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Christian Damböck Hans-Ulrich Lessing (Hg.) Dilthey als Wissenschafts- philosoph VERLAG KARL ALBER B

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  • Christian DamböckHans-Ulrich Lessing (Hg.)

    Dilthey alsWissenschafts-philosoph

    VERLAG KARL ALBER B

  • Christian Damböck / Hans-Ulrich Lessing (Hg.)

    Dilthey als Wissenschaftsphilosoph

    VERLAG KARL ALBER A

  • Die Dilthey-Forschung der letzten Jahre hat Dilthey von dem Bildeiner »kontinentalen« Philosophie der Hermeneutik des Lebens weg-gerückt. Vielmehr war sein Wissenschaftsverständnis holistisch undeinem umfassenden Erfahrungsbegriff verpflichtet. Statt Geistes-und Naturwissenschaften einander entgegenzusetzen, brachte er eineempirisch eingestellte akademische Philosophie auf den Weg.

    Die Herausgeber:

    Christian Damböck ist Privatdozent am Institut für Philosophie derUniversität Wien. Er arbeitet derzeit an einer Edition der Tagebüchervon Rudolf Carnap (FWF Projekt P27733) am Institut Wiener Kreis.

    Prof. Dr. Hans-Ulrich Lessing lehrt Philosophie an der Ruhr-Univer-sität Bochum. Er ist Mitglied der Dilthey-Forschungsstelle und Mit-herausgeber der Gesammelten Schriften und des Briefwechsels vonDilthey.

  • Christian DamböckHans-Ulrich Lessing (Hg.)

    DiltheyalsWissenschafts-philosoph

    Verlag Karl Alber Freiburg/München

  • Veröffentlicht mit Unterstützung desAustrian Science Fund (FWF): PUB 291-V24

    Originalausgabe

    © VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

    Umschlagmotiv: Wilhelm Dilthey, 1907, Bildarchiv HerderSatz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

    ISBN (Buch) 978-3-495-48728-0ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86115-8

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Helmut JohachTatsachen, Normen und Werte in Diltheys Theorie der Geistes-und Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    Hans-Ulrich Lessing»Empirie und nicht Empirismus«. Dilthey und John Stuart Mill . 41

    Helmut PulteGegen die Naturalisierung des Humanen.Wilhelm Dilthey im Kontext und als Theoretiker derNaturwissenschaften seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 63

    Christian DamböckEpistemische Ideale bei Dilthey und Cohen . . . . . . . . . . . 86

    Gottfried GabrielDilthey, Carnap, Metaphysikkritik und das Problem der Realitätder Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

    Kurt Walter ZeidlerVom Objektiven Idealismus zur Hermeneutik.Trendelenburg und Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

    Jos de MulThe syntax, pragmatics and semantics of life. Dilthey’shermeneutics of life in the light of contemporary biosemiotics . 156

    5

  • Sebastian LuftDiltheys Kritik an der Wissenschaftstheorie der Neukantianerund die Konsequenzen für seine Theorie der Geisteswissen-schaften. Das Problem des Historismus . . . . . . . . . . . . 176

    Ernst Wolfgang OrthDie Wissenschaftskonzeption bei Dilthey und Cassirer . . . . . 199

    Rudolf A. MakkreelDilthey and Cassirer on Language and the Human Sciences . . . 210

    Gudrun Kühne-BertramZum Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissen-schaften in der Philosophie Wilhelm Diltheys . . . . . . . . . 225

    Die Autoren dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

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    Inhalt

  • Vorwort

    Dieser Band vereinigt die Beiträge einer Tagung, die im Juni 2013 amInstitut Wiener Kreis der Universität Wien stattgefunden hat. Zieldieser Tagung ist es gewesen, die Rolle Diltheys als Wissenschafts-philosoph vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten in derDilthey-Forschung erarbeiteten Befunde, die Dilthey tendenziell vondem Bild einer rein »kontinentalen« Philosophie der Hermeneutikdes Lebens weg gerückt haben, zu beleuchten. So wurde er als Reprä-sentant der an allen Wissenschaften orientierten und interessiertenund zumindest in einem bestimmten Sinn empiristisch eingestelltenakademischen Philosophie in Deutschland im neunzehnten Jahrhun-dert ausgewiesen. Dilthey hat demnach weder eine strikte Dichoto-mie von Geistes- und Naturwissenschaften vertreten noch hat er dieHermeneutik oder die deskriptive Psychologie als Gegenprogrammzu den Naturwissenschaften verstanden. Sein Wissenschaftsver-ständnis war holistisch und einem umfassenden Erfahrungsbegriffverpflichtet, der – dies ein Motiv, das in zahlreichen Beiträgen diesesBandes aufgegriffen wird – sich vom Erfahrungsbegriff des britischenund französischen Empirismus nur darin unterschieden hat, dass erzusätzlich zu der sinnlichen Erfahrung auch die höheren Regionendes Seelenlebens mit einbezogen hat, also das abstrakte Denken etwa.

    Im ersten, von Helmut Johach verfassten Beitrag wird die Be-deutung der Sozialwissenschaften in Diltheys Auffassung von denGeisteswissenschaften entgegen einer einseitig auf die »sprachlich-literarischen Wissenschaften« beschränkten Lesart dieses Terminushervorgehoben. Johach betont die kritische Haltung Diltheys gegen-über einer strikten Dichotomie zwischen Natur- und Geisteswissen-schaften bzw. zwischen nomothetischen und idiographischenWissen-schaften, wie sie von der Südwestdeutschen Schule, aber auch vonMax Weber vertreten wurde.

    Hans-Ulrich Lessing arbeitet in seinem Beitrag die bis heute zuwenig beachtete Beziehung Diltheys zu den Schriften John Stuart

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  • Mills heraus. Vor dem Hintergrund einer Diskussion des für Diltheybedeutsamen sechsten Buches von Mills Logik verweist Lessing aufDiltheys zutiefst ambivalentes Verhältnis zu den Arbeiten Mills, de-ren empirische Einstellung er bei gleichzeitiger vollständiger Ableh-nung des auf Sinnesdaten gestützten Reduktionismus britischer undfranzösischer Empiristen teilt.

    Der Beziehung Diltheys zu den Naturwissenschaften seiner Zeitgeht Helmut Pulte in seinem Beitrag nach. Dabei stützt er sich vorallem auf den frühen Grundriß der Logik und des Systems der phi-losophischen Wissenschaften von 1865 sowie die Einleitung in dieGeisteswissenschaften und ihre Vorarbeiten, wobei er insbesonderedie Frage zu klären sucht, welches Bild Dilthey von den zeitgenössi-schen Naturwissenschaften besaß und wie es seine frühe Konstituti-on der Geisteswissenschaften beeinflusst hat. Dabei kann er zeigen,dass Diltheys Projekt einer Grundlegung der Geisteswissenschaftendurch eine »Halbherzigkeit« in Bezug auf Kant geprägt ist: einerseitskritisiert Dilthey zwar Kants Intellektualismus und insbesondere sei-ne Zeittheorie, löst sich aber in seinem Verständnis der Naturwissen-schaften letztlich nicht von Kant.

    Im Beitrag von Christian Damböck wird Diltheys empirischeAuffassung von Philosophie der apriorischen Konzeption HermannCohens gegenüber gestellt und als komplementär zu dieser bestimmt.Im Unterschied zu der in vielen Belangen inkompatiblen Südwest-deutschen Schule konvergierte Diltheys Philosophie mit den Grund-sätzen der Marburger Schule und Cohens im Besonderen. Damböckbestimmt die epistemischen Ideale von Dilthey und Cohen als wech-selseitig aufeinander angewiesen: um das »Faktum der Kultur«, mitCohen, a priori hinsichtlich seiner »Ursprünge« analysieren zu kön-nen, müssen wir uns dieses zunächst historisch, im Sinne von Dil-theys geisteswissenschaftlicher Philosophie, aneignen.

    In Gottfried Gabriels Beitrag wird die Rolle beleuchtet, die Dil-they für die Philosophie Rudolf Carnaps gespielt hat, und es wird einVergleich grundlegender Positionen dieser beiden Philosophen gelie-fert. Gabriel betont die Bedeutung der Dilthey-Schule – vermitteltdurch Herman Nohl, bei dem Carnap studiert hat, sowie WilhelmFlitner, mit dem Carnap eine lebenslange Freundschaft verbundenhat – für den jungen Carnap. Spuren von Diltheys Lebensphilosophiefinden sich in Carnaps Der logische Aufbau der Welt ebenso wie inseinen metaphysikkritischen Schriften. Überdies verweist Gabriel auf

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    Vorwort

  • Konvergenzen zwischen der kritischen Einschätzung des Realismus-problems durch Dilthey und Carnap.

    Kurt Walter Zeidler liefert in seinem Beitrag eine auf die Biogra-fie Ernst Bratuscheks und die Logischen Untersuchungen gestützteDiskussion der Philosophie Adolf Trendelenburgs und verweist aufdie Bedeutung Trendelenburgs als Lehrer von Cohen und Dilthey.

    In Jos de Muls Beitrag wird die Aktualität Diltheys in heutigenDebatten anhand einer Diskussion der philosophischen Probleme derBiosemantik betont. Die Debatten in diesem Feld könnten, wie deMul hervorhebt, von einer Orientierung an Diltheys Hermeneutikdes Lebens profitieren, und zwar vor allem deshalb, weil DiltheysPhilosophiekonzeption durchgängig an den Naturwissenschaften ori-entiert gewesen ist und somit eine mit den Naturwissenschaftenkompatible Spielart der Hermeneutik geliefert hat.

    Sebastian Luft beginnt seinen Beitrag mit einer Präsentation derWindelbandschen Unterscheidung zwischen idiografischen und no-mothetischen Wissenschaften als indirekte Kritik an Dilthey. Dil-theys Antwort in seiner zweiten Psychologieabhandlung wird vonLuft als überzeugende Widerlegung des strikt dichotomischen Stand-punktes der Südwestdeutschen Schule aufgefasst. Am Ende seinesBeitrages geht Luft auf die Frage des Relativismus bei Dilthey einund rekonstruiert diesen als Antinaturalismus, den er »mit Cassirerweiter zu denken« empfiehlt.

    In Ernst Wolfgang Orths Beitrag wird eine Gegenüberstellungder Wissenschaftskonzeptionen Cassirers und Diltheys vorgenom-men, in deren Zentrum das am Kulturbegriff festzumachende Phi-losophieverständnis dieser beiden Autoren steht. Dilthey und Cassi-rer heben sich von Kant durch ihrem umfassenden Erfahrungsbegriffab, in dem die Zielsetzungen von Cassirers »Philosophie der symboli-schen Formen« und Diltheys »Kritik der historischen Vernunft«, wieOrth betont, konvergieren.

    Auch Rudolf A. Makkreel stellt in seinem Beitrag die Philoso-phien von Dilthey und Cassirer gegenüber, allerdings anhand derkonkreten Fallstudie des Sprachverständnisses dieser beider Autoren.Ausgehend von einer Darstellung der »symbolischen Formen« Spra-che und Mythos bei Cassirer, geht Makkreel anhand der Fragmentezum sechsten Buch der Einleitung und der einschlägigen Passagen imAufbau detailliert auf Diltheys Sprachverständnis ein. Makkreel ar-beitet dabei die Unterschiede zwischen Cassirers »synthetischem«und Diltheys »historischem« Ansatz heraus.

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    Vorwort

  • Im letzten Beitrag präsentiert Gudrun Kühne-Bertram eine um-fassende Literaturstudie zum Verhältnis von Natur- und Geisteswis-senschaften, das Dilthey, wie Kühne-Bertram klarstellt, nicht dicho-tomisch gesehen hat, sondern im Sinne einer komplementärenEinheit. Kühne-Bertram liefert eine Vielzahl von Belegen für dieseThese, die sich sowohl aus den publizierten Schriften Diltheys alsauch und vor allem aus den nachgelassenen Manuskripten erschlie-ßen lassen, die in den Bänden XVI bis XXVI derGesammelten Schrif-ten dokumentiert sind.

    Die Beiträge werden hier in derselben Reihenfolge abgedruckt,in der sie im Rahmen derWiener Tagung gehalten worden sind. Gud-run Kühne-Bertram, die an der Wiener Tagung nicht teilnehmenkonnte, hat ihren Beitrag freundlicherweise für die Drucklegungnachgeliefert.

    Die Tagung war als Teil des vom FWF finanzierten Forschungs-projekts P24615 »Wilhelm Dilthey und Rudolf Carnap. Eine his-torisch-systematische Studie« konzipiert. Wir danken der Fakultätfür Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien fürdie großzügige Finanzierung der Tagung. Weiters danken wir derDekanin Univ. Prof. Elisabeth Nemeth und dem Leiter des InstitutsWiener Kreis Univ. Prof. Friedrich Stadler, ohne deren Unterstützungdiese Tagung nicht möglich gewesen wäre. Schließlich bedanken wiruns bei Mag. Sabine Koch für die Hilfe bei der Organisation und diefreundliche Betreuung der Teilnehmer vor Ort.

    Die Drucklegung dieses Bandes wurde durch einen Druckkosten-zuschuss des FWF (Publikation PUB 291-V24) ermöglicht. Der Banderscheint außerdem Online als frei zugängliches pdf. Unser Dank giltLukas Trabert und Florian Schoop vom Alber-Verlag für die freund-liche Unterstützung sowie Lois Rendl für das ebenso präzise wie aus-führliche Lektorat des Bandes.

    Die Herausgeber

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    Vorwort

  • Tatsachen, Normen und Werte in DiltheysTheorie der Geistes- und Sozialwissenschaften

    Helmut Johach

    Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1. Bd. 1883) giltgemeinhin als Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischenGeistes- und Naturwissenschaften, die vor allem im deutschenSprachraum im späten 19. Jahrhundert aufgekommen ist. Durch die-ses Buch hat sich der Terminus »Geisteswissenschaften«, den Diltheymit einiger Sicherheit der Übersetzung von Mills Logic of the MoralSciences entnommen hat,1 allgemein verbreitet und gegenüber derkonkurrierenden Bezeichnung »Kulturwissenschaften«, wie sie vombadischen Neukantianismus propagiert wurde, bis in die Gegenwartbehauptet. Im deutschen Sprachraum wurde damit ein Dualismus in-nerhalb des »globus intellectualis« (GS I, 5) etabliert, der immer wie-der Proteste und Versuche eines Brückenschlags, häufig auch Koloni-sierungsversuche, auf jeden Fall aber tiefgreifende Differenzen in denAuffassungen über die jeweiligen Wissenschaftsbereiche und die alsmaßgeblich angesehenen Methoden nach sich gezogen hat. Wie C. P.Snow in seiner Schrift über die Two Cultures2 gezeigt hat, sind dieseDifferenzen und Verständigungsschwierigkeiten jedoch keineswegsauf den deutschen Sprachraum beschränkt, vielmehr wird auch imangelsächsischen Bereich zwischen den »exakten« Methoden derNaturforschung – mit kontrollierter Beobachtung und Experimentals Grundlage – und einem mehr intuitiven und unexakten, auf »Ver-stehen« beruhenden Verfahren in den Sprach- und Literaturwissen-schaften bzw. allgemein den »humanities« unterschieden. Dabei gerätjedoch leicht aus dem Blick, dass die »moral sciences«, die die Grund-lage für Diltheys »Geisteswissenschaften« bilden, sich keineswegs

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    1 J. St. Mill: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. 2 Bde. London 1843. DerTitel des VI. Buches lautet in der Übersetzung von J. Schiel, die Dilthey benutzt hat(5. Aufl. Braunschweig 1862): »Von der Logik der Geisteswissenschaften«, darunterin Kleindruck: »oder moralischen Wissenschaften.«2 C. P. Snow: The Two Cultures. 2nd ed. Cambridge 2012.

  • nur auf sprachlich-literarische Wissenschaften beschränken, sondernvor allem mit menschlichem Handeln und dessen Bedingungen undVerflechtungen, also einer eher sozialwissenschaftlichen Thematik,befasst sind.

    Dilthey spricht im Vorfeld der Einleitung in die Geisteswissen-schaften, d.h. vor allem in der Abhandlung Über das Studium derGeschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft unddem Staat (1875) und den zugehörigen Manuskripten, noch durch-wegs von »moralisch-politischen« Wissenschaften (GS V, 47), ehesich der Terminus »Geisteswissenschaften« bei ihm in der Druckver-sion des 1. Bandes der Einleitung 1883 endgültig durchsetzt.3 Einefrühere Variante lautet: Wissenschaften des »handelnden« oder»praktischen« Menschen (GS XVIII, 19, 61). Aus seinen terminologi-schen Bestimmungen kann man schließen, dass die Geisteswissen-schaften die Nachfolge der praktischen Philosophie angetreten ha-ben.4 Im Unterschied zur klassischen Lehre vom ethischen undpolitischen Handeln beruhen diese Wissenschaften nicht mehr aufder transzendental-einheitsstiftenden Idee des Wahren, Guten undSchönen wie in der Metaphysik von Platon bis zu Thomas von Aquin,auf angeblich apriorischen Einsichten praktischer Vernunft wie beiKant oder auf einem das Weltgeschehen durchwaltenden Prozess desGeistes wie bei Hegel, sondern auf geschichtlicher Forschung. In derAbhandlung von 1875 hat Dilthey vor allem die rechts- und öko-nomiehistorischen Untersuchungen von W. Roscher, W. Arnold,K. Knies und R. v. Ihering (vgl. GS V, 58 ff.), im Aufbau der ge-schichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) dagegenmehr die sprach- und kulturhistorischen Arbeiten von W. v. Hum-boldt, J. G. Herder, F. Bopp und J. Grimm (GS VII, 93) als Beispielevor Augen. Zu seinen eigenen Plänen gehören unter anderem früheEntwürfe zu einer Arbeit über das Naturrecht der Sophisten und dieGeschichte der egoistischen Theorien vom Menschen, der Gesell-schaft und dem Staat im 16. und 17. Jahrhundert, die er als »histori-

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    Helmut Johach

    3 Eine gewisse Unentschiedenheit in Diltheys Terminologie zeigt sich u. a. darin, dasser in einer handschriftlichen Notiz zu einem »Gesamtplan« für die spätere Einleitungin die Geisteswissenschaften das begonnene Wort »Geistes[wissenschaften]« durch-strich und durch »moralisch-politischeWissenschaften« ersetzte (vgl. GS XVIII, 221).4 Darauf weist mit Nachdruck M. Riedel: Einleitung d. Hrsg. zu: W. Dilthey: DerAufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a.M. 1970,21 hin.

  • sche Untersuchungen in philosophischer Absicht« (GS XVIII, 44) be-zeichnet.

    Diltheys philosophische Absicht tendiert zunächst in die Rich-tung einer erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischen Grund-lagenreflexion, wie sie in der sog. »Breslauer Ausarbeitung« (um1880) und den posthum veröffentlichten Entwürfen zur Fortsetzungder Einleitung in die Geisteswissenschaften (GS XIX, 58–332) vor-liegt. Diese Art der Grundlagenreflexion wird bei ihm später abgelöstvon einer lebensphilosophisch fundierten Theorie des Verstehens, diein den Abhandlungen der 90er Jahre und vor allem im Aufbau dergeschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) ausge-arbeitet ist.

    Jürgen v. Kempski hat darauf aufmerksam gemacht, dass hinterDiltheys Bemühen um die Grundlegung der Geisteswissenschaftenstets die Frage nach der »wissenschaftstheoretischen Charakterisie-rung der Historie«5 gestanden habe, die jedoch heute für die meistender hierher gehörigen Disziplinen keine Relevanz mehr habe. Diehistorische Schule in der Rechtsphilosophie sei abgetreten, in derÖkonomie dominiere die mathematische Theorie, eine »verstehende«Soziologie nach Max Weber sei nicht mehr aktuell und die geistes-wissenschaftliche Psychologie sei von ihrer Gegenspielerin, der na-turwissenschaftlich-empirischen Psychologie, inzwischen »absor-biert«6 worden. Zu Diltheys Theorie der Geisteswissenschaftenmuss dagegen stets die historische Dimension mitgedacht werden.Ferner ist die Weite von Diltheys Sprachgebrauch vorauszusetzen,dem zufolge nicht nur Sprach-, Literatur- und Geschichtswissen-schaften, sondern auch Rechts- und Staatswissenschaften und nichtzuletzt die »politische Ökonomie« (GS I, 57) noch ganz selbstver-ständlich zu den Geisteswissenschaften gehören.

    Einen Sonderfall stellt in Diltheys Systematik der Geisteswis-senschaften die Soziologie dar. Die Bezeichnung blieb für ihn langeZeit durch Comtes Cours des philosophie positive (6 Bde. 1835–1842)besetzt, ein Werk von universalem Anspruch, in dem die Soziologie

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    Tatsachen, Normen und Werte

    5 J. v. Kempski: Die Logik der Geisteswissenschaften und die Geschichte, in: Ders.:Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Reinbek 1964, 79(kursiv H. J.).6 J. v. Kempski, ebd., 80.

  • die letzte Stufe einer von der Mathematik über Physik, Chemie undPhysiologie fortschreitenden Wissenschaftssystematik darstellt, dieeine auf positive Wissenschaft gegründete »neue Organisation derGesellschaft« (GS I, 90) ermöglichen soll. Dilthey wirft Comte »wildeKonstruktionssucht« (GS XVIII, 47) vor und kritisiert, dass er, wieJ. St. Mill, »die Erkenntnis der geistigen Erscheinungen der gewon-nenen Naturerkenntnis unterordnen will« (GS V, 54). Neben Comtesund Mills Wissenschaftsentwürfen stehen für ihn die Versuche derdeutschen Staatsrechtler Lorenz v. Stein und Robert v. Mohl, von derRechts- und Staatslehre eine eigene »Gesellschaftswissenschaft« ab-zutrennen, was Dilthey – vermutlich unter dem Einfluss der PolemikH. v. Treitschkes7 gegen diese Trennung – ebenfalls nicht für über-zeugend hält (vgl. GS I, 84 ff.). Erst nach dem Erscheinen von GeorgSimmels Soziologie (1908) hat er sein negatives Urteil revidiert unddie Möglichkeit einer auf ein eigenes Untersuchungsgebiet bezoge-nen Soziologie eingeräumt (GS I, 420ff.).

    Im Folgenden gehe ich zunächst auf Diltheys erkenntnistheo-retische Grundlegung der Geisteswissenschaften ein, wobei ich michvor allem auf die praktisch-sozialen Wissenschaften beziehe. Daranschließen sich Erörterungen über die sprachlich-logische Unterschei-dung zwischen Tatsachen, Normen und Werten an – eine Thematik,die im sog. »Werturteilsstreit« im Anschluss an MaxWebers Thesen8und später im sog. »Positivismusstreit« zwischen Kritischen Rationa-listen und der Frankfurter Schule9 eine wichtige Rolle gespielt hat.Schließlich soll die Frage nach der Entstehung und Verankerung vonWerten in der Gesellschaft im Zusammenhang mit der allgemeinenKrisenstimmung am Ausgang des 19. Jahrhunderts, von der Diltheynicht unberührt geblieben ist, erörtert werden.

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    Helmut Johach

    7 H. v. Treitschke: Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch. 4. Aufl. Hal-le/S. 1927 (1. Aufl. 1859).8 Vgl. Ch. v. Ferber: Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsge-schichtlichen Interpretation, in: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften.4. Aufl. Köln-Berlin 1967, 165–180.9 Th. W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied –Berlin 1969.

  • I.

    Dilthey hat schon früh den Plan zu einer »Kritik der reinen Vernunftauf Grund unserer historisch-philosophischen Weltanschauung«10entworfen, ein Vorhaben, das er später mit dem Titel einer »Kritikder historischen Vernunft« (GS I, IX; VII, 191) bezeichnet hat. Nichtzu Unrecht gilt die Aufgabe, die er sich damit gestellt hat, als die»philosophische Mitte seines Werkes«.11

    Bis in die Wortwahl hinein ist erkennbar, dass bei der Formulie-rung des programmatischen Titels Kants Kritik der reinen VernunftPate gestanden hat. Die »Kritik der historischen Vernunft« soll fürdie Geisteswissenschaften offensichtlich dasselbe zuwege bringen,was die Kritik der reinen Vernunft für die Naturwissenschaften zuleisten beansprucht, nämlich ihnen durch erkenntnistheoretische Be-gründung den »sicheren Gang einer Wissenschaft«12 aufzuzeigen.Kennzeichnend für die Ausgangsposition Diltheys ist der in der da-maligen Zeit allgemein vorherrschende Eindruck, dass die idealisti-schen Systeme von Fichte, Schelling, Schleiermacher und Hegeldurch die naturwissenschaftliche Forschung einerseits, die selbststän-dige Entwicklung der historischen Wissenschaften andererseitsdiskreditiert sind. Mit der in den 60er Jahren des 19. Jahrhundertsbeginnenden Bewegung des Neukantianismus (O. Liebmann,H. Helmholtz, F. A. Lange, H. Cohen u. a.) teilt Dilthey die Überzeu-gung von der Notwendigkeit einer Kritik des menschlichen Erkennt-nisvermögens im Hinblick auf die Bedingungen möglicher Erfah-rung. Der Rückgang auf Kant erfolgt unter dem Eindruck dernachidealistischen Identitätskrise der Philosophie, in deren Gefolgeletztere den Anspruch auf »Suprematie über die Einzelwissenschaf-ten«13 notgedrungen aufgegeben hat. Während die sich verselbstän-digenden Bereiche der mathematisch-naturwissenschaftlichen undder historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Forschung immermehr auseinander treten, fällt der Philosophie nunmehr die Aufgabeder Erkenntnistheorie zu, die Dilthey im Sinne einer erkenntnistheo-

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    Tatsachen, Normen und Werte

    10 C. Misch (Hrsg.): Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern1852 – 1870. 2. Aufl. Stuttgart – Göttingen 1960, 120 (Tagebuch v. April 1860).11 H.-U. Lessing: Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheyserkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissen-schaften. Freiburg/München 1984, 25.12 KrV B XIV.13 Der junge Dilthey, a. a.O., 81 (Tagebuch vom März 1859).

  • retisch-logisch-methodologischen »Grundlegung« (GS XIX, 36) ver-steht. Deren Entwicklung ist anhand der Bände XVIII bis XX der Ge-sammelten Schriften, die Diltheys systematische Überlegungen bisMitte der 90er Jahre enthalten, gut zu verfolgen.

    In seinem frühen Grundriß der Logik und des Systems der phi-losophischen Wissenschaften (1865) unterscheidet Dilthey »äußere«und »innere« Wahrnehmung als »Fundament der menschlichen Er-kenntnis« (GS XX, 21) und ordnet die eine den Naturwissenschaften,die andere den Geisteswissenschaften zu. Die mathematische Grund-lage der Naturwissenschaften bestimme den »exakten Charakter der-selben«, aber die Naturwissenschaften »dringen nicht zu den innerenZuständen der erscheinenden Dinge vor.« (Ebd.) Genau darin liegejedoch das Spezifikum der Wissenschaften des Geistes, wohingegensie »einer exakten Form der Auffassung, wie sie die Mathematik bie-tet« (Ebd.), entbehren. Wie die ausführliche Besprechung von HenryTh. Buckles Geschichte der Civilisation in England (GS XVI, 51–56,100–107) zeigt, kritisiert Dilthey zur gleichen Zeit die »maßlose An-wendung der Analogie der Naturwissenschaft auf die Geschichtsfor-schung« (GS XVI, 51) und sucht nachWegen, die spezifische Eigenartdes geschichtlichen Erkennens zu erfassen. Buckles historische »Ge-setze«, die auf statistischen Verallgemeinerungen beruhen, erschei-nen ihm keineswegs als wegweisend für künftige Forschung auf die-sem Gebiet, wenngleich speziell auf den Gebieten von Politik undÖkonomie der »statistischen Betrachtung« (GS XVI, 137) ein gewis-ser Wert zuzubilligen ist.

    Diltheys erkenntnistheoretischer Ansatz weitet sich in den 80erJahren zu einer eigenen Untersuchung aus, deren größter zusammen-hängender Teil als »Breslauer Ausarbeitung« (GS XIX, 58 ff.) be-kannt geworden ist. Durch die kantische Ausgangsposition ist beiihm ein quasi-transzendentalphilosophischer Frageansatz bedingt,dessen Ausführung ihn sowohl zu Mills oder Buckles Übertragungdes naturwissenschaftlichen Empirismus auf die Geschichtswissen-schaften, als auch zur Theorie der historischen Kulturwissenschaftenin der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus in Gegensatzbringt. Während der Empirismus in seiner »wilden Konstruktions-sucht« (GS XVIII, 47) die Ebene der transzendentalen Analyse nichtwirklich erreicht, wird anstelle einer transzendentallogischen Refle-xion, die sich auf die Eigentümlichkeit der natur- bzw. kulturwissen-schaftlichen »Begriffsbildung« (Windelband, Rickert) beschränkt, beiDilthey ein Rekurs auf die »ganze Menschennatur, wie Erfahrung,

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    Helmut Johach

  • Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen« (GS I, XVIII),m.a.W. eine historisch unterbaute Psychologie bzw. eine psycho-logisch umfassende Geschichte des menschlichen Erkennens zuGrunde gelegt. Daraus ergibt sich trotz des gemeinsamen Ausgangs-punktes eine von Kant und den Neukantianern erheblich abweichen-de Art von historischer Vernunftkritik: Die von Dilthey anvisierte»Kritik der historischen Vernunft« meint nicht eine Kritik der ge-schichtsforschenden Vernunft, die von unveränderten Konstantenim erkennenden Subjekt ausgeht und die Geschichte als Objekt vorsich hat, sondern eine Erkenntnistheorie, deren Subjekt selbst ge-schichtlich ist und deren Zielrichtung sich gegen ein ungeschicht-liches Verständnis desMenschen, der Gesellschaft und der Geschichtewendet. Dies wird besonders deutlich aus den Sätzen, mit denen Dil-they das Apriori Kants kritisiert:

    Das Apriori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen desBewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendi-ger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung, sie haben ihre Geschichte.[…] Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und totenBedingungen, unter denen wir denken. (GS XIX, 44)

    Diese Sätze sind für Diltheys erkenntnistheoretischen Ansatz fun-damental. Entgegen der landläufigen Ansicht, dass die »Kritik derhistorischen Vernunft« eine selbstständige Parallelentwicklung zurGrundlegung der empirisch-mathematischen Naturwissenschaftendarstellen soll, geht aus ihnen hervor, dass Diltheys historischer An-satz breiter angelegt ist, indem er Natur- wie Geisteswissenschaftengleichermaßen umfasst. Naturwissenschaftliche Theorien sind, eben-so wie die verschiedenen Denkmodelle in der Gesellschafts- und Ge-schichtstheorie, Paradigmata eines Erkenntnisprozesses, der nicht nurin seinen Ergebnissen, sondern auch in seinen Voraussetzungen ge-schichtlich, ein »Vorgang in der Geschichte des Menschengeschlech-tes« (GS VIII, 172) ist. Die Wissenschaftsgeschichte wird damit derLogik und Erkenntnistheorie vorgeordnet, womit Dilthey eine Ent-wicklung vorwegnimmt, die auch im Bereich der Naturwissenschaf-ten seit Thomas S. Kuhn14 zu einer verstärkten Historisierung ge-führt hat.

    Die Breslauer Ausarbeitung beginnt mit dem Satz der Phänome-nalität, der besagt, dass Gegenstände und Ideen ebenso gut wie Ge-

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    Tatsachen, Normen und Werte

    14 Th. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1973.

  • fühle und selbst andere Personen »nur […] als Tatsachen meines Be-wußtseins« (GS XIX, 58) da sind. Das Wort »Bewußtsein« hat hiereinen erheblich umfassenderen Sinn als in der kognitivistisch vereng-ten Erkenntnistheorie, die mit Descartes und seinen Nachfolgern an-hebt. Während Dilthey die Erkenntnistheorie von Locke, Hume undKant mit dem berühmt gewordenen Verdikt kritisiert, in den Adernihres erkennenden Subjekts rinne »nicht wirkliches Blut, sondern derverdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit« (GS I, XVIII),will er selbst den »ganzen Menschen«, das »wollend fühlend vorstel-lende Wesen« (ebd.), zur Grundlage der Erkenntnistheorie machen.Dementsprechend schließt »Bewußtsein« neben der kognitiven nichtnur die emotionale und volitive Seite des psychischen Lebens ein –ein Gedanke, der in Diltheys Strukturpsychologie breit ausgeführtwird –, sondern ist auch offen zur Leib- und Sozialsphäre hin:

    Körper ist das Kontinuum, außerhalb dessen mein Wille unmittelbar Be-wegungen hervorbringt und das Spiel der Gefühle erlebt. […] Direkt erfah-ren aber wird erst durch Bewegung, Bewegungsgefühl und Tast- und Wi-derstandsgefühl die Realität. Und nur weil sie erfahren ist, sind für uns dieGegenstände des Gesichtssinnes real. (GS XIX, 22)

    Dilthey wendet sich gegen die auf der Vorherrschaft des Gesichtssin-nes beruhende intellektualistische Verkürzung der Erkenntnistheorie,die er durch eine das »Leibapriori der Erkenntnis«15 einbeziehendeErkenntnisanthropologie ersetzen will. Dazu gehört auch der Bezugauf ein »Selbst außer uns, ein Du« (GS XIX, 170), durch den die vomeinzelnen Subjekt ausgehende Erkenntnistheorie von vornherein insSoziale ausgeweitet wird. Diltheys Grundlagenreflexion enthält An-sätze, die in die Richtung einer sprachlich-kommunikativen Sozial-philosophieweisen –manmuss allerdings hinzufügen, dass die Belegeim Gesamtwerk verstreut und nicht systematisch ausgeführt sind.Immerhin verdankt auch einer der Begründer des Symbolischen In-teraktionismus, George H. Mead, Dilthey wesentliche Anregungen.16

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    Helmut Johach

    15 K.-O. Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissen-schaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: J. Habermas u. a. (Hrsg.): Her-meneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a.M. 1971, 11.16 G. H. Mead studierte 1889/90 in Berlin und begann bei Dilthey eine Dissertationzur Kritik des empiristischen Raumbegriffs. Zum Einfluss Diltheys auf Mead vgl.H. Joas: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Her-bert Mead. Frankfurt a.M. 1980, 45 ff.

  • Etwa ab Mitte der 90er Jahre ersetzt Dilthey den Ansatz beimBewusstsein, der bereits auf den »ganzen Menschen« (GS I, XVIII)ausgerichtet war, durch eine Philosophie des Lebens, die ihr Zentrum,oder besser: ihre beiden elliptischen Brennpunkte, einerseits in einerzur biologischen »Natur« des Menschen hin offenen, durch »deskrip-tive und komparative Psychologie« erfassbaren »Struktur des Seelen-lebens« (GS V, 200), andererseits in einer Philosophie der »Lebens-äußerungen« und des »Ausdrucks« (GS VII, 205) hat. Das hieraufbasierende psychologisch-hermeneutische Verfahren gilt als zentra-ler Ansatzpunkt der Geisteswissenschaften, wobei zu beachten ist,dass Dilthey im Spätwerk nicht, wie es Groethuysens Vorbericht zuBd. VII der Gesammelten Schriften nahezulegen scheint, die psycho-logische durch eine hermeneutische Grundlegung ersetzen, sondernsie nur entsprechend erweitern will.17 Allerdings geht es hier, wiebereits erwähnt, vor allem um das Verstehen von Literatur, Kunstund Geschichte und die entsprechenden interpretativen Verfahren(vgl. GS VII, 216ff.), während seine früheren Arbeiten sich mehrauf die sozialen Handlungswissenschaften konzentrieren. Ihr primä-rer Gegenstand sind interaktionelle Verflechtungen in »Systemen derKultur« und in der »äußeren Organisation« der Gesellschaft (GS I,53), die Bildung von Gemeinschaften und »Verbänden« (GS I, 70)sowie wirtschaftliche Besitzverhältnisse, Klasseninteressen und diedadurch bedingten Bezüge von »Herrschaft, Abhängigkeit, Freiheit,Zwang« (GS I, 68). Das Verflochtensein in diese Zusammenhängebildet nach Dilthey – etwas salopp formuliert – eine Voraussetzungdafür, überhaupt zu verstehen, was in Gesellschaft und Geschichtevor sich geht. Das enthebt die auf diesem Gebiet tätigen Wissen-schaftler jedoch nicht der Notwendigkeit, eine Wissenschaftssprachezu entwickeln, die geeignet ist, diese Verhältnisse möglichst sachge-recht zu erfassen. Hierher gehört vor allem die Unterscheidung vonTatsachen, Normen und Werten, die als nächstes zu thematisieren ist.

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    Tatsachen, Normen und Werte

    17 Vgl. zu dieser in der neueren Dilthey-Forschung ziemlich einhellig vertretenenAuffassung G. Kühne-Bertram, F. Rodi (Hrsg.): Dilthey und die hermeneutischeWende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes. Göttingen2008, 10 ff.

  • II.

    Zu Beginn der Einleitung in die Geisteswissenschaften gibt Diltheyeine allgemeine Definition dessen, was unter Wissenschaft verstan-den werden soll.

    Unter Wissenschaft versteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff von Sät-zen, dessen Elemente Begriffe, d.h. vollkommen bestimmt, im ganzenDenkzusammenhang allgemeingültig, dessen Verbindungen begründet, indem endlich die Teile zum Zweck der Mitteilung in einem Ganzen verbun-den sind, weil entweder ein Bestandteil der Wirklichkeit durch diese Ver-bindung von Sätzen in seiner Vollständigkeit gedacht oder ein Zweig dermenschlichen Tätigkeit durch sie geregelt wird. (GS I, 4 f., kursiv H. J.)

    Wissenschaft ist nach dieser Definition ein kommunikativ voran-getriebener Erkenntnisprozess, der sich in einem Zusammenhangvon Sätzen konkretisiert. Die verwendeten Begriffe sollen klar de-finiert, konstant und allgemeingültig sein, d.h. für alle Sachverhalte,die darunter fallen, und intersubjektiv gelten. Ihre Verbindung soll»begründet« sein – wodurch, sagt Dilthey nicht, aber man kann viel-leicht ergänzen: durch sprachlich-sinnhafte Konsistenz, Ableitbarkeitim Sinne logischen Schließens und Nachprüfbarkeit. Der letzte Teilder Definition weist hin auf den Grundunterschied von theoretischerund praktischer Zielsetzung:

    Die Geisteswissenschaften […] verknüpfen in sich drei unterschiedlicheKlassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus,das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Be-standteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhal-ten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion aus-gesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Dieletzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist derpraktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt. Tatsachen, Theo-reme, Werturteile und Regeln: aus diesen drei Klassen bestehen die Geistes-wissenschaften. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung inder Auffassung, der abstrakt-theoretischen und der praktischen geht als eingemeinsames Grundverhältnis durch die Geisteswissenschaften. (GS I, 26)

    Hier werden drei Hauptarten von Sätzen unterschieden: 1. Sätze, dieeinzelne Tatsachen wiedergeben; 2. Sätze, die durch Abstraktion ge-wonnene gleichförmige Tatbestände, d.h. gesetzmäßige Sachverhaltewiedergeben, und schließlich 3. Werturteile und Regeln, die Diltheyals »praktische« Sätze zusammenfasst. Sprachlogisch betrachtet,

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  • handelt es sich um singuläre deskriptive Sätze, generelle deskriptiveSätze und normative Sätze, für die ebenfalls die Unterscheidung sin-gulär/generell getroffen werden kann. Auf den Unterschied zwischenWerturteilen und Regeln bzw. Normen ist später näher einzugehen.

    Prinzipiell ist für die Klassifikation von Aussagesystemen, Dil-they zufolge, nicht sosehr die Unterscheidung von Natur- und Geis-teswissenschaften, sondern von theoretischen und praktischen Wis-senschaften maßgebend.18 Die ersteren enthalten »Erkenntnis dessen,was ist«, letztere legen fest, was geschehen soll, in Richtung auf »Ge-staltung der Zukunft« (GS I, 27). Aussagen über Wirklichkeit auf dereinen, Werturteile und Imperative auf der anderen Seite bleiben nachDilthey »auch in der Wurzel gesondert; so entstehen zwei Arten vonSätzen, die primär verschieden sind.« (ebd.) Gleichwohl gilt, dass indenGeisteswissenschaften beide Arten vonAussagenmiteinander ne-ben- oder miteinander vorkommen. Hier ist genau auf den Wortlautzu achten: Dilthey behauptet nicht, dass aus Aussagen überWirklich-keit praktische Sätze abgeleitet werden können, sondern nur, dass indenGeistes- und Sozialwissenschaften beide Arten vonAussagen vor-kommen oder, um es pointierter auszudrücken, vorkommen müssen,wenn dieGeisteswissenschaften neben der Erforschung dessen, was istoder war, auch mit der Gestaltung der Zukunft befasst sein sollen.

    Wenn in der zitierten Passage singuläre Aussagen über »Wirk-liches« mit »historischen« Bestandteilen der Erkenntnis identifiziertwerden, dann könnte man mit gleichem Recht auch auf Einzelbeob-achtungen in den Naturwissenschaften verweisen. Hier greift jedochDiltheys frühere Unterscheidung von innerer und äußerer Wahrneh-mung bzw. Erfahrung. Historische Tatsachen fallen in die innere, na-turbezogene in die äußere Erfahrung. Dass singuläre und generelleSätze gebildet werden können, gilt dagegen für Natur- und Geistes-wissenschaften gleichermaßen. Die Unterscheidung zwischen »idio-graphisch« und »nomothetisch«, an der Wilhelm Windelband denUnterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften festmachenmöchte,19 eignet sich deshalb nach Dilthey nicht als Unterscheidungs-

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    Tatsachen, Normen und Werte

    18 »Der fundamentale Gegensatz, welcher artbildend ist im Inbegriff deduktiver Me-thoden, ist nicht der von Natur- und Geisteswissenschaften, sondern von theoreti-schen und praktischen Wissenschaften.« (Aus einem unveröffentlichten Mskr. zurEinleitung in die Geisteswissenschaften, zit. nach H. Johach: Handelnder Menschund objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei WilhelmDilthey. Meisenheim/Gl. 1974, 46)19 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede

  • kriterium, denn singuläre und generelle Aussagen kommen in beidenWissenschaftsgruppen vor. So heißt es im Anschluss an die zitiertePassage aus der Einleitung: »Die Auffassung des Singularen, Indivi-dualen bildet in ihnen [den Geisteswissenschaften, H. J.] so gut einenletzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten.«(GS I, 26) In den Beiträgen zum Studium der Individualität (1895/96) verweist Dilthey auf Ökonomie, Psychologie, Linguistik und Äs-thetik als systematische Geisteswissenschaften, die zu generellenAussagen zu gelangen suchen:

    Es sind Gleichförmigkeiten, gesetzliche Beziehungen, was diese systemati-schen Geisteswissenschaften entwickeln, wenn ihnen das bis heute auchnoch nicht in solchem Umfang, als man wünschen möchte, gelungen ist.(GS V, 257)

    Wenn die Differenz von gesetzmäßigen und individuellen Aussagenkein Unterscheidungskriterium für Natur- und Geisteswissenschaf-ten bildet und wenn Induktion und Deduktion vom Einzelnen zumAllgemeinen und umgekehrt in beiden Bereichen gleichermaßenmöglich sein sollen, worin unterscheidet sich dann Diltheys Konzep-tion vom Empirismus der Engländer, dessen Übertragung auf die Ge-schichte er doch ablehnt?

    Es sind zwei Argumente, die Dilthey gegen den Empirismus insFeld führt: Zum einen der Hinweis darauf, dass uns die Tatbestände inder Gesellschaft »von innen verständlich« (GS I, 36, kursiv H. J.)sind, im Unterschied zur Natur, die wir nur äußerlich erkennen kön-nen und die uns »stumm und fremd« (ebd.) gegenüber tritt. Zumanderen besteht nach Dilthey in den Geisteswissenschaften »eineArt von intellektuellem Interesse, welche den psychischen Tatsachenim Unterschied zu Naturtatsachen zukommt« (GS XVIII, 65, kursivH. J.). In den Geisteswissenschaften wird nämlich »die Erkenntnisdessen, was ist, mit der dessen, was sein soll, verknüpft: die aus demWillen entsprungenen Ordnungen werden in diesen Wissenschaftennicht nur erkannt als das, was sie sind, sondern auch geregelt in demSinne ihrer Zwecke.« (ebd., kursiv H. J.) Beide Argumente sind ge-nauer zu untersuchen.

    Dass uns Geschichte und Gesellschaft »von innen« bekannt undinfolgedessen vertrauter sind als die Natur, ist ein Topos der idealisti-

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    Helmut Johach

    1894), in: Ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie.3. Aufl. Tübingen 1907, 364.

  • schen Philosophie, der über Hegel auf Giambattista Vico und seinberühmtes Axiom »Verum et factum convertuntur« zurückgeht.20Dilthey gibt diesem Gedanken in den frühen Arbeiten bis zur Einlei-tung in die Geisteswissenschaften eine sozialphilosophische Wen-dung: Weil wir in die gesellschaftlichen Zusammenhänge erlebendverflochten und an ihnen aktiv beteiligt sind, können wir diese Zu-sammenhänge verstehen. Die Natur ist uns dagegen nur als ein »Au-ßen, kein Inneres« (GS I, 36) gegeben. In Diltheys eigenen Worten:

    Ich verstehe das Leben der Gesellschaft. Das Individuum ist einerseits einElement in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungspunktder verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen, in bewußter Wil-lensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend,und es ist zugleich die dieses alles anschauende und erforschende Intelli-genz. (GS I, 37, kursiv H. J.)

    Zu den »Tatsachen« in der Gesellschaft hat das Individuum nach Dil-they einen privilegierten Zugang, weil es selbst an ihnen erlebendund aktiv gestaltend beteiligt ist: »Die Gesellschaft ist unsere Welt.Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller Kraftunseres ganzen Wesens, da wir in uns selber von innen […] die Zu-stände und Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut.«(GS I, 37, kursiv H. J.) Zur hermeneutischen Trias des Spätwerks, dieden »Ausdruck« zwischen Erleben und Verstehen positioniert, findetsich hier eine Variante, der zufolge das Verstehen direkt mit demErleben verknüpft ist.

    Vicos Axiom, dass wir in Geschichte und Gesellschaft das Wahreunzweifelhaft erkennen, weil wir es selbst gestalten, ist für DiltheysVerstehenstheorie modellbildend geblieben, wie noch seine spätenÄußerungen zum »Sich-Wiederfinden« des Geistes in seinen Schöp-fungen (vgl. GS VII, 148, 191) erkennen lassen. Das Verstehen impli-ziert einen besonderen Subjekt-Objekt-Bezug, der im Verhältnis zurNatur, die uns nur als Objekt gegenüber steht, nicht gegeben ist.Insofern ist auch in den Sätzen, mit denen wir geschichtliche undgesellschaftliche Vorgänge beschreiben, immer dieser besondere Ob-jektbezug enthalten. Dass damit eine »Lösung« des erkenntnistheo-

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    Tatsachen, Normen und Werte

    20 Zu Vico vgl. K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischenVoraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 5. Aufl. Stuttgart 1967, 113. Dilthey er-wähnt Vico im Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissen-schaften (1865) unter der Literatur zur Erkenntnistheorie der Geschichte an ersterStelle (GS XX, 30).

  • retischen Problems der Geschichte in Aussicht gestellt sei, sieht H.-G.Gadamer freilich als problematisch an:

    […] daß derMensch es hier mit sich selbst und seinen eigenen Schöpfungenzu tun hat (Vico), ist nur scheinbar eine Auflösung des Problems, das unsdie geschichtliche Erkenntnis stellt. Der Mensch ist sich selbst und seinemgeschichtlichen Schicksal in noch ganz anderer Weise fremd, als ihm dieNatur fremd ist, die nicht von ihm weiß. […] In Wahrheit gehört die Ge-schichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in derRückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständlicheWeise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus derSubjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums istnur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.21

    Die Tragweite des Sich-selbst-Verstehens aus der Geschichte beurteiltDilthey offensichtlich nicht so skeptisch wie Gadamer, der gegenüberdem »Machen« der Geschichte das Übergewicht der Tradition, aus derwir stammen und von der wir bestimmt sind, betont.

    Für andere Philosophen und Soziologen der Zeit – es ist die Zeitder Ausdifferenzierung der Soziologie aus der Philosophie, in der Dil-they schreibt – ist die Adaptation von Vicos Grundsatz, die im An-schluss an die Philosophie des Deutschen Idealismus noch beim frü-hen Marx nachwirkt, nicht mehr selbstverständlich. Georg Simmelbefasst sich zwar wie Dilthey mit dem Verstehen kultureller Objekti-vationen in Geschichte und Gesellschaft und der Rolle des Einzelnenals »Kreuzungspunkt« (GS I, 51) verschiedener sozialer Kreise, dochzwischen objektiver und subjektiver Kultur, zwischen der institutio-nellen und technischen Entwicklung der Gesellschaft und den Mög-lichkeiten des Einzelnen, darauf bestimmend einzuwirken, sieht ereine wachsende Diskrepanz und Entfremdung.22 Emile Durkheimschließlich formuliert als Grundprinzip der Soziologie, »daß die so-ziologischen Tatsachen wie Sachen untersucht werden müssen, d.h.als Wirklichkeiten, die außerhalb des Individuums liegen.«23 Hierwird auf den verstehenden Zugang des Einzelnen zur sozialen Wirk-lichkeit verzichtet, um desto besser statistisches Massenverhaltenanalysieren zu können. Es ist die Geburtsstunde einer objektivieren-

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    21 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her-meneutik. 2. Aufl. Tübingen 1965, 260 f.22 Vgl. H. Johach: Dilthey, Simmel und die Probleme der Geschichtsphilosophie, in:G. D’Anna, H. Johach, E. Nelson (Hrsg.): Anthropologie und Geschichte. Studien zuWilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages. Würzburg 2013, 239f.23 E. Durkheim: Der Selbstmord. Frankfurt a.M. 1983, 20 (kursiv H. J.).

  • denWissenschaft vom Sozialen, die sich von Diltheys Lebensphiloso-phie mit ihrer Kultur des »ganzen Menschen«, der das Ganze, das erbeschreibt, auch versteht, da er mitgestaltend involviert ist, zuneh-mend entfernt. Es ist jedoch zu fragen, ob ein derart objektivierenderBlick auf die soziale Wirklichkeit, begleitet von einer sachlich-de-skriptiven Wissenschaftssprache, in den Wissenschaften vom Men-schen genügt oder ob damit nicht zu viel – vielleicht sogar das We-sentliche – preisgegeben wird.

    An dieser Stelle gewinnt Diltheys zweite Aussage an Gewicht,der zufolge den Geisteswissenschaften auf Grund ihrer Praxisorien-tierung eine besondere »Art von intellektuellem Interesse« (GSXVIII, 65) zu Grunde liegt. Worin dieses Interesse besteht, hat JürgenHabermas mit seiner Unterscheidung von empirisch-analytischenund historisch-hermeneutischen Wissenschaften verdeutlicht: »Inden Ansatz der empirisch-analytischenWissenschaften geht ein tech-nisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaf-ten ein praktisches Erkenntnisinteresse ein.«24 Habermas greift dabeiauf die klassische Unterscheidung von technē und praxis bei Aristo-teles zurück: Technē ist die Kunst des Herstellens, die man beherrscht,wenn man weiß, welche Mittel man einsetzen muss, um einen vor-ausgesetzten bzw. angestrebten Zweck zu erreichen. In den empi-risch-analytischen Wissenschaften ist die technische Anwendbarkeitnicht erst mit der tatsächlichen Anwendung, sondern bereits mit derSuche nach prognostisch aussagekräftigen Gesetzmäßigkeiten gege-ben: Bei vorgegebenen oder ad hoc festgelegten Zielen kann man mitHilfe bekannter Gesetzmäßigkeiten die passenden Mittel berechnen.Offen bleibt freilich, wer die Ziele bestimmt, deshalb bleibt die tech-nische oder »instrumentelle« Vernunft »positivistisch halbiert«.25 Diehistorisch-hermeneutischen Wissenschaften unterstehen dagegeneinem andersartigen Interesse: dem an der »Erhaltung und Erweite-rung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Ver-ständigung«.26 Sie haben das menschliche Leben und die Lebenspra-xis selbst zum Inhalt und nicht die Bereitstellung von Mitteln füreinen vorgegebenen Zweck.

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    Tatsachen, Normen und Werte

    24 J. Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. 2. Aufl. Frankfurt a.M.1969, 155.25 Vgl. J. Habermas: Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Th. W.Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied 1969, 235–266, bes. 260ff.26 J. Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, a. a.O., 158.

  • Dilthey hat sich über den instrumentellen Charakter der Er-kenntnisgewinnung in den Naturwissenschaften nicht klar geäußert;seine Aussagen zur »erklärenden« Methode in der Psychologie (vgl.GS V, 158ff.), die in umgekehrter Richtung ihre technische Anwen-dung ermöglicht,27 dienen nur als Kontrastfolie für sein »eigent-liches« Thema, die Theorie der Geisteswissenschaften. Die Habermas-sche Adaptation der Aristotelischen Unterscheidung zwischen technēund praxis für die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen ist gleich-wohl mit Diltheys Sicht vereinbar, da ihm zufolge die Geisteswissen-schaften menschliches Handeln nicht nur deskriptiv analysieren, son-dern auch normativ begründen und regeln sollen. Dieses praktischeInteresse ist nicht als Interesse von Einzelnen oder bestimmten Men-schengruppen aufzufassen, sondern mit den Wissenschaften selbstverbunden – und das heißt: von den konkreten Akteuren ablösbar,gewissermaßen auf quasi-transzendentaler Ebene angesiedelt.

    In der Anfangszeit seiner Theoriebildung ist bei Dilthey, was diepraktischen Aussagen betrifft, ein gewisses Schwanken zu bemerken.Während er in der Habilitationsschrift Versuch einer Analyse desmoralischen Bewußtseins (1864) auf den Spuren Kants und Schopen-hauers das normative Fundament der Ethik freizulegen versucht, in-dem er sich mit dem »absoluten Wert des guten Willens« (GS VI, 17)oder den »Beweggründen des Wohlwollens, der Sympathie, des Mit-leids« (GS VI, 34) auseinandersetzt, zeigt er sich in der Abhandlungvon 1875 beeindruckt von ethnologischen Forschungen, die bei allerKonstanz doch eine gewisse Variabilität des moralischen Empfindensnahelegen, und behauptet, Moralität halte sich im Allgemeinen imRahmen der Sitte, der Form des Stetigen und Allgemeinen in Hand-lungen, die von Kultur zu Kultur variieren. Nachdem er auf John St.Mill und Robert v. Mohl als Vertreter einer »Gesellschaftswissen-schaft«, in der die »Handlungen ganzer Massen von Menschen« un-tersucht werden, näher eingegangen ist, zieht er den Schluss:

    Es ist wahr, daß die Untersuchung der Handlungen der Menschen, der Ver-änderungen ihrer Gewohnheiten wie des Stetigen in denselben ganz wert-los ist für die Grundlegung der Ethik. Keine Brücke führt von der Anschau-

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    Helmut Johach

    27 Nach dem sog. »Covering-law-Modell« der wissenschaftlichen »Erklärung« mitHilfe von gegebenen Antecedensbedingungen und bekannten Gesetzen (vgl. C. G.Hempel: The Function of General Laws in History, in: Ders.: Aspects of ScientificExplanation. New York 1965) können künftige Ereignisse prognostiziert und herbei-geführt werden, wenn man die Antecendensbedingungen entsprechend setzt.

  • ung menschlicher Charaktere und ihres verworrenen Handelns zu dem Sol-len, dem Ideal. (GS V, 67; kursiv H. J.)

    Hiernach sieht es so aus, als ob Dilthey eine empirische Wissenschaftvommenschlichen Handeln, die sich auf massenstatistische Erhebun-gen mit beobachtbaren Konstanten und Veränderungen stützt, vonder Ethik als normativer Disziplin rigoros trennen will. Aus dem,wie sich die Menschen faktisch verhalten, geht nicht hervor, dass die-ses Verhalten auch gesollt oder sittlich geboten ist, und es bleibt eben-so offen, wie sich der Forscher selbst dazu stellt, d.h. wie er die Ergeb-nisse wertet und was er mit seinen Forschungen erreichen will.Sprachlich gesehen, geht es darum, deskriptive von präskriptiven Sät-zen zu unterscheiden (vgl. GS I, 26 f.). Aus beschreibenden könnenkeine normativen Sätze abgeleitet werden. Versucht man es dennoch,so unterliegt man leicht einem naturalistischen Fehlschluss, wie diesseit G. E. Moore genannt wird.28 Will man einen solchen Fehlschlussvermeiden, so muss man als Erstes anerkennen, dass deskriptive Tat-sachenfeststellungen und normative Handlungsaufforderungen ver-schiedenen Satzklassen angehören.

    Auch wenn Dilthey die Unterscheidung von Tatsachen und Nor-men, deskriptiven und präskriptiven Sätzen als selbstverständlich vo-raussetzt, geht sein Interesse, aufs Ganze gesehen, nicht dahin, dasSein vom Sollen zu trennen, sondern deren Aufeinander-Bezogen-sein – was nicht heißt: die Ableitbarkeit des Einen aus dem Andern –aufzuzeigen. Seine Herangehensweise beruht zunächst auf der be-wusstseinsphänomenologischen »Selbstbesinnung«, später, in denPsychologie-Abhandlungen der neunziger Jahre und in den letztenVorlesungen und Entwürfen zur Logik und Wertlehre, auf der Struk-turpsychologie. In diesen Entwürfen wird erkennbar, dass Dilthey dieklassische Dreigliederung des »Seelenlebens« in Erkennen, Wollenund Fühlen nicht nur dem wissenschaftlichen Erkennen, sondernauch den Normen und Werten des praktischen Lebens zu Grundelegt. Die drei Seiten des psychischen Lebens sind in der psychischenStruktur miteinander verwoben, ohne aufeinander rückführbar zusein, und zwar ist für das theoretische Erkennen das »gegenständlicheAuffassen« maßgebend, mit der Verbindung von Subjekt und Prädi-kat im Urteil und der Verbindung von Urteilen zu einer »gegenständ-lichen Ordnung nach Gesetzen« (GS XXIV, 205). Für den normativen

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    Tatsachen, Normen und Werte

    28 Vgl. G. E. Moore: Principia Ethica. Stuttgart 1970, 78 ff.

  • Bereich bildet ein »Streben, eine Tendenz, eine Intention« im Hin-blick auf eine »Zweckvorstellung« (GS XXIV, 192) den Ausgangs-punkt. Eine Norm entsteht dadurch, dass »der Zweck alle der Ge-meinsamkeit Zugehörigen bindet« und so eine Unterordnung desEinzelnen unter einen »Zweckzusammenhang« entsteht. Vermit-telnd wirken dabei die »Gefühlswerte des in der Wirklichkeit Enthal-tenen« (GS XXIV, 194). Das Gefühl nimmt – zunächst subjektiv, alsVorgang in der Psyche des Einzelnen – eine Bewertung des in derinneren Wahrnehmung Gegebenen vor: »Mir ist schrecklich zumute,ich bin traurig.« (ebd.) Generell entstehen Werte dadurch, dass »zuden Wirklichkeitsaussagen eine Wertbestimmung hinzutritt«(GS XXIV, 195). Die Wertungen lassen einen Zustand oder ein Ob-jekt als schön oder hässlich, erstrebens- oder tadelnswert, gut oderschlecht, nützlich oder schädlich erscheinen, je nachdem, welcherWertbereich angesprochen wird. So ergibt sich für das Handeln dieNorm, diesen Zustand herbeizuführen, dieses Objekt zu realisierenoder diesen Zweck zu erreichen. Damit sind alle drei Klassen vonSätzen in den psychischen Funktionen des gegenständlich Auffas-sens, des Fühlens und Wollens verankert.

    Dilthey macht auf eine wichtige sprachliche Unterscheidungaufmerksam: Wir beurteilen eine Aussage über eine Handlung als»richtig«, wenn letztere nach einer Regel erfolgt und zweckmäßig istund/oder nach allgemeinen Wertgesichtspunkten moralischer, ethi-scher oder ästhetischer Art akzeptiert wird. Wir bezeichnen dagegeneine Aussage als »wahr«, wenn das, worauf sie sich bezieht, wirklichzutrifft (vgl. GS XIX, 79). Für das Gegenteil verwenden wir in beidenFällen das Wort »falsch«. Für reine Wertaussagen haben wir jedochkeine derart qualifizierende Bewertung wie bei wahr/falsch oder rich-tig/falsch. Allenfalls lässt sich eine Differenzierung zwischen »posi-tiv« und »negativ« vertreten, aber das ist nur eine Art Verlegenheits-lösung, »weil wir keinen generellen Ausdruck für alle Modifikationendes Gefühls in Lust, Billigung, Gefallen besitzen« (GS XXIX, 261).Dem entspricht ein besonderer Status der Werte in erkenntnistheo-retischer oder ontologischer Hinsicht (wenngleich Dilthey nie, wieMax Scheler und Nicolai Hartmann, im Rahmen einer »Ontologie«vonWerten gesprochen hat): Werte »sind« nicht wie reale Dinge oderSachverhalte und sie lösen auch kein unmittelbares »Sollen« aus wieImperative oder allgemeine Normen, sondern sie »gelten«.

    Zu dem, was Dilthey »Logik«, »logische Operationen« oder »lo-gische Grundlegung« (GS XXIV, 1 f.) nennt, ist eine Erläuterung not-

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  • wendig, denn sein Verständnis unterscheidet sich nicht unerheblichvon dem der mathematisch-logischen Wissenschaftstheorie. NachDilthey ist die Logik grundsätzlich im menschlichen Leben fundiertund ohne dieses Leben gibt es für ihn keine Logik. Eine »formale«Logik, die vom Leben gänzlich abstrahiert, hält Dilthey für eine »un-fruchtbare Abstraktion« (GS XXIV, 70). Auch da, wo Werte ver-glichen, Ziele festgestellt und Verhältnisse von Zweck und Mittelnuntersucht werden, ist die »Beziehung auf eine Wirklichkeit mit-gedacht, innerhalb derer unser Handeln verläuft« (ebd.). Die Abs-traktion, die zu jeder Art von Begriffs- und Theoriebildung gehört,hat für Dilthey also klare Grenzen.

    Als letztes Wort zu diesem – notgedrungen sehr verkürzten –Durchgang durch Diltheys Logik der deskriptiven und präskriptivenSätze sowie der Werturteile soll eine kurze Passage aus Diltheys Kol-leg vom Sommersemester 1906, seiner letzten Vorlesung, dienen:

    Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, daß die heute beliebte Betonung derNormen des menschlichen Geistes als solchen, unabhängig von der Wirk-lichkeit, die ein höheres Dasein über derselben gleichsam führen sollen, daßdiese Betonung der Normen des Denkens, des Wollens, des ästhetischenFühlens etc. nie losgelöst werden darf von der Wirksamkeit des Subjekts,in welchem diese Normen auftreten, auf welche sie sich beziehen. Es istunfruchtbar, eine solche Theorie der Normen zum Ausgangspunkt der Er-kenntnis machen zu wollen. (GS XXIV, 70; kursiv H. J.)

    III.

    Nach der Erörterung von Diltheys Aussagen zu »Tatsachen, Theo-remen, Werturteilen und Regeln« (GS I, 26) und ihrer Verankerungim psychischen Strukturzusammenhang scheint es angebracht, auchauf gesellschaftlich-historischer Ebene nach dem »Sitz im Leben« zufragen. Die Frage könnte auch lauten: Was ist das treibende Motivhinter Diltheys Wissenschaftsphilosophie? Zur Beantwortung dieserFrage möchte ich das einleitende Kapitel der Ethik-Vorlesung (1890)heranziehen, dessen Resultate Dilthey später, im sog. Berliner Ent-wurf (ca. 1893), und dann nochmals in der Vorlesung über Die Kulturder Gegenwart und die Philosophie, die er am Anfang des Vor-lesungszyklus zum System der Philosophie (ab 1897) vorzutragenpflegte, zusammengefasst hat (vgl. GS XIX, 303 f.; VIII, 190ff.).

    Der Auftakt der Ethik-Vorlesung bietet m.E. einen Schlüsseltext

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    Tatsachen, Normen und Werte

  • zum Verständnis Diltheys, weil hier a) eine Bestandsaufnahme derdamaligen wissenschaftlich-geistigen und gesellschaftlichen Lageaus Diltheys Sicht, b) seine tiefreichende Besorgnis über diese Lageund c) eine praktische Funktionsbestimmung für Philosophie undGeisteswissenschaften erkennbar wird.

    Diltheys Bestandsaufnahme registriert zunächst ein »Fort-schreiten des naturwissenschaftlichen Geistes«, vor allem in der Bio-logie, die den Menschen durch »Zuchtwahl, Vererbung, Anpassung«,m.a.W. durch die Fakten der Darwinschen Evolutionslehre bestimmtsieht und über diese einen wissenschaftlichen Zugang zur Geschichtesucht. Darauf gründe sich das »religiös-metaphysische Prinzip derDiesseitigkeit des Lebensideals« (GS X, 14).

    Ein zweiter kritischer Punkt ist nach Dilthey das »Auftreten dersozialen Frage« und die »Richtung der arbeitenden Klasse auf dieUmgestaltung der Gesellschaft« (ebd.). Der Sozialismus bestreite,dass »Eigentum, Ehe und Familie fortan als unveränderliche Grund-lagen der Gesellschaft und ihres Handelns« zu betrachten seien(GS X, 15). Als »Hauptschrift« des Sozialismus nennt Dilthey DasKapital von Karl Marx,29 dessen Stärke in der »Analysis der politi-schen Ökonomie« (GS X, 16) liege. Als Quintessenz sozialistischerAuffassungen und Bestrebungen notiert er:

    In dieser Gesellschaft herrscht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit das Ka-pital. Die arbeitende Bevölkerung vermehrt sich beständig in dem Maße,daß die ärmste erträgliche Art von Lebenshaltung bestehen bleibt. Nur dieVeränderung der bestehenden Verhältnisse von Eigentum, Erbrecht, Eheund Familie ermöglicht eine gerechtere Ordnung. (GS X, 16)

    Der dritte Punkt betrifft die Auflösung der christlichen Dogmendurch die liberale Theologie und der vierte die »naturalistische Dar-stellung« in der Kunst, vor allem im zeitgenössischen französischenRoman, wodurch die »Idealität« des Lebens aufgehoben werde (GS X,16 f.). Insgesamt ergibt sich für Dilthey folgendes Fazit:

    So sucht die gegenwärtige europäische Gesellschaft Prinzipien, welche un-ter ganz veränderten Umständen die Bedeutung des Lebens aufklären und

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    29 Zu Marx vgl. auch Diltheys Besprechung des Kapitals (1. Bd., 2. Aufl. 1872) inWestermanns Monatsheften (G.S. XVII, 186f.) und seine Erwähnung im Biogra-phisch-literarischen Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie (1905):»An das naturwissenschaftliche Denken schließt sich, obwohl von Hegel mit-bestimmt, die neue sozialistische politische Ökonomie. Marx (Das Kapital 1867 ff.),Engels.« (GS XX, 153)

  • ihm sein Ziel bestimmen können. Alles Alte ist wie abgenutzt, die natur-wissenschaftlichen Theorien scheinen die Grundlagen aufgelöst zu haben,welche bisher den Elementen der Gesellschaft ihre Geltung zuteilten. […]Aus dieser ganzen Lage entspringt für die Philosophie ein ganz neues Ge-wicht der ethischen Fragen, ein neues Bedürfnis nach ethischen Prinzipien,insbesondere aber: das Prinzip muß eine Auflösung der sozialen Frage er-möglichen. (GS X, 17; kursiv H. J.)

    Dem entsprechend heißt es im Berliner Entwurf:

    So entsteht die Aufgabe eines neuen Aufbaues einer gesellschaftlichen Epo-che, welcher das Gültige des Individualismus in eine sozial gedachte gesell-schaftliche Ordnung herübernimmt. Eine solche Aufgabe bedarf der Mit-wirkung einer Philosophie, welche zur Lösung solcher Aufgaben dieBefähigung steigert. (GS XIX, 304)

    Fritz K. Ringer hat in seiner Studie The Decline of the German Man-darins (1969) auf das verbreitete Krisenbewusstsein in der deutschengeistes- und sozialwissenschaftlichen Professorenschaft im letztenJahrzehnt des 19. Jahrhunderts hingewiesen.30 Diltheys Äußerungensind ein eindrucksvoller Beleg für diese Krisenstimmung. Aus ihnenwird aber auch deutlich, dass Dilthey von der Philosophie und denGeisteswissenschaften einen Beitrag zur Krisenbewältigung durchVermittlung von Werten und das Aufstellen von Regeln für die poli-tisch Handelnden erwartet. Letzteres lässt sich u.a. an seinen Vor-schlägen zur Lösung der »sozialen Frage« zeigen.

    In Deutschland erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts eine rasche Industrialisierung, verstärkt durch den Kapital-zustrom infolge der französischen Reparationen nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), wovon die Industriearbeiterschaft al-lerdings in keiner Weise profitierte; vielmehr musste sie zur wirt-schaftlichen noch die politische Unterdrückung durch das Sozialisten-gesetz (1878–1890) hinnehmen. Die daraus resultierende sozialeKrise, die in der Hauptstadt des Deutschen Reiches besonders spürbarwar, bildete keineswegs nur ein Thema »radikaler« Theoretiker undPolitiker in den Parteien, sondern auch – gerade in der verharmlosen-den Benennung als »soziale Frage« – eine Angelegenheit »bürger-licher« Theoretiker an den Universitäten, vor allem unter den Natio-nalökonomen. Dilthey stand, obwohl die Ökonomie sicher nicht seine

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    Tatsachen, Normen und Werte

    30 Vgl. F. K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983, 47 ff.

  • wissenschaftliche Domäne war, den Auffassungen Gustav Schmollersnahe, zu dessen Grundriß der Volkswirtschaftslehre sich in seinemNachlass eine wohlwollende Besprechung erhalten hat (GS XI, 254–258).31 Schmoller vertrat, wie etliche andere Mitglieder im 1872 ge-gründeten Verein für Socialpolitik, den Standpunkt, dass sich derStaat auch aus ethischen Gründen ins Wirtschaftsleben einmischenmüsse, um die Auswüchse des Kapitalismus abzumildern, die Arbei-ter in die Gesellschaft zu integrieren und auf diese Weise eine sozialeRevolution zu verhindern. Er selbst und andere Anhänger dieserAuffassung wurden deshalb von ihren Gegnern als »Kathedersozia-listen« verspottet. Zu den damals diskutierten Ideen, die auch heutenoch aktuell sind, gehörten u. a. »Sozialversicherungspläne, Fabrik-überwachungsgesetze, […], progressive Steuersätze, eine Festsetzungvon Mindestlöhnen [!], begrenzte öffentliche Arbeitsprogramme undRechtsschutz für gewerkschaftliche Lohnverhandlungen«.32

    Dilthey hat sich zwar nicht direkt auf der Ebene derartiger sozi-alpolitischer Vorschläge, die das freie Spiel der Kräfte imWirtschafts-leben flankieren oder begrenzen sollen, geäußert, aber sowohl seineEthik als auch seine Pädagogik – beides »praktische« Disziplinen –enthalten Aussagen, die auf eine gewisse Nähe zu den sog. Katheder-sozialisten schließen lassen. So heißt es im System der Ethik:

    Die Arbeit ist die Grundlage aller gesellschaftlichen Leistungen. Die dau-ernde Zufriedenheit und die Herrschaft über die Leidenschaften ist an dieArbeit gebunden. […] Norm auch von da aus: die Ordnung der Gesellschaftmuß eine individuelle Entwicklung für alle ermöglichen, also darf es keineArbeitssklaven geben. Jeder Arbeiter wird ein Glied der Gesellschaft.(GS X, 89, kursiv H. J.)

    Der letzte Satz hat eindeutig normativen Sinn: Weil die Arbeit imbestehenden Wirtschaftssystem keine individuelle Entwicklung füralle ermöglicht und die Industriearbeiterschaft an den Rand der Ge-

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    Helmut Johach

    31 Eine freundschaftlich-kollegiale Beziehung zu Gustav Schmoller bestand schon seitdem Beginn von Diltheys Lehrtätigkeit in Berlin, nachdem Schmoller im Methoden-streit mit K. Menger dessen Untersuchungen über die Methode der Socialwissen-schaften und der politischen Ökonomie insbesondere (1883) kritisch rezensiert undDiltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften als positives Gegenbeispiel ange-führt hatte (G. Schmoller: Die Schriften von K. Menger und W. Dilthey zur Metho-dologie der Staats- und Socialwissenschaften, in: Ders.: Zur Literaturgeschichte derStaats- und Socialwissenschaften. Leipzig 1988, 276–304). Dilthey wird auf Grundseiner historischen Orientierung als »vollständiger Antipode« Mengers bezeichnet.32 F. K. Ringer: Die Gelehrten, a. a.O., 137.

  • sellschaft gedrängt wird, sollen Maßnahmen zur besseren sozialenIntegration ergriffen werden. Die allgemeine Richtung sozialen Fort-schritts wird von Dilthey mit »Erweiterung von Freiheit, Genuß undKultur über alle Stände« (GS VII, 373) angegeben. Ein Mittel, diesesZiel zu erreichen, sieht Dilthey in der Bildungspolitik:

    Auf diese Weise enthält die Fortbildung des Schulwesens einen Beitrag zurLösung der sozialen Frage. Diese ist ja in Wirklichkeit ein Bündel von Fra-gen, und die Auflösung derselben vollzieht sich daher durch ganz verschie-dene Systeme von Maßregeln. Der Druck, der auf den körperlich hart ar-beitenden Klassen lastet, würde am edelsten gemindert durch dieHoffnungen, welche ihnen gestatten, den Kindern jeden ihren Anlagen ent-sprechenden Beruf nicht nur in abstracto rechtlich offen, sondern tatsäch-lich zugänglich zu sehen. (GS IX, 199, kursiv H. J.)

    Dies mag genügen, um zu zeigen, dass Dilthey von den Geistes- undSozialwissenschaften bzw. deren akademischen Vertretern nicht nurhistorische Untersuchungen und empirische Ergebnisse, sondernauch praktische Vorschläge – z.B. in Form von Empfehlungen fürGesetzesvorhaben – erwartet, nach denen die einzelnen Bereiche desgesellschaftlichen Lebens gestaltet werden sollen. Mit seiner eigenenDomäne, der Philosophie, verbindet er dagegen weniger direkteHandlungsempfehlungen, sondern eher eine Stärkung des Wert-bewusstseins für die »höheren Klassen«, wie er in einem Brief anYorck vom 29.2.1892 schreibt:

    In solchen Zeiten empfindet man doppelt, daß nur aus philosophischerSelbstbesinnung Vertiefung der höheren Klassen kommen kann. Sie wirdbei Ihnen [Graf Yorck] mehr der Begründung religiöser Lebensstellung di-rekt dienen. Bei mir ist sie zunächst darauf gerichtet, die selbständigeMachtder Geisteswissenschaften zu erhöhen, wodurch dann die selbständige Gel-tung der sittlich-religiösen Motive auch mehr zur Anerkennung gebrachtwird.33

    Man kann hier zwei Ebenen der Argumentation und der Begrifflich-keit unterscheiden, die Dilthey allerdings nicht immer klar auseinan-derhält: Zum einen die Ebene der Werthaltungen, die, wie der Brief-wechsel mit Yorck eindringlich zeigt, im Grenzbereich zwischenindividueller Moral, religiöser »Lebensstellung« und philosophischer

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    Tatsachen, Normen und Werte

    33 S. v. d. Schulenburg (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und demGrafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897. Halle/S. 1923, 139 (Brief Diltheys v.29.2.1892, kursiv H. J.)

  • »Selbstbesinnung« angesiedelt sind, und zum andern die Ebene kon-kreter Handlungsnormen, die vor allem für den sozialen Bereichmehr oder minder klare Regelungen enthalten, was zu tun und zulassen ist. Auf der Ebene der Werte bilden sich Orientierungen undes eröffnen sich Handlungsmöglichkeiten, Werte enthalten jedochkeine direkten Handlungsanweisungen.34

    IV.

    Bekanntlich hat Max Weber in seinem Aufsatz über Die »Objektivi-tät« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904),dessen Thematik von ihm wiederholt aufgegriffen wurde,35 gefordert,zwischen empirischer Erkenntnis und normativen Regeln, zwischenTatsachenforschung und der Frage, wie man »innerhalb der Kultur-gemeinschaft und der politischenVerbände handeln solle«,36 zwischenSozialwissenschaft als »denkender Ordnung der empirischen Wirk-lichkeit« und Sozialpolitik, in der um die »regulativen Wertmaßstäbeselbst gestritten werden kann und muß«,37 scharf zu trennen. SeinStandpunkt besagt, kurz gefasst, »daß es niemals Aufgabe einer Erfah-rungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermit-teln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.«38

    Max Webers Ausgangspunkt waren die Diskussionen im Vereinfür Socialpolitik, deretwegen ich vorhin Diltheys Nähe zu GustavSchmoller erwähnt habe. Schmoller war im Verein für Socialpolitikder Hauptvertreter einer wertenden, ethisch bestimmten Sozialwis-senschaft, die Weber für überholt hielt. Die »Sezession« der Gruppe,die 1909 die Deutsche Soziologische Gesellschaft gründete, ergab sichaus dem Protest gegen die Vermischung von empirischer Sozialwis-senschaft mit Ethik und Politik. Dabei richtete sich Max Webers Kri-tik keineswegs gegen die Notwendigkeit einer Sozialpolitik, sonderngegen den Anspruch, normative Forderungen mit wissenschaftlichen

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    Helmut Johach

    34 Vgl. H. Joas: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a.M. 1999, 258ff.35 Vgl. M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen1968, 146ff., 489 ff., 582 ff.36 M. Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts-lehre, a. a.O., 602.37 M. Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er-kenntnis, a. a.O., 153.38 M. Weber, ebd., 149.

  • Mitteln begründen zu können. Er plädierte für eine saubere Tren-nung zwischen Wissenschaft und Politik, wobei letztere für ihn vomKampf der einzelnen Ordnungen und Werte – Weber spricht sogarvon »Göttern und ihrem Kampf«39 – bestimmt war. Webers Thesenzum häufig missverstandenen Begriff der »Wertfreiheit« in den So-zialwissenschaften bildeten den Ausgangspunkt für eine lang anhal-tende Kontroverse in den Sozialwissenschaften, die auch heute nochnicht abgeschlossen ist.40 Diese Kontroverse hier im Einzelnen nach-zeichnen zu wollen, würde zu weit führen; im Hinblick auf DiltheysTheorie der Geisteswissenschaften und die von ihm als bedrohlichempfundene »Anarchie in allen tieferen Überzeugungen« (GS VIII,194) ist es jedoch sinnvoll, auf die »Wertbeziehung« in Webers Wis-senschaftskonzept näher einzugehen.

    Weber entnimmt dieses Konzept der neukantianischen Wissen-schaftstheorie Heinrich Rickerts, die Windelbands Trennung zwi-schen »nomothetischen« und »idiographischen« Wissenschaften in-sofern weiterführt, als nach ihm die idiographische Methode auf eine»wertbeziehende Begriffsbildung«41 angewiesen ist. Aus der unüber-sehbaren Fülle des Wirklichen sondert die historische Forschung ihreGegenstände unter Wertgesichtspunkten aus, die der jeweiligen Kul-tur entnommen sind; deshalb zieht Rickert es vor, von »historischenKulturwissenschaften«42 anstelle von »Geisteswissenschaften« zusprechen. Weber übernimmt Rickerts Prinzip der Wertbeziehungzwar für die sozialwissenschaftliche Gegenstandskonstitution, d.h.für die Aussonderung dessen, was für eine wissenschaftliche Unter-suchung als hinreichend wichtig erachtet wird, er schließt jedoch jeg-liche Wertung innerhalb des Forschungsprozesses aus. Sozialwissen-schaftliche Forschung soll sich neben der empirischen Datenerhebungauf die Abschätzung von Folgen und Nebenfolgen bei geplantenMaßnahmen bzw. auf die Geeignetheit der Mittel bei gegebenen Zie-len beschränken, also »technischer« Art sein. Welche Ziele angestrebtund welche Maßnahmen letztlich getroffen werden, ist allein Sacheder wertenden politischen Entscheidung. Die Wissenschaft hat dabeinur eine klärende, nicht bestimmende Funktion – soweit Max Weber.

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    Tatsachen, Normen und Werte

    39 M. Weber: Wissenschaft als Beruf, a. a.O., 604.40 Vgl. H. Albert, E. Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit. Darmstadt 1979; Th. W.Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied 1969.41 H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logi-sche Einleitung in die historischen Wissenschaften. 2. Aufl. Tübingen 1913, 275.42 H. Rickert, ebd., 278.

  • Dilthey wieWeber reagieren auf eine gesellschaftliche Situation,in der ein einheitliches Wertbewusstsein – wenn man überhaupt da-von sprechen kann – nicht mehr vorhanden ist. In der Wilhelmi-nischen Zeit waren es unter anderem sozialistische Perspektiven, dieden Wertkonsens der Wissenschaftler bedrohten. Dilthey sucht denPluralismus der Weltanschauungen mit ihren Wertungen auf dreiGrundformen zurückzuführen, wobei insbesondere die »naturalisti-sche Erklärung der geistigen Entwicklung« (GS VIII, 107) durch diebiologische Evolutionslehre, die Dilthey in unzutreffender Weise mitdem historischen Materialismus in Verbindung bringt, die Ableitungder »höheren Kultur aus dem ökonomischen Fortschritt« und das»naturalistische Ideal« (ebd.) des von religiösen Bindungen emanzi-pierten Menschen seine erklärten Gegner sind. Er hält sich zwar mitpolemischen Äußerungen zurück, aber trotz allen Bemühens um einemöglichst »werturteilsfreie« Typologie der Weltanschauungen sindpersönliche Wertungen bei ihm deutlich spürbar. Der Sozialismusals zur damaligen Zeit umstürzlerisch auftretende Bewegung, die Dil-they zufolge sogar Eigentum, Ehe und Familie in Frage stellt (was inBezug auf Ehe und Familie nicht zutrifft und in Bezug auf das Eigen-tum genauer differenziert werden müsste) wird von ihm vehementabgelehnt. Diltheys eigene Werte ergeben sich aus der Tradition desdeutschen Bildungsbürgertums, wobei hervorzuheben ist, dass die»Anerkennung der Würde und des Wertes in jedem Individuum, an-gesehen als Mensch« (VII, 262), eine über dem Parteienstreit liegendeWertvorstellung ist, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchenkann, indem sie u. a. der Menschenrechtserklärung der Vereinten Na-tionen43 und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zuGrunde liegt.

    Trotz des Ursprungs derWerte im individuellen Gefühl hegt Dil-they die Hoffnung, dass sich Werte bis zu einem gewissen Grad ver-allgemeinern lassen bzw. dass das Wertempfinden des Einzelnen mitdem seiner Gruppe oder sozialen Klasse – wenn schon nichtmit allen –weitgehendübereinstimmtund insofernnicht rein subjektiv bleibt. Dain der psychischen Struktur des Einzelnen Tatsachen, Normen undWerte verbunden sind, folgert er, dass dies auch in der Wissenschaftder Fall sein könne odermüsse.Anders dagegenMaxWeber, derWertezu Orientierungspunkten eines nur subjektiv vermeinten Sinnes he-

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    Helmut Johach

    43 Vgl. W. Heidelmeyer (Hrsg.): Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsarti-kel, Internationale Abkommen. 4. Aufl. Paderborn – München 1997, 209.

  • rabsetzt und eine radikale Subjektivierung der Werte betreibt, bei de-nen es »nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar töd-lichen Kampf, so wie zwischen ›Gott‹ und ›Teufel‹, gehe.44 Die Ent-scheidung für konkrete Werte, die letztlich das Handeln bestimmen,erfolgt nach Weber rein dezisionistisch. Es ergibt sich kein gesell-schaftlicher Diskurs und kein rationales Verfahren – außer der Prü-fung der wahrscheinlich eintretenden Folgen –, das es ermöglichenkönnte, sich begründet für bestimmteWerte zu entscheiden.Wertent-scheidungen bleiben für ihn letztlich irrational. Deshalb haben sie inden Wissenschaften nichts zu suchen. Wissenschaft und Politik blei-ben fürMaxWeber zwei fundamental verschiedene Bereiche.

    V.

    Nach diesem Blick auf die gesellschaftliche Situation, in der Diltheyund Max Weber ihre Theorien entwickelt haben, mag es angebrachtsein, abschließend noch einmal nach Diltheys genuinem Anliegen,der Begründung der Geisteswissenschaften, zu fragen. Im Unter-schied zur bis heute verbreiteten Einschätzung, Dilthey sei »haupt-sächlich Geisteshistoriker« gewesen, die vor allem auf Heinrich Ri-ckert45 zurückgeht, wurde hier der Akzent zum einen auf denerkenntnistheoretischen Systematiker der Geisteswissenschaften,zum anderen auf seine Überlegungen zu den erst später verselbstän-digten Sozialwissenschaften gelegt. Dass Diltheys Theorie der Geis-teswissenschaften die Sozialwissenschaften mit umfasst, wird in derRegel zu wenig beachtet, weil man meist vom Spätwerk, dem Aufbauder geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), aus-geht und Diltheys Frühwerk mit dem Ansatz beim »handelndenMenschen« (GS XVIII, 19) bzw. den »Wissenschaften vom Men-schen, der Gesellschaft und dem Staat« (GS V, 31) beiseite schiebtoder als vorläufig abtut. Die Edition der Nachlass-Bände XVIII bisXX der Gesammelten Schriften hat jedoch die Entwicklung von Dil-theys Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie deutlich gemacht underneut den Blick auf seine frühe und mittlere Periode gelenkt.

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    Tatsachen, Normen und Werte

    44 M. Weber: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischenWissenschaften, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a.O., 507.45 H. Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischenModeströmungen unserer Zeit. Tübingen 1920, 27.

  • Dilthey sieht sich vor der Aufgabe, »eine erkenntnistheoretischeGrundlegung der Geisteswissenschaften zu entwickeln« (GS I, 116),wobei ihm die Versuche des Empirismus und Positivismus – d.h.Comtes undMills –,Methoden der Naturwissenschaften auf die Geis-teswissenschaften zu übertragen, als inadäquat erscheinen. Erfahrungin den Geisteswissenschaften ist »innere« Erfahrung, d.h. sie erfasstden »ganzen Menschen« und sie ist »praktische« Erfahrung. Zu ihrgehört deshalb »neben der Erkenntnis dessen, was ist, das Bewußtseindes Zusammenhangs der Werturteile und Imperative, als in welchenWerte, Ideale, Regeln, die Richtung auf Gestaltung der Zukunft ver-bunden sind« (GS I, 27). Dieser Satz ist für Diltheys Theorie der Geis-teswissenschaften von zentraler Bedeutung, denn er besagt, dassmenschliches Leben nicht einer starren Naturgesetzlichkeit unter-liegt, sondern von Menschen gestaltet wird. Heutzutage bezieht sichdiese Gestaltung vor allem auf die technische Anwendung von Ergeb-nissen der Naturwissenschaften, wobei Ethik-Kommissionen manch-mal eingesetzt werden, um zu überprüfen, ob das, was technisch ge-macht werden kann, auch gemacht werden darf oder soll.

    Dem Zusammenhang von Tatsachen, Normen und Werten inDiltheys Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften galt unserebesondere Aufmerksamkeit, denn hier entscheidet sich, ob es ihm ge-lingt, diese Wissenschaften in eigenständiger Weise zu begründen.Das besondere Interesse, das Dilthey in diesen Wissenschaften amWerk sieht, ist ein praktisches: »Die aus dem Willen entsprungenenOrdnungen werden in diesen Wissenschaften nicht nur erkannt alsdas, was sie sind, sondern auch geregelt im Sinne ihrer Zwecke«(GS XVIII, 65). Dilthey stellt zwar – was bisher nur selten ausdrück-lich thematisiert wurde – in seinen Bemerkungen zur Wissenschafts-sprache fest, dass Wirklichkeitsaussagen und Soll-Sätze »in der Wur-zel gesondert« (GS I, 27) und daher nicht aufeinander rückführbarsind; gleichwohl besteht er darauf, dass Tatsachen und Normen inden Geisteswissenschaften zusammengehören, und begründet diesanfangs mit dem Rekurs auf die »psychologische«, d.h. bewusst-seinsphänomenologisch-transzendentale Selbstbesinnung, später mitdem Rückgang auf den psychischen Strukturzusammenhang (vgl.GS V, 206).

    Angesichts der Frage, ob dies ausreicht, um das Verhältnis vonTatsachen und Normen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zubestimmen, muss darauf verwiesen werden, dass soziale Praxis überden Horizont des Einzelnen hinausreicht, indem hier ein Handeln un-

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  • terschiedlicher Subjekte stattfindet, das intersubjektive Verständi-gung zwischen ihnen impliziert. Wenn Dilthey von »Selbstbesinnungder Gesellschaft« (GS XIX, 304) als Aufgabe der Philosophie spricht,dann scheint er einen solchen Verständigungsprozess, der über indivi-duelle Selbstbesinnung hinausreicht, ins Auge zu fassen. Es ist fernerzu fragen, ob diejenigen, die die erforderlichen Erkenntnisse liefern,auch diejenigen sein sollen, die den Part des Handelns übernehmen –grundsätzlich gesprochen: obWissenschaft und Politik nicht doch bes-ser auseinander gehaltenwerden sollten.MaxWeber, der die Problemeder Sozialwissenschaften später und differenzierter als Dilthey durch-denkt, setzt sich vehement für eine solche Trennung ein. Dabei redu-ziert er allerdings die Politik auf ein dezisionistisches Handlungs-modell und zwingt die Erfahrungswissenschaften zur »Eliminierungvon Fragen der Lebenspraxis aus dem Horizont der Wissenschaftenüberhaupt.«46 Diltheys Modell, das beide Seiten näher beieinandersieht und einen rigorosen Dualismus von Erkennen und Entscheidenvermeidet, scheint demgegenüber das adäquatere zu sein.

    Schließlich wurde der Versuch unternommen, Diltheys Über-legungen zur Erkenntnistheorie und Logik der Geistes- und Sozial-wissenschaften auf ihren »Sitz im Leben« zu beziehen. Hier kristalli-sierte sich die geistig-gesellschaftliche Krise um die Wende vom 19.zum 20. Jahrhundert, deren Auswirkungen F. K. Ringer in seinerStudie über den »Niedergang der deutschenMandarine«47 untersuchthat, als Motivationshintergrund bei Dilthey heraus – jedenfalls gibtes dafür einige Indizien. Sowohl der Pluralismus der Weltanschau-ungen und die drohende »Anarchie der Überzeugungen« (GS V, 9),als auch konkrete gesellschaftliche Herausforderungen – sprich: die»soziale Frage« mit der Möglichkeit eines sozialen Umsturzes – sindein Szenario, vor dessen Hintergrund Dilthey sich einerseits bemüht,zusammen mit seinem Freund Yorck die »sittlich-religiösen Mo-tive«48 auf der Ebene der gesellschaftlichen Werte durch seine philo-sophisch-wissenschaftliche Arbeit stärker zur Geltung zu bringen,andererseits im Verbund mit anderen Geistes- und Sozialwissen-schaftlern praktische Vorschläge zu erarbeiten, die geeignet sind, den

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    Tatsachen, Normen und Werte

    46 J. Habermas: Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in. Th. W. Adornou. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, a. a.O., 171.47 F. K. Ringer: Die Gelehrten, a. a.O., 229 ff.; zu Dilthey bes. 282ff.48 S. v. d. Schulenburg (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und demGrafen Paul Yorck v. Wartenburg, a. a.O., 139.

  • befürchteten Zusammenbruch der herrschenden Sozialordnung zuverhindern.

    Als letztes ist zu fragen, ob Diltheys Theorie der Geisteswissen-schaften angesichts der scharfsichtigen Beobachtung J. v. Kempskis,dass der historische Geist aus diesen Wissenschaften längst gewichensei, überhaupt noch aktuell ist. Man kann – wie v. Kempski es tut –den Schluss ziehen, es sei wichtiger, die strukturelle Analyse in denVordergrund zu rücken, da die geistesgeschichtliche Betrachtungs-weise ohnehin nicht das Wesentliche in diesen Wissenschaften aus-mache; so könne zumindest eine gewisse Annäherung an die »exak-ten«Wissenschaften erreicht werden.49 Ich halte dies jedoch für keinesehr glückliche Empfehlung und denke, dass eher eine Rehistorisie-rung not täte. Sicher ist es zutreffend, dass viele hierher gehörigeWissenschaften heutzutage ganz anders betrieben werden als zur ZeitDiltheys. Bestes Beispiel ist die Ökonomie, die inzwischen weit-gehend mathematisiert ist und von Geschichte, geschweige denn vonethischen Überlegungen nichts mehr wissen will. Ein Vergleich mitfrüheren Stadien der Wirtschaftsentwicklung oder mit anderen Kul-turen könnte aber sehr wohl den verengten Blick auf die Gegenwartund deren Fortschreibung in die Zukunft aufbrechen, indem er zeigt,dass auch andere Ziele und Modelle des Wirtschaftens möglich sind.

    Den Abschluss soll ein Zitat aus Diltheys Basler Antrittsrede(1867) bilden, in dem nochmals die praktische Zielrichtung der Geis-teswissenschaften hervorgehoben wird:

    Wenn der Zweck des Menschen Handeln ist: so wird die Philosophie für dashandelnde Leben in seinen verschiedenen großen Richtungen, in Gesell-schaft, […] Erziehung und Recht nur soweit wahrhaft fruchtbare Vorbedin-gungen gewähren können, soweit sie das Innere des Menschen aufschließt,soweit sie lehrt, […] in der moralischen Welt tätig zu sein nach klarer Er-kenntnis ihres großen gesetzlichenZusammenhangs. (GS V, 27; kursivH. J.)

    Man könnte zwar in dieser Aussage des jungen Basler Professors einidealistisches Motiv am Werk sehen, das in Zeiten postmoderner Be-liebigkeit obsolet erscheint, ich bin mir jedoch sicher, dass die Frage,wie wir künftig leben wollen, für die Geisteswissenschaften immernoch aktuell ist.

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    49 J. v. Kempski: Die Logik der Geisteswissenschaften und die Geschichte, a. a.O.,96 ff.

  • »Empirie und nicht Empirismus«.Dilthey und John Stuart Mill

    Hans-Ulrich Lessing

    Diltheys Lebensprojekt einer systematischen Grundlegung der Geis-teswissenschaften ist nicht zu verstehen ohne die Berücksichtigungder kritischen Auseinandersetzungen, die Dilthey mit diversen his-torischen wie zeitgenössischen philosophischen Positionen geführthat. Diese Auseinandersetzungen gehen offen, aber auch verdeckt insein Grundlegungsprojekt ein