Der Siegeszug des mechanistischen Menschen
Vom (un)aufhaltsamen Aufstieg der instrumenteilen Vernunft: Alle Realität wird
eindimensional, quantifiziert und in Mechanismen gepreßt / Mit der Universal-
maschine Computer kann sich das Lineare und Standardisierte unbegrenzt
ausdehnen / Sinnlichkeit, Einfühlung, Chaos und Autonomie werden eliminiert /
Frauen können als Grenzgängerinnen Unruhe entfachen in den heiligen Hallen
des Zweckrationalen - von Christel Schachtner / taz 29.8.87
Es ist eine Art von Vernunft in dieser Welt, deren Macht wächst und wächst. Neu ist
nicht die Existenz dieser Vernunft, nicht ihr Machtstreben, neu ist, daß der Charakter
ihrer Macht totalitär zu werden beginnt, und das bedeutet eine verschärfte Gefährdung,
Diskriminierung und Ausgrenzung all dessen, was sich ihr entzieht. Die Vernunft, von
der ich rede, hat der Frankfurter Soziologe Max Horkheimer in den vierziger Jahren die
instrumentelle genannt. Unter dem Diktat der instrumentellen Vernunft wird alle Wirk-
lichkeit, zum Mittel, zum Ding, zur Apparatur — auch der Mensch, sein Denken, seine
Emotionalität, seine Sprache, seine Sinnlichkeit, sein Körper. Wir Frauen sind von den Ansprüchen instrumenteller Vernunft nicht ausgenommen, doch haben wir es als gesell-
schaftliche und biologische Wesen immer auch mit dem Nicht-Instrumentalisierbaren zu
tun, wir gelten selbst als dessen Trägerinnen. So sind wir stets verdächtig, wenn nicht
unheimlich, gerade deshalb aber in besonderer Weise herausgefordert und vielleicht
befähigt, die der instrumentellen Vernunft eigene Normalität zu durchschauen, ihre
Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, nicht zuletzt bei uns selbst. Daß sich die
instrumentelle Vernunft — obschon hervorgebracht und entfaltet in einer patriarcha-
lischen Kultur— auch in uns eingelagert hat, ist wahrscheinlich.
Menschenbilder geformt nach dem Muster instrumenteller Vernunft — wie sehen sie
aus? Angefangen sei mit der weiblichen Variante. Sie begegnet uns in Rosemarie Voges
Hörspiel „Olympia Männertrost". Olympia Männertrost ist eine von vielen, eine von
vielen aus der Serie Romantik. Sie ist schön, makellos schön. Alles stimmt, alles funk-
tioniert. Sogar eine Stimme wurde ihr einprogrammiert, denn, so Olympia, „ein Mann
will sich ja ein bißchen unterhalten können, mal eine Antwort bekommen oder eine
mitfühlende Frage" Im Jahre 1994 war Olympia in Serie gegangen und auf den Markt
gekommen, aber herumexperimentiert hat man schon früher. Ich erinnere an die
Androiden des 18. Jahrhunderts, die künstlichen Menschen, die vorwiegend weibliche
verkörperten. Auch sie waren schön, schön und jung, jedoch „unbelebt und kalt wie
glänzender Marmor" (Christine Woesler de Panafieu). Die imaginierte Weiblichkeit
instrumenteller Prägung ist automatenhaft und auf den Mann hin orientiert. Sie soll dem
Mann schmückendes Ambiente sein, sie soll seine Schaulust anregen und sich ausfüllen
lassen von männlicher Phantasie. So meinte schon Wolfgang Goethe, als er sagte: „Das
Weibliche ist das einzige Gefäß, was uns Jüngeren noch geblieben ist, um unsere Idea-
lität hineinzugießen.” Der idealisierte Frauenkörper ist der seines Inneren entleerte, aus-
tauschbare Körper, reduziert auf eine Hohlform, auf einen schönen Mechanismus. Die
Automatin Olympia wollte mehr sein: Sie griff zu Büchern, studierte Kant, Rousseau und
Fichte, entwickelte Eigenleben. Olympia mußte zurück ins Labor. In den Augen ihrer
Erfinder hatte sie sich als gefährliche Fehlentwicklung entpuppt. Ihr Fehler: zu goßes
Schwergewicht auf der Fähigkeit zur analytischen Operation.
Außen hart und innen hohl
Die Automatenfrau hat ein männliches Gegenstück: die Kampfmaschine Mann. In der
Freikorpsliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre tritt uns dieser Entwurf von Mann
entgegen als Stahlnatur, als prächtiges Raubtier voller ungeahnter Energien, als eiserner
Organismus, als hartes gepanzertes Schiff. Eben feiern diese Stahlnaturen ihr Comeback
auf der Kinoleinwand: als Rambo I und II, als Rocky I, II, III, IV. So wie die neuen
Helden von Angelika Wittlich in „Kino, Kino" beschrieben wurden, brauchen sie den
Vergleich mit ihren Vorgängern nicht zu scheuen. „Es regieren Waffen und Fäuste,
Muskeln wölben sich, der stahlharte Blick ist dem zu vernichtenden Gegner ständig auf
der Spur. Seine Statur ist hart erarbeitet, sein Leben zu keusch, sein Kampfeswille zu
ungebrochen. seine Ideale allzu vaterländisch. Vielleicht ist er ja außen hart und innen
hohl. Aus Plastik ? Ohne Leben und Gefühl? Eine gut geölte Maschine? Mehr nicht?"
Die Kampfmaschine Mann und die Automatenfrau haben Gemeinsamkeiten: Beide sind
Objekte vorgegebener Zwecke, beide sollen funktionieren wie eine Maschine — die
Automatin zur Zwecke des Gefallens, des Funkelns und Glänzens, die männliehe Stahl-
natur zum Zwecke des Kampfes und Tötens.
Der Mensch als Maschine - eine Idee, ein Modell, eine Realität. Kurt Eissler hat Anfang
der achtziger Jahre innerhalb der US-Armee zahlreiche Tendenzen beobachtet, die
darauf hinausliefen, die Armeeangehörigen in Automaten zu verwandeln. In der Arbeits-
welt vollzieht sich nach Studien der Arbeitswissenschaftlerin Gertraude Krell nichts
anderes. Der arbeitende Mensch werde auf die Funktionsweise einer Maschine reduziert.
Ebenso Gestalt angenommen hat die weibliche Automatenschönheit als Miß Europa, als
Fotomodell, als Mannequin. Und ich frage: Wer von uns Frauen bringt es schon fertig,
der verordneten Weibs-Bilder sich gänzlich zu entledigen? Die Maschinisierung der
Menschen ist nicht nur von außen andrängendes Schicksal. Wir tragen das unsrige dazu
bei, dem Modell ähnlich zu werden, Leib und Seele zu formen nach berechenbarem
Muster mit Hilfe von Trainings und Kuren nach Art der Wartung, Reparatur und Instand-
setzung. 1984 ließen sich in den US A 95.000 Frauen ihre Brust vergrößern, 16.200 ihre
Brust und 20.900 ihren Bauch straffen, 43.200 ihr Gesicht liften. Die Schönheitsrepa-
raturen der Frauen steigen von Jahr zu Jahr.
Die Produkte instrumenteller Vernunft mögen äußerlich unterschiedlich sein, eins ist
ihnen gemeinsam: der Verlust am Eigensinn. Instrumentelle Vernunft entwirft und
schafft eine Welt, die sich öffnet für fremde Zwecke, die gesteuert und manipuliert
werden kann, die sich reibungslos einpaßt in Kontroll- und Macht-Interessen. Nicht alles
freilich kann sie in den Griff bekommen. Es bleiben Reste, irritierende Reste. Sie wurden
und werden als Schreckensbilder an die Wand gemalt. Immer wieder waren es im Ver-
lauf abendländischer Zivilisation Frauen, die als Symbolfiguren herhalten mußten. Ihre
Namen: Hexe, Flintenweib, alte Schachtel, Hure, rote Krankenschwester, Emanze. Sie
stehen für eine ungebändigte Sexualität, für ungezügelte Sinnlichkeit und unbeherrsch-
bare Körperlichkeit, für Unverwertbarkeit und Autonomie, für Chaos und Naturnähe.
Weiblichkeit in dieser Form gilt als gefährlich, sie ist verwiesen auf einen Platz außerhalb
der Zivilisation. Instrumentelle Vernunft schließt Frauen ein und schließt sie aus. Sie
macht sie zu Grenzgängerinnen.
Starr, erfolgreich, in Mechanismen gepreßt
Instrumentelle Vernunft modelliert die Welt, sie modelliert aber auch den Bezug zur
Welt, das Wie des Wahrnehmens und Handeln. Zwei Prinzipien scheinen mir für dieses
Wie typisch: das Prinzip der Gerichtetheit und das Prinzip der Getrenntheit bzw. des
Trennens.
Was wäre unter einem gerichteten Weltbezug zu verstehen? Das Gegenteil dazu wäre:
ein spontanes Sich-Öffnen für das, was wir sehen, hören, fühlen, riechen, ein Mitschwin-
gen auf den Wogen sinnlicher Erfahrung, ohne zu fragen warum und wozu, so, wie es
uns Kinder in ihren Spielen vormachen. Zeit wird von ihnen nicht in Rechnung gestellt.
Das Erleben darf Umwege machen, Pausen einlegen, darf Schleifen, Kringel und
Pirouettendrehen wie auf dem Eis. Ein gerichteter Weltbezug dagegen ist absichtsvoll,
zeitökonomisch, zweckbestimmt, strategisch; er dient der Erreichung vorab definierter
Ziele, er will steuern. Der Weg zum Ziel muß geradlinig verlaufen; er wird systema-
tisiert, quantifiziert, verregelt. So wird er starr, jedoch erfolgreich da, wo Wirklichkeit —
ganz nach dem Geschmack instrumenteller Vernunft — in Mechanismen gepreßt ist, wo
sie nicht mit Überraschungen und Zufällen aufwarten kann. Das Prinzip der Gerichtetheit
durchzieht unseren Alltag wie ein roter Faden; es herrscht in den Apparaten der Büro-
kratie mit ihren formalisierten Arbeitsabläufen, es bestimmt die standardisierten Bewe-
gungsmuster am Fließband, es regiert die verregelten Versuchs-anordnungen einer
experimentierenden Wissenschaft, es nimmt uns in Beschlag auf unseren alltäglichen
Wegen, z.B. wenn wir, eine Rolltreppe hocheilend, alles, was uns blockiert, die alte Frau,
die langsamer geht, das Kind, das die Gehspur verstellt, nur noch als lästigen Störfall
einstufen. Das Prinzip der Gerichtetheit steckt aber nicht nur in den Köpfen der Men-
schen, in ihren Bewegungen und Tätigkeiten; es hat sich mannig-faltig materialisiert: in
einer betonsüchtigen Architektur, in einer Natur und Menschen strangulierenden Ver-
kehrs- und Stadtplanung und — meiner Ansicht nach am vollkommensten — in der
neuen Geistmaschine, im Computer.
Computertechnologie ist Steuerungstechnologie. Sie wurde von Anfang an verwendet
zur Steuerung von Raketen; sie eignet sich genauso zur Steuerung von Heizungen, von
Waschmaschinen, von Industrierobotern, zur Steuerung von Arbeitsprpzes-senem
Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich, ja sogar zur Steuerung von therapeutischen
Situationen, wie Joseph Weizenbaum mit seiner ELIZA zeigte. Der amerikanische
Computer-Wissenschaftler entwickelte von 1964 bis 1966 am Massachusetts Institute of
Technology (MIT) ein Computerprogramm, mit dem man Gespräche führen konnte.
ELIZA konnte unter anderem die Gesprächsrolle eines an der nondirektiven Gesprächs-
führung von Rogers orientierten Psychotherapeuten übernehmen. Während Weizenbaum
ELIZA als Parodie auf Rogers Methode auffaßte, entwickelten Personen, die mit ELIZA
„kommunizierten", eine intime emotionale Bindung zu ihr. Psychiater erwogen ihren
Einsatz in Nerven-kliniken. Die Anwendungsmöglichkeiten von Computern sind univer-
sal, und das bedeutet: Mit seiner Unterstützung kann das Prinzip der Gerichtetheit
immer mehr Lebensbereiche und die dazugehörigen Menschen in ihren Bann ziehen.
Ein gerichteter Weltbezug schließt aus. Aber was? Gefühle etwa? Meine These: nicht
unbedingt, denn auch Gefühle lassen sich instrumentalisieren, können von strategi-
schem Nutzen sein beispielsweise als verkaufsfördernde Verkäuferfreundlichkeit. Etwas
anderes ist es mit solchen Gefühlen, die die Menschen auf Abwege führen, mit plötz-
licher Verliebtheil, mit Wutausbrüchen oder mit Verzweiflung. Das Prinzip der Gerichtet-
heit duldet keine Regungen, die sich ihrer Logik verschließen. Unerwünscht sind unvor-
hergesehene und unberechenbare Gefühle, aber auch individuelle Rhythmen wie sie
Menschen bestimmen in ihrem körperlichen Wohlbefinden, in ihrer Bewegung, in ihrem
Denken, in ihren Stimmungen und in ihrer Leistungsfähigkeit. Die feinen Unterschiede,
die persönlichen Eigenheiten und Vorlieben müssen verschwinden.
Nun zum Prinzip der Getrenntheit bzw. des Trennens. Sein Gegenteil kommt zum
Tragen, wenn wir in ein Musikstück, in einen Film, in den Anblick einer Landschaft
versinken. Versinken bedeutet angerührt sein, sich verlieren, mit seinem Gegenüber
verschmelzen. Das setzt voraus, daß wir dieses nicht als antlitzloses Objekt begreifen,
sondern als ein Jemand mit Innenleben, dem wir uns öffnen mit unseren Gefühlen,
Gedanken und Körpersensibilitäten. Robert Musil hat dieser Annäherung an Wirklichkeit
einen unersetzbaren Erkenntniswert beigemessen, als er schrieb: „Sie wissen, man
begreift überhaupt nichts mit dem Verstand, nicht einmal das Daliegen eines Steines,
sonden alles nur durch Liebe. In einem namenlosen Annäherungszustand und Verwand-
schaftsgrad." Ähnliches sagt Ingeborg Bachmann: „Denn die Tatsachen, die die Welt
ausmachen — sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden."
Wo das Prinzip der Getrenntheit regiert, ist solche Annäherung verpönt. Als erkenntnis-
fördernd gilt allein die Distanz. Wir sollen erkennen, indem wir uns distanzieren, indem
wir uns die Außenwelt als ein für uns fremdes Objekt gegenüberstellen und wir uns
selbst als separate Einheit begreifen. Der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker
Morris Berman erblickt in der Trennung „die Weltsicht der Moderne: des Technolo-
gischen, des Zweckrationalen, des Logos". Das Prinzip der Getrenntheit steht in engem
Zusammenhang mit dem Prinzip der Gerichtetheit, denn nur aus der Distanz heraus ist
der zweckgerichtete Zugriff denkbar, läßt sich Wirklichkeit in Gebrauch nehmen. Mehr
noch. Die Biologin Sarah Jansen schreibt: „Nur wer sich außerhalb der Natur stellt, kann
sie auch beschädigen, verletzen und vernichten." Im Prinzip der Getrenntheit herrscht
ein Geist, der sich Mitleid, Brüderlichkeit, Arglosigkeit und Verletzbarkeit wegdenkt. Er
umgibt sich mit Instrumenten, die ihm das Du vom Leibe halten. Man denke an das
Arsenal an Meßgeräten und Apparaturen, wie es uns in der Medizin zur Verfügung steht.
Die Schriftstellerin Christa Wolf warf kürzlich in einer Arbeitsgruppe für psychosoma-
tische Medizin die Frage auf, ob dieses Arsenal vielleicht als Ausdruck eines unbewußten
Bedürfnisses des Arztes zu sehen sei, des Bedürfnisses nämlich, vor der haut- und see-
lennahen Begegnung mit dem Patienten, der Patientinzu flüchten in die scheinbar objek-
tiven Aussagen und Leistungen seiner Apparate. Wieder sind es die Maschinen, die auch
diesem Prinzip instrumenteller Vernunft in die Hände arbeiten, und wieder ist es der
Computer, der dies am perfektesten tut. Wir können mit Hilfe eines Computers Lebens-
welten bearbeiten, wir können sie sogar — wie im Kriegsfall — auslöschen, ohne daß wir
mit den Folgen unseres Tuns in Berührung kämen. Wir können mit seiner Hilfe Kontakte
zu vielen Menschen herstellen, aber wir nehmen sie nicht mehr als Menschen aus Fleisch
und Blut wahr, sondern — so der Arbeitspsychologe Walter Volpert— „als abstrakte
Partner, als Informations-Austauscher".
Neue Geistmaschine Computer
Instrumentelle Vernunft setzt auf die Maschinisierung der Realität. Menschen erhalten in
ihren Modellen maschinenhafte Züge und werden dem Modell gleich, wenn sie sich von
ihren Prinzipien leiten lassen. Der Aufstieg der instrumenteilen Vernunft knüpft sich an
die ihr eigene Perspektive des Verfügen-Wollens, mit der sie mächtigen Interessen aus
der Sphäre der Politik, der Ökono-mie, der Wissenschaft, des Militärs entgegenkommt,
mit der sie aber auch einzelnen Individuen dient, ihrem Bestreben zu verfügen: über
sich selbst und andere. Instrumentelle Vernunft ist eine Art, die Welt zu sehen und mit
ihr umzugehen. Mit der neuen Geistmaschine, dem Computer, hat diese eine Art
Chancen, sich flächendeckend auszudehnen. Wie die Fangarme eines Kraken greift die
Universalmaschine Computer nach immer mehr Lebensfeldern und zwingt sie unter ihre
Logik. Wir stoßen auf sie am Arbeitsplatz, am Bankschalter, in der Bibliothek, im Super-
markt, in der Aufnahmestation eines Krankenhauses. Die instrumentelle Vernunft hat in
der Computertechnologie ein Medium gefunden, das den gesamten Alltag zu koloni-
sieren beginnt. Verbunden mit dieser Kolonisierung ist der Triumph des Eindeutigen, des
Linearen, des Formalen und Stan-dardisierten, ist der „Verzicht auf Subjektivität zu-
gunsten gesicherter Objektivität" (Christa Wolf). Abgedrängt wird - da nur noch als
Störfall interpretierbar - das Ungebändigte, Unberechenbare, Uneindeutige, Bewegliche,
Überraschende, Zufällige, das Vielfältige und Nicht-Planbare. Das alles aber gehört zum
Leben, ist Kennzeichen lebendiger Prozesse. Wer sich ihm zu entziehen versucht, ent-
zieht sich dem Leben, und das in einer Zeit, in der es mehr denn je lebensnotwendig ist,
dem Leben verbunden zu bleiben, seine Zusammenhänge und Kreisläufe zu verstehen
und sich selbst als Teil davon, soll sich ein Weg auftun für eine andere, nicht-tötende
Art, in der Welt zu sein.
Mit der Widerständigkeit vagabundieren
Was also tun? Ein Entweder-Oder anzupeilen, erschiene mir fragwürdig, bliebe man doch
damit der imperialistischen Logik instrumenteller Vernunft verhaftet, die ihrerseits nur
richtig oder falsch, ja oder nein kennt, und außerdem: Einzelne Aspekte instrumenteller
Vernunft können auch hilfreich sein, z.B. das Abstandnehmen, wenn eigenes Wollen aus
gesellschaftlichen Zwängen herausgelöst und gegen sie behauptet werden soll. Was mir
als Ziel im Sinn ist, ist ein wechselseitiges Sich-Beeinflussen unterschiedlicher Weisen,
die Welt zu sehen und sie zu gestalten. Damit rede ich gegen ein Entweder-Oder, auch
gegen ein bloßes Nebeneinander, wofür ich spreche ist ein Drittes: ein Aneinander-
wachsen, damit sich daraus ungeahnt Neues entwickle. Voraussetzung hierfür ist, daß
den Störfällen zu ihrem Recht verholfen wird. Instrumentelle Vernunft muß sich von
ihnen in Fragestellen lassen. Wer, wenn nicht wir Frauen, wäre dazu geeignet, Sand ins
Getriebe instrumenteller Ordnung zu streuen? Als Grenzgängerinnen sind wir es gleich
zweifach: einmal, weil wir in den Kathedralen instrumenteller Vernunft ohnehin keine
gesicherten Plätze haben, die uns Untertanengeist nahelegten, und zum anderen, