Westens, die nicht Chaos, Dik-tatur, neue Gewalt zur Folge gehabt hätte?Tatsache ist: Ohne den von den USA imRahmen einer „Koalition der Willigen“herbeigeführten Sturz Saddam Husseins2003 und der anschließenden Verheerungdes irakischen Staates durch die amerikani-sche Besatzungspolitik würde es heute den„Islamischen Staat“ nicht geben.Al-Qaida und die Taliban sind hervorge-gangen aus jenen Glaubenskämpfern, den

Mudschaheddin, die in den 1980er Jahrenvon Washington und Riad finanziert wur-den, um in Afghanistan gegen die sowjeti-schen Besatzer zu kämpfen. Sowohl Al-Quaida wie auch der „Islamische Staat“sind beide das Ergebnis einer überauskurzsichtigen Politik seitens der USA. An-ders gesagt: Der Westen züchtet sich seineterroristische Bedrohung zu einem erhebli-chen Teil selbst. Doch die politisch Verant-wortlichen lernen nichts aus ihren Fehlern,zeigen sich blind gegenüber der Geschich-te. Kaum ein Historiker bezweifelt, dass esohne den Putsch gegen Mossadegh 1953nicht die extreme Gegenreaktion 26 Jahrespäter gegeben hätte, in Gestalt der Islami-schen Revolution im Iran 1979.Ob Mossadegh oder die Mudschaheddin,der rote Faden in der Dramaturgie Wa-shingtons ist kaum zu übersehen: KeineMacht in der Region und anderswo zu dul-den, die andere als amerikanische undwestliche Interessen vertritt. Die Entschlos-senheit, die Islamische Republik Iran mitallen Mitteln zu bekämpfen, prägte auchden irakisch-iranischen Krieg von 1980 bis1988. Washington unterstützte den Aggres-sor Saddam Hussein, um einen iranischenSieg zu verhindern. Mit Kriegsende war derIrak faktisch bankrott. Saddam marschiertedaraufhin 1990 in Kuweit ein, um dieStaatskasse aufzufüllen. Damit wurde aucher zum „Bösen“ und 2003 schließlich mitHilfe des US-geführten Einmarsches ge-

stürzt. Die unkluge Besatzungspolitik för-derte die Konfessionalisierung des Landes,benachteiligte die Sunniten zugunsten derSchiiten und ließ eine Aufstandsbewegungentstehen, aus deren Reihen der „Islami-sche Staat“ erwuchs.

Schwerwiegende Folgen In Syrien wie-derum sollte unbedingt Baschar al-Assadgestürzt werden. Nicht weil er ein Verbre-cher wäre. Sondern weil er der engste Ver-bündete Teherans in der Region ist. Eine„Mission impossible“, wie vielen mittler-weile dämmert. Westliche Politik hat, ge-meinsam mit unfähigen, allein auf ihrenMachterhalt versessenen arabischen Herr-schern, die arabisch-islamische Welt inweiten Teilen destabilisiert. Die Folgen be-treffen uns alle: in Form von Terror, Insta-bilität und immer neuen Flüchtlingswel-len. Michael Lüders T

Der Autor ist Islamwissenschaftler undPublizist. Sein aktuelles Buch „Wer den

Wind sät. Was westliche Politik imOrient anrichtet“ ist soeben im C.H.

Beck Verlag erschienen.

Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-PaperUS-Invasion im Irak 2003: Grundstein für den Terror des „Islamischen Staates“? © picture-alliance/dpa

Bei allen Unterschieden ha-ben Syrien und Irak derzeiteines gemeinsam: Sie beher-bergen das Kalifat, den vom„Islamischen Staat“ (IS) be-gründeten islamischen Got-

tesstaat. Er dehnt sich trotz Rückschlägenweiterhin im Nordosten Syriens undNordwesten Iraks auf einer Fläche vonGroßbritannien aus. Auch zehn Monatenach dessen Ausrufung ist das Projektlängst nicht am Ende. Verliert die Terror-miliz an Boden im Irak, gewinnt sie in Sy-rien dazu und umgekehrt. Längst sind ih-re Bewegungen nicht mehr nur auf dasKernland Syrien und Irak beschränkt. In-zwischen gibt es Provinzen in Libyen undauf dem Sinai in Ägypten. Es reicht aus,dass eine Dschihadistengruppe Abu Bakral-Bagdadi die Treue schwört und dieserSchwur offiziell vom selbst ernannten Ka-lifen angenommen wird, um fortan dazuzu gehören. Jüngster Zugang ist Boko Ha-ram aus Nigeria, rund 4.000 Kilometervom IS in Syrien und Irak entfernt. Der is-lamistische Dschihadistenstaat greift da-mit nicht mehr nur über Ländergrenzenhinweg, sondern auch über Kontinente.Die Umbenennung von ISIS – IslamischerStaat in Irak und Syrien – in nur mehr IS– Islamischer Staat – bekommt so einenSinn.

Landesweite Proteste Für Syrien-Analys-ten begann alles in Deraa, der Grenzstadtzu Jordanien, wo sich in den ersten April-tagen 2011 eine Menschenmenge durchdie schmalen Straßen der Altstadt schob.Am Anfang des Zuges wurde ein Holzsargvon fünf oder sechs Männern zum Fried-hof getragen. Schon mehr als 100 Totewurden so zu ihrer letzten Ruhestätte ge-leitet. Die Zahl der Trauernden wuchs vonMal zu Mal, und ihre Forderungen wurdenvon Mal zu Mal schärfer. Trauerzüge gerie-ten zu Protestdemonstrationen, die zu-meist gewaltvoll endeten. „Das Blut derMärtyrer ist nicht umsonst geflossen“, sag-te mir die Hausfrau Reem damals, als siezur Demonstration auf die Straßen vonDeraa ging. „Jeder Tote überzeugt uns nurnoch mehr, unsere Rechte einzufordern“.Die Regierung müsse erkennen, dass siedie Protestbewegung nicht mit Waffenge-walt zum Schweigen bringe. Doch dieseErkenntnis fehlt bis heute. Inzwischensind über 200.000 Syrer der Gewalt in Sy-rien zum Opfer gefallen.Reem war von Anfang an dabei, als derAufstand in Deraa vor vier Jahren begann.Wie viele andere Einwohner der 75.000Einwohner zählenden, landwirtschaftlichgeprägten Stadt, konnte sie nicht zu Hau-se bleiben, als die Jungen auf die Straßegingen und mehr Rechte, Jobs und einebessere Wasserversorgung einforderten.„Meine Söhne waren dabei“, nannte sieals Grund, „da konnte ich als Mutter dochnicht schweigen.“ Natürlich seien sie an-gesteckt worden durch die Proteste in Tu-nesien, Ägypten und anderswo in der ara-bischen Welt. Der Erfolg der Ägypter, denseit fast 30 Jahren regierenden Muham-mad Husni Mubarak loszuwerden, habeauch die Syrer darin bestärkt, längst fälligeReformen anzumahnen.Schnell weiteten sich die Proteste auf dasganze Land aus. In Homs, Banias, Jabla,Aleppo, Lattakia, Douma und auch in Da-maskus gingen die Menschen auf die Stra-ße und forderten mehr Freiheit und bür-gerliche Rechte ein. Syriens Präsident Ba-schar al-Assad konterte mit Scharfschüt-zen, Panzern, Boden-Luft-Raketen,Kampfjets, Chemiewaffen und Fassbom-ben. Die Revolution militarisierte und ra-dikalisierte sich. Ausländische Akteuremischten sich ein – erst Iran, die libanesi-

sche Hisbollah und Russland auf Regime-seite, dann Katar, Saudi-Arabien und dieTürkei auf Oppositionsseite. Angelocktvom Staatszerfall kamen zudem ab 2012Terrorgruppen ins Land. Inzwischen spieltdie Freie Syrische Armee, einst Hoffnungs-träger für einen Wandel, kaum noch eineRolle. Heute sind IS und Al-Nusra-Frontdie mächtigsten unter den Assad-Gegnern.Reem und ihre Familie sind nach Jorda-nien geflohen, leben in einem Flücht-lingslager in Deraas Schwesterstadt Ramt-ha und sehen verzweifelt zu, wie ihr Landimmer weiter auseinanderfällt. Das hätten

sie nicht gewollt, sagt die 43-jährige Syre-rin reumütig. Doch Assad habe die Radi-kalität provoziert, die Wölfe angelockt. Erhabe alle als Terroristen bezeichnet, auchsie, die nur friedlich demonstrierten.

Vakuum im Irak Für Irak-Analysten be-gann das Desaster im Mittleren Osten mitder Invasion der Amerikaner im Frühjahr2003. Hätten die nicht die Sicherheitskräf-te aufgelöst und ein riesiges Vakuum ge-schaffen, wäre es nicht soweit gekommen,meint Salam al-Abadi, Professor für So-ziologie an der Bagdad Universität. „Der

Irak nimmt eine Schlüsselrolle ein in derEntwicklung der gesamten Region.“ Ohnedie Fehler der US-Administration wäredem Iran nicht die Tür geöffnet wordenund Al-Qaida hätte kaum Fuß fassen kön-nen.Statt den irakischen Widerstand in denpolitischen Prozess zu integrieren, wurdenehemalige Offiziere der irakischen Armee,Führungskader unter Saddam Husseinund Baath-Parteimitglieder als Verbrecherbehandelt, bedroht, verhaftet, außer Lan-des getrieben, getötet. Diejenigen, die üb-rig blieben, trieb es in die Arme der inter-

nationalen Terrororganisation. „Al-QaidaPlus“ nennt Abadi den IS. Der Kern derTerrormiliz stamme aus jener Zeit, als derBürgerkrieg in Bagdad tobte – 2006/07und 2008. Der Soziologe sieht die Moti-vation der IS-Kämpfer daher auch nichtnur ideologisch. „Ideologie alleine reichtnicht.“ Vielmehr habe man es hier mit ei-ner Radikalität zu tun, die mit den Jahrengewachsen sei.Anfang 2012 erklärte die Organisation imInternet: „Viele Syrer haben Seite an Seitemit dem Islamischen Staat des Irak ge-kämpft, und es sind gute Neuigkeiten,

dass irakische Kämpfer angekommensind, um mit ihren Brüdern in Syrien zukämpfen.“ Die Gruppe empfahl den syri-schen Rebellen, dieselben improvisiertenSprengsätze am Straßenrand zu verwen-den, die sich im Irak-Krieg als äußerst töd-lich erwiesen haben. Kämpften einst syri-sche Sunniten im Irak gegen die amerika-nischen Besatzer und die mit ihnen ver-bundene schiitisch dominierte Regierung,revanchierten sich nun die Glaubensbrü-der im Kampf gegen Assad. Der Macht-kampf auf dem Rücken der Religion setztsich auch in diesem Fall über die Grenzenhinweg fort.

Umstrittene Grenzen Im Ort Rabia ander syrisch-irakischen Grenze spielt sichseit Jahren ab, was sich zu großer Politikin der Region ausgewachsen hat. In denvergangenen Monaten ging die Kontrolleüber den Grenzübergang in der irakischenProvinz Nineve beständig hin und her.Mal kontrollierte IS, mal die irakische Ar-mee, jetzt die kurdischen Peschmerga.Doch wichtiger als der Grenzübergangselbst, sind die Felder und Wiesen linksund rechts – die so genannte Grüne Gren-ze. Schon immer wurde hier geschmug-gelt: Zigaretten, Alkohol, Luxusgüter,Technologie. Alles, was im Irak wegen desEmbargos in den 1990er-Jahren nicht zuhaben war, wurde hier verschoben. AuchMenschen gingen hin und her.Die Stammesgesellschaften Syriens undIraks haben das von Großbritannien undFrankreich 1916 geschlossene Sykes-Picot-Abkommen mit den willkürlich gezoge-nen Grenzen nie akzeptiert. Mitglieder ei-ner der größten Stämme im Irak – Scham-mar – leben auch in Syrien und Jorda-nien. Handel und Wandel über die Gren-zen hinweg blieb Tradition. Als die Zen-tralregierungen in Bagdad und Damaskusimmer schwächer wurden, verstärkte sichdas Treiben an den Nahtstellen der bei-den Länder umso mehr.Als die US-Soldaten Ende 2011 aus demIrak abzogen, wurden in Rabia nichtmehr nur Zigaretten und Alkohol ge-schmuggelt, sondern Kalaschnikows, Pan-zerabwehrraketen, Sturmgewehre, Molo-tow-Cocktails und jede Menge Spreng-stoff. Mit Dollars aus Saudi-Arabien undKatar deckten sich sunnitische Kämpfermit militärischem Gerät ein, die Schiitenbekamen Rial aus Teheran. Selbst in dermehrheitlich von Sunniten bewohntenProvinz Anbar, nordwestlich von Bagdad,fand man iranisches Geld bei totenKämpfern. Ein Stellvertreterkrieg zwi-schen Iran und Saudi-Arabien um dieVormachtstellung in der Region warlängst entbrannt, auch wenn er währendder Anwesenheit der Amerikaner im Iraknicht voll zum Ausbruch kam.Hinter vorgehaltener Hand bestätigen in-des amerikanische Militärs, dass von An-fang an auch mit saudischem Geld Waf-fen gekauft wurden, die dann Amerikanertöteten. Offen zugegeben wurde diesnicht. Die Saudis gelten als VerbündeteWashingtons und des Westens.So ist das nächste Schlachtfeld bereits er-öffnet. Derzeit bahnt sich im Jemen dienächste Katastrophe an. Angeblich sollendie schiitischen Huthi-Rebellen, die derzeitauf dem Vormarsch sind, von Iran unter-stützt werden. Damit rechtfertigt Saudi-Arabien die arabische Allianz aus aus-schließlich sunnitischen Ländern, die Luft-angriffe auf Aden und Sanaa fliegt. DerMittlere Osten steht in Flammen – ganz sowie es der syrische Diktator Assad vor vierJahren prophezeit hat. Birgit Svensson T

Die Autorin arbeitet als freieJournalistin im Irak.

Kämpfer der islamistischen Al-Nusra-Front jubeln über die Eroberung der syrischen Provinzhauptstadt Idlib. Der Verlust ist eine schwere Schlappe für Staatschef Assad (oben im Bild). © picture-alliance/abaca

Region in FlammenSYRIEN Das Land ist, wie auch Teile des Iraks, zum Feld eines Großkonflikts inder islamischen Welt geworden. Verschiedene Akteure verfolgen ganz eigene Ziele

10 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

»Es ist sehr schwierig, eine Idee zu töten«ÄGYPTEN Die Muslimbruderschaft zählt weltweit zur größten Bewegung des politischen Islams. Ihr wahrer Charakter ist nach wie vor undurchschaubar

Ihr robustes Fundament ist ein fast un-sichtbares, feinmaschiges Netz mit Knoten-punkten in 78 Ländern, das Millionen vonMitgliedern zusammenhält. Undurch-schaubar ist es wie auch der „wahre“ Cha-rakter der Muslimbruderschaft. Die tunesi-sche Ennahda-Partei hat hier ebenso ihreWurzeln wie die palästinensische Terroror-ganisation Hamas; so weit ist ihre ideolo-gische Bandbreite. Möglichst wenig Preisgeben, das ist das Leitmotiv der Mutterbe-wegung, der Muslimbruderschaft in Ägyp-ten. Sprecher Gehad Haddad: „Unsere Or-ganisation wurde über achtzig Jahre langim Schatten von Unterdrückung und Ver-folgung aufgebaut“, erklärt Haddad. „ImGeheimen fühlen wir uns wohl.“Er sagte dies im Spätsommer 2013, im Mo-ment der schwersten Krise der Bewegung.Am 3. Juli 2013 entfernte der damaligeOberbefehlshaber der ägyptischen Armee,Abdul Fatah as-Sisi, den von der Muslim-bruderschaft gestellten Präsidenten Mo-hammed Mursi aus dem Amt. Mit Mursi

wurde der gesamte Führungskader sowiezehntausende Gefolgsleute inhaftiert.Nach 18 Monaten an den MachthebelnÄgyptens wurde die Gruppe damit in denAggregatzustand ihrer Entstehung im März1928 zurück katapultiert: Als geheime Be-wegung, als Staat im Staat.Gegründet wurde sie durch den Volks-schullehrer Hassan al-Banna. Mit sechs Ta-gelöhnern bildete er die erste Zelle der Bru-derschaft. Ihr Logo ist seit jeher ihr Pro-gramm: Zwei gekreuzte Schwerter, grünerHintergrund, eine symbolische Darstel-lung des Korans ergänzt mit dem Slogan:„Islam ist die Lösung.“ Die Bruderschaftverstand sich als Emanzipationsbewegunggegen die Übermacht des „Westens“, basie-rend auf Re-Islamisierungstheorien des 19.Jahrhunderts. Al-Bannas Plan: Nach demEnde des Osmanischen Kalifats, 1924,sollte die Bruderschaft dafür sorgen, dassein „gemeinsamer Staat aller Muslime“,aufgebaut wird. Der Weg dorthin sollteüber die „Erziehung“ der Gemeinschaftführen. Die Mitglieder der Bruderschaftsollten als „perfekte“ Muslime, die sich fürdas Gemeinwohl engagieren, für die Ideewerben und so nach und nach die Gesell-schaft revolutionieren. Der Gedanke derglobalen Wirkung ist untrennbar mit demWesen der Bruderschaft verbunden. So

fasste sie nach dem Zweiten Weltkrieg auchin den USA, in Europa, in Österreich,Deutschland und vor allem in Großbritan-nien Fuß. Abdel al-Galil al-Scharnubi, derfür die Öffentlichkeitsarbeit der Muslim-bruderschaft zuständig war, bevor er dieBewegung 2012 verließ, betont: „Die Able-ger im Ausland sind wichtig, vor allem fürihre Finanzierung. Die hohen Ausgabenfür ihre eigenen Schulen, für Spitäler und

Wohltätigkeitsorganisationen sind nurmöglich, weil es globale Investitionen undErträge gibt.“Die Koppelung von Wohltätigkeit und derMission des „wahren Islam“ zählt zu denzentralen Methoden der Bewegung. So un-terhielt die Bruderschaft in Ägypten jahr-zehntelang Krankenhäuser, in denen jähr-lich zwei Millionen Bedürftige behandeltwurden. Das garantierte eine tiefe Veranke-rung in der Gesellschaft, die ein Grund fürdie fulminanten Wahlerfolge ab 1984 war.Die zweite Säule des Erfolges ist der engeZusammenhalt. Zirka 800.000 Mitgliederzählt die Bewegung allein in Ägypten; dieHälfte sind Frauen. Der Aufnahmeprozessdauert Jahre. Verbunden sind die Mitglie-der über „Familien“ („Usras“). Sie beste-hen aus acht bis zehn Mitgliedern und tref-fen sich mindestens einmal pro Woche.„Du bist, sobald du zum vollwertigen Mit-glied erklärt wirst, nichts mehr als Teil derBewegung. Dein ‚Ich‘ hört auf zu existie-ren, es wird durch ein ‚Wir‘ ersetzt“, berich-tet Ex-Bruder Abdel al-Galil Al-Sharnubiüber den hohen Grad der sozialen Kon-trolle innerhalb der Gruppe.Die Usras schicken einzelne Abgeordnetein Komitees, die auf regionaler Ebene Ent-scheidungen treffen. Außerdem bilden sieeinen internationalen Schura-Rat mit 130

Mitgliedern, der ähnlich wie eine Regie-rung mit Fachministern aufgebaut ist. Vondort aus werden Anweisungen blitzschnellzurück nach unten gegeben. An der Spitzesteht der spirituelle Führer der ägyptischenMutterbewegung. Derzeit ist es Moham-med Badie, er ist in Haft und bereits mehr-mals zum Tode verurteilt.Ein Ende der Bewegung bedeutete diesfreilich nicht, auch nicht ihre erneuteKlassifizierung als Terrorgruppe in Ägyp-ten. Die Bruderschaft war fast währendihres gesamten Bestehens in Ägypten ver-boten, in Syrien, Libyen und Tunesienschien sie gänzlich ausradiert. Ihr wider-standsfähiges und unsichtbares Netzwirkte jedoch wie eine widerstandsfähigeLebensader, wie die Entwicklungen nach2011 zeigten. „Man muss sich immer vorAugen führen: Die Muslimbruderschaftist nicht einfach eine Organisation. Sieist vielmehr die Verkörperung einer Idee.Und es ist sehr schwierig, eine Idee zu tö-ten“, urteilt Shadi Hamid, Leiter derDenkfabrik „Brookings Center“ in KatarsHauptstadt Doha. Petra Ramsauer T

Die Autorin berichtet als freie Journalistinaus dem Nahen Osten. Im März 2014

erschien ihr Buch „Muslimbrüder“(Molden Verlag, Wien).

Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-Paper

Der Chef der Muslimbrüder, MohammedBadie, sitzt in Ägypten in Haft.

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ISLAMISTISCHE GRUPPEN

Al-Qaida/Al-Nusra-FrontDas global operierende TerrornetzwerkAl-Qaida ist unter anderem Drahtzieherder Anschläge vom 11. September 2001in den USA. Der Saudi-Araber Osama binLaden (1957-2011) gründete es im Au-gust 1988 während des Afghanistan-Krieges als losen Zusammenschluss jun-ger Muslime, die am Kampf gegen diesowjetischen Invasoren teilgenommenhatten. Mitte der 1990er-Jahre verbün-dete bin Laden sich mit der ägyptischenDschihad-Organisation unter Führungdes heutigen Al-Qaida-Chefs Aiman as-Zawahiri. Damals beschlossen die Part-ner, ihre Strategie zu internationalisierenund den gemeinsamen Feind, die USA,anzugreifen. Die Amerikaner sollendurch Terroranschläge zum Rückzug ausSaudi-Arabien und anderen arabischenLändern bewegt werden. Ziel ist es au-ßerdem, Israel zu vernichten und in den„befreiten“ islamischen Staaten einenGottesstaat zu errichten. Al-Qaida istheute ein loses Netzwerk mit weitge-hend autonom agierenden Zellen inzahlreichen Ländern. Zu ihm gehörenunter anderem die Gruppen im Mah-greb, im Jemen sowie die in Syrien ope-rierende Al-Nusra-Front.

Islamischer Staat (IS)Der „Islamische Staat“ hat seine Wur-zeln im Widerstand gegen die US-ameri-kanische Intervention im Irak im Jahr2003 und die neue irakische Regierung.Damals wurde das Land zum Sammelbe-cken für Islamisten aus aller Welt. 2004wurde die sunnitische Terrororganisationaktiv und verübte im Irak schwere Atten-tate. Ziel ist es, einen Gottesstaat (Kali-fat) im Nahen Osten zu errichten. Er solldas Gebiet der Staaten Syrien, Irak, Liba-non, Israel, Palästina und Jordanien um-fassen. Große Gebiete in Syrien und demIrak hat der IS bereits unter seine Kon-trolle gebracht – und das mit äußersterBrutalität. Im Juni 2014 rief er das Kali-fat unter Führung des Irakers Abu BakrAl-Baghdadi aus. Das religiöse Gesetzdes Islams, die Scharia, wird auf diesemGebiet radikal ausgelegt. Seit Juli 2014bekämpft eine US-geführte Koalition imIrak die Terrorgruppe durch Luftschläge.

HisbollahDie im Libanon operierende schiitischeHisbollah entstand 1982 als Reaktionauf die damalige israelische Besatzung.Sie besteht aus einer Miliz, die unter an-derem von der EU als terroristische Ver-einigung eingestuft wird, und einer Par-tei, die mit 14 Abgeordneten im libanesi-schen Parlament vertreten ist. Die His-bollah-Miliz lehnt das Existenzrecht Isra-els ab. Sie ist für zahlreiche Anschlägeauf die israelische Armee verantwortlich;bei vielen weiteren Anschlägen gegenjüdische und westliche Einrichtungenwird ihre Beteiligung vermutet. Eine UN-Resolution sieht seit 2006 die Entwaff-nung der Hisbollah und anderer Milizenim Libanon vor, jedoch wurde sie bisheute nicht umgesetzt. Unterstützung er-hält die Organisation von Syrien unddem Iran. Einheiten der Hisbollah kämp-fen derzeit in Syrien auf Seiten der Re-gierungstruppen.

