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Die Kuchenuhr Die Nachkriegsliteratur wird oft auch als "Trümmerliteratur" und "Kahlschlagliteratur" bezeichnet. Mit Trümmer sind nicht nur die in Schutt und Asche liegenden Städte gemeint, sondern auch die zerstörten Ideale und Utopien, die Wirklichkeit des Krieges und die Erfahrungen zwischen Tod und Überleben innerhalb der Trümmer. Die Nachkriegsliteratur war auf vielfache Weise gespalten: Ein Teil der Autoren bemühte sich um eine Verarbeitung der NS-Diktatur, ein anderer Teil um die Verdrängung; es bestand eine Kontroverse zwischen Innerer Emigration und Exilliteratur; bald vollzog sich auch eine politische Trennung mit der Etablierung der beiden deutschen Einzelstaaten. Die wichtigste Prosaform in der Nachkriegszeit war die Kurzgeschichte. Sie wurde von vielen Autoren, besonders von Borchert und Schnurre, genutzt. Als Vorbild hatten sie die amerikanische short story sowie die Autoren William Faulkner, Ernest Hemingway und Edgar Allan Poe. Zu den bekanntesten Kurzgeschichten Borcherts gehören: Die Küchenuhr, An diesem Dienstag und Die Kirschen. Die Kurzgeschichte ist eine leicht überschaubare epische Kurzform, die selten länger als 5 DIN-A4-Seiten ist. Sie zeigt einen Ausschnitt aus einer Handlung oder einem Raum und gibt einen wichtigen Lebensabschnitt eines Menschen wieder. Die handelnden Figuren werden nur gezeigt, sie können nicht entwickelt werden. Eine Einleitung fehlt häufig, das Ende ist meist offen. Die Kurzgeschichte ,,Die Küchenuhr’’ wurde von Wolfgang Borchert geschrieben. Er lebte von 1921 bis 1947 und war ein Kriegsgegner. Die Kurzgeschichte handelt von einem Zwanzigjährigem mit einem alten Gesicht, dessen einzigstes Erinnerungsstück an die Vergangenheit eine Küchenuhr ist. Ein zwanzigjähriger Mann, dessen Gesicht bereits sehr alt wirkt, setzt sich zu anderen Menschen auf eine Bank. Bei einem Bombenangriff kamen seine Eltern ums Leben und sein Heim wurde zerstört. Alles, was ihm geblieben ist, ist eine kaputte Küchenuhr, die er den Anderen zeigt. Dass sie um halb drei stehengeblieben ist, erklärt ein Mann mit der Druckwelle der Explosionen. Den jungen Mann erinnert die Uhrzeit jedoch an seine nächtliche Heimkehr. Regelmäßig stand seine Mutter auf, wenn er zu dieser Zeit nach Hause kam, bereitete ihm das Abendessen zu und wartete in der Küche, während er aß. Was ihm damals selbstverständlich erschien, erkennt er erst rückblickend als Paradies . Nach dem Bericht vom Tod seiner Eltern verstummt er. Doch seinem Nebenmann geht nun das Wort „Paradies“ im Kopf herum.

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Die Kuchenuhr

Die Nachkriegsliteratur wird oft auch als "Trümmerliteratur" und "Kahlschlagliteratur" bezeichnet. Mit Trümmer sind nicht nur die in Schutt und Asche liegenden Städte gemeint, sondern auch die zerstörten Ideale und Utopien, die Wirklichkeit des Krieges und die Erfahrungen zwischen Tod und Überleben innerhalb der Trümmer.

Die Nachkriegsliteratur war auf vielfache Weise gespalten: Ein Teil der Autoren bemühte sich um eine Verarbeitung der NS-Diktatur, ein anderer Teil um die Verdrängung; es bestand eine Kontroverse zwischen Innerer Emigration und Exilliteratur; bald vollzog sich auch eine politische Trennung mit der Etablierung der beiden deutschen Einzelstaaten.

Die wichtigste Prosaform in der Nachkriegszeit war die Kurzgeschichte. Sie wurde von vielen Autoren, besonders von Borchert und Schnurre, genutzt. Als Vorbild hatten sie die amerikanische short story sowie die Autoren William Faulkner, Ernest Hemingway und Edgar Allan Poe. Zu den bekanntesten Kurzgeschichten Borcherts gehören: Die Küchenuhr, An diesem Dienstag und Die Kirschen.

Die Kurzgeschichte ist eine leicht überschaubare epische Kurzform, die selten länger als 5 DIN-A4-Seiten ist. Sie zeigt einen Ausschnitt aus einer Handlung oder einem Raum und gibt einen wichtigen Lebensabschnitt eines Menschen wieder. Die handelnden Figuren werden nur gezeigt, sie können nicht entwickelt werden. Eine Einleitung fehlt häufig, das Ende ist meist offen.

Die Kurzgeschichte ,,Die Küchenuhr’’ wurde von Wolfgang Borchert geschrieben. Er lebte von 1921 bis 1947 und war ein Kriegsgegner. Die Kurzgeschichte handelt von einem Zwanzigjährigem mit einem alten Gesicht, dessen einzigstes Erinnerungsstück an die Vergangenheit eine Küchenuhr ist.

Ein zwanzigjähriger Mann, dessen Gesicht bereits sehr alt wirkt, setzt sich zu anderen Menschen auf eine Bank. Bei einem Bombenangriff kamen seine Eltern ums Leben und sein Heim wurde zerstört. Alles, was ihm geblieben ist, ist eine kaputte Küchenuhr, die er den Anderen zeigt. Dass sie um halb drei stehengeblieben ist, erklärt ein Mann mit der Druckwelle der Explosionen. Den jungen Mann erinnert die Uhrzeit jedoch an seine nächtliche Heimkehr. Regelmäßig stand seine Mutter auf, wenn er zu dieser Zeit nach Hause kam, bereitete ihm das Abendessen zu und wartete in der Küche, während er aß. Was ihm damals selbstverständlich erschien, erkennt er erst rückblickend als Paradies. Nach dem Bericht vom Tod seiner Eltern verstummt er. Doch seinem Nebenmann geht nun das Wort „Paradies“ im Kopf herum.

Borcherts Sprache kennzeichnet laut Werner Zimmermann eine „niedrige Sprechlage“. Im beschränkten Wortschatz herrscht die Alltagssprache vor, der Satzbau ist oft nachlässig und „trümmerhaft“. Häufig eingesetzte Stilmittel sind die antithetische Verknüpfung von Gegensätzen und die Wiederholung sprachlicher Wendungen, durch die sich das Innenleben der Figuren offenbart. Die Sätze sind kurz und schlicht; sie stehen im Präteritum. Es wird nicht zwischen erzählender Prosa und direkter Rede unterschieden, jegliche Anführungszeichen fehlen, doch der Bericht wird immer wieder von Fragen unterbrochen. Die Situation selbst ist so knapp wie möglich gezeichnet, ohne dass die Geschichte von einer äußeren Wirklichkeit beeinflusst wird. Dadurch soll ihr innerer Gehalt laut Hans Graßl „geschlossen und klar hervortreten“.

Borchert erzählt von einem Mann, der auf einige Menschen auf einer Bank zugeht und ihnen eine kaputte Küchenuhr zeigt. Er hat sie aus dem zerstörten Haus seiner Familie geborgen, sie erinnert ihn an vergangene, glücklichere Zeiten. Der Mann ist jung, aber er hat "ein ganz altes Gesicht" (Z. 2). Die anderen Personen werden nicht näher beschrieben (Frau mit Kinderwagen, Z. 19; Mann, Z. 30): Man kann vermuten, dass sie stellvertretend für viele Menschen der Nachkriegszeit stehen, vor allem weil sie keine Namen haben. Der junge Mann ist ein Außenseiter, denn die anderen "sahen ihn nicht an" (Z. 18) und "sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen" (Z. 40). Er ist etwas Besonderes, weil er etwas Besonderes hat: die Küchenuhr. Sie ist kaputt und deshalb für die anderen völlig wertlos. Er jedoch streichelt sie

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fast (vgl. Z. 15-16), schaut sie ständig an und zeigt sie "freudig" (Z. 21) herum (z.B. Z. 22). Er behandelt sie geradezu so, als wäre sie ein Mensch: "Da nickte er seiner Uhr zu." (Z. 41) Und auch andere Sätze personifizieren sie: "Innerlich ist sie kaputt" (Z. 14) oder, vom Erzähler ausgedrückt: "Da sagte er der Uhr ins weißblaue Gesicht: [...]." (Z. 63-64) "Sie ist übriggeblieben" (Z. 17) von seiner Familie, das einzige, was er noch hat. Sogar dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist, hat für ihn eine tiefere Bedeutung: "Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich." (Z.37-40) Borchert schreibt äußerst knapp, z.B. wird hier nicht erwähnt, warum der junge Mann immer so spät in der Nacht erst nach Hause kam. Trotzdem schildert der junge Mann nun sehr ausführlich (Z. 41-61), wie rührend sich seine Mutter dann immer um ihn sorgte, wie sie ihm Essen gab und ihm Gesellschaft leistete. Nun, nach dem Krieg und dem Tod seiner Mutter, weiß er, "dass es das Paradies war. Das richtige Paradies." (Z. 64- 65) Einen Gegenstand, der an etwas anderes denken lässt, nennt man ein "Symbol", und deshalb ist die Küchenuhr hier ein Symbol für das verlorene Paradies. Borchert schreibt sehr schlicht, er verwendet kaum längere Attribute oder umständliche Nebensätze (z.B. Z. 57-61). Dies ist typisch für die Nachkriegsliteratur: Die sparsame Sprache entspricht dem ärmlichen Leben der Menschen. Auch der offene Anfang ("Sie sahen ihn ..." - wer sah wen? Das wird zunächst nicht gesagt!) und der unvermittelte Schluss ("Er dachte immerfort an das Wort Paradies.") sind bezeichnend für die Kurzgeschichte, die um diese Zeit von den Amerikanern übernommen wurde.

In dieser Kurzgeschichte aber stehen nicht Personen im Zentrum der Geschichte, sondern ein Gegenstand. Die Überschrift macht es schon deutlich, es handelt sich um die "Küchenuhr". Aber nicht in dieser Funktion ist sie wichtig, im Laufe der Kurzgeschichte steht sie symbolisch für verschiedene Sachverhalte. Einmal lässt sie Rückschlüsse zu auf den Zustand der Menschen, dann muss sie als Kommunikationspartner dienen und schließlich, was wohl die wichtigste Funktion ist, steht sie sinnbildlich für die verlorene Normalität des Alltäglichen, für das verlorene Paradies.Eingeführt wird die Küchenuhr dadurch, dass der junge Mann sie den anderen Leuten auf der Bank zeigt, Nach einer kurzen Beschreibung sagt er: "Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer." Diese Beschreibung trifft auch auf viele Menschen zu, die nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges das völlig zerstörte Deutschland wieder aufbauen. Es bleibt keine Zeit für eine "Reparatur", d.h. eine Aufarbeitung der Geschehnisse.