HamasDie „Islamische Widerstandsbewegung“(kurz: Hamas) wurde 1987 als palästi-nensischer Zweig der ägyptischen Mus-limbruderschaft gegründet (siehe Textunten links). Seit ihrem Wahlsieg im Jahr2006 regiert sie den Gaza-Streifen.Hochrangige Mitglieder haben wieder-holt den Holocaust geleugnet. Gewaltsieht sie als legitimes Mittel an, um ihrZiel, die die Vernichtung Israels, zu errei-chen; zahlreiche Selbstmordattentateund Raketenangriffe gehen auf ihr Kon-to. Weil die Hamas sich in Gaza auch so-zial engagiert, Arme unterstützt undSchulen betreibt, genießt sie in weitenTeilen der Bevölkerung großen Rückhalt.Ende August 2014 endete nach 50 Tagender Krieg zwischen Israel und der Ha-mas. Dabei starben mehr als 2.100 Pa-lästinenser und 70 Israelis.

Boko HaramBoko Haram (übersetzt: „Westliche Bil-dung ist Sünde“) ist eine islamistischeTerrorgruppe, die vor allem im NordenNigerias operiert. Ihr Ziel ist unter ande-rem die Einführung der Scharia im gan-zen Land. Vorbild sind die afghanischenTaliban. Entstanden Mitte der 2000er-Jahre macht die Gruppe vor allem durchblutige Massaker an Christen und Musli-men sowie Kämpfen mit der Armee vonsich reden. Internationale Aufmerksam-keit erregte sie durch die Entführung vonmehr als 200 Frauen und Mädchen auseiner Schule im April 2014. Im März2015 hat Boko Haram sich formell dem„Islamischen Staat“ angeschlossen. Der-zeit kämpft eine multinationale Truppegegen die Terrororganisation, allerdingsmit mäßigem Erfolg. joh/scr T

Kampf gegen die „Ungläubigen“: Anschlag auf das New Yorker World Trade Center 2001, Mudschahedin um 1980 in Afghanistan. © picture-alliance/dpa

Globalisierung des TerrorsISLAMISMUS Wie der Westen zu einem der Brennpunkte des »Heiligen Krieges« wurde

Spätestens seit dem 11. Septem-ber 2001 hat der Begriff Isla-mismus Hochkonjunktur. Dievom Terrornetzwerk Al-Qaidaverübten Anschläge in denUSA mit fast 3.000 Toten ha-

ben das Bild von fanatischen Muslimen ge-prägt, die ihre Vorstellung vom „wahren Is-lam“ gewaltsam in die Welt tragen. DiesesBild greift zwar zu kurz, weil längst nichtalle Islamisten gewaltbereitsind. Tatsache ist aber, dassin den vergangenen dreiJahrzehnten viele islamisti-sche Organisationen undNetzwerke entstandensind, die ihre Ziele auf demWege des Terrors durchzu-setzen versuchen (sieheText „Islamistische Grup-pen“). Die meisten sind,wie Boko Haram, aus-schließlich in ihren Hei-matländern aktiv, nur sehrwenige operieren wieAl-Qaida weit über Landesgrenzen hinaus.Auch ideologisch unterscheiden sich Isla-misten in den verschiedenen Ländern derWelt stark voneinander. Was sie im Kerneint, ist das Streben nach einem islami-schen Staat. Nationalität ist darin unbe-deutend, stattdessen soll die Religion, derIslam, das individuelle, gesellschaftlicheund politische Leben vollends bestimmen.

Die 1928 in Ägypten gegründete Muslim-bruderschaft (siehe Text unten) war die ers-te große Bewegung, die das offen propa-gierte. Etwas später folgte in einem ande-ren Teil der Erde der indisch-pakistanischeJournalist Sayyid Abul Ala Maududi (1903-1979), auf dessen Schriften sich bis heuteviele Islamisten berufen. Die 1941 von ihmgegründete Partei „Jamaat-e-Islami“ entwi-ckelte sich zur einflussreichsten religiösen,

anti-laizistischen Partei Pa-kistans.Maududi forderte die Mus-lime nicht nur zum „Heili-gen Krieg“ (siehe Seite 11)auf („Entfernt die Men-schen, die sich gegen Gottaufgelehnt haben, aus ih-ren Führungspositionenund errichtet das Kalifat.“).Er nahm auch Gewalt zurErreichung dieses Ziels inKauf: „Was bedeutet derVerlust einiger Menschenle-ben (...) gegenüber dem

Unheil, das die Menschheit befallen wür-de, wenn das Böse über das Gute und deraggressive Atheismus über die ReligionGottes den Sieg davontragen würde?“Mit dem Westen hatte dieser Heilige Kriegnach dem Zweiten Weltkrieg jedoch nochnichts zu tun. Zunächst richtete sich dieGewalt radikaler Islamisten gegen die ein-heimischen, vorwiegend säkularistischen

Regime. „Zentrales Anliegen der verschie-denen islamistischen Organisationen, wiesie sich nach der Gründung der Muslim-bruderschaft auch außerhalb Ägyptens he-rausgebildet haben“, urteilt der Jenaer Is-lamwissenschaftler Tilman Seidensticker,„war die Wiederherstellung des ‚richtigen‘Islams innerhalb der islamischen Welt.“Angriffe auf politische Eliten, wie die Er-mordung des ägyptischen Staatspräsiden-ten Anwar al-Sadat 1981,seien islamrechtlich damitbegründet worden, dass essich bei ihnen nur nomi-nell um Muslime handele,sie tatsächlich aber als Un-gläubige anzusehen seien.Zunehmend bedeutsamwurde aber auch die Ab-wehr von politischer, öko-nomischer und kulturellerBeherrschung durch denWesten. So kam es in ver-schiedenen islamischenLändern zu Angriffen gegenwestliche militärische Einrichtungen undBotschaften, etwa während des libanesi-schen Bürgerkrieges. Der Anschlag auf ei-nen US-Stützpunkt 1983 in Beirut fordertebeispielsweise mehrere hundert Todesopferund führte zum Abzug der multinationa-len Streitkräfte .Doch erst mit Beginn der 1990er Jahre er-reichte der islamistische Terror, genauer ge-

sagt der Terror von Al-Qaida, den Westen.Ab 1993 plante und verübte die Organisa-tion in den USA zahlreiche Anschläge. Mitdem (weitgehend gescheiterten) Bomben-angriff auf das World Trade Center 1993 inNew York attackierten die Islamisten erst-mals ein Symbol westlicher wirtschaftli-cher Hegemonie. „Der Islamismus“, erklärtIslamexperte Seidensticker, „wurde für dieradikalen Strömungen in dieser Zeit zu ei-

ner militanten Ideologie,die sich auf ein Narrativvon den Muslimen als Op-fer einer Verschwörung von‚Kreuzzüglern und Zionis-ten‘ stützt.“Eine Entwicklung, die vonverschiedenen Motoren vo-rangetrieben wurde, allenvoran der sowjetischen Be-satzung in Afghanistan(1979-1989) und der Sta-tionierung von US-Truppenin Saudi-Arabien. Ab 2003beförderte die Invasion US-

amerikanischer und britischer Truppen inden Irak zudem das Entstehen der Terror-gruppe „Islamischer Staat“.Besonders Afghanistan erweist sich imRückblick als bedeutende Brutstätte desglobalen islamistischen Terrors. Denn dort-hin strömten ab 1979 tausende Freiwillige(„Mudschahedin“) aus verschiedenen isla-mischen Ländern, um gegen die sowjeti-

schen, „ungläubigen“ Invasoren zu kämp-fen – großzügig unterstützt von den Verei-nigten Staaten, Saudi-Arabien und Pakis-tan. Das erwies sich später als Bumerang.Denn viele dieser Mudschahedin schlossensich Ende der 1980er Jahre zusammen, umden „Heiligen Krieg“ auch außerhalb Af-ghanistans fortzusetzen. Angeführt vondem in Saudi-Arabien geborenen, späterenTop-Terroristen Osama bin Laden entstandAl-Qaida – und die Gruppe attackiertebald auch den Erzfeind USA: Durch Terror-anschläge sollten sie zum Rückzug ausSaudi-Arabien sowie zum Ende der Finanz-hilfen für Ägypten gebracht werden. Außer-dem wollten die Islamisten die Amerikanerals Schutzmacht Israels treffen.Nach den Anschlägen vom 11. September2001 schlossen sich auch viele europäischeLänder dem US-geführten „Krieg gegenden Terror“ an. In der Folge nahm die isla-mistische Gewalt auch in Europa zu. Alleinbei den Anschlägen von Madrid (2004)und London (2005) starben 247 Men-schen. In beiden Fällen hatten die Terroris-ten – viele von ihnen pakistanischer Her-kunft – gar keine Verbindungen zu Al-Qai-da. Sie handelten autonom, angestacheltaber von den zahlreichen Videobotschaf-ten der Terrororganisation. Muslime in al-ler Welt werden darin aufgefordert, Un-gläubige und Feinde des Islams zu tötenund die Ehre des Propheten Mohammedzu verteidigen. Johanna Metz T

Die Gewaltrichtete

sichzunächstgegen die

einheimischenRegime.

Ein Motorfür die Ra-

dikalisierungwar die

sowjetischeInvasion in

Afghanistan.

Handelt es sich beimDschihad um einen mili-tanten Kampf gegen An-dersgläubige oder umdas Bemühen für eingottgefälliges Leben? Die

immer wieder zu findende Übersetzung vonDschihad als „Heiliger Krieg“ jedenfalls ver-zehrt den Begriff in hohem Maße. Ein Ver-ständnis von Dschihad, das sich nur auf einoberflächliches Lesen des Korans stützt,führt in die Irre. Auch ein Verständnis derdurch Rechtsschriften geprägten Vorstellungvon Dschihad, die etwa über Kriegsrechthandeln, ist nur eine Teilwahrheit.Was bleibt also? Schauen wir in den Koran,ist das Bild uneinheitlich. Es wird in der ei-nen oder anderen Form der Begriff Dschi-had an rund 40 Stellen erwähnt, von denennur zehn sich eindeutig auf die Kriegsfüh-rung beziehen. Ist koranisch vom Krieg dieRede, werden häufiger andere Begriffe ver-wendet. Schaut man in repräsentative Ko-rankommentare können wir sehen, dass infrüher Zeit Dschihad eher als Anstrengungder Gläubigen verstanden wurde, gottgefäl-lig zu leben. Erst später findet sich ein Ver-ständnis von Dschihad als rein militäri-schem Kampf.In der frühen Sammlungen von Hadithen,also der Überlieferungen von und über denPropheten Muhammad, sehen wir eine in-tensive Debatte darüber, ob die Kriegsfüh-rung moralisch höherwertig als andere reli-giöse Pflichten sei. Interessant ist, dass gera-de in Syrien, also der Front gegenüber demdamaligen byzantinischen Reich, die Pro-Kriegs-Auffassung von Dschihad überwog.In den späteren großen Hadithsammlungenwird Dschihad eher als Krieg verstanden –ohne allerdings andere Auffassungen völligauszuschließen. Als wichtigste gegenläufigePosition mag eine Überlieferung gelten, dieden inneren Kampf mit der Triebseele alswichtiger als den militärischen Kampf an-sieht.

Streben nach Erkenntnis Bis zum 9. Jahr-hundert entwickelte sich unter dem Begriffdes Dschihad eine kriegsrechtliche Lehre,die den Anforderungen der Legitimierungund Regulierung der Kriege der neuen isla-mischen Reiche entsprang. Ein wichtigesElement war dabei die Unterscheidung zwi-schen der Pflicht zum kollektiven Dschihad,der in erster Linie den Herrschern und ihrerArmee oblag, und der Pflicht zum individu-ellen Dschihad, der jeden einzelnen Gläubi-gen im Verteidigungsfalle traf. Damit warein Freiraum für die Gläubigen geschaffen,der die Kriegszwänge vormoderner Zeiteneinhegte. In späteren Korankommentaren istallerdings zu finden, dass selbst koranischeBegriffe allein für Krieg und Kampf – alsonicht Dschihad – als innerer Kampf gegendie Triebseele und Streben nach Gotteser-kenntnis verstanden werden.Es gibt auch jenseits des Korans und der Ha-dithe Quellen für den Begriff. In einem Fürs-tenspiegel, einem Ratgeber für künftigeHerrscher aus dem 12. Jahrhundert, wirdder Dschihad erwähnt. Zuerst wird ausführ-lich der Dschihad als Anstrengung gegen dieVersuchungen der Triebseele beschrieben.Erst dann wird der militärische Dschihad er-wähnt, ein für Herrscher unabdingbarer Be-reich, dem allerdings der Dschihad gegendie Triebseele vorgereiht wird.In einem Handbuch für Sufis, islamischeMystiker aus dem 11. Jahrhundert, wirdDschihad in genau dieser Lesart verstanden.Ähnliche Auffassungen finden sich in vielen

etlichen sufischen Quellen. Bedenkt man,dass für lange Jahrhunderte der Sufismusdas religiöse Leben in muslimischen Gesell-schaften prägte, dürfte dieses Dschihadver-ständnis wohl prägend gewesen sein. Aller-dings ist auch für Sufis der militärischeDschihad weiterhin präsent. Ob er geführtwurde, hing von den historischen Umstän-den ab.Die Predigt für den Dschihad war oft an be-sondere historische Ereignisse gebunden.Der erste Kreuzzug bedeutete einen Auf-schwung der Dschihadpredigt und -dich-tung im syrischen Raum, die allerdings be-wusst belebt werden musste. War die akuteGefahr vorbei, ließ auch die Dschihadbe-geisterung nach: Die Menschen neigten eherzur Koexistenz mit den ansässig gewordenen

Franken – und wandten sich manchmal mitihnen gemeinsam gegen neue Kreuzfahrer.Im damals muslimischen Teil der IberischenHalbinsel wurde angesichts der Konfrontati-on mit den christlichen Gegnern der militä-rische Dschihad immer wieder betont;manchmal wurde er für eine Pilgerfahrt ge-halten. Militärischer Dschihad wurde aberauch gegen andere Muslime geführt.Bei der Zwölfer-Schia, jener im 10. Jahrhun-dert im heutigen Irak entstandenen Grup-pierung der Schiiten, ist der offensive militä-rische Dschihad theoretisch suspendiert bisder in der Verborgenheit lebende zwölfteImam wieder erscheint; ein Verteidigungs-krieg ist weiterhin erlaubt. Allerdings gab esimmer wieder Versuche, auch führenden Ge-lehrten und nicht nur dem Imam zu erlau-

ben, zum Dschihad aufzurufen. Modernezwölfer-schiitische Theoretiker betonen denDschihad häufig als Kampf gegen Ungerech-tigkeit.In zwölfer-schiitischen Korankommentarenfindet sich zum Beispiel bei einem herausra-genden schiitischen Philosophen des17. Jahrhunderts die klare Betonung desDschihad als spirituelle, innere Anstrengungauf dem Weg zu Gott. Beim vielleicht be-deutendsten zwölfer-schiitischen Koran-kommentator des 20. Jahrhunderts findensich zwar Erwähnungen kriegsrechtlicher Re-gelungen, aber vor allem die Erweiterungdes Dschihadbegriffes auf den innerenKampf beziehungsweise den Kampf gegendas Böse – ein Kampf, dem der Vorrang ge-geben wird.

Auch im sunnitischen Bereich gibt es ähnli-che Konfigurationen. Einer der führendensunnitischen Gelehrten des 17. Jahrhundertsaus Damaskus erkennt zwar die Notwendig-keit eines Verteidigungskrieges an, gibt aberdem inneren Kampf gegen die negativen Be-strebungen der Triebseele den unbedingtenVorrang und sieht ihn als weit schwierigerals den militärischen Dschihad an.Für die Vormoderne lässt sich festhalten,dass unter Dschihad auch Krieg nach außenund gegen Rebellen im Inneren verstandenwird; die Mehrzahl der Quellen beziehensich aber eher auf einen Dschihadbegriff be-zieht, der nicht militärisch ist.Insbesondere im 19. und 20. Jahrhundertwurde der Begriff des gewaltsamen Dschihadals Bezeichnung für den bewaffneten Kampfinsbesondere gegen Kolonialmächte aktuali-siert, eine Vorstellung, die sich dann in Pa-lästina oder im Libanon als gewaltsamerKampf gegen Besetzung wiederfindet. DieAusläufer dieses Begriffes kann man in arabi-schen Schulbüchern oder arabischen militär-strategischen Abhandlungen sehen, die ehervom militärischen Dschihad sprechen.

Befreiungskampf Die extreme Ausfor-mung des militärischen Dschihadverständ-nisses sind die dschihadistischen Strömun-gen der Gegenwart. Die Mörder des ägypti-schen Präsidenten Anwar al-Sadat im Jahre1981 hatten eine Programmschrift, die vomgewaltsamen Dschihad als vernachlässigterGlaubenspflicht sprach. Im Kampf gegendie Rote Armee, die 1979 in Afghanistaneinmarschiert war, entstand der Dschihadi-mus als transnationale Bewegung. Es bilde-te sich eine Zweiteilung des Begriffes desgewaltsamen Dschihad heraus: Einmal alsKampf zur Befreiung besetzter oder für be-setzt gehaltener muslimischer Länder (Af-ghanistan, später Bosnien und Irak) undzum anderen der transnationale Dschihad,der sich gegen mehrere Feinde wendet: denWesten, die arabischen Staaten, die als des-sen Komplizen definiert werden, und spä-ter auch gegen die Zwölferschiiten.Dieser gewaltsame Dschihad wurde zu-nächst als Verteidigungskrieg definiert, dannauch als Krieg zur Befreiung aller ehemalsmuslimischen Länder und in letzter Stufe alsKrieg zur Unterwerfung der ganzen Welt.Dies wird besonders deutlich vom „Islami-schen Staat“ nach der Ausrufung eines Kali-fats im Sommer 2014 proklamiert. Der ge-waltsame Dschihad ist das zentrale Merkmaldieser Strömung, die mit hohem Aufwandversucht, die islamischen Traditionen so zuinterpretieren, dass sie alle möglichen For-men der Gewalt rechtfertigt.Der Dschihad wird in der Gegenwart aberauch als Erziehungs-Dschihad oder im Iranals Aufbau-Dschihad gedeutet. Seit dem 19.Jahrhundert haben islamische Gelehrte im-mer wieder über einen friedlichen Dschihadals gewaltlosen Kampf gegen Ungerechtigkeitreflektiert, die muslimische Teilhabe am vonMahatma Gandhi geführten gewaltlosenKampf wird so verstanden, in Indonesien be-tonen Vertreter muslimischer Massenorgani-sationen, Dschihad sei nicht Gewalt. Die in-nermuslimische Auseinandersetzung mitdem Dschihad hat auch theoretisch begon-nen, aber bis jetzt bei weitem nicht die Brei-tenwirksamkeit jener Deutung erreicht, dieden Begriff allein in seiner militärischen Di-mension auslegt. Rüdiger Lohlker T

Der Autor ist Professor fürIslamwissenschaften am Institut

für Orientalistik der Universität Wien.

Um Gottes WillenDSCHIHAD Die Deutung als »Heiliger Krieg« greift zu kurz

Anhänger des „Islamischen Dschihad in Palästina“ im Jahre 2012 © picture-alliance/dpa

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 11

VERFOLGTE CHRISTEN

Weltverfolgungsindex Auf rund100 Millionen schätzt das überkonfessio-nelle christliche Hilfswerk „Open Doors“die Zahl jener Christen, die wegen ihresGlaubens verfolgt werden. In 40 der 50Länder, die der jährlich herausgegebene„Weltverfolgungsindex“ auflistet, machtdie Organisation „islamischen Extremis-mus als eine oder die maßgebliche Trieb-kraft für die Verfolgung“ aus. Neun derersten zehn Staaten auf dieser Liste sind– nach Nordkorea auf Platz eins – Ländermit muslimischer Bevölkerungsmehrheitoder bedeutender muslimischer Minder-heit. Darunter sind etwa Syrien, Sudan,Eritrea und Nigeria sowie Somalia, Irak,Iran, Afghanistan und Pakistan, die denIslam entweder als offizielle oder alsStaatsreligion in ihrer Verfassung festge-schrieben haben.

Syrien und Irak Die Organisation sprichtdavon, dass zusätzlich zu gewaltsamenÜbergriffen schleichende Islamisierungund die damit einhergehende Radikalisie-rung von Teilen der Bevölkerung diechristlichen Minderheiten unter wachsen-den Druck setzen würden. Das relativgroße Maß an Freiheit etwa für syrischeChristen in der Zeit vor dem Bürgerkrieghabe durch das Kalifat des „IslamischenStaates“ (IS) ein Allzeittief erreicht. Vonden 1,8 Millionen Christen aus der Zeitvor dem Bürgerkrieg würden nur noch1,1 Millionen in Syrien leben, viele davonals Flüchtlinge im eigenen Land. Auch inTeilen des Iraks habe der IS Christen, Jesi-den, Schiiten und Angehörige andererMinderheiten vertrieben, viele seiengrausam ermordet oder versklavt wor-den.

Iran und Türkei Auch der Iran, der imvergangenen Jahr noch an 9. Stelle aufdem Index notierte, ist auf Platz 7 vorge-rückt. Anders als in Ländern wie Syrienoder Nigeria gehe die Verfolgung hier je-doch vom Regime selbst aus. Sorge berei-tet den Herausgeber des Indexes zudemder Blick in die Türkei: Nach dreijährigerAbwesenheit kehre das Land unter dieersten 50 Länder des Weltverfolgungsin-dexes zurück. Wesentlich beigetragen zuder aktuellen Verschlechterung habe derwachsende islamische Nationalismusdurch Präsident Erdogans „Partei für Ge-rechtigkeit und Aufschwung“ (AKP).

Abkehr vom Glauben Aufmerksam be-obachtet „Open Doors“ zudem den Um-gang mit jenen Menschen, die sich vomIslam abwenden. Für Apostasie, also dieAbkehr vom Islam, droht in einigen mus-limischen Ländern die Todesstrafe. Ob-wohl viele muslimische Staaten die Allge-meine Erklärung der Menschenrechte unddamit das Recht auf Religionsfreiheit und-wechsel anerkannt hätten, ermöglichedies nach islamischem Verständnis zwareinem Juden oder Christen Muslim zuwerden, nicht aber einem Muslim Christzu werden. Die 1990 von den Mitglied-staaten der Organisation der IslamischenKonferenz beschlossene „Kairoer Erklä-rung der Menschenrechte im Islam“ stel-le die Allgemeine Erklärung der Men-schenrechte unter den Vorbehalt derÜbereinstimmung mit der Scharia.

Fehlender Mut zu schweren EntscheidungenNAHOST-KONFLIKT Israel Premier Netanjahu distanziert sich von der Zweistaatenlösung. Von einer Beilegung ihres jahrzehntelangen Konflikts bleiben Palästinenser und Israelis weit entfernt

„Wer eine andere Lösung als die zwei Staa-ten hat, soll es mir sagen“; sagt Saeb Ere-kat. Der Chefunterhändler der Palästinen-sischen Befreiungsorganisation (PLO), warfast immer dabei, wenn Israelis und Paläs-tinenser über die Aufteilung von Land undWasser berieten, über die Rechte vonFlüchtlingen, Regelungen für Siedler,Grenzverläufe, Sicherheit, Jerusalem undGaza. Seit der Unterzeichnung der OsloerPrinzipienerklärung 1993 lautete das offi-zielle Ziel des nahöstlichen Friedenspro-zesses die Trennung der beiden Völker inzwei Staaten. Jassir Arafat, damals PLO-Chef, der frühere israelische Regierungs-chef Yizhak Rabin und Ex-AußenministerSchimon Peres wurden für die historischeEinigung in Oslo mit dem Friedensnobel-preis ausgezeichnet.

Unabhängigkeit Fast ein Vierteljahrhun-dert später erteilt Israels aktueller Regie-rungschef Benjamin Netanjahu der Zwei-staatenlösung eine Absage. Unter seinerRegierung werde es keinen Palästinenser-staat geben, meinte er am Vorabend derWahlen, die er Mitte März erneut für sichund seinen konservativen Likud entschied.Zum ersten Mal verweigert sich eine israeli-sche Regierung offiziell dem Frieden - auchwenn Netanjahu kurz darauf rhetorisch zu-rückruderte.Lange Zeit war es umgekehrt. Die arabi-schen Staaten lehnten den UN-Teilungs-plan für Palästina und die Gründung Isra-els ab. Als David Ben-Gurion, der erste Re-gierungschef, im Mai 1948 die Unabhän-gigkeit des jüdischen Staates erklärte, grif-fen die bewaffneten Truppen aus Jorda-nien, Ägypten, Syrien, Libanon und Irak

an. Erfolglos. Zum ersten Mal verschobensich die Grenzverläufe zu Gunsten der Is-raelis, obschon Ägypten nach dem Kriegden Gazastreifen unter seiner Kontrollehatte und Jordanien das Westjordanland,einschließlich Ostjerusalem und der Alt-stadt. König Abdallah in Amman gewährteden Palästinensern, die in sein Land flohenund der palästinensischen Bevölkerung imWestjordanland die jordanische Staatsbür-gerschaft, während die Menschen im Gaza-streifen staatenlos blieben.Kaum 20 Jahre später unternahmen diearabischen Staaten 1967 einen zweitenVersuch, Israel von der Landkarte ver-schwinden zu lassen, und scheiterten er-neut. Innerhalb von sechs Tagen erobertendie israelischen Truppen das Westjordan-land, den Gazastreifen und die Golanhö-hen. Trotz der Euphorie über den weitrei-chenden Sieg signalisierten die Israelis Ver-handlungsbereitschaft. Die Arabische Ligaberiet in der Hauptstadt vom Sudan überden nächsten Schritt und einigte sich raschauf die Khartum-Resolution der drei Neins:Nein zum Frieden mit Israel, Nein zu Ver-handlungen mit Israel und Nein zur Aner-kennung Israels.Der junge Jassir Arafat war zu diesem Zeit-punkt zwar schon Palästinenserchef, die1964 gegründete PLO wurde aber als Al-leinvertretung für die Palästinenser erstzehn Jahre später offiziell von der Arabi-schen Liga anerkannt und kurz daraufauch von der UN. Arafat setzte auf Terrorals Mittel zur Befreiung Palästinas. DiePLO-Milizen lancierten in den Nachkriegs-jahren ihre Angriffe gegen Israel von Jorda-nien aus, später aus dem Libanon undauch auf internationalem Terrain, oft in

Form von Flugzeugentführungen. Der„Schwarze September“, Synonym für denpalästinensischen Terror, sollte an den blu-tigen Herbst 1970 erinnern, als König Hus-sein die ihm bedrohlich gewordene PLO-Führung aus Jordanien vertrieb.

Friedensprozess Erst im November 1988rief die PLO offiziell die UnabhängigkeitPalästinas aus, das an der Seite eines jüdi-schen Staates existieren sollte. Mit 40-jähri-ger Verspätung erklärten sich nun auch diePalästinenser grundsätzlich mit dem UN-Teilungsbeschluss einverstanden. Verzögertdurch den zweiten Golfkrieg und dem inIsrael bis 1992 gültigen Gesetz, das Kon-takte zur PLO unter Strafe stellte, kam es

erst im September 1993 zum offiziellenStart des Friedensprozesses zwischen Israelund der PLO, die bis heute die Verhand-lungen im Auftrag der Palästinenser führt.Beginnend in Jericho und im Gazastreifensollten sich die israelischen Truppen ausden besetzten Gebieten zurückziehen, umnach fünf Jahren die Gründung Palästinasim Gazastreifen und Westjordanland zu er-möglichen. „Lieber ein kleines Israel, dafüraber jüdisch“, argumentierte der damaligeRegierungschef Rabin für die Zweistaaten-lösung, die Israel langfristig eine jüdischeMehrheit im eigenen Staat sichern sollte.Als Rabin zwei Jahre später von einem jü-dischen Extremisten in Tel Aviv erschossenwurde, gerieten die Verhandlungen rasch

in eine Sackgasse. Auf beiden Seitenbremsten radikale Kräfte. Den Terror be-kämpfen, als gebe es keine Verhandlungen,und Verhandlungen führen, als gebe es kei-nen Terror, war Rabins Devise. Es gelangseinem Nachfolger Schimon Peres nicht,und auch Ehud Barak, der im Sommer2000 einen letzten Versuch zur Einigungmit Arafat unternahm, scheiterte.

Zweite Intifada Mit der anschließendenblutigen Terrorwelle der „Zweiten Intifada“verlor Arafat seine Glaubwürdigkeit alsPartner für den Frieden. Der konservativeRegierungschef Ariel Scharon stellte denPalästinenserchef unter Hausarrest undreagierte mit massiven Militäreinsätzen ge-gen die Palästinenser. Im Alleingang ent-schied Scharon fünf Jahre später über deneinseitigen Abzug aus dem Gazastreifenund ließ die jüdischen Siedlungen zumTeil sogar mit militärischer Gewalt räumen.Das neu entstandene Machtvakuum fülltedie islamistische Hamas, die sich Anfang2006 bei den allgemeinen palästinensi-schen Wahlen durchsetzte und kurz daraufdie Kontrolle über den Gazastreifen ge-wann.Die Palästinenser sind seither zerrissen. ImGazastreifen herrscht die Hamas, im West-jordanland, wo Machmud Abbas seit demTod Arafats Präsident der Autonomiebe-hörde ist, die Fatach. Abbas hielt, unge-achtet des Siedlungsbaus, den Israel imWestjordanland vorantrieb, an Verhand-lungen fest, will aber nun, da sich Netan-jahu als Partner für die Zweistaatenlösungdisqualifizierte, noch stärker als bisherden Konflikt auf die internationale Bühneverlagern. Anklagen vor dem Internationa-

len Strafgerichtshof stehen an und ein er-neuter Antrag vor dem Sicherheitsrat aufdie Anerkennung des Staates Palästina.„Mit jedem Stein einer Siedlung verstößtIsrael gegen das Völkerrecht“, meinte Ere-kat jüngst.Die PLO kündigte zudem an, die Sicher-heitskooperation mit Israel einzustellen,was der Aufforderung gleichkommt, dieisraelischen Truppen wieder in Regionenzu stationieren, aus denen sie im Verlaufdes Friedensprozesses schon abgezogenwaren. Aus Mangel an Mut zu schwerenEntscheidungen und Kompromissbereit-schaft, die mal auf der einen Seite, malauf der anderen Seite bestand, nie aberlange genug bei beiden Partnern gleich-zeitig, rast die Region nun auf die Einstaa-tenlösung zu. Sie würde das Ende markie-ren vom Traum der Eigenstaatlichkeit fürdie Palästinenser und wohl auch von Isra-el als jüdischer und demokratischer Staat.Weil eine Zweistaatenlösung immer stär-ker zur Utopie werde, so schreibt der is-raelische Publizist Uzi Baram in der Ta-geszeitung „Haaretz“, müsse Israels Linkeeine strategische Wende vollführen. Fort-an gelte es, dafür zu sorgen, dass es in Is-rael gleiche Rechte geben wird für Judenwie für Palästinenser. Susanne Knaul T

Die Autorin berichtet als freieKorrespondentin aus Israel.

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PLO-Führer Jassir Arafat, Israels Außenminister Schimon Peres und Ministerpräsident YizhakRabin (von links) 1994 bei der Verleihung des Friedensnobelpreises © picture-alliance/dpa

Als der türkische PräsidentRecep Tayyip Erdogan An-fang April der Familie desvon Linksextremisten er-schossenen IstanbulerStaatsanwaltes Mehmet Se-

lim Kiraz einen Beileidsbesuch abstattete,betete der Staatschef zusammen mit denAngehörigen und las eine Sure des Korans.Für Erdogan ist es auch als Oberhaupt dersäkularen Republik eine Selbstverständ-lichkeit, seine Religiosität als frommerMuslim offen zu zeigen und dem Islam imAlltag des Landes eine größere Rolle einzu-räumen.Ist die Türkei auf dem Weg in einen islami-schen Gottesstaat? Viele Kritiker sind mehrals zwölf Jahre nach dem Machtantritt derErdogan-Partei AKP überzeugt, dass dieGefahr für das Land ganz woanders liegt.Die Partei für Gerechtigkeit und Entwick-lung (AKP), im Jahr 2001 gegründet, hatihre Wurzeln in früheren islamistischenParteien der Türkei. Die bis dahin erfolg-reichste dieser Parteien, die Wohlfahrtspar-tei (RP) des früheren MinisterpräsidentenNecmettin Erbakan, wurde 1997 auf Druckder Militärs aus der Regierung gedrängtund 1998 verboten.Die damaligen Jungstars der RP, unter ih-nen Erdogan und der spätere Staatspräsi-dent Abdullah Gül, gründeten die AKP, diesich nach dem Vorbild der christdemokra-tischen Parteien in Europa als wertkonser-vative Kraft auf der Grundlage religiöserÜberzeugungen verstand. Für ihre säkula-ristischen Gegner war die AKP aber ledig-lich ein islamistischer Wolf im demokrati-schen Schafspelz. Noch im Jahr 2007 droh-ten die Militärs offen mit einem Putsch ge-gen Erdogan, ein Jahr später schafften essäkularistische Gegner fast, die AKP verbie-ten zu lassen.

Stimme der Kleinbürger Erdogan konntediese Angriffe vor allem deshalb abwehren,weil die türkische Gesellschaft die ständi-gen Einmischungen der Militärs satt hatteund weil die AKP einer wichtigen Bevölke-rungsschicht erstmals eine Stimme gab: Sievertritt die konservativ-kleinbürgerlichenAnatolier, die von den lange herrschendenSäkularisten als rückständig und ungebil-det bezeichnet wurden. In der Türkei be-deutete Laizismus anders als in Europanicht die Trennung von Staat und Religion,sondern die Kontrolle der Religion durchden Staat sowie die Ausgrenzung der Reli-gion aus staatlichen Institutionen.Diese Opferrolle der frommen Muslimewusste Erdogan geschickt zu nutzen und inpolitische Erfolge umzumünzen. Die Leis-tungen der AKP auf dem Gebiet der Wirt-schaftspolitik und der Dienstleistungen –Ausbau des Straßennetzes, Reform des Ge-sundheitssystems – schafften einen neuenWohlstand im Land.Viele Veränderungen waren längst überfäl-lig. Das Kopftuchverbot an den Universitä-ten etwa hatte ganzen Generationen vonFrauen eine Hochschulbildung unmöglichgemacht. Die EU-Bewerbung der Türkei er-hielt neuen Schwung, demokratische Re-formen halfen unter anderem dabei, denMachtanspruch der Militärs zurückzudrän-gen. Stets betonte die AKP, sie wolle ledig-lich Ungerechtigkeiten beseitigen, achteaber darauf, die Rechte Andersdenkendernicht zu verletzen. So stieg der Alkohol-konsum in der Türkei unter der angeblichislamistischen AKP-Regierung stetig an, dieWeinindustrie erlebte einen rasanten Auf-schwung.

Umbau des Systems Doch spätestensnach dem AKP-Triumph bei der Parla-mentswahl im Jahr 2011, bei der Erdoganfast 50 Prozent der Stimmen einfuhr, än-derte sich das Bild. Erdogan ging nun da-ran, die Grundlage für eine dauerhafte Vor-herrschaft seiner religiös-konservativen An-

hänger zu legen. Mit dem Vorhaben, dasparlamentarische System der Türkei durchein Präsidialsystem zu ersetzen, will Erdo-gan die Macht der strukturellen Mehrheitder konservativen Türken zementieren. Erhat die anstehende Parlamentswahl am7. Juni zu einer Abstimmung über seinePräsidialpläne erklärt.Doch es ist gar nicht so sehr die islami-sche Einfärbung von Erdogan und derAKP, die viele Türken derzeit beunruhigt.Nicht zu islamisch, sondern zu türkischsei die AKP, schrieb der kritische Journa-list und Buchautor Mustafa Akyol einmal:Die Regierungspartei hat Geschmack ander Tradition des türkischen Obrigkeits-staates gefunden. Autokratische Tenden-zen machen sich unter anderem in Straf-prozessen gegen Schüler, Studenten undJournalisten bemerkbar, die wegen angeb-licher Erdogan-Beleidigung vor Gerichtkommen.Immer häufiger betrachten Erdogan unddie AKP die Kritik ihrer Gegner nicht alsBestandteil des Alltags in einer Demokra-

tie, sondern als Landesverrat. Auch dieHaltung der AKP im Korruptionsskandaldes vergangenen Jahres, bei denen es un-ter anderem um ein Geschenk in Gestalteiner mehrere hunderttausend Euro teu-ren Armbanduhr an einen Minister ging,hat einige fromme Muslime verstört.Die Regierung bezeichnete alle Vorwürfeals Komplott und weigerte sich, die Be-schuldigten vor Gericht zu bringen. Dabeiwar die AKP einst als Partei angetreten, dieKorruption mit festen religiösen Grund-werten bekämpfen wollte; das „ak“ im Par-teinamen heißt „weiß“ oder „sauber“.

Kult um Erdogan Gleichzeitig lässt dieAKP einen religiös gefärbten Personenkultum Präsident Erdogan zu, der jedemfrommen Muslim ein Graus sein müsste.Die ständige Machterweiterung des Präsi-denten unter dem Motto der „Neuen Tür-kei“ stößt zunehmend auch islamischeKreise ab. Die Gruppe der „Antikapitalisti-schen Muslime“ etwa wirft Erdogan undder Partei AKP vor, die wahren Werte des

Islams zu verraten und stattdessen einenreligiös verbrämten Autokratismus in derTürkei zu propagieren.Hinzu kommt, dass sich Erdogan zuneh-mend mit Ja-Sagern umgibt, die eine älte-re Generation von islamistischen Genos-sen der ersten Stunde verdrängen. Schonbeginnen einige Reform-Muslime, sichvon der AKP abzuwenden. Der Vordenkerder „Antikapitalistischen Muslime“, IhsanEliacik, ist als Parlamentskandidat für dieWahl im Juni im Gespräch. Er will sich al-lerdings nicht für die AKP aufstellen las-sen, sondern für die Kurdenpartei HDP.Und auch die islamistische KolumnistinSibel Eraslan schrieb erst vor kurzem in ei-nem Artikel der Zeitung „Star“, offenbarsei die Zeit derer vorbei, die Politik nochmit „einer Mission und mit Werten“ be-trieben hätten. Mit Erdogans „Neuer Tür-kei“ will daher auch Eraslan nichts mehrzu tun haben. Susanne Güsten T

Die Autorin ist freie Korrespondentinin der Türkei.

Nach der Parlamentswahl am 7. Juni will Präsident Erdogan versuchen, seine Befugnisse weiter auszubauen. © picture-alliance/AA

Auf alten WegenTÜRKEI Nicht die Islamisierung ist das Problem des

Landes, sondern ein zunehmend autokratisches System

12 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

Ein schwieriger Drahtseilaktim Land der VulkaneINDONESIEN Das Land setzt auf einen moderaten Islam

„Die Wahl hat gezeigt, dass Islam und De-mokratie Hand in Hand arbeiten können.“Das hatte Indonesiens frischgebackenerPräsident Joko „Jokowi“ Widodo im ver-gangenen November stolz erklärt, als erkurz nach seinem Wahlsieg zum erstenMal mit US-Präsident Barack Obama zu-sammentraf.Seine Heimat, erklärte Jokowi damalsbeim APEC-Gipfel in Peking zufrieden, ha-be schließlich 30 Jahre Erfahrung darin,Probleme mit religiösen Fanatisten zu lö-sen. In keinem Land der Erde leben mehrMuslime, als in dem südostasiatischen In-selstaat: 88 Prozent der 250Millionen Indonesier gehö-ren dem islamischen Glau-ben an, die meisten von ih-nen sind Sunniten.Obama lobte im Gegenzugdie „außerordentlichen Be-mühungen um Toleranzund Pluralismus“ seiner al-ten Heimat – Amerikas Prä-sident hatte als Kind selbstvier Jahre lang in Indone-sien gelebt: „Ich möchte In-donesien dafür danken,was es getan hat, um denExtremismus zu isolieren.“In der Tat: Die Mehrheit der Indonesier istmoderat eingestellt. Extremistische Parolenfallen hier nicht auf fruchtbaren Boden,denn der indonesische Islam hat von An-fang an Symbiosen mit lokalen Traditio-nen geschlossen und eine ganz eigene Artliberaler Muslime geschaffen.„Wir haben in Indonesien große gemäßig-

te islamische Organsiationen“, erklärtePräsident Widodo nach 100 Tagen im Amtin einem Interview mit dem US-Fernseh-sender CNN. Diese Gruppen „lehren denmoderaten Islam, einen Islam der anderenReligionen gegenüber tolerant ist. Und ichdanke Gott, dass dieser Prozess im Mo-ment in Indonesien gut funktioniert.“Der Präsident und die Mehrheit der Indo-nesier können dem radikalen Islam nichtsabgewinnen. „Es gibt keinen Kompromiss,wenn es um Gewalt geht“, hatte Jokowiausdrücklich erklärt. „Undwir verurteilen das wirk-lich, aber wir müssen aucheinander respektieren, an-dere Religionen bei denMitmenschen zu akzeptie-ren“, sagte er. Denn fügteer hinzu: „Unterschiedekönnen auch Schönheit be-deuten. Sie sind nichtsFurchteinflößendes“.Es ist diese „Einheit in derVielfalt“, auf der Indone-siens Staatsgedanke beruht.Unter diesem Motto ver-sucht der Vielvölkerstaat mit gutem Erfolg,seine über 300 ethnischen Gruppen untereinen Hut zu bringen. Politisch und religi-ös ist dieses Experiment heikel, es brodeltimmer irgendwo, mal mehr und mal weni-ger – genau wie in den tausenden von Vul-kanen, denen der Staat aus 16.000 Inselnseine Existenz verdankt.

Staatsdoktrin Pancasila Seit seiner Un-abhängigkeit vor 70 Jahren hat Indone-sien nämlich eine ganz besondere Staats-doktrin in der Verfassung verankert: diesogenannte „Pancasila“. Diese Philoso-phie der „fünf Prinzipien“ regelt das Mit-einander: das Prinzip der einen Göttli-chen Herrschaft, des Internationalismus,des Nationalismus, der Demokratie und

der Sozialen Gerechtigkeit. Radikaler Is-lam verstößt eindeutig gegen die Prinzi-pien der Pancasila, die Indonesien so hei-lig sind. Daher geht Jakarta kompromisslosgegen Aufwiegler, religiöse Haßpredigerund radikal-islamische Gruppen wie die„Jemmah Islamiya“, einen lokalen Ablegerder Terrorgruppe Al-Qaida, vor.Und doch ist das Archipel nicht gänzlichfrei von extremistischen Tendenzen undgewaltsamen religiösen Auswüchsen. Sogab es immer wieder Anschläge auf christ-liche Kirchen und eine langjährige islami-sche Separatistenbewegung in der Provinz

Aceh. Der Höhepunkt desislamistischen Terrors inIndonesien waren die soge-nannten „Bali-Bomben“ imOktober 2002. Bei einemDoppelanschlag gegen zweiNachtklubs auf der Ferien-insel töteten Angehörigeder „Jemmah Islamiyah“202 Menschen – Christen,Hinduisten und Moslems.Doch war dieser brutaleAnschlag eher ein Weckruffür das Land, denn der Be-ginn einer radikalen Ten-

denz. Damals, so erklärt Sydney Jones, dieDirektorin des „Institute for Policy Analy-sis of Conflict“ (Ipac) in Jakarta, hatten Be-obachter befürchtet, dass die Bali-Bomben„und der politische Aufruhr, der ihnenfolgte, einen religiösen Krieg in Indonesienanzetteln würden“.Stattdessen aber räumte die Regierung inJakarta der Terrorbekämpfung höchstePriorität ein. Eine schlagkräftige Antiterror-einheit der Polizei wurde gegründet, das„Detachment 88“. Mit dem Erfolg, dass dieindonesischen Dschihadistengruppen kon-tinuierlich geschwächt wurden und dieZahl der Neu-Rekrutierten stetig sank. Seit2006 gab es keine größeren terroristischenAnschläge mehr. Um das friedliche Zusam-menleben der Religionen zu fördern, hatder neue Präsident auch den moderaten is-lamischen Politiker Lukman Hakim Saifud-din in seinem Amt als Religionsminister

bestätigt. Saifuddin gehörtder islamischen Partei fürden Vereinten Aufschwung(PPP) an und gilt als Manndes interreligiösen Dialogsund als entschiedener Geg-ner von religiös motivier-tem Extremismus. Den-noch: zwischen 250 und300 indonesische Kämpfer,gibt Joko Widodo zu, ha-ben sich inzwischen dem„Islamischen Staat“ (IS) an-geschlossen. Doch „dieZahl ist wirklich klein“,

meint Präsident Jokowi – verglichen mit ei-ner Gesamtbevölkerung von einer ViertelMilliarde Menschen. Und, befürchtet auchSydney Jones, je mehr Kämpfer sich dem ISanschließen – und vor allem, je mehr ausihrem „Einsatz“ nach Indonesien zurück-kehren –, desto mehr Aufwind könnte dieGruppe haben. Also greift die Polizei hartdurch: Es gibt scharfe Personenkontrollen,verdächtige „Freiwillige“ werden an denFlughäfen aufgegriffen. Denn:„Wir wollen,dass Indonesien ein Beispiel für gemäßig-ten Islam bleibt“, betont Präsident Jokowiein ums andere Mal, „Islam, der Toleranzaufweist, guter Islam“. Sophie Mühlmann T

Die Autorin ist Asienkorrespondentinder Zeitung „Die Welt“.

88 Prozent der250 Millionen

Indonesiersind Muslime,die meistenvon ihnenSunniten.

»Die Wahl hatgezeigt, dass

Islam undDemokratie

Hand in Handarbeiten.«

Präsident Joko Widodo

Unter dem Deckmantel des IslamsAFRIKA Islamistische Terrorgruppen berufen sich auf die Religion. Ihre Führer missbrauchen sie für eigene Profitinteressen

Als Kämpfer der somalischen Al-ShabaabMiliz am Gründonnerstag den College-Campus von Garissa stürmten, erschossensie fast 150 Studenten – die meisten vonihnen Christen. Augenzeugen des Massa-kers in der Stadt im Nordosten Kenias be-richteten später, die Islamisten seien vonTür zu Tür gegangen und hätten nur Musli-me verschont. Ähnliches berichten Überle-bende der Massaker, die die TerrorgruppeBoko Haram („Westliche Bildung ist Sün-de“) im Norden Nigerias anrichtet. Dabeitrieben die fast durchgehend muslimi-schen Somalis Jahrhunderte lang Handelmit andersgläubigen Nachbarvölkern, ihrIslam galt – wie in den meisten anderenTeilen Afrikas auch – als extrem tolerant.Warum also spalten militante Gruppen,die sich auf den Koran berufen, seit eini-gen Jahren mit brutalen Morden und Ge-walt afrikanische Gesellschaften?

Kriminelle Machenschaften Tatsächlichhat die Zunahme islamistischer Gewalt mitReligion kaum etwas zu tun. Der Islam istvielen Gruppen ein nützlicher Deckmantelfür andere Interessen, allem voran Krimi-nalität. Kaum ein Beispiel zeigt das besserals Boko Haram. 2002 gründete Moham-med Yusuf in Maiduguri, der Hauptstadtdes Bundesstaates Borno im Nordosten Ni-

gerias, Boko Haram. Die Gruppe profiliertesich schnell als Gegenentwurf zum korrup-ten Staatsgefüge, das sich vor allem um dieSeinen kümmerte. Vor allem in den Armen-vierteln wurde die Gruppe begrüßt, die jun-gen Männern Arbeit gab, kostenlose (Ko-ran-) Schulen öffnete und sich als lokal ver-wurzelte Kraft präsentierte. Hinter den Ku-lissen schloss Yusuf jedoch schon nach we-nigen Monaten Deals mit eben dem kor-rupten Establishment, das er öffentlich kri-tisierte. Boko Haram warb für bestimmtePolitiker, stellte Schlägertrupps gegen derenKritiker ab und wurde im Gegenzug mitMillionen aus dem Staatssäckel bezahlt.Seit Boko Haram mit dem Staat in offe-nem Krieg steht, macht Boko Haram ande-re Geschäfte: die Bewegung kassiert Löse-gelder nach Entführungen auch einfacherLeute. Sie erpresst Schutzgelder in den vonihr kontrollierten Gebieten und schmug-gelt alles, was Geld bringt – Menschen in-klusive. Auch die Al-Shabaab-Miliz willmit der Destabilisierung Kenias vor allemerreichen, dass sie wieder einen eigenenMeereszugang bekommt, der für ihreSchmuggelgeschäfte wichtig ist – alleineder mit Holzkohle und Zucker warf nachUN-Schätzungen zuletzt jährlich 250 Mil-lionen US-Dollar ab. Zöge die kenianischeArmee aus Somalia ab, wäre dieses Ziel

ebenso erreicht wie wenn Verbündete vonAl-Shabaab an Kenias Küste erfolgreich wä-ren.Der Islam gibt den Terroristen einen kultu-rellen Kontext, mit dem sie ihre Schre-ckensherrschaft begründen und vermittelnkönnen. Gleichzeitig zieht sie fanatischeKämpfer an, die im Namen der Religion zuallem bereit sind und im Gegenzug wenigverlangen. Der langjährige Chef von Al-Shabaab, Ahmed Godane, schaltete inner-halb der eigenen Bewegung nicht nur diereligiöse Schura aus, sondern machte sichselbst zur höchsten Autorität noch überden islamischen Gerichtshöfen. Dessenungeachtet versicherte er seinen Fußsolda-ten, für die einzig gerechte Sache zu kämp-fen.

Leichte Opfer Dass solche Pläne so wun-derbar funktionieren, liegt nicht zuletzt amStaatsversagen in den betroffenen Regio-nen. Weder Nigerias noch Kenias Regierun-gen haben sich in den vergangenen Jahrenum das wachsende Heer arbeitsloser Ju-gendlicher geschert; in beiden Ländern lebtdie Mehrheit der Muslime zudem in be-sonders benachteiligten Gegenden. Geradejunge Männer werden damit leicht zumOpfer der islamistischen Propaganda, vonder der Politologe Asiem El Difraoui sagt,

dass sie die Spaltung der Gesellschaften ak-tiv vorantreiben soll. Dadurch wird Angsterzeugt, die die Terroristen für ihren un-gleichen Kampf nutzen – und die deshalbins Abseits gedrängten Muslime werdenzugleich bereitwilliger, sich Terrorgruppenanzuschließen. Eine Win-win-Situation fürdie Islamisten. Nur demokratischere Struk-turen und wirtschaftliche Partizipationkönnen den Islamisten auch in Ländernwie Mali, Niger oder Kenia auf lange Sichtdie Grundlage entziehen. Parallel müssendie kriminellen Geldflüsse der Terrorgrup-pen trockengelegt werden. Dass immermehr Imame in Afrika sich gegen die Isla-misten aussprechen, ist wichtig. Den Isla-mismus können sie alleine aber nicht er-folgreich bekämpfen. Marc Engelhardt T

Der Autor berichtet seit mehr als zehnJahren aus Afrika. Sein Buch „Heiliger

Krieg, heiliger Profit“ (Ch. Links Verlag)beschreibt die Hintergründe der

islamistischen Bewegungen dort.

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Ein Leben zwischen zwei WeltenPORTRÄT Die türkische Familie Memis ist im Raum Stuttgart fest verwurzelt: »Wir haben ein Mutter- und ein Vaterland«

Es ist Samstagnachmittag: ImErdgeschoss eines Mehrfami-lien-Altbaus in Denkendorf(Kreis Esslingen) treffen sichSemra und Seref Memis mitihren Söhnen Arif und Kadir,

dessen Frau Melike und der fünf Monatealten Enkelin Esila zum Kaffee. Das Wohn-zimmer strahlt in warmen Farbtönen, derKaffee verbreitet intensiven Mokkaduft.Die Familie Memis stammt aus Anatolienin der Türkei, hat den wirtschaftlichen Auf-schwung in der Region Stuttgart miterlebtund vor allem mit erarbeitet und ist heutein Deutschland fest verwurzelt. Nicht weni-ge Gastarbeiter, die seit Anfang der 1960erJahre hierher zogen, sind Moslems und diemeisten von ihnen sind hier heimisch ge-worden, so auch Familie Memis.

Fußball verbindet Seref kam als 17-Jähri-ger Ende 1978 mit seinen Eltern nachDeutschland. Bis dahin lebte er in Bayburtin der Osttürkei. Angesichts der wirtschaft-lichen Perspektivlosigkeit Anatoliens hofftedie Familie auf Arbeit in der Region Stutt-gart. Serefs Vater kam beim Aufzugherstel-ler Thyssen unter. Dort blieb er fast 25 Jah-re lang, bis zu seiner Rente vor acht Jahren.Seref ging zunächst für ein halbes Jahr andie Hauptschule, ohne dass er ein WortDeutsch konnte. Dann fing er ebenfalls inder Metallindustrie an. Seitdem arbeitet erin der Kleinteilmontage bei dem Herstellerfür Industriearmaturen und StellantriebeAUMA in Ostfildern. Anschluss fand Serefüber das Fußballspiel. Zunächst in einemtürkischen Verein am Ort, dann in einerbunten Gruppe aus Deutschen und ande-ren Nationalitäten, die sich in Scharnhau-

sen, einem Ortsteil Ostfilderns, zum Ki-cken traf. Auch wenn der 53-Jährige heutenicht mehr spielt, Fußballfan ist Seref ge-blieben. Er fiebert er mit dem badischenBundesligaklub SC Freiburg und mit Gala-tasaray Istanbul.Serefs Frau Semra kam Ende 1979 alsZwölfjährige aus der Nähe von Trabzonvom Schwarzen Meer nach Ostfildern, weilihr Vater hier als Bauarbeiter auf ein besse-res Leben hoffte. Das Mädchen besuchtedrei Jahre lang die Hauptschule, konnte je-doch aufgrund der mangelnden Deutsch-kenntnisse keinen Abschluss machen. Ihrsei es nicht schwer gefallen, hier Freundin-nen zu finden, sowohl deutsche als auchtürkische und Mädchen anderer Nationali-täten. „Das einzige, was mir gefehlt hat,war das Meer“, erzählt Semra. Auch in derSchule fühlte sie sich gut aufgehoben. Mit17 Jahren fing sie als Verkäuferin in einemLebensmittelgeschäft an, wo sie bis heutearbeitet. Dort lernten sich Seref und Semra1985 kennen. „Er kam öfter, um Fisch zukaufen“, erinnert sich die 47-Jährige.

Gruppenbildung Nach der Hochzeit 1988kam ein Jahr später der älteste Sohn Kadirauf die Welt. Er ist inzwischen selbst seitfast vier Jahren verheiratet und arbeitetebenfalls in der Metallindustrie. Beim Sys-temtechnikunternehmen Grüner kontrol-liert er Gussteile für Kupplungen und Ge-triebe. Vom Bambini-Alter an galt auch sei-ne Leidenschaft dem Fußball: zuerst spielteKadir im FV Neuhausen, später in derKreisliga für den TSV Silmingen. „Fremdgefühlt habe ich mich nie“, sagt er. „Ichhabe mich mit allen Menschen gut verstan-den.“ Die Tochter Sümera, zwei Jahre jün-

ger als Kadir, zog es nach dem Schulab-schluss zeitweise in die Heimat ihrer El-tern: Sie studiert jetzt in der Türkei Bank-wesen und Finanzen, will aber nach ih-rem Abschluss zurück nach Deutschland.Der jüngste Sohn Arif, 1999 geboren, be-sucht die 9. Klasse der Realschule undlebt noch bei den Eltern. Dass sich dieSchüler ihrer jeweiligen Herkunft nachin Grüppchen absondern, hat er nichtmehr beobachtet – anders als sein ältererBruder: „Da gab es das in den Pausen,hier die Türken, da die Russen“, sagt Ka-dir. „Aber ich habe mich immer mit al-len unterhalten.“Arif hingegen hat fast nur deutsche Freun-de. „Mit allen drei Kindern gab es nie Pro-

bleme in der Schule“, sagt die Mutter. „Ichhatte immer guten Kontakt zu den Leh-rern.“ Sie wisse aber, dass es nicht bei allentürkischen Eltern so sei. Ihren moslemi-schen Glauben leben die Memis‘, soweit esder deutsche Rhythmus zulässt. WennSeref freitags zum Hauptgebet in die Mo-schee möchte, nimmt er sich frei – insbe-sondere an moslemischen Feiertagen. „Ichkann auch nicht öfter gehen, wegen derArbeit“, sagt Semra.

Moschee und Minarett Die Moscheewurde, wie so viele in der Region, eher ver-steckt in einem ehemaligen Fabrikgebäudeeingerichtet. Dass sich ein repräsentativerNeubau in der benachbarten KreisstadtEsslingen am Neckar um Jahre verzögerte,hauptsächlich, weil das Minarett 60 Zenti-meter zu hoch wurde, dafür hat Seref keinVerständnis: „Wegen ein paar Zentime-tern, das ist doch lächerlich.“Immerhin rund jeder Zehnte der knapp92.000 Einwohner der ehemaligen Reichs-stadt Esslingen ist Moslem. Braucht eineMoschee in der mittelalterlich geprägtenStadt einen 25 Meter hohen Turm? „MitMinarett ist es schöner“, findet Kadir.„Aber es muss natürlich auch nicht sein.“Die Diskussionen über den Islam beschäf-tigen die Familie stark, insbesondere diePegida-Demonstrationen. „Das stört unsschon“, sagt Seref und wundert sich: „Wersind diese Leute? Wo kommen die auf ein-mal alle her?“ Seine Schwiegertochter Me-like berichtet, dass dies auch unter denjungen Leuten ein Thema war: „Darüberdiskutieren wir schon mit unseren Freun-den.“ Ihr Mann Kadir fügt hinzu: „Michstört, dass hier immer verallgemeinert

wird. Man sollte doch die konkrete Personbetrachten und nicht immer sagen ,dieTürken‘ oder ‚die Moslems‘.“ Dass ihrGlaube als Rechtfertigung für Gewalt her-halten muss, betrübt die Familie. „Wirhassen die IS-Terroristen genauso“, sagt Se-ref und wird emotional: „Die machen un-seren Glauben schlecht. Aber die Men-schen, die keine Ahnung haben, sagen,,das sind deine Leute‘. Das sind Terroristenund Mörder. Das passt nicht zum Islam,mit unserer Religion haben sie nichts zutun.“Zwar fühlt sich die Familie insgesamt gutaufgehoben in Deutschland, kleinere Pro-bleme im Alltag gibt es aber immer wieder.So raunzte ein Mann Semra und Arif beimEinkaufen einmal an, weil ihr kleiner Sohnnach einer Flasche im Regal gegriffen hatte:„Das könnt ihr vielleicht in der Türkei somachen!“ Als Semra mit ihrer Schwieger-mutter, die Kopftuch trägt, einkaufen ging,drängelte sich einmal ein Mann erst vorund ließ dann alle Waren liegen und ver-schwand, als ihn der Kassierer zurechtwies.Auch die Wohnungssuche gestaltete sichschwierig. Ein afrikanischer Arbeitskollegehabe über Mitglieder seiner Kirchenge-meinde sogar zwei Wohnungsangebote er-halten, erzählt Seref. Also schlug dieser derFamilie Memis vor, dass sie doch die zwei-te Wohnung mieten könne. Als Seref denVermieter anrief, hielt dieser ihn erst hinund sagte dann ab – weil der Bruder undMiteigentümer nicht an Türken vermietenwolle. Zum Glück komme so etwas nichtso häufig vor, sagt Seref.

Zweite Heimat Seine Eltern zogen voracht Jahren zurück in die Türkei, nachdem

der Vater in die Rente gegangen war. Ergenoss es, in das alte Umfeld seiner Hei-mat zu kommen. „Opa hat sehr vieleFreunde, dem geht’s sehr gut“, sagt Kadir.Einmal im Jahr kommen die Eltern zuBesuch nach Deutschland, einmal fährtdann die Familie in die Türkei. SemrasEltern und ihre drei Brüder dagegen blie-ben, sie leben im Nachbarort. Das Ehe-paar Memis würde am liebsten beidesmachen, wie Seref sagt: „Sechs Monatehier und sechs Monate in der Türkei. Daswäre perfekt.“ Seine Frau beschreibt ihreinnere Zerrissenheit: „Wir haben einMutter- und ein Vaterland. Ich habe dieGedanken an die Heimat immer in mir.Aber die Kinder sind hier.“

Doppelpass Auf der anderen Seite desBosporus leben jedoch die übrigen Ver-wandten. Bis die Entscheidung ansteht,sind es noch mehr als zehn Jahre. Deshalbhoffen die Memis‘ vor allem darauf, dasssie irgendwann einen deutschen und ei-nen türkischen Pass bekommen können.„Dann könnten wir einfacher reisen“, sagtSeref. Seine Frau und der Jüngste habendie deutsche Staatsbürgerschaft beantragt,„aber das ist sehr schwierig“, erzählt Sem-ra. Für ihre Kinder liegt der Lebensmittel-punkt dagegen eindeutig in der RegionStuttgart, die ihre Eltern und Großelternwirtschaftlich mit groß gemacht haben:„Wenn wir in Urlaub waren, habe ich im-mer gesagt, ich gehe nicht zurück“, erzähltKadir. „Aber ich kann es mir nicht vorstel-len. Ich habe alle Freunde und Bekanntenin Deutschland.“ Daniel Völpel T

Der Autor ist freier Journalist in Stuttgart.

> STICHWORTAusländer in Baden-Württemberg

> Migranten Rund 2,8 Millionen der ins-gesamt etwa 10,8 Millionen EinwohnerBaden-Württembergs haben einen Mi-grationshintergrund. In der Region Stutt-gart leben gut 2,6 Millionen Menschen,von denen mehr als 420.000 eine aus-ländische Staatsangehörigkeit haben.

> Türken Die türkische Staatsangehörig-keit besitzen knapp 266.000 Menschenin dem Bundesland.

> Moslems Insgesamt rund 600.000Menschen muslimischen Glaubens lebenschätzungsweise in ganz Baden-Würt-temberg.

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 13

»In den Grundschulen entscheidet sich die Integrationsfähigkeit«INTERVIEW Im Berliner Bezirks Neukölln leben viele Moslems – manche sind modern, andere sehr traditionell. Und manchmal gibt es sogar Streit über Ostereier

Frau Giffey, manche Leute sagen,Neukölln sei dreckig, kriminell, arm undkein bisschen sexy. Was reizt Sie am Jobder Bezirksbürgermeisterin?Neukölln ist mehr als die Summe seinerProbleme. Es ist vielleicht nicht derschönste Bezirk Berlins, aber einer derspannendsten. Wir haben viele Schwierig-keiten, gerade in der Schule, aber wir ha-ben auch viele Menschen, die hier positivetwas bewegen.

Manche muslimische Frau geht voll-verschleiert einkaufen, in einigen Gegen-den ist die Ghettobildung unübersehbar.Wie erleben Sie die Kulturbrüche?Wir haben parallele Entwicklungen: Da istdie deutsche „Ureinwohnerschaft“, da sindMenschen aus der Gastarbeitergeneration,die seit Jahrzehnten hier leben und teilwei-se immer noch kein Deutsch können, undwir haben Neuzuzügler aus Südosteuropa.Manche Gruppen ziehen sich zurück aufeinen Wertekanon, der nicht unbedingtdem entspricht, was wir in der freiheitli-chen Demokratie vermitteln wollen.

Gilt das auch für die islamischenKreise in Neukölln?

Auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel dieDiskussion über die Gleichberechtigungder Frau und die Frage, darf ein Mädchensich ihren Ehemann selbst aussuchen undselbstbestimmt ihr Leben gestalten. Wirhatten unlängst Diskussionen mit Eltern,

weil ihr muslimisches Kind in der Schulekein Osterei bemalen sollte. Es geht umSchwimmunterricht, Klassenfahrten unddie Frage, ob Jungs einer Frau zur Begrü-ßung die Hand geben müssen. Da befin-den wir uns permanent in Verhandlungen.

Ist die Integration von Moslems be-sonders schwierig?Das kann man so nicht sagen. Es hat mitdem Bildungshintergrund und der Frage zutun, wie Menschen ihren Glauben leben.Wenn dies auf dem Boden des Grundgeset-zes geschieht, kann auch die Integrationgelingen. Problematisch wird es, wenn derGlaube als Rechtfertigung für die Ungleich-heit von Mann und Frau und für die Ab-kehr von einem freiheitlichen, selbstbe-stimmten Menschenbild genutzt wird.

An manchen Neuköllner Schulen sindtürkische und arabische Kinder fast un-ter sich. Welche Folgen hat das?Wir haben Schulen mit einem Anteil Kin-der nichtdeutscher Herkunft von 80 bis 90Prozent. Zugleich sind 80 bis 90 Prozentim Transferleistungsbezug. Wir haben inden 1. Klassen 60 Prozent Kinder mit Ent-wicklungsverzögerungen und über 50 Pro-

zent mit Sprachstörungen. Hier entschei-det sich die Integrationsfähigkeit. Fakt istauch, es sind Kinder, die in Berlin geborenund zumeist deutsche Staatsbürger sindund die wir für die Zukunft der Stadt brau-chen. Wir müssen uns darum kümmern,ihnen eine Perspektive zu ermöglichen.

Wie kommen Sie an die Problemfami-lien muslimischer Prägung heran?Was wir tun, bezieht sich nicht nur aufmuslimische Familien, sondern generellauf die schulische Situation in einem so-zialen Brennpunkt. Wir versuchen das aufvielen Ebenen, zum Beispiel durch Schul-sozialarbeit, Elternarbeit und Hausbesucheder Lehrer oder Kita-Erzieherinnen. VieleEltern meinen, die Schule oder Kita küm-mert sich um alles. Die eigene Erziehungs-verantwortung wird nicht in ausreichen-dem Maße gesehen. Wir haben Debattendarüber, wie wichtig es ist, den Kindernvorzulesen und dass der Fernseher nichtden ganzen Tag als optisch-akustische Ta-pete mitlaufen sollte. Aber in bestimmteFamilien kommen wir gar nicht rein.

In Neukölln gibt es die berüchtigteAl-Nur-Moschee, wo schon öfter Hasspre-

diger aufgetreten sind. Warum kümmernsich Politiker so wenig darum, was da ge-predigt wird?Wir haben als Bezirksamt den Senat aufge-fordert, zu prüfen, ob der Moscheevereinverboten werden kann. Seitdem haben wirnichts gehört. Für mich ist klar, wenn je-mand zu Judenhass, zu Gewalt generelloder zur Unterdrückung von Frauen auf-ruft, muss der Staat reagieren. Wir sehen ja,wie die Kinder hin und hergerissen sindzwischen Koranschule und öffentlicherSchule. Da werden ja teilweise völlig unter-schiedliche Wertekontexte gepredigt.

Neukölln steht trotz aller Problemeaber auch für erfolgreich gelebtes Multi-kulti, oder?Hier leben 320.000 Einwohner aus 160Nationen weitgehend friedlich miteinan-der. Viele Menschen mit ausländischenWurzeln leisten für den Bezirk unheimlichviel. Die muslimischen Jugendlichen, dieihr Abitur machen mit super Ergebnissensind gar nicht in der öffentlichen Wahr-nehmung. Wir reden nur über die 160 In-tensivtäter in Neukölln, eine kleine Grup-pe. Es ist wirklich schade, wenn die Debat-te immer nur in die eine Richtung läuft.

Die Kanzlerin sagt, der Islam gehörtzu Deutschland. Was sagen Sie?Diese Debatte hilft uns vor Ort nicht wei-ter. Der Islam ist sicher nicht Teil der Tradi-tion und Geschichte unseres Landes, aberer ist Teil der Lebensrealität, Teil des All-tags. Man muss nur einen Fuß auf die Stra-ße setzen und sieht, dass der Islam überallpräsent ist. Wir haben genau so viele Mo-scheevereine im Bezirk wie evangelischeKirchengemeinden. Damit müssen wir unsauseinandersetzen.

Haben Sie manchmal Angst im„Brennpunkt“ Neukölln?Nein, nie, nicht einmal nachts.

Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld.

Franziska Giffey ist Bezirksstadträtinfür Bildung, Schule, Kultur und Sportund künftige Bezirksbürgermeisterin.

Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-PaperNeuköllns Bildungsstadträtin Giffey (SPD)

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Familie Memis beim Kaffee: Schwiegertochter Melike, Seref und Semra mit Enkelin Esila und den Söhnen Arif und Kadir (von links). Die türkische Familie aus Anatolien hat im Raum Stuttgart eine zweite Heimat gefunden. © Daniel Völpel

14 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

Das Zeichen des Islams istin Dresden schon langepräsent. Nahe der In-nenstadt steht die „Ta-bakmoschee“. Ein Imamhat hier jedoch nie ge-

predigt. Der Tabakunternehmer HugoZietz ließ sie 1908/1909 bauen. Er wollteso das Bauverbot für Fabrikgebäude imStadtzentrum umgehen und zugleich fürseine Orientalische Tabak- und Cigaretten-fabrik „Yenidze“ werben. Damals gab esviel Kritik an dem Bau. Irgendwann gehör-te er zum Stadtbild. Seit Jahrzehnten be-herbergt er Büros.Gut 100 Jahre später lehnen sich wiederTausende in Dresden gegen den Islam auf.„Patriotische Europäer gegen die Islamisie-rung des Abendlandes“ (Pegida) nenntsich die umstrittene Bewegung. Zwar hatsie sich mittlerweile gespalten, doch gehennoch immer allwöchentlich Pegida-Anhän-ger auf die Straße – in einem Bundeslandmit weniger als einem Prozent Muslime.Der Islam gehört schon länger zu Deutsch-land. Von einer Islamisierung kann jedochkeine Rede sein. 3,8 bis 4,2 MillionenMuslime leben nach Angaben der Deut-schen Islamkonferenz in der Bundesrepu-blik; der Anteil an der Gesamtbevölkerungliegt mit rund fünf Prozent unter dem inFrankreich, Österreich oder den Niederlan-den. Rund 2,7 Millionen Muslime sind tür-kischstämmig, etwa 500.000 aus Südosteu-ropa, insbesondere aus Bosnien-Herzego-wina, eingewandert. In nennenswertemUmfang sind auch Muslime aus Marokko,Iran und Afghanistan gekommen. Aktuellflüchten viele Syrer vor dem Bürgerkrieg inihrem Land in die Bundesrepublik. Allein2014 suchten 41.000 Syrer hierzulandeAsyl. Der Zustrom hält weiter an.Die meisten Muslime leben in den west-deutschen Industrieregionen, wo viele Zu-wanderer der ersten Generation als Gastar-beiter angeworben worden waren. Einigegroße Städte wie Köln, Stuttgart, Dort-mund oder Duisburg weisen Migrantenan-teile von mehr als 30 Prozent auf; Spitzen-reiter ist Frankfurt am Main mit 43 Pro-zent. In den Stadtstaaten Berlin, Hamburgund Bremen ist fast jeder 10. Bewohnermuslimisch. Dagegen dürfte es Bewohnernin den ostdeutschen Flächenländernschwerfallen, Muslime zu treffen. Zwi-schen 0,2 und 0,7 Prozent schwanken de-ren Bevölkerungsanteile im Osten.

Späte Einsicht Dass Deutschland dauer-hafte Heimstatt für Ausländer und damitauch Muslime geworden ist, hat die Politikerst spät akzeptiert. Noch in den 1990erJahren beteuerte die Kohl-Regierung,Deutschland sei kein Einwanderungsland.Vor anderthalb Jahren wurde ein Doku-ment bekannt, wonach Kanzler HelmutKohl (CDU) 1982 die Zahl der Türken inDeutschland halbieren wollte. Der Hin-weis fand sich in einem 2013 freigegebe-nen Papier der britischen Regierung. Kohlhatte sich damals gegenüber Premierminis-terin Margaret Thatcher geäußert. Späterhieß es abgeschwächt, Deutschland seikein klassisches Einwanderungsland.Die Ausgrenzung förderte die Bildungmuslimisch geprägter Stadtviertel. Diestädtische Segregation behindert die Ent-wicklung der Sprachkompetenzen vonMigranten. In muslimischen Familien, vorallem bei der dritten Generation, seien die-se Kompetenzen „erstaunlich schwach“,heißt es in der Studie „Muslimische Kinderund Jugendliche in Deutschland“ der Kon-rad-Adenauer-Stiftung.Etwa drei Viertel der Muslime in Deutsch-land sind Sunniten, sieben Prozent Schii-ten, knapp 13 Prozent Aleviten. Ihr Orga-nisationsgrad in Deutschland ist relativ ge-ring. Der größte Verband ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion(DITIB) mit 700 bis 900 Gemeinden und

deutlich mehr als 100.000 Mitgliedern. DerZentralrat der Muslime zählt etwa 20.000Mitglieder, der Islamrat 40.000 bis 60.000Mitglieder. Die größten Verbände habensich zum Koordinierungsrat der Muslimezusammengeschlossen. Der Sprecherpostenwechselt, derzeit hat ihn – als erste Frau –Nurhan Soykan (siehe Seite 1) inne. Be-kanntestes Gesicht ist allerdings Aiman Ma-zyek, Vorsitzender des Zentralrats der Mus-lime. Der Aachener mit syrischen Wurzelnist oft in den Medien, weshalb ihm etwadie DITIB unlängst Profilierungssucht vor-warf. Mazyek seinerseits appellierte an dieanderen Verbände, sich stärker in öffentli-che Debatten einzubringen.

Ihr Glaube spielt für die Muslime einewichtige Rolle. In der Studie „Muslimi-sches Leben in Deutschland“ von 2008, dieals aktuellste bundesweite Datenbasis fürdas Thema gilt, gaben nur 13 Prozent an,nicht oder eher nicht gläubig zu sein. Jederdritte betet täglich, jeder fünfte nie.Eine eigene Partei haben die Muslime inDeutschland nicht. Befragungen nach derBundestagswahl 2013 belegen eine Nei-gung hin zu linken Parteien. Knapp zweiDrittel der Deutschtürken haben demnachSPD gewählt, je zwölf Prozent Linke undGrüne; die Union kam auf sieben Prozent.In der Türkei würden sie indes mehrheit-lich die konservative AKP wählen.

Knapp die Hälfte der Türkischstämmigenin Deutschland hat einen deutschen Pass.52 Prozent der Menschen mit türkischenWurzeln wurden hier geboren. Unter dengut 112.000 Eingebürgerten waren vergan-genes Jahr knapp 25 Prozent Türken. Sielassen sich eher einbürgern, um rechtlichgleichgestellt zu sein, als etwa Griechenoder Italiener, die EU-Bürger sind.Obgleich viele Muslime schon lange inDeutschland leben, sind sie doch in weitenTeilen benachteiligt. Die einstigen Gastar-beiter gehören überproportional sozialschwächeren Schichten an. Die Arbeitslo-sigkeit unter Ausländern – explizite Zahlenzu Muslimen gibt es nicht – ist dreimal so

hoch wie unter deutschen Arbeitnehmern.Es gibt nur wenige Lehrer oder Polizistenmit Migrationshintergrund. Ganze 2,3 Pro-zent Ausländer arbeiten laut Bundesanstaltfür Arbeit in der Verwaltung.Deutlich wird dies auch in der Politik. Nurelf der aktuell 631 Bundestagsabgeordne-ten haben türkische Wurzeln. Gemessenam Bevölkerungsanteil müssten es doppeltso viele sein. Nur vier Abgeordnete gebenden Islam als Religion an. Die CDU hatmit Cemile Giousouf erstmals eine musli-mische Abgeordnete in ihren Reihen. ImKanzleramt wirkt seit 2013 immerhin mitAydan Özoguz (SPD) erstmals eine Musli-ma als Integrationsbeauftragte.

Die Deutschen tun sich schwer mit dem Is-lam und den Muslimen. Als Katalysator desMisstrauens gilt der 11. September 2001.Mehrere Attentäter der Al-Qaida-Anschlägein den USA lebten jahrelang in Hamburg.Wenngleich die übergroße Mehrheit derMuslime in Deutschland Rechtsstaat und De-mokratie begrüßt und Radikalität ablehnt,wird das Bild der Deutschen geprägt von Be-richten über radikalisierte junge Muslime, diein den Dschihad ziehen, Al-Qaida und der„Islamische Staat“ (IS), Hass-prediger undEhrenmorde. Beleg dafür ist eine im Januarvorgelegte Studie der Bertelsmann-Stiftung,wonach 57 Prozent der Deutschen den Islamals Bedrohung ansehen; 2013 waren es 53Prozent. Im Osten des Landes ist der Anteilnoch etwas höher. 61 Prozent meinten, derIslam passe nicht in die westliche Welt. Und24 Prozent würden sogar die Einwanderungvon Muslimen nach Deutschland verbieten.Dabei ist die Zahl der Islamisten unter denMuslimen in Deutschland gering. Laut Ver-fassungsschutzbericht gab es Ende 2013rund 30 bundesweite islamistische Organi-sationen mit einem Personenpotenzial vonrund 43.000 Menschen. Das entspricht nureinem Prozent aller Muslime hierzulande.Zulauf hat jedoch der extremistische Sala-fismus. 5.500 Salafisten gab es 2013 lautVerfassungsschutz in Deutschland, rund1.000 mehr als im Jahr zuvor. Bundeskanz-lerin Angela Merkel (CDU) stellte im Janu-ar in einer Regierungserklärung nach denTerroranschlägen in Paris fest, dass die al-lermeisten Muslime in Deutschland recht-schaffene und verfassungstreue Bürger sei-en. Zugleich mahnte sie eine „dringende“Auseinandersetzung mit den Gewalttäternan, die sich auf den Islam berufen.

Rund 2.500 Moscheen Die Ablehnung desIslam zeigt sich auch in Protesten gegenden Bau neuer Moscheen, etwa in Kölnund Berlin. Die Angriffe auf islamischeGotteshäuser haben in den vergangenendrei Jahren um ein Drittel zugenommen.Rund 2.500 als Moscheen genutzte Gebäu-de gibt es in Deutschland, darunter nurrund 150 größere Bauten. Zum Vergleich:Die Zahl der Kirchen ist 20 Mal so hoch.Die erste Moschee in Deutschland wurde1915 aus Holz in Wünsdorf bei Berlin fürmuslimische Kriegsgefangene errichtet. Dieälteste erhaltene Moschee ist das 1928 inBerlin-Wilmersdorf eingeweihte Haus derAhmadiyya-Gemeinde.Die Muslime leiden ihrerseits unter derSkepsis der Deutschen. Sie fühlen sich lauteiner Studie der Bertelsmann-Stiftungmehrheitlich demokratischen Werten ver-bunden. 90 Prozent der religiösen Musli-me halten die Demokratie für eine gute Re-gierungsform. Ebenso viele haben in ihrerFreizeit Kontakte zu Nichtmuslimen, jederzweite in gleichem Maß wie zu Anhängernseiner Religionsgemeinschaft. „Für Musli-me ist Deutschland inzwischen Heimat“,konstatierte Yasemin El-Menouar, Islamex-pertin der Stiftung.Die Vorbehalte unter den Bundesbürgernhat auch die Deutsche Islamkonferenznicht abbauen können. 2006 hatte der da-malige Bundesinnenminister WolfgangSchäuble (CDU) das Forum initiiert, umden Dialog zwischen Staat und Muslimenzu fördern. Seit der Bundestagswahl 2013stehen die islamische Kinder-, Jugend- undAltenhilfe sowie die Seelsorge im Fokus.Auch um die Fortbildung von Imamenkümmert sich die Konferenz. 90 Prozentder rund 2.000 Imame in Deutschlandkommen aus dem Ausland. Zumeist sindsie wie im Fall der DITIB-Gemeinden Be-amte des türkischen Staates, die nur einigeJahre in Deutschland verbringen. Nur we-nige Vorbeter sind hierzulande aufgewach-sen. Das soll sich nach dem Willen der Is-lamkonferenz ändern. Stefan Uhlmann T

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.

Die 1928 eingeweihte Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde in Berlin-Wilmersdorf ist das älteste erhaltene muslimische Gotteshaus in Deutschland. © picture-alliance/Arco Images

Minderheit in ZahlenDEUTSCHLAND Wie viele Muslime hier leben, woher sie kommen: ein Überblick

»Die meisten haben kaum eine Ahnung vom Islam«INTERVIEW Imam Husamuddin Mayer über seine Arbeit als Gefängnisseelsorger für muslimische Häftlinge und den Kampf gegen deren Radikalisierung

Herr Meyer, was kommt bei muslimi-schen Gefangenen, die Sie als Imam be-treuen, zuerst: Das Gefängnis oder dieRadikalisierung?Zunächst ist eine Feststellung wichtig: Diegroße Mehrheit der muslimischen Häftlin-ge hat mit dem radikalen Islam nichts zutun, weder vor der Haft noch währenddes-sen. Bei einigen wenigen aber gibt es einemerkwürdige Mischung: Sie haben gleich-zeitig Kontakt zum kriminellen Milieu undzu Salafisten – obwohl jeder, der sichernsthaft für den Islam interessiert, weiß,dass Glaube und Straftaten nicht zusam-mengehen. Im Gefängnis sind diese jun-gen Männer auf sich zurückgeworfen, su-chen einen Schuldigen für ihre Lage. Wenndann Hetzer kommen, die ihnen den ver-meintlich unterdrückenden Staat oder Un-gläubige als Sündenbock präsentieren, fälltdas nicht selten auf fruchtbaren Boden.

Aber ist der Weg zum radikalen Isla-mismus für junge Menschen, die in

Deutschland aufgewachsen sind, nichtweit?Sehr sogar – weil diejenigen, die sich radi-kalisieren, in aller Regel überhaupt nichtreligiös aufgewachsen sind. Wer im islami-schen Glauben erzogen wurde, ist für dieseHetze meist gar nicht anfällig, sonderngeimpft gegen diese Art von Ideologie.Aber für die Jungen, die ich betreue, ist dieHinwendung zur Religion häufig auch ei-ne Rebellion gegen ihre Eltern, die damitnichts anfangen können. Dazu kommt:Meist hatten sie schon vor dem Gefängniskeine Perspektive, die wenigsten haben ei-nen Schulabschluss, viele dafür aber Ge-walterfahrungen. Das Versprechen, dass siein Syrien zu Helden werden oder gar alsAttentäter eine große mediale Aufmerk-samkeit erfahren könnten: Das ist die Ver-heißung, ihrem Leben endlich eine Bedeu-tung geben können.

Leben sie dann tatsächlich nach isla-mischen Werten?Nein, im Gegenteil. Für die meisten spieltnur der Aspekt, im Dschihad gegen ver-meintliche Feinde zu kämpfen, eine Rolle.Bevor sie nach Syrien aufbrechen, gehensie ins Bordell oder begehen Straftaten –Dinge, die mit dem Glauben eigentlichnicht zu vereinbaren sind. Es gibt aber

auch die, denen die Religion wirklich et-was bedeutet und die glauben, ganzstrikt im Sinne des Koran zu leben. Siedenken, dass es ihre Pflicht ist, die Men-schen im „Kampf gegen den Unterdrü-cker“ Assad zu unterstützen. Sie fallenauf die Propaganda der Hetzer herein.Das Schlimme ist, dass sie daran glau-

ben, im Kampf gegen den Tyrannenwirklich etwas Gutes zu tun.

Wie kann man jemanden, der sotickt, zum Umdenken bringen?Das ist unterschiedlich – und es funktio-niert auch nicht immer. Ich treffe auf vielejunge Menschen, die gerade auf der Kippestehen und sich im Gespräch überzeugenlassen. An andere komme ich nicht heran,die sind ohnehin davon überzeugt, ichwürde mit dem Feind unter einer Deckestecken.

Sind Sie als Konvertit für diese Men-schen überhaupt glaubhaft?Das spielt keine Rolle. Außerdem: Viele de-rer, die sich derart radikalisieren, sind jaselbst eine Art Konvertiten. Nicht, weil sie ur-deutsch geboren und aufgewachsen wären,aber weil sie auch erst verhältnismäßig spät,mit 16 oder 17 Jahren, zum Glauben gefun-den haben. Das sind nicht nur Türken oderAraber, sondern viele Russen, Polen, Süd-amerikaner oder Deutsche. Für die ist der Sa-lafismus eine Anti-Bewegung, mit der mansich absetzt und Aufmerksamkeit bekommt.

Und was sagen Sie denen?Am wichtigsten ist erst einmal nicht, wasich sage – sondern dass ich sie ernst neh-

me, dass ich sie als Menschen annehmeund ihnen Wertschätzung entgegen bringe.Ich versuche, sie zum Nachdenken zu brin-gen: Sind es wirklich die Sündenböckedraußen, die schuld an ihrer Lage sind?Und dann geht es um schlichte Wissensver-mittlung zum Islam, dass Vergebung nichtnur durch den Dschihad erlangt werdenkann, sondern auch durch Reue und Ein-sicht. Häufig geht es darum, sie mit Infor-mationen zu versorgen. Die meisten habenja ehrlich gesagt kaum eine Ahnung vomIslam.

Wie viel Ihrer Zeit verbringen Sie ei-gentlich mit der Betreuung islamischerHäftlinge?Ich arbeite in zwei Gefängnissen, In Wies-baden wurde mein Kontingent gerade vonneun auf 15 Stunden erhöht, in Rocken-berg habe ich in diesem Jahr sechs statt nurdrei Stunden.

Reicht das aus?Nein, der Bedarf wäre viel, viel größer. Ichmerke das: Die Häftlinge brauchen An-sprechpartner, denen sie ihre Fragen stellenkönnen und mit denen sie diskutierenkönnen.

Was für Fragen sind das?

Zum Beispiel die, ob man wirklich alle tö-ten müsse, die nicht regelmäßig beten. Dashören und lesen sie in der einschlägigenPropaganda, das ist wirklich erschreckend.Wenn es nicht ausgebildete Imame gibt,die solche Diskussionen professionell füh-ren können, dann wendet man sich an dieselbsternannten Experten in den Gefäng-nissen. Und die Antworten, die von denenkommen, müssen uns alle beunruhigen.

Schmerzt es Sie, dass gerade die weni-gen Radikalen das Bild des Islam nachaußen so sehr prägen?Ja, natürlich. Und ich sage allen, die sichdarüber beschweren, dass sie diskriminiertwerden: Daran seid ihr zum Teil selbstschuld. Erste Regel für gute Muslime ist gu-tes Benehmen, da kann man nicht pö-belnd durch die Straßen ziehen.

Das Gespräch führte Susanne Kailitz. T

Husamuddin Meyer ist Imam undarbeitet als Gefängnisseelsorger für

muslimische Gefangene in Hessen. Derfünffache Vater, getauft auf den Namen

Martin und christlich erzogen, konvertiertevor mehr als 20 Jahren zum Islam. Er

studierte Ethnologie, Geographie undIslamwissenschaften.

Weiterführende Links zu denThemen dieser Seite findenSie in unserem E-Paper Imam Husamuddin Mayer

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Im Mai scheint Pegida zu den Wur-zeln zurückzukehren: Während esum den Islam bei den „Spaziergän-gen“ der Gruppierung in den ver-gangenen Monaten kaum noch zugehen schien und stattdessen ge-

gen Asylbewerber im Allgemeinen, die„linskversiffte“ Politik und die „Lügenpres-se“ im Speziellen gewettert wurde, steht dieBedrohung durch die Religion bei den „Pa-triotischen Europäern gegen die Islamisie-rung des Abendlandes“ nun wieder höherim Kurs. Zur Kundgebung am heutigenMontag hat man Geert Wilders geladen.Der Niederländer ist Vorsitzender der rech-spopulistischen „Partei Für die Freiheit“und erklärter Islamkritiker.Pegida wirbt auf einer Facebook-Seite fürWilders Besuch und zitiert aus einer seinerReden: „Unsere deutliche Botschaft an denIslam ist: Wir werden den Islam besiegen.“Eine Kundgebung mit bis zu 30.000 Teil-nehmern hat das Organisationsteam ange-kündigt.Nachdem die Zahl der Demonstranten inden vergangenen Wochen längst nichtmehr die Werte der Hochphase vom De-zember und Januar erreicht hat, als bis zu25.000 Menschen gekommen waren, er-hofft man sich vom Schulterschluss mitdem markigen Wilders wieder neuen Zu-lauf. Und möglicherweise eine Perspektiveinnerhalb einer starken europäischenRechten: Denn ewig schweigend durchDresden zu spazieren, das reicht weder denProtestierenden noch den Organisatoren.Man mag sich zwar nicht am politischenDiskurs beteiligen, will aber doch wahrge-nommen werden.

Befürchtungen Und mit dem Schürenvon Angst vor dem Islam funktioniert dasimmer noch am besten: Zwar leben inSachsen nur rund 20.000 Muslime, dassind rund 0,48 Prozent der Bevölkerung.Zum Vergleich: In ganz Deutschland stel-len die rund vier Millionen etwa fünf Pro-zent der Gesamtbevölkerung. Doch dort,wo kaum jemand einen Muslim persönlichkennt, ist die Skepsis vor dem Islam amgrößten. 57 Prozent der Ostdeutschenglauben nach Ergebnissen des Religions-monitors der Bertelsmann-Stiftung, dass Is-lam und westliche Welt nicht zu vereinba-ren sind, das sind acht Prozent mehr alsim Westen.Zwar ist deutschlandweit jeder Zweite da-von überzeugt, der Islam sei eine Bedro-hung, aber nur in Dresden gelingt es, einegroße Zahl von Menschen auf die Straßezu bekommen, die dort gegen die ver-meintlich drohende Islamisierung protes-tieren.Wer sich mit Pegida-Teilnehmern unter-hält, der bekommt viel zu hören über dieBefürchtung, es könne soweit kommen,dass die eigenen Kinder auf der Straßenicht mehr deutsch sprechen dürften. Manerzählt von Weihnachtsmärkten, die sonicht mehr heißen dürften und Sankt-Ma-tins-Umzügen, die in Sonne-Mond-und-Sterne-Fest umbenannt werden müssten.All das gebe es zwar noch nicht in Dres-den. Doch die Frage, die immer gestelltwird, lautet: „Wollen Sie, dass es bei unsauch so weit kommt wie in Berlin oderBremen?“ Wer jetzt nicht auf die Straße ge-he, der müsse sich nicht wundern, wenn ir-gendwann die IS-Kämpfer auch inDeutschland ihre Massaker verüben wür-den. Die Bücher von Thilo Sarrazin, UdoUlfkotte oder Heinz Buschkowsky zu Fra-gen von Integration und zur Berichterstat-tung darüber in der Presse gelten als Quel-len, um zu belegen, dass der IslamDeutschland längst unterwandere.Was für die meisten Pegida-Teilnehmer zu-mindest in Dresden nur eine gefühlte Be-drohung ist, wird für viele Migranten inder Stadt zu einer tatsächlichen. Auf eineFrage bei den „International Friends“, ei-

ner Facebookgruppe für Ausländer undDeutsche, die in Dresden leben und arbei-ten, ob die konkrete Fremdenfeindlichkeitin der Stadt zugenommen habe, meldensich viele, die berichten, sie seien be-schimpft und angepöbelt wurden. Tür-kischstämmige Ladenbesitzer erzählen vonFrauen, denen das Kopftuch weggerissenworden sei und die nun lieber nur nochmit Mütze auf die Straße gingen.Man sei für „die Erhaltung und den Schutzunserer christlich-jüdisch geprägtenAbendlandkultur“, heißt es in der offiziel-len Pegida-Verlautbarung zu den Zielen desBündnisses. Dezidierte Islamkritik findetsich in den 19 Thesen nicht, nur die Erklä-rung, man sei gegen „Parallelgesellschaf-ten/Parallelgerichte in unserer Mitte, wieSharia-Gerichte, Sharia-Polizei, Friedens-richter “.

Abendland Doch was ist das eigentlich,diese christlich-jüdisch geprägte Abend-landkultur? In Sachsen ist überhaupt nurjeder Vierte konfessionell gebunden, die

große Mehrheit hat weder mit der christli-chen Religion noch der katholischen oderevangelischen Kirche überhaupt Berüh-rungspunkte. Als Pegida kurz vor Weih-nachten zum gemeinsamen Singen lud,wurden vorsichtshalber Noten und Textedes heimischen Liedguts verteilt; auf dieTextsicherheit der Demonstranten mochteman sich nicht verlassen.Wir gegen das Fremde: So lässt sich dieFrontstellung bei Pegdia gegen den Islamwohl zusammenfassen. Der Islam ist fürdie meisten der Teilnehmer eine Chiffre fürall das Bedrohliche in der Welt. Vorurteile,Fehlentwicklungen, die es ja tatsächlichgibt, und eine Nachrichtenlage, die, wennes um den Islam geht, vor allem überschreckliche Greuel von Terroristen berich-tet, bilden eine Gemengelage, die nach in-nen identitätsstiftend und nach außen aus-grenzend wirkt.Doch auch wenn Pegida als Dresdner Phä-nomen in Deutschland eine Ausnahmeer-scheinung ist: Das Bündnis befindet sich inbester Gesellschaft. Auch die neuen rech-

ten Parteien und Bündnisse Europas, derenAbgesandte man gern als Redner in diesächsische Hauptstadt lädt, konzentrierensich in ihrer Ablehnung nicht mehr auf an-dere Nationalitäten, sondern auf den Is-lam. Den bekämpfen zu wollen ist der ge-meinsame Markenkern von Rechtspopulis-ten, die sonst nicht viel eint. Das christli-che Europa, auf das Pegida und Co sich be-rufen, existiert vor allem über die Feststel-lung, was und für wen es eben nicht ist.

Missverständnisse Bei der Einschätzung derBedrohungslage kommt es dann gelegent-lich zu interessanten Missverständnissen.Auf Facebook erregte sich vor einigen Wo-chen ein Pegida-Anhänger über das weithinsichtbare Minarett in Dresden; daran könneman ja sehen, wie weit es mit dem islami-schen Einfluss schon sei. Ortskundige beru-higten den Mann: Es handele sich nur umden getarnten Schornstein einer ehemaligenZigarettenfabrik. Susanne Kailitz T

Die Autorin ist freie Journalistin in Dresden.

Teilnehmer einer Pegida-Demo im Januar in Dresden © picture-alliance/ZB

GefühlteBedrohung

PEGIDA Die Demonstranten warnen vor einer »Islamisierung«,haben mit der Religion im Alltag aber kaum Berührungspunkte

Weltreligionunter VerdachtMEDIEN Terror bestimmt die Berichterstattung über den Islam

Das Kopftuch ist ein seltsames Kleidungs-stück. Seit Menschengedenken schützt esvor Wüstensand, weiblichem Selbstver-trauen oder Frisurverwehungen. Gangmit-glieder und Trümmerfrauen, Bäuerinnenund Hipster, Heimchen am Herd, Hard-rocker und ja, auch eine Menge Muslimadiesseits wie jenseits strenggläubiger Kul-turkreise – sie alle tragen das mal blumi-ge, mal schlichte, meist luftige, seltenerblickdichte Stück Stoff. Kopftücher sindglobal verbreitete Kleidungsstücke, Jahr-tausende schon in Mode,überall. Und doch ist derMediengesellschaft merk-würdig wichtig, wer genaues trägt, wann, wo und vorallem: warum. Zum Bei-spiel im Unterricht.Dort verbieten es einigeBundesländer per Gesetz.Noch. Im Januar revidiertedas Bundesverfassungsge-richt sein Urteil von 2003und erklärte, das Tragendes Kopftuchs dürfe nuruntersagt werden, wenn„konkrete Gefahr“ für Schulfrieden oderstaatliche Neutralität ausgehe (siehe Seite2). Das kann man richtig oder falsch fin-den, diskriminierend oder emanzipie-rend. Was aber insbesondere in der deut-schen Medienlandschaft offenbar schwerfällt, ist, darüber vorurteilsfrei diskutieren.Besonders Boulevardblätter verwendennicht erst seit Thilo Sarrazins Bestseller„Deutschland schafft sich ab“ Begriffe wie„Kopftuch-Mädchen“, die erst zwangsver-heiratet und zu „Kopftuch-Frauen“ gereiftdem Islamischen Staat nachreisen wür-den. Dass eben diese Blätter eine derarttraditionell bedeckte Sorbin oder mo-disch dekorierte Blankeneserin je ähnlichtituliert hätten, ist nicht überliefert.

Unter Verdacht Wer wann wo aus wel-chen Gründen Kopftuch trägt, wird medi-al häufig weniger zunächst einmal als eineFrage innerer Einstellung (also etwa auchdes Glaubens) diskutiert,sondern im Zeichen vonAbwehrreflexen und Ver-dächtigungen. Spätestensseit den Terroranschlägendes 9. September 2001werden Begriffe Migration,Islam und Terror oft aufeinen reduziert: Islamis-mus. 2014 habe der „Isla-mische Staat“ (IS) das Bildvon Muslimen und ihrerReligion in der deutschenMedienlandschaft auf denTiefpunkt gebracht, so for-muliert das der Schweizer Auswertungs-dienst Media Tenor, der rund 270.000 Be-richte in 19 deutschen TV-, Radio- undPrintmedien durchforstet hat. Terror, Krie-ge und internationale Konflikte seien seitJahren die prägenden Themen der Be-richterstattung über den Islam. Auchdurch die IS-Propaganda übersteige dieMenge der Berichte über den Islam imJahr 2014 bei weitem jene über die beidenchristlichen Kirchen zusammengenom-men.Trotz einer „Vielzahl verschiedenartigerLebensrealitäten“, klagt die Erlanger Me-dienpädagogin Sabine Schiffer, nähmendeutsche Medien 1,2 Milliarden Muslime„als homogene Masse“ wahr, die „bedroh-lich oder zumindest rückständig er-scheint“. So erklärt sich jene Mischung

diffuser Ängste, verbrämter Vorurteile undoffener Ressentiments, die den Diskursallzu oft prägt. Seit der „Islamische Staat“zur grausigen PR-Show bittet, wetteifernTalkshows mit Titeln wie „Mord im Na-men Allahs“ (Maybrit Illner) um die knal-ligste Headline. Frank Plasbergs Frage,„Vor welchem Islam müssen wir Angst ha-ben?“, beantwortet Anne Will mit „AllahsKrieger im Westen“, was dem Magazin„Cicero“ nicht weit genug ging, als es insi-nuierte: „Ist der Islam böse?“. Und das

Magazin „Focus“ illustrier-te „acht unbequeme Wahr-heiten über die muslimi-sche Religion“ mit Musel-frauen im Niqab und Mu-selmännern mit Bart.Im Rennen zwischen altenund neuen Medien senktein nuancierter Tonfall dieSiegchancen. Es geht umAufmerksamkeit, möglichstplakativ und stereotyp ver-mittelt. Wird über Migrati-on, gar arabischer berich-tet, so kommentierte Deniz

Baspinar die Sarrazin-Debatte, „sehen wirdie ewig gleiche Rückenansicht einerGruppe von Frauen mit Kopftuch und bo-denlangen Mänteln“, deren Glaubensbrü-der Korane oder Kalaschnikows halten.Die Zeit-Autorin sieht hier ein „medialesPerpetuum Mobile“ am Werk: Wer sol-cherart Klischees journalistisch transpor-tiere, verstärke zugleich die Nachfragenach ihnen, die Redaktionen dann wie-derum im journalistischen Ringen umKlicks und Käufe bedienen zu müssenglaubten. Resultat dieses Agenda-Settingsist aus Sicht des Medienforschers Kai Ha-fez ein „virtueller Islam“, dessen Gläubigekaum noch als kulturelle, soziale, ökono-mische, sondern rein religiöse Wesenwahrgenommen werden.Die Beschreibung des Alltags von MillionenMuslimen hierzulande und die Frage, wiesich das Miteinander in einer Einwanderge-sellschaft gestalten lässt, treten hinter pla-

kativen Schlagzeilen zurück.Die „Bild“-Zeitung etwa zi-tierte kurz vor Weihnachtenvergangenen Jahres denGrünen-AbgeordnetenOmid Nouripour mit denVorschlag eines muslimi-schen Liedes im Adventsgot-tesdienst – was dieser nacheigener Darstellung so garnicht gefordert hatte: „DerVorschlag, wie er da steht,ist von der BILD-Zeitung ei-nem Politiker muslimischenGlaubens in den Mund ge-

legt“, schrieb Nouripour dazu auf seiner„Facebook“-Seite. Falls es sich so abgespielthaben sollte, könnte man das medienwis-senschaftlich als „Framing“ („Einrahmen“)bezeichnen, die Einordnung objektiverSachverhalte in subjektive Deutungen.Doch auch Politiker christlicher Parteienkönnen falsch eingerahmt werden. AlsNiedersachsens Sozialministerin 2010 fürdas Kopftuchverbot warb, allerdings da-rauf hinwies, dass dann auch Kruzifixe inSchulen nichts zu suchen hätten, hättendie Sätze der CDU-Politikerin nur ein lau-es Lüftchen erzeugt. Erst das „Wer“ mach-te daraus medial einen Orkan: Sie heißtAygül Özkan. Jan Freitag T

Der Autor ist freier Journalist mit demSchwerpunkt Medien.

Laut MediaTenor gab es

2014 mehr Be-richte über denIslam als über

die christlichenKirchen.

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 WELT DES ISLAMS 15

Spott wider GottKARIKATURENSTREIT Beim Lachen über Religion hört für einen fundamental interpretierten Islam der Spaß auf

Humor ist, wenn man trotzdem lacht? Von we-gen! Beim Lachen, so scheint es zumindest imfundamental interpretierten Islam, hört derSpaß auf. Die afghanischen Taliban wollen esam liebsten ganz aus ihrem Gottesstaat verban-nen so wie der „Islamische Staat“ aus seinem„Kalifat“. Und das sind nur die radikalen Aus-wüchse religiöser Spaßallergie. Man findet sie jaauch in Umberto Ecos „Name der Rose“, wo dertieffromme Priester Jorge das Lachen für so läs-terlich hält, dass er dafür Todsünden bis zumMord begeht. Doch es bedarf keiner Reise insMittelalter, um heiterer Blasphemie auf die Spurzu kommen. Da reicht ein Blick in die Gegen-wart.Anfang Januar stürmten zwei bewaffnete Män-ner die Pariser Redaktion der Satire-Zeitschrift„Charlie Hebdo“, töteten elf Mitarbeiter undauf der Flucht einen Polizisten. Anlass für dieAttentäter war eine Serie missliebiger Karikatu-ren, die das Magazin veröffentlicht hatte. Eingezeichneter Mohammed drohte etwa 2011vom Titelblatt „100 Peitschenhiebe, wenn dunicht vor Lachen stirbst“ - mit solchen Karikatu-ren stellt die Redaktion auch das - unter Theo-logen durchaus umstrittene - islamische Bilder-verbot auf die Probe.Damals folgte ein Brandanschlag auf „CharlieHebdo“ - ohne Opfer. Zwei junge Franzosenarabischen Ursprungs aber nahmen Anfang2015 das Sonderheft „Charia Hebdo“ zum An-

lass ihres Angriffs, der nach Lesart der meistenEuropäer kein Medium zum Ziel hatte, sondernder westlichen Gesellschaftsform im Ganzen.Der Anschlag gelte der Meinungs- wie Presse-freiheit oder einfach auch der Freiheit, sich da-rüber zu amüsieren, was man eben amüsantfindet.Lachen folgt allenfalls vor der Pointe dem Ver-stand; danach ist es die unwillkürliche Kontrak-tion diverser Muskeln. Diesen Impuls zu unter-

drücken, käme dem Verbot des Kniesehnenre-flexes gleich. Ob Kalauer oder Karikatur: Verun-glimpfungen herrschender Verhältnisse findensich bereits auf altägyptischen Papyri oder anti-ken Vasen und haben sich auch in Tyranneienwie der nationalsozialistischen nie unterkriegenlassen.Das millionenfach kopierte „Je suis Charlie“wurde zwar recht schnell zum PR-Logo, das sichauf Transparenten, Tassen, T-Shirts ebenso ver-

kaufte wie es der fremdenfeindliche „Front Na-tional“ oder die Pegida-Bewegung in Deutsch-land für sich reklamierte, deren Anhänger Me-dien in anderen Zusammenhängen sonst als„Lügenpresse“ titulieren .Ob wirklich jeder Witz über eine Religion oderihre Anhänger lustig ist – darüber besteht Dis-sens. Das Satire-Magazin „Titanic“ machte 1995ein Kruzifix samt „Balkensepp“ zum Klopapier-halter und erntete dafür zwar eine Anzeige derkatholischen Kirche, ansonsten aber eher Kopf-schütteln als Konsequenzen. Anders erging eszehn Jahre später der dänischen Tageszeitung„Jyllands Posten“. Die zwölf Mohammed-Kari-katuren der Zeitung sorgten in der islamischenWelt für einen Aufruhr mit mehr als HundertToten. Es folgten Boykotte dänischer Waren. derZeichner Kurt Westergaard wurde unter Polizei-schutz gestellt. 2006 rief hingegen die iranischeTageszeitung Hamshahri zu einem Wettbewerbauf, bei dem die zwölf „besten“ Holocaust-Kari-katuren prämiert werden sollten. Ob Talibanund IS darüber lachen können, ist nicht be-kannt. Jan Freitag T

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Protest in Pakistan gegen die Mohammed-Karikaturen im Jahre 2006 © picture-alliance/dpa

Seit der IS zurgrausigen PR-Show bittet,wetteifern

Talk-Shows umdie knalligsteÜberschrift.

Sozialarbeit gegen die RadikalisierungPRÄVENTION Mit vielfältigen staatlichen Maßnahmen wird europaweit versucht, ein Abrutschen Jugendlicher in den gewaltgeneigten Salafismus zu verhindernDie Radikalisierungsprävention gegen ge-waltbefürwortende neosalafistische Strö-mungen ist in Europa und insbesondereDeutschland eine noch junge Disziplin. Inder Präventionsforschung werden gemein-hin drei Handlungsfelder unterschieden.Die primäre, häufig auch universelle Prä-vention spricht alle gesellschaftlichen Grup-pen an. Ziel ist die Stärkung erwünschterHaltungen und eine langfristige Stabilisie-rung positiver Lebensbedingungen. Moder-ne Ansätze in Schule, Jugendhilfe und poli-tischer Bildung fokussieren nicht vorhande-ne Defizite der Teilnehmenden, sondernsetzen an vorhandenen individuellen Res-sourcen an und fokussieren damit die Ent-wicklungspotenziale junger Menschen. Vongroßer Bedeutung ist hier, dass durch dieRessourcenorientierung unabsichtliche ne-gative Markierungen verhindert werdenkönnen. Herausragende Beispiele in diesemBereich der Radikalisierungsprävention sinddie Modellprojekte „Ibrahim trifft Abra-ham“, das im Kontext des Bundespro-gramms „Initiative Demokratie stärken“durchgeführt wurde und „Dialog machtSchule“, das von der Bundeszentrale für po-litische Bildung (bpb) und der Robert-Bosch-Stiftung finanziert wird. Beide Pro-jekte verfügen über einen ausgeprägten par-tizipativen Ansatz .

Die sekundäre oder auch selektive Präventi-on umfasst Angebote für junge Menschen,die definierte Risikofaktoren aufweisen. Zuunterscheiden sind hier direkte und indirek-te Maßnahmen. Direkte Maßnahmen wen-den sich unmittelbar an die Zielgruppe.Hierzu zählen aufsuchende Formate der Ju-gendhilfe oder direkte Interventionsformate,wie sie zum Beispiel im Kontext der schuli-schen Sozialarbeit durchgeführt werden. Zuden indirekten Formaten, die Schlüsselper-sonen adressieren, die eng mit der Zielgrup-pe agieren, zählen insbesondere die Bera-tungsangebote für Eltern, wie sie unter an-derem im Bundesprogramm „Beratungsstel-le Radikalisierung“ angeboten werden. Zuden indirekten Formaten zählen ferner Fort-bildungsprogramme für Multiplikatoren.Wegweisend ist in diesem Bereich die bpb,die seit Januar 2015 die Fortbildung „Neosa-lafismus – Prävention in den Handlungsfel-dern politische Bildung, Schule, Jugendhilfe,Vereinsarbeit und Gemeinde“ anbietet. DieFortbildung umfasst vier Module, die an vierWochenenden unterrichtet werden und rich-tet sich an Fachkräfte aus politischer Bil-dung, Schule, Jugendhilfe, Vereinsarbeit undmuslimischen Gemeinden.Schließlich wäre noch die tertiäre oder auchindizierte Prävention anzuführen. Sie richtetsich an Menschen mit manifesten Problemla-

gen. Die Prävention in diesem Bereich sollweitere Eskalationen verhindern, ferner sollsie Menschen aus extremistischen Bewegun-gen herauslösen und dazu beitragen, dassdiese ein Leben ohne weitere Delinquenz ge-stalten können. Auch hier kann zwischen di-rekten und indirekten Maßnahmen unter-schieden werde. Zu den direkten Maßnah-men zählen Aussteigerprogramme, die zumBeispiel mit Rückkehrern aus dem syrischenund irakischen Kriegsgebiet arbeiten. Es kanndavon ausgegangen werden, dass im kommu-

nalen Raum in zunehmender Zahl traumati-sierte Ex-Kombattanten langwierig betreutwerden müssen. Zu den indirekten Maßnah-men zählen Fortbildungen, die Imame befä-higen, als Gefängnisseelsorger tätig zu wer-den. Es geht aber auch um eine flankierendeSozialarbeit, die ehemalige Strafgefangeneüber einen längeren Zeitraum begleitet.Was die Durchführung von Präventions-und Aussteigerprogrammen betrifft, habendie westeuropäischen Staaten sehr unter-schiedliche Erfahrungen vorzuweisen. Pio-

nierleistungen auf dem Gebiet der Radikali-sierungsprävention hat vor allem Großbri-tannien vorzuweisen. Bereits im Jahr 2003verkündigte der damalige Premier TonyBlair die ganzheitliche TerrorabwehrstrategieCONTEST, die nach den Londoner Anschlä-gen von 2006 erheblich ausgedehnt wurde.Zeitweise flossen bis zu 140 MillionenPfund in präventive Maßnahmen. Adressa-ten der „Prevent-Strategy“ waren unter ande-rem Moscheegemeinden, die in belastetenSiedlungsräumen mit Jugendlichen arbeite-ten. Erfolge hat in diesem Kontext insbeson-dere das „Channel-Programm“ vorzuweisen.Durch gezielte pädagogische Interventionen,die von ausgewählten Akteuren in Sozial-räumen durchgeführt wurden, konnte beizahlreichen Jugendlichen ein Fortschreitender Radikalisierung verhindert werden.

»Demokratie leben« Positive Erfahrungenmit Präventionskonzepten haben auch dieNiederlande vorzuweisen. Innovativ warzum Beispiel das ganzheitliche Präventions-projekt „Amsterdam tegen radicalisering“,das insgesamt 16 Handlungsfelder umfasste.Neben der Verstärkung von interkulturellenBeziehungen, der Bekämpfung von Islam-feindlichkeit und Rechtsextremismus zieltedas Programm auch auf eine Immunisie-rung von Muslimen gegen islamistische Ein-

deutigkeitsangebote. Zum Programm gehör-ten gleichfalls gezielte Interventionen, diebei gefährdeten Personen ein Fortschreitender Radikalisierung unterbinden sollten.Auch in Deutschland hat man mittlerweileerkannt, dass Präventionsarbeit einenwichtigen Beitrag gegen die Radikalisie-rung junger Menschen leisten kann. Vorrei-ter ist unter anderen das Bundesland Nord-rhein-Westfalen, das im März vergangenenJahres das Programm „Wegweiser“ imple-mentierte. Mittlerweile gibt es in vier Städ-ten Büros, in denen Lehrkräfte, Sozialarbei-ter ,aber auch Angehörige von Radikalisier-ten Beratung und Unterstützung findenkönnen. Darüber hinaus bietet das Pro-gramm Hilfen für Aussteiger an, die direktvom Innenministerium verantwortet wer-den. Neben den Ländern hat auch derBund eigene Maßnahmen aufgelegt. DasFörderprogramm „Demokratie leben“stellt für Träger der Radikalisierungsprä-vention insgesamt 40 Millionen Euro zurVerfügung. MK T

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Salafisten demonstrieren in Wuppertal. © picture-alliance/dpa

16 WELT DES ISLAMS Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

Nach jüngsten Schätzungendes in London ansässigenInternational Centre forthe Study of Radicalisationand Political Violence(ICSR) kämpften in den

Bürgerkriegsgebieten in Syrien und Irak Endedes Jahres 2014 mehr als 20.000 ausländischeKombattanten. Von diesen kommt gut einFünftel aus westeuropäischen Staaten. Damitist Europa für die Schergen des „IslamischenStaats“ (IS) das zweitwichtigste Rekrutie-rungsgebiet. Sehr hoch sind die Ausreisezah-len in Belgien, Dänemark und Schweden. Al-leine das kleine Belgien hatte bis zum Jahres-ende 440 Ausreisende zu verzeichnen. Dassind 40 Ausgereiste auf eine Million Einwoh-ner. Weniger dramatisch stellen sich die Zah-len für Deutschland dar. Hier konnten im Er-hebungszeitraum 500 bis 600 Personen er-fasst werden, die sich mutmaßlich in Kampf-gebiete begeben hatten. Bezieht man dieseZahl auf die Gesamtbevölkerung, so ergibtsich eine Relation von sieben Ausgereisten aufeine Million Einwohner.Bei der Betrachtung dieser insgesamt hohenZahlen drängen sich eine Reihe von Fragenauf. Wer zieht in den Krieg? Welche Motivehaben die Ausreisenden? Und was tun Musli-me und Zivilgesellschaft gegen diesen aus-ufernden Bürgerkriegstourismus?Zumindest die erste Frage kann aufgrund dermittlerweile vorliegenden Erkenntnisse eini-germaßen befriedigend beantwortet werden.Polizeidaten, Geheimdiensterkenntnisse aberauch Berichte aus Schule und Jugendhilfe zei-gen, dass es überwiegend Männer sind, diesich als Kämpfer dem neuen „Kalifat“ andie-nen. In Deutschland waren bis Juni 2014 von378 ausgereisten Personen 89 Prozent Män-ner. Die meisten von Ihnen waren zwischen16 und 29 Jahre alt. Die Bildungshintergrün-de der selbsternannten Kombattanten sindheterogen. Viele verfügen nur über eine nied-rige schulische Bildung. Es gibt aber auch Stu-denten und Akademiker, die sich zur Ausreiseentschlossen haben. Der britische Terroris-musforscher Max Taylor hat deshalb daraufhingewiesen, dass bei weitem nicht alle po-tenziellen Dschihadisten sozial depraviertsind. Manche wählen die Radikalisierung ausfreien Stücken. Auch die Religionszugehörig-keit der Ausgereisten lässt keine eindeutigenAussagen zu. Neben Muslimen finden wir An-gehörige anderer Religionen, die in diese kru-de Form eines selbstgebastelten Islams „kon-vertiert“ sind. Viele muslimische Kämpfer wa-ren vorher wenig religiös und kommen ausFamilien, die nicht regelmäßig die Moscheebesuchen. Hinzu kommt, dass eine erhebli-che Zahl von Ausgereisten im Vorfeld Strafta-ten begangen hat. Aufgrund der skizziertenHeterogenität ist eine präzise Eingrenzungder Risikogruppe nicht möglich.

Zu wenig Daten Eindeutige Aussagen zu denFaktoren und Verläufen von Radikalisierungsind gleichfalls nicht möglich. Hauptpro-blem sind hier fehlende Studien, die sich aufder Grundlage einer soliden Datenbasis mitdieser Problematik befassen. Der IslamischeStaat und seine Mobilisierungsstrategien sindein sehr junges Phänomen. Für die Präventi-onsarbeit brauchbare Forschungsergebnissesind frühestens in ein oder zwei Jahren zu er-warten. Ungeachtet der vorhandenen For-schungslücken können die Attraktivitätsmo-mente des IS einigermaßen treffend beschrie-ben werden. Einer der wirksamsten Mobili-sierungsfaktoren ist eine eschatologische Vi-sion, die von der hochprofessionellen IS-Pro-paganda seit knapp zwei Jahren verbreitetwird. Im Zentrum der Erzählung, die sich aufeinen Hadith (die Überlieferungen der Aus-sprüche und Handlungen des Propheten Mo-hammed) stützt, steht die kleine syrischeOrtschaft Dabiq unweit von Aleppo. Dortwerde eine der größten Schlachten zwischenden Muslimen („den besten Leuten der Er-de“) und den Kreuzzüglern stattfinden. An-schließend begänne die Eroberung von Kon-

stantinopel und Rom. Im Kontext der Dschi-hadpropaganda wird der Krieg in Syrien da-mit zu einer endzeitlichen Mission, an dersich jeder aufrechte Muslim beteiligen muss.Das Mobilisierungspotenzial dieser Endzeit-phantasien, die über Filme und Magazine imInternet verbreitet werden, kann kaum über-schätzt werden.Verstärkt wird die Mobilisierung durch weite-re Faktoren, die in der kompakten Weltsichtdes IS angelegt sind. An erster Stelle könnenhier eine Reihe von psychosozialen Effektenangeführt werden. Die krude Ideologie des IS

ermöglicht ihren Anhängern zunächst denAkt der Selbsterhöhung. Möglich wird dieserauf der Grundlage einer dichotomen Welt-sicht, die ausschließlich zwischen „Gläubi-gen“ und „Ungläubigen“ zu unterscheidenvermag. Selbstredend steht der „Gläubige“auf der ultimativ richtigen Seite und damitüber all jenen, die nicht der Ideologie des ISzu folgen vermögen. Verbunden hiermit istoftmals der Akt einer umfassenden Selbster-mächtigung. In „göttlicher“ Mission kämp-fend, kennen Kombattanten des IS keineGrenzen. Selbst kaum beschreibbare Gewalt-

exzesse wie Massenhinrichtungen von Kriegs-gefangenen und Greuel an der Zivilbevölke-rung scheinen statthaft. Damit entwickelt derKrieg in Syrien und Irak auch eine Sogwir-kung auf jene zwielichtigen Gestalten, die ih-re mitunter pathogenen Gewaltphantasienausleben möchten.Ein weiteres, bislang wenig untersuchtes Phä-nomen, kann mit dem Begriff der Hyper-männlicheit bezeichnet werden. Nahezu allePropagandaprodukte des IS, die vom Al-Hay-at-Media-Center produziert werden, zelebrie-ren den gut aussehenden und lässig gestylten

Kämpfertyp, der selbst in extremen Gefechts-situationen eine „gute Figur“ macht. An-schauungsmaterial hierfür liefert in Fülle dasMagazin DABIQ, das bislang in sieben Ausga-ben erschienen ist oder die Filmproduktion„Flames of War“. Hier sind in langen Zeitlu-peneinstellungen schwarz gekleidete jungeMänner mit Bärten und schulterlangem Haarzu sehen, die ohne Mühe den Druckwellenschwerer Mörsergranaten standhalten. Ange-sichts dieser Bilder ist es wenig verwunder-lich, dass in den sozialen Netzwerken derNeosalafisten die Kämpfer des IS als „Löwen“

und „Helden“ gefeiert werden. Gleichfalls einbedeutsames Mittel in der Rekrutierungsstra-tegie der IS-Unterstützer in Europa ist das Ver-sprechen von Kameradschaft und „guter“ Ge-meinschaft. Die Gruppenzusammenhängeder Unterstützerszene bieten ein Gefühl derGleichheit in einer multiethnischen Gruppe.Darüber hinaus bietet das Gemeinschaftsle-ben Anerkennung und Respekt. Niemandfragt nach dem Vorleben oder Stationen desindividuellen Scheiterns. Menschen, die sichdem IS anschließen, machen tabula rasa undbeginnen ein neues Leben.

Krude Ideologie Abschließend wäre zu erör-tern, was die neosalafistische Mobilisierungund der „Islamische Staat“ mit dem Islamund den Muslimen zu tun haben? Zu dieserschwierigen Fragestellung gibt es selbst unterausgewiesenen Fachleuten eine seit geraumerZeit andauernde Kontroverse. Manche be-haupten, dass Koran und Sunna Textpassagenenthielten, mit deren Hilfe dschihadistischePositionen theologisch untermauert werdenkönnten. Diese Grundannahme findet bei denIslamwissenschaften und der islamischenTheologie keineswegs ungeteilten Zuspruch.Insbesondere der französische Islamwissen-schaftler Olivier Roy hat in den vergangenenJahren wiederholt darauf hingewiesen, dass essich bei der neosalafistischen Bewegung nichtum eine Folge der islamischen Kultur hande-le. Vielmehr sei der Neosalafismus „die Nega-tion jeglicher Kultur“. Der Neosalafismus seieine Mutation von Religion, für die konstatiertwerden könne, dass sie die heiligen Texte au-ßerhalb des kulturellen und historischen Kon-textes wortwörtlich zum Sprechen brächte.Die Inszenierung von Religiosität werde hier-durch karger, kompromissloser, auf sich selbstbezogen. In der Tat zeigt eine Analyse der bis-lang erschienen Ausgaben der DABIQ, dasshier eine vereinfachte, reduktionistische„Theologie“ und damit Klarheit und Eindeu-tigkeit im Gegensatz zu traditionellen kom-plexen islamischen Lehren vorzufinden ist.Anders formuliert: Mit der klassischen islami-schen Theologie, in der vernünftig über Gottgesprochen wird, hat die IS-Ideologie keineGemeinsamkeiten. Zu dieser Schlussfolgerungkann man auch auf der Grundlage der Stel-lungnahme von 120 islamischen Gelehrtengelangen, die im September 2014 vorgelegtwurde. Diese weist detailliert nach, dass der ISgegen fundamentale islamische Prinzipienverstößt.Angesichts dieser Befunde erscheint auch dieRolle der muslimischen Gemeinschaften inWesteuropa in einem neuen Licht. Immerwieder wurde von Politik und Medien dieForderung erhoben, die Muslime mögen sichvon Salafismus und Dschihadismus distan-zieren. Doch von was genau soll man sichdistanzieren? Der Neosalafismus und der mitihm verbundene Dschihadismus sind einekrude und einfältige Ideologie, die Elementedes Islam willkürlich herausgreift und instru-mentalisiert. Hauptleidtragende dieser Instru-mentalisierung sind in jedweder Hinsicht dieMuslime selbst. Hinzu kommt – und auchdas wurde bislang nicht ausreichend begrif-fen: Radikalisierungsprozesse junger Men-schen finden in der Regel abseits der Mo-scheegemeinden statt. Betroffen hiervon sindin einer nicht unerheblichen Zahl auch Kon-vertiten mit ursprünglich christlichen oderanderen religiösen und weltanschaulichenHintergründen. Folglich sind die präventivenWirkmöglichkeiten der muslimischen Ge-meinden erst gar nicht vorhanden oder nurgering. In der noch jungen Radikalisierungs-prävention geht man deshalb davon aus, dassdie neosalafistische Mobilisierung und dieNetzwerke des IS sich nur mit einer gesamtge-sellschaftlichen Agenda nachhaltig bekämp-fen lassen. Michael Kiefer T

Der Autor der Texte auf dieser Seite istpromovierter Islamwissenschaftler und

arbeitet beim Institut für Islamische Theologieder Universität Osnabrück.

Für belgische Dschihadisten im Einsatz: Michael Delefortrie (M.) kämpfte in Syrien und verlässt hier im Februar das Gericht in Antwerpen. Er erhielt eine Bewährungsstrafe. © picture-alliance/dpa

Die SelbsterhöhtenISLAMISCHER STAAT Tausende Kämpfer aus Europa kämpfen für die Terrormiliz

Ende Oktober 2014 demonstrierten in Berlin Neuköllner Stadtteilmütter gegen den Wegfall von mehr als der Hälfte ihrer Stellen. © picture-alliance/dpa

Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015 DIE WELT DES ISLAMS 17

Mehr Glaubensfrage als BauprojektMOSCHEEN Ihr Bau ist oftmals heftig umstritten – aber das muss nicht so sein

Derzeit ist die Zentralmoschee in Köln vorallem wegen ihrer über 2.500 Baumängelin den Schlagzeilen. Als das Moscheepro-jekt im Jahr 2007 vorgestellt wurde, ent-brannte ein heftiger Streit um die Frage, obdas fünfstöckige Gebäude mit der 37 Meterhohen Kuppel und den zwei 55 Meter ho-hen Minaretten Ausdruck einer „Giganto-nomie“ sei, wie der Publizist Ralph Gior-dano damals sagte. Er kritisierte im „Köl-ner Stadt-Anzeiger“, dass der Bau ange-sichts einer gescheiterten Integration „einfalsches Bild von den wahren Beziehungenzwischen muslimischer Minderheit undMehrheitsgesellschaft“ entwerfe. Was folg-te, war eine emotionale Diskussion imdeutschen Feuilleton, die deutlich machte,dass noch immer umstritten ist, welcherPlatz Moscheen hierzulande zugestandenwird. Die öffentlichen Gebäude mit sakra-lem Charakter wecken bis heute höchst un-terschiedliche Gefühle: während Kuppeloder Minarett für die einen signalisieren,dass der Islam gleichberechtigt gelebt wer-den kann, assoziieren andere damit nochimmer etwas Fremdartiges. Moscheenkon-flikte, stellt daher der Politikwissenschaft-ler Claus Leggewie fest, seien „hochbrisan-te symbolische Anerkennungskonflikte“,bei denen es kein „Mehr-oder-weniger“,sondern nur ein „Entweder-oder“ gebe.

Vordergründig geht es dabei um Parkplätzeund Baubauungspläne. Größtenteils lassendie Proteste aber Stereotype und Vorurteilezum Vorschein kommen. Ein Phänomen,das auch in anderen europäischen Ländernwie der Schweiz zu beobachten ist, wonach einer Volksabstimmung im Jahr 2009das Verbot des Baus von Minaretten in derBundesverfassung verankert wurde.Lange Zeit wurde der Moscheenstreit nichtoffen ausgetragen, denn die meisten Musli-

me trafen sich und beteten in – so genann-ten nicht klassischen Moscheen – Gebets-und Versammlungsräumen in Hinterhöfenund Industrievierteln, von denen es laut Is-lamarchiv in Deutschland rund 2.660 gibt.Sie wurden zumeist von Moscheevereinenganz unterschiedlicher nationaler und reli-giöser Couleur eingerichtet. Nur 143 Got-teshäuser in Deutschland gelten als „klassi-sche“ Moscheen mit Kuppel und Minarett.Je stärker sich muslimische Gemeindenaber organisierten, umso mehr wuchs auchder Wunsch für die zweitgrößte deutscheReligionsgemeinschaft, eine neue Art vonöffentlichen Räumen für ihren Glauben zufinden. Neben den zahlreichen Beispielenfür heftige Konflikte um den Bau neuerMoscheen, gibt es auch positive Beispielewie das Islamische Forum in der bayeri-schen Gemeinde Penzberg. Der moderneBau des Architekten Alen Jasrevic gilt nichtnur als Bauwerk als stilgebend. Auch diePlanungsphase und die Kommunikationzwischen Stadt, Bürgern und Bauherrnkönnte Vorbild für andere Moscheebau-projekte sein. Jasrevic hat dafür ein Rezept:„Die islamischen Gemeinden müssen denlängst überfälligen Generationswechselvollziehen, ihr Vorhaben vertreten und dieBefürchtungen der Bevölkerung ernst neh-men.“ Annette Sach T

Neue Moschee in Penzberg (Oberbayern)

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Schwieriger Weg zu GleichstellungRECHTSSTATUS Islamische Religionsgemeinschaften haben Probleme, anerkannt zu werden

Als das österreichische Parlament EndeFebruar nach langer Debatte ein neues so-genanntes Islamgesetz verabschiedete, be-feuerte das auch in Deutschland Diskussio-nen um die staatliche Anerkennung des Is-lams. Das Gesetz zielt einerseits mit einemVerbot der Auslandsfinanzierung von mus-limischen Verbänden und Moscheen da-rauf, extremistischen Tendenzen entgegen-zuwirken, stärkt aber andererseits die Rech-te von Muslimen und definiert die organi-sierten islamischen Glaubensgemeindenals Körperschaften öffentlichen Rechts –ein Status, den auch viele muslimische Ver-bände hierzulande anstreben. Schließlichbringt der Rechtsstatus, den die beiden gro-ßen christlichen Kirchen ebenso inneha-ben, wie etwa die Jüdische Gemeinde oderdie Zeugen Jehovas, eine Reihe von Ver-günstigungen: Körperschaften können Be-amte beschäftigen und sind von derGrundsteuer befreit, vor allem aber dürfensie Steuern von ihren Mitgliedern erheben.

Erste islamische Körperschaft IslamischeReligionsgemeinschaften verfügten übersolche Rechte nicht – bis das Land Hessen2013 überraschend die Ahmadiyya MuslimJamaat als erste islamische Körperschaft öf-fentlichen Rechts anerkannte, Hamburgfolgte ein Jahr später. Damit eine Religi-

onsgemeinschaft als Körperschaft öffentli-chen Rechts anerkannt wird, muss sie lautGrundgesetz „durch ihre Verfassung unddie Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr derDauer bieten“. Das Bundesverfassungsge-richt verlangt in seiner Rechtsprechung zu-sätzlich die Rechtstreue. Danach muss dieReligionsgemeinschaft geltendes Recht be-achten und darf die fundamentalen Prinzi-pien der Verfassung und die GrundrechteDritter nicht gefährden.Die Bemühungen muslimischer Verbändeund Gemeinden, sich entsprechend zu or-ganisieren, scheiterten in der Vergangen-heit gerade an der mangelnden internenOrganisation. Ein Manko mit historisch-theologischen Wurzeln: Organisierte Reli-gionsgemeinschaften nach dem Musterchristlicher Kirchen spielen im Islam keinegroße Rolle. Vielmehr basiert das Selbstver-ständnis dieser Religion auf einer direktenpersönlichen Glaubensbeziehung zwi-schen den Gläubigen und Allah. Deshalbfehlen Organisationsformen wie sie sich inchristlichen Kirchen ausgebildet haben.So verwundert es nicht, dass nur 20 Pro-zent der rund vier Millionen Muslime inDeutschland überhaupt in religiösen Ver-bänden oder Gemeinden organisiert sind.Die an der Deutschen Islam Konferenz teil-nehmenden Dachverbände und Vereine –

darunter die drei größten, die Türkisch-Is-lamische Union der Anstalt für Religion(DITIB), die Islamische Gemeinschaft MillîGörüs (IGMG) und der Verband der isla-mischen Kulturzentren (VIKZ) – vertretendamit nicht die Mehrheit der Muslime.„Den“ Islam als Religionsgemeinschaft an-zuerkennen, wie in der Diskussion biswei-len pauschal gefordert wird, ist deshalbschon kaum möglich. Auch ist der Islampluralistisch geprägt. Neben Sunniten, Ale-viten und Schiiten gibt es in Deutschlandnoch zahlreiche kleinere Konfessionen.Dass einzelne Glaubensgemeinschaften alsVereine oder Gemeinden als Körperschaf-ten öffentlichen Rechts anerkannt werdenkönnen, zeigt das Beispiel der Ahmadiyya.Andere muslimisce Glaubensgemeinschaf-ten wie die Alevitische Gemeinde Deutsch-land und der Verband der islamischen Kul-turzentren haben bereits eigene Anträgegestellt. Sandra Schmid T

Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.

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Lob allein genügt nichtINTEGRATION Jugendliche und Familien sind oft schwer erreichbar. Erfolgreichen Projekten aber fehlt die Finanzierung

In dem französischen Film „La Haî-ne“ (dt: Hass, 1995) gibt es eineSzene, die die Hürden der Integra-tion so beschreibt: In den französi-schen Banlieues (Vororten) brenntes, nachdem bekannt wurde, dass

ein Jugendlicher auf der Flucht vor der Po-lizei starb. Ein Polizist, der selbst aus demMaghreb kommt, stellt sich die Frage, wiedie Arbeit weitergehen soll. „Vor ein paarJahren war ein Dialog mit den Jugendli-chen noch möglich. Aber jetzt? Mich ken-nen die Jugendlichen noch, aber ein jungerKollege hält das keinen Monat durch“, sagter. Die Szene des Films hat eine klare Bot-schaft: Um Jugendliche zu erreichen, ge-nügt es nicht, die gleichen kulturellen Wur-zeln zu haben, sondern man muss sie be-gleiten, sonst „wachse“ man buchstäblichaus der Integration heraus.

Schwer erreichbar Eine Erfahrung, die ge-rade auch Menschen machen, die Kontaktzu den Jugendlichen suchen, die den Islamradikal auslegen (siehe Seite 16). Familienund Mitglieder der islamischen Gemein-schaft wissen oft nicht mehr, wie sie diesejungen Menschen erreichen können. Dennwenn Jugendliche das Gefühl haben, we-der in der Familie noch in der Moscheeüber bestimmte Themen adäquat sprechenzu können, holen sie sich ihre Infos ebenonline – und können sich so selbst radika-lisieren. Der Berliner Imam Mohamed Sa-bri will das ändern und geht einen ande-

ren, modernen Weg, bei dem er auf sozialeMedien setzt: „Ich lasse meine Predigtenaufzeichnen und stelle sie jetzt auf Face-book“, sagt Sabri. In die Moschee passenam Freitag 2.000 Menschen, auf Facebookerreicht er deutlich mehr Menschen. Erpredigt, dass die Menschen sich angespro-chen fühlen müssen, wenn die Kanzlerinsagt, dass der Islam zu Deutschland gehö-re. Seine Aufrufe für mehr Integration ge-fallen nicht allen. Der Berliner Imam wur-de mehrfach von Jugendli-chen angegriffen, einmalsogar bewusstlos geprügelt:„Für diese Menschen binich der Feind“, sagt er. Vorallem deshalb, weil seineBotschaft die der Integrati-on ist. In seinen Predigtennach dem Freitagsgebet ver-urteilt er Terroristen. Als ervor seiner Moschee diedeutsche Fahne hissenwollte, wurde sie herunter-gerissen. Es seien zwar nurwenige Leute, sagt Sabri,diese machten aber am „meisten Krach“.Sabri selbst wird in seiner Gemeinde ge-schätzt, die Menschen suchen seinen Rat,sein Telefon hört nicht auf zu klingeln. DieFrage, wie man Menschen am besten errei-chen kann, ist Dreh- und Angelpunkt alljener Projekte, die die Integration nichtnur von Muslimen in Deutschland fördernwollen. Zu einem dieser Vorzeigeprojekte

in diesem Bereich gehören die so genann-ten „Stadtteilmütter“. Die Initiative istmehrfach ausgezeichnet, vom Bundespräsi-denten hoch gelobt worden und mittler-weile im 11. Jahr. Das Projekt soll die Inte-gration von den Familien fördern, die sichaus der Gesellschaft oftmals zurückgezo-gen haben. Sie werden von „Stadtteilmüt-tern“ besucht, die alle selbst einen Migrati-onshintergrund haben. Für ihre Aufgabewerden die zumeist türkischen oder arabi-

schen Frauen von Sozialar-beitern in zwei Phasen aus-gebildet und beraten dannFamilien über Erziehungs-,Bildungs- und Gesund-heitsfragen. Das Projektgibt es mittlerweile in meh-reren Städten. Ursprüng-lich startete es im BerlinerBezirk Neukölln, in dem esviele soziale Brennpunkteund Migranten gibt.Dort koordiniert AnnaHermanns das Projekt. Siefindet die Stadtteilmütter-

Idee auf zwei Arten hilfreich: „Wir errei-chen zwei unterschiedliche Zielgruppen:Einmal die Stadtteilmütter selbst, die sichin dieser Zeit stark weiter entwickeln, undzum anderen die Familien, die die Chanceerhalten, sich in die Gesellschaft zu inte-grieren“, sagt sie. Es sei oft schwer, Zugangzu den Familien zu finden. Man werdemitunter wahrgenommen als Jugendamt,

das einem die Kinder wegnehmen wolle,berichtet sie aus eigener Erfahrung: „Wirkommen nur schwer an Familien heran,die zurückgezogen leben“, sagt Hermanns.Frauen aus der Community hätten es dage-gen sehr viel einfacher. Durch das Projektsei es bislang gelungen, knapp 8.250 Fami-lien zu erreichen. Im Wesentlichen werdedabei vor allem eine Frage beantwortet:„Wie läuft das in Deutschland? Von Fragenzum Sexualkunde-Unterricht in Schulenbis hin zur Kita-Anmel-dung erhalten Familienhier wichtige Informatio-nen, vor allem auch auf dieFrage, an welche Stellen siesich wenden können. DieStadtteilmütter sind er-kennbar an ihren Schalsund Taschen, die sie für allesichtbar tragen. Über dieJahre seien diese Frauendurch diese Symbole be-kannt geworden, sagt Her-mans. Das führe dazu, dassdie Stadtteilmütter auf offe-ner Straße angesprochen und um Hilfe ge-beten werden. Gerade auch von jenen Fa-milien, die sie zu erreichen versuchen.Zu einer ähnlichen Einschätzung kam dieForscherin Liv-Berit Koch bereits 2009, alssie das Projekt der Stadtteilmütter einerwissenschaftlichen Bewertung unterzog.Koch fasste darin zusammen: „Die Arbeitmit Multiplikatorinnen, die selbst aus dem

soziokulturellen Umfeld der Zielgruppekommen, die gleiche Muttersprache spre-chen und die Schwierigkeiten der Integrati-on selbst kennen gelernt haben, hat sichals besonders niedrigschwellig und darumwirkungsvoll erwiesen“, schreibt sie darin.Das Beispiel zeigt, dass der beste Weg zurIntegration durch Menschen realisiert wer-den kann, die die Probleme der Betroffe-nen selbst kennen und sie über eine länge-re Zeit begleiten – oftmals mit großem Er-

folg. Die Politik spart nichtmit Lob: „Die Stadtteilmüt-ter sind nahe bei den Men-schen vor Ort, kennen undsetzen an, an deren Bedürf-nissen und Potentialen. Sokonnte und kann Integrati-onsarbeit zum Erfolg wer-den und gelingen“, sagteder damalige Senator fürStadtentwicklung und heu-tige Regierende Bürger-meister von Berlin, Micha-el Müller (SPD) beimzehnjährigen Jubiläum der

Stadtteilmütter im September 2014. Dochnur sechs Wochen später mussten dieHochgelobten auf die Straße gehen, umgegen den Wegfall von 56 Stellen zu pro-testieren. Durch das Auslaufen von Förder-programmen konnten von einst 110 Frauennur noch rund 40 Stadtteilmütter bezahltwerden. Wie viele andere Projekte, sindauch die Stadtteilmütter chronisch unterfi-

nanziert. Bezirk, Senatsverwaltung und dasJob-Center finanzieren das Programm. So-bald eine dieser Quellen aber ausfällt, fehltdas Geld. Seit Monaten arbeitet das Projektdaher faktisch mit zu wenigen Mitarbei-tern. Der Bund hat im Jahr 2013 in Zusam-menarbeit mit zahlreichen Verbänden, Stif-tungen und Initiativen rund330 Integrationsprojekte gefördert. Dafürstellte das Bundesinnenministerium fast13 Millionen Euro und das Bundesministe-rium für Familien, Senioren, Frauen undJugend Mittel in Höhe von rund sechs Mil-lionen Euro zur Verfügung.

Unsichere Finanzierung Problematisch istdabei allerdings, dass der Bund in der Re-gel keine Strukturfinanzierung vornehmendarf und die Projekte jeweils nur für einebegrenzte Zeit finanziert werden können,wodurch ihnen die Planungssicherheit unddamit die Kontinuität fehlt, die für den Er-folg dieser Projekte so wichtig sind. AnnaHermanns, die Koordinatorin der Stadtteil-mütter in Neukölln, kann nicht verstehen,warum es zu diesen Engpässen kommenmuss. „Für so ein erfolgreiches Projekt be-steht ein dringender Regelfinanzierungsbe-darf“, sagt sie. Lob für ihre Arbeit seischön, aber damit alleine erreiche maneben keine Menschen. Hakan Tanriverdi T

Der Autor ist freier Journalist in Münchenund arbeitet unter anderem für die

„Süddeutsche Zeitung“.

»Ich lassemeine Pre-digten auf-

zeichnen undstelle sie aufFacebook.«

Imam Mohamed Sabri

»Wir kommennur schwer andie Familien

heran, die zu-rückgezogen

leben.«Anna Hermanns

AUFGEKEHRT

FreieInformationen

Nicht erst seit den Enthüllun-gen rund um EdwardSnowden weiß man: Es istnicht immer gut, wenn der

Staat Geheimnisse hat. Im Zweifel kön-nen sie schädlich sein. Lange Zeit konn-ten Bundes- und Landesbehörden inDeutschland mauern, wenn Bürger Aus-kunft erbaten. Das änderte sich 2006 alsauf Bundesebene das sogenannte Infor-mationsfreiheitsgesetz (IFG) in Krafttrat. Auch zahlreiche Bundesländer ha-ben eine ähnliche Regelung eingeführt.Der grundsätzliche Auskunftsanspruchauf „amtliche Informationen“ sieht al-lerdings zahlreiche Ausnahmen vor, wasKritiker immer wieder bemängeln. DieNetz-Aktivisten rund um den BlogNetzpolitik.org haben daraus gar eineeigene Kategorie gemacht. Unter „Infor-mationsfreiheits-Ablehnung des Tages“dokumentieren sie negative Bescheidevon Behörden, zum Beispiel einen desBundeskanzleramtes, das ein angebli-ches Beschwerdeschreiben des britischenGeheimdienstes über die Arbeit desNSA-Untersuchungsausschusses nichtherausrücken wollte.Es geht aber auch eine Nummer kleiner.In Nordrhein-Westfalen kam ein Abitu-rient, der in der Informationsfreiheits-Szene aktiv ist, auf die Idee, die Heraus-gabe der Abituraufgaben zu fordern.Freilich, bevor er die Klausuren geschrie-ben hatte. Eine Antwort des zuständigenMinisteriums steht laut Medienberich-ten noch aus. Die Chancen werden alseher gering eingeschätzt. Trotzdem: Fürso viel Chuzpe verdient der Schüler jaeigentlich schon eine gute Note. Aller-dings ist mehr als ein „gut“ nicht drin.Denn für ein „sehr gut“ hätte der Ju-gendliche eigentlich auch gleich nachden Lösungen de Aufgaben fragen müs-sen. Sören Christian Reimer T

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LESERPOST

Zur Ausgabe 14-15 vom 30. März 2015,„Die Zeichen der Zeit erkannt“ auf Sei-te 9:Für den Beitrag von Rudolf Seiters „DieZeichen der Zeit erkannt“ möchte ichmich herzlich bedanken. Dieser Artikeleines Zeitzeugen zur Wiedervereinigungsetzt bei den Ereignissen an, die Voraus-setzung für die Öffnung der BerlinerMauer im November 1989 und die sichdaran anschließenden Verträge (deutsch-deutscher Einigungsvertrag und Zwei-plus-Vier-Vertrag) waren. In besondererWeise hebt er daher den Besuch von Mi-chael Gorbatschow im Juni 1989 hervor.Bei dieser Gelegenheit, und so zeigt esauch das Foto, wurde eine sowjetisch-deutsche Erklärung ver-fasst und überreicht. Ichhätte mir gewünscht,mehr über die Gesprächeder beiden StaatsmännerGorbatschow und Kohlzu erfahren, denn ist eshier nicht auch wie beidem Entwurf von Bun-destagsreden, die immerenden mit der Formel: Esgilt das gesprocheneWort, und hier besonders

das Wort unter Männern? Frankreichund Russland haben die IntegritätDeutschlands tatsächlich gewahrt und sobin ich optimistisch, was die weitere Ent-wicklung der Staatenbeziehung inEuropa anbelangt.

Barbara Lützelberger,Schweinfurt

Zur Ausgabe 10 vom 2. März 2015, „MitBauchschmerzen“ auf Seite 1:Mir altem Mann treibt es den Angst-schweiß auf die Stirn, wenn ich an dieGier der Banken denke, die unserenschönen Euro versenken. Er verliert im-mer mehr an Wert und trotzdem strebenalle nach ihm!

Den Griechen empfehle ich, vor ihrerKüste in der Ägäis nach Geld zu suchen.Bestimmt liegt dort noch ein alter Kahnherum und wartet darauf, nun endlichgeborgen zu werden. Oder die Griechenbieten eine oder mehrere ihrer Inselnzum Verkauf an. Die Finanzhaie kaufenschließlich alles, was sich zu Geld ma-chen lässt.

Manfred G. Hackauf,Janowo (Polen)

Zur Beilage „leicht erklärt!“ in leichterSprache im Allgemeinen:Die vor einiger Zeit neu eingeführte Bei-lage „leicht erklärt!“ finde ich sehr gelun-gen. Ich habe diese auch dem örtlichen

Caritasverband zur Verfügung gestellt,welcher die Beilage im Rahmen der Be-treuung der Flüchtlinge gut verwendenkann, um diesen das ein oder andereThema leicht zu erklären.

Michael Strosche,per E-Mail

Die Idee der Beilage „leicht erklärt!“ fin-de ich großartig. Meine Kollegen an derWestböhmischen Universität im tsche-chischen Pilsen sind dankbare Abneh-mer meines Exemplars und setzen dasMaterial in Landeskunde für Lehramts-studenten des Fachs Germanistik ein.

Prof. Dr. Elke Mehnert,Aue

18 KEHRSEITE Das Parlament - Nr. 16 -17 - 13. April 2015

SEITENBLICKE

VOR 25 JAHREN...

Direkt gewählteBerliner24.4.1990: Alliierte geben West-Berli-nern Wahlrecht Lange bevor sich dieWest-Berliner Hauptstädter nennen durf-ten, waren sie politisch gesehen nichteinmal echte Bundesbürger. Ihre Stadt,die nicht zur DDR gehörte, aber auf Ge-heiß der Westalliierten auch kein echteswestdeutsches Bundesland sein durfte,war gewissermaßen ein Stiefkind des

Grundgesetzes. Zwar wollten die Alliier-ten, „dass die Bindungen zwischen denWestsektoren Berlins und der Bundesre-publik Deutschland aufrechterhaltenund entwickelt werden“, bestanden abergleichzeitig darauf, dass diese Sektoren„kein Bestandteil (konstitutiver Teil) derBundesrepublik Deutschland“ sind und„nicht von ihr regiert werden“. DieseVorbehalte, die seit 1949 Bestand hat-ten, waren es auch, die die West-Berlinervon Bundestagswahlen ausschlossen –bis zum 24. April 1990: Wenige Monatenach dem Mauerfall gaben die westli-chen Alliierten ihre Vorbehalte gegendas Wahlrecht der West-Berliner auf.So machten sie erstmals den Weg für ei-ne Direktwahl der Berliner Bundestags-abgeordneten frei. Denn bis dahin wur-den die Parlamentarier aus der geteiltenStadt vom Berliner Abgeordnetenhausentsprechend der dortigen Fraktionsstär-ke nach Bonn entsandt. Ein Stimm- undWahlrecht hatten sie dort allerdingsnicht. Dass die nächste Bundestagswahlnicht nur eine mit West-Berliner Beteili-gung, sondern die erste gesamtdeutscheWahl werden sollte, war damals nochnicht klar. So waren am 2. Dezember1990 über 2,5 Millionen Berliner wahl-berechtigt – aus dem West- und demOst-Teil der Stadt. Benjamin Stahl T

Wolfgang Thierse (SPD) gewann 1990eines der Berliner Direktmandate.

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ORTSTERMIN: »WEGE – IRRWEGE – UMWEGE« IM DEUTSCHEN DOM

Interaktive ParlamentsgeschichteDer Gendarmenmarkt in Berlin mit Schauspielhaus, Fran-zösischem Dom und Deutschem Dom ist ein Besucher-magnet. Hier bietet sich nicht nur ein Blick zurück inshistorische Berlin, sondern – hinter den Türen des Deut-schen Doms – auch ein Einblick in die komplexe Ge-schichte des deutschen Parlamentarismus. Seit 2002 wirdin der ehemaligen Kirche die Ausstellung „Wege – Irrwege– Umwege“ des Deutschen Bundestages gezeigt. Auf fünfEbenen lässt sich die wendungsreiche Historie nachvoll-ziehen: von den Anfängen in der Frankfurter Paulskirche1848 über das Kaiserreich, die Weimarer Republik, diedunklen Jahre der NS-Zeit bis hin zum geteilten unddann wiedervereinten Deutschland.Herzstück der Ausstellung ist die Ebene 1.1 – hier stehtdie parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublikim Zentrum. Dieser Abschnitt wurde 2013 komplett über-arbeitet, die anderen Ausstellungsteile sollen nun Stückfür Stück folgen. Auf Ebene 1.1 gibt es viel zu entdecken:Entlang eines bis in viele Details des großen Vorbilds imReichstagsgebäude nachgebauten Plenarsaals zieht sichzum Beispiel eine Reihe von Bildschirmen – eine interak-tive Zeitachse. „Hier dürfen die Besucher anfassen, hier

müssen sie anfassen“, sagt Andreas Baasner, der für dieAusstellung zuständige Referent. Praktisch wie bei einemTablet-Computer können die Bildschirme bedient wer-den. Dort zu finden sind kurze Info-Texte, Bilder und Vi-deos – teilweise original Wochenschau-Aufnahmen – zuden Meilensteinen der 18. Wahlperioden.In drei sogenannten Konchen – großzügige, halbrundeNischen – können sich die Besucher multimedial übereinzelne Aspekte des Bundestages informieren, zum Bei-spiel über den Alltag der Abgeordneten. Auf einem eben-falls interaktiven Bildschirm lässt sich ein typischer Tages-ablauf eines Parlamentariers abrufen, der mit eigens pro-duzierten Info-Filmchen erfahrbar wird. In den anderenKonchen werden der Bundestag als Institution samtWahlrecht sowie der Gesetzgebungsprozess thematisiert.Komplexe Materie, das weiß auch Baasner: „Das parla-mentarische System ist kompliziert.“ Ziel der Ausstellungsei es, die Gäste anzuregen, sich damit auseinanderzuset-zen. „Besucher sollen im Nachhinein das Gefühl haben:Es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen“, sagt der Aus-stellungs-Referent. Allein gelassen werden die Gäste dabeinicht. Wer spontan in den Dom kommt, kann zum Bei-

spiel an Führungen teilnehmen, Historiker stehen dafürbereit. „Wir vermitteln hier mit Begeisterung und Leiden-schaft Parlamentsgeschichte und das parlamentarischeSystem“, sagt Baasner.Und das auch auf spielerischem Weg: In dem Plenarsaal-nachbau können Besucher auch selbst in die Haut vonAbgeordneten schlüpfen. In dem 45-minütigen Rollen-spiel „Plenarsitzung“, das donnerstags in Sitzungswochenangeboten wird, wird im Schnelldurchgang ein Gesetzge-bungsverfahren simuliert – samt Debatten, Abstimmun-gen und parlamentarischen Benimmregeln. Für Schüler-gruppen gibt es die Möglichkeit, längere Projekte, etwazum Thema „Freiheit und Grundrechte in der Parla-mentsgeschichte“, zu absolvieren. Ein Besuch lohnt sich.

Sören Christian Reimer T

Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 10 bis18 Uhr (von Mai bis September bis 19 Uhr) geöffnet. Ein-tritt und Führungen sind kostenlos. Informationen zu al-len Angeboten im Netz auf www.bundestag.de bezie-hungsweise unter (030) 227-30431 und -30432.

Die Ausstellung im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt macht nicht nur die Historie des deutschen Parlamentarismus, sondern auch die Funktionsweise des Bundestages heutzu-tage erfahrbar. © Deutscher Bundestag/Edgar Zippel

PANNENMELDERIn die Ausgabe Nr. 14-15vom 30. März 2015 ha-ben sich mehrere Fehlereingeschlichen.Auf Seite 2 im „Parla-mentarischen Profil“: DieSowjetunion marschierte1979 und nicht 1982 inAfghanistan ein. DasKriegsrecht in Polen wur-de 1981 und nicht 1982verhängt.Auf Seite 3 in der Grafik„Europas östliche Nach-barn“: Norwegen ist keinMitglied der Europäi-schen Union.Auf Seite 7 im Artikel„Schwere Geburt“: Die zi-tierte Linken-Abgeordne-te heißt Inge Höger undnicht Inge Höfer.

BUNDESTAG LIVE

Topthemen vom20. – 24.4.2015Nachtragshaushalt (Do)Verfassungsschutz (Fr)

Phoenix überträgt liveab 9 Uhr

Auf www.bundestag.de:Die aktuelle Tagesord-nung sowie die Debattenim Livestream

Haben Sie Anregungen,Fragen oder Kritik?Schreiben Sie uns:

Das ParlamentPlatz der Republik 111011 [email protected]

Leserbriefe geben nichtdie Meinung der Redaktionwieder. Die Redaktionbehält sich vor, Leserbriefezu kürzen.

Die nächste Ausgabevon „Das Parlament“erscheint am 27. April.

PERSONALIA

>Albert Probst †Bundestagsabgeordneter 1969-1998,CSUAm 24. März starb Albert Probst im Altervon 83 Jahren. Der promovierte Agrarwis-senschaftler aus Garching trat 1949 derCSU bei. Von 1960 bis 1973 war er Mitglieddes Kreistags München-Land und von 1966bis 1990 Gemeinderat in Garching. Der Di-rektkandidat des Wahlkreises München-Land bzw. Freising engagierte sich vorwie-gend im Ausschuss für Bildung und Wissen-schaft bzw. für Forschung und Technologie,an deren Spitze er von 1972 bis 1982 stand.Danach, bis Januar 1991, war Probst Parla-mentarischer Staatssekretär beim Bundes-minister für Forschung und Technologie. Von1991 bis 1999 war er Mitglied der Parla-mentarischen Versammlung des Europaratsund der Westeuropäischen Union.

>Dagmar LuukBundestagsabgeordnete 1980-1990,SPDDagmar Luuk vollendet am 12. April ihr75. Lebensjahr. Die Diplom-Politologin ausBerlin schloss sich 1961 der SPD an undwar von 1976 bis 1980 Mitglied des dorti-gen Landesvorstands. Von 1975 bis 1980gehörte sie dem Abgeordnetenhaus an.Luuk engagierte sich im Bundestag im Aus-schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit.Von 1984 bis 1990 gehörte sie der Parla-mentarischen Versammlung des Europaratsund der Westeuropäischen Union an.

>Sigrid Skarpelis-SperkBundestagsabgeordnete 1980-2005,SPDAm 12. April wird Sigrid Skarpelis-Sperk70 Jahre alt. Die promovierte Volkswirtintrat 1969 der SPD bei, war stellvertretendeVorsitzende des Bezirksverbands Schwabenund gehörte dem Landesvorstand Bayernan. Von 1991 bis 2003 war sie Mitglied desSPD-Parteivorstands. Im Bundestag arbeite-te Skarpelis-Sperk überwiegend im Wirt-schaftsausschuss mit. Von 1994 bis 2005amtierte sie als Vorsitzende des Unteraus-schusses ERP-Wirtschaftspläne. Sie ist zur-zeit Präsidentin der Vereinigung derDeutsch-Griechischen Gesellschaften.

>Erika SimmBundestagsabgeordnete 1990-2005,SPDAm 16. April begeht Erika Simm ihren75. Geburtstag. Die Richterin aus Kallmünz/KreisRegensburg trat 1971 der SPD bei, war Vorsit-zende des Unterbezirks Regensburg und gehörtedem Landesvorstand der SPD Bayern an. Von2002 an war sie Stadträtin in Kallmünz. Simm,Vorstandsmitglied der SPD-Bundesfraktion von1998 bis 2005, engagierte sich vorwiegend imRechtsausschuss. In dieser Zeit war sie auch Vor-sitzende des Wahlprüfungsausschusses und ge-hörte dem Richterwahlausschuss an.

>Claire Marienfeld-CzeslaBundestagsabgeordnete 1990-1995,CDUAm 21. April vollendet Claire Marienfeld ihr75. Lebensjahr. Die pharmazeutisch-techni-sche Assistentin trat 1972 der CSU und1976 in Detmold der CDU bei, war von1978 bis 1991 dort Ratsfrau und von 1988bis 1991 stellvertretende Bürgermeisterin.Marienfeld, die dem Verteidigungsaus-schuss angehörte, war von 1995 bis 2000Wehrbeauftragte des Bundestags. Von 2001bis 2010 war sie Präsidentin der Gesell-schaft für Wehr- und Sicherheitspolitik

>Ilse JanzBundestagsabgeordnete 1990-2002,SPDIlse Janz wird am 23. April 70 Jahre alt. DieSachbearbeiterin trat 1967 der SPD bei, warvon 1988 bis 1991 Landesvorsitzende inBremen und gehörte von 1993 bis 1998dem SPD-Parteivorstand an. Von 1979 bis1987 war sie Stadtverordnete in Bremerha-ven und von 1987 bis 1990 Mitglied derBremischen Bürgerschaft. Janz gehörte von1993 bis 1998 dem Vorstand der SPD-Bun-destagsfraktion an und war von 1998 bis2002 Parlamentarische Geschäftsführerin.

>Anneliese AugustinBundestagsabgeordnete 1984-1987,1989-1998, CDUAnneliese Augustin vollendet am 24. Aprilihr 85. Lebensjahr. Die Apothekerin aus Kas-sel trat 1967 der CDU bei, war von 1972 bis1984 Stadtverordnete ihrer Heimatstadtund engagierte sich in der Mittelstandsver-einigung der CDU Hessen. Augustin enga-gierte sich im Bundestag vorwiegend imAusschuss für wirtschaftliche Zusammenar-beit beziehungsweise im Gesundheitsaus-schuss.

>Jochen BorchertBundestagsabgeordneter 1980-2009,CDUAm 25. April wird Jochen Borchert 75 Jahrealt. Der Landwirt und Diplom-Ökonom ausBochum schloss sich 1965 der CDU an undwar dort von 1977 bis 2000 Kreisvorsitzen-der. Von 1993 bis 2003 stand er an der Spit-ze des Evangelischen Arbeitskreises derCDU/CSU. Borchert, von 1989 bis 1993haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, wurde im Januar 1993 Bundes-landwirtschaftsminister und behielt diesesAmt bis zum Regierungswechsel 1998. ImBundestag hatte Borchert vor allem imHaushaltsausschuss mitgearbeitet. bmh T

Informationen in leichter Sprache Ausgabe-Nr. 9 Beilage für:

Leichte SpracheWas ist das?

UN-Behinderten-Konvention:

Die Behinderten-Rechts-Konvention ist eine Vereinbarung.

Sie schützt die Rechte von allen Menschen mit Behinderung.

Die Vereinten Nationen haben diese Vereinbarung geschrieben.

Zu den Vereinten Nationen gehören fast alle Länder der Welt. Es sind genau 192 Länder. Die Zentrale der Vereinten Nationen ist in New York, USA. Jedes Land kann Vertreter zu den Versammlungen schicken.

Das schwere Wort für Vereinte Nationen ist: United Nations Organization. Die Abkürzung davon ist: UNO.

In der Behinderten-Konvention steht geschrieben: Länder müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung ihre Rechte auch bekommen.

Auch Deutschland muss sich an diese Rechte halten. Die Rechte gibt es schon seit dem Jahr 2009.

Die Bundes-Regierung hat dafür einen Plan erstellt.

Dieser Plan heißt: Nationaler Aktions-Plan.

Darin steht: Menschen mit Behinderung sollen überall teilnehmen können. Und so viel wie möglich verstehen können.

Was ist leichte Sprache?

Leichte Sprache hilft vielen Menschen. Denn: Schwere Sprache ist schwer zu verstehen.

Schwere Sprache sind zum Beispiel:

- Fremd-Wörter. - Fach-Wörter. - Lange Sätze.

leicht

erklärt!

Leichte Sprache • Was ist das?

In unserer Umgebung gibt es viele schwere Texte.

Darin sind viele schwere Wörter, die man nicht kennt.

Es gibt auch viele lange Sätze, die man nicht versteht.

Schwere Texte sind zum Beispiel: - Briefe von Ämtern und Ärzten, - Verpackungs-Beilagen von

Medikamenten,- Plakate, - Nachrichten - und noch vieles mehr.

Schwere Sprache macht vielen Menschen Probleme.

Zum Beispiel: - Menschen werden ausgegrenzt. - Menschen fühlen sich schlecht. - Menschen brauchen Hilfe.

Viele Menschen brauchen die leichte Sprache.

Und zwar: - Menschen mit

Lern-Schwierigkeiten,- Menschen, die nicht gut lesen

können,- Menschen, die nicht gut schreiben

können,- ältere Menschen, - Menschen, die aus anderen Ländern

kommen- und viele mehr.

Warum leichte Sprache?

Leichte Sprache können Menschen besser verstehen.

Dadurch können sie sich eine eigene Meinung machen.

Mit einer eigenen Meinung kann man besser auswählen.

Das bedeutet: Menschen können entscheiden, was sie möchten.

Sie können selbst bestimmen.

Leichte Sprache ist sehr wichtig für die Inklusion. Inklusion bedeutet: Teilhabe an der Gesellschaft.

Das heißt: - Alle Menschen gehören dazu. - Niemand wird ausgeschlossen. - Alle Menschen haben die

gleichen Rechte.- Alle Menschen bestimmen und

gestalten die Gesellschaft.

Leichte Sprache baut Schwierigkeiten in der Sprache ab.

Das bedeutet: Leichte Sprache hilft im Leben.

Zum Beispiel: - in der Freizeit, - in der Schule, - im Beruf, - beim Arzt - und noch viel mehr.

Regeln in der leichten Sprache:

In der leichten Sprache schreiben und sprechen ist schwer. Dafür gibt es aber Regeln. Diese Regeln müssen geübt werden. Und zwar ganz oft.

Man muss in der leichten Sprache darauf achten:

- Wörter - Zahlen - Sätze - Texte - Gestaltung und Bilder - Prüfen

Das Prüfen der Texte in leichter Sprache ist sehr wichtig.

Es gehört zur leichten Sprache dazu.

Menschen mit Lern-Schwierigkeiten prüfen den Text.

Sie können sagen, ob der Text leicht geschrieben ist.

Einige Regeln der leichten Sprache:

► Einfache Wörter benutzen.

Zum Beispiel:

Schlecht: genehmigen Gut: erlauben

► Wörter benutzen, die etwas genau beschreiben.

Zum Beispiel:

Schlecht: öffentlicher Nahverkehr Gut: Bus und Bahn

► Kurze Sätze schreiben.

► Wenige Fremdwörter benutzen.

Zum Beispiel:

Schlecht: Workshop Gut: Arbeits-Gruppe

► Kurze Wörter benutzen.

Wenn das nicht geht, müssen lange Wörter mit einem Binde-Strich getrennt werden.

Dann kann man die Wörter besser lesen.

Zum Beispiel: Schlecht: Bundesgleichstellungsgesetz Gut: Bundes-Gleichstellungs-Gesetz

► Am Anfang vom Satz dürfen auch diese Wörter stehen:

- Oder. - Wenn. - Weil. - Und. - Aber.

► Eine große Schrift benutzen. Diese kann man besser lesen.

► Viele Absätze und Überschriften machen.

► Bilder benutzen.

Denn: Bilder helfen, den Text besser zu verstehen.

Es ist aber wichtig: Die Bilder müssen zum Text passen.

Hier entscheiden die Prüfer. Sie können sagen, ob die Bilder zum Text passen.

Die Bilder sollten einfach und deutlich sein.

Man muss die Bilder gut erkennen können.

Je größer die Bilder sind, umso besser kann man sie erkennen.

Zum Beispiel: Nach dem Kopieren.

► Wie werden Zahlen geschrieben?

Oft sind Ziffern einfacher als die ausgeschriebene Zahl.

Dann schreibt man das zum Beispiel so:

6 Autos

Schlecht wäre:

sechs Autos

Weitere Informationen in leichter Sprache gibt es unter: www.bundestag.de/leichte_sprache

Dieser Text wurde in leichte Sprache übersetzt von:

Impressum

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Nachrichten

Ratgeber Leichte Sprache:http://tny.de/PEYPP

Die Bilder sind von Picto-Selector und:Titelbild: dpa/picture-alliance

Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 16-17/2015

Leichte Sprache • Was ist das?

► Wie werden Uhr-Zeiten geschrieben?

Zum Beispiel- 13 Uhr- 13.00 Uhr- 13:00 Uhr

- 8 Uhr abends- 20 Uhr- 20:00 Uhr

Dazu sollte man den Prüfer fragen. Dieser entscheidet, was leichter ist.

► Telefon-Nummern mit Leer-Zeichen schreiben.

Beispiel:

Schlecht: (06655) 443322Gut: 0 66 55 - 44 33 22

► Jeden Satz in eine neue Zeile schreiben.

► Und den Text zusammen lassen.

Das bedeutet:Manchmal ist eine Seite voll.Und der Satz ist noch nicht zu Ende. Dann schreiben Sie den Satz auf die nächste Seite.

Es gibt noch sehr viele Regeln.

Man kann alle Leichte-Sprache-Regeln nachlesen.

Und zwar im Internet:http://tny.de/PEYPP

Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz

Darin steht:Menschen mit Behinderung sollen am Leben der Gesellschaft teilnehmen.Und zwar ohne Hindernisse. Sie sollen selbst bestimmen können.

Auch das Internet soll für alle Menschen barriere-frei sein.

Das bedeutet:Menschen mit Behinderung sollen im Internet Informationen leicht fi nden und verstehen können.

Dazu gibt es eine Verordnung im Internet.

In der schweren Sprache heißt die Verordnung: Barriere-freie Informations-Technik- Verordnung.

Auf vielen Internet-Seiten gibt es ein Symbol für leichte Sprache. Drückt man auf das Symbol,kann man den Text in leichter Sprache lesen.

Manchmal gibt es auch ein Programm zum Vorlesen. Oder einen Film.

leicht erklärt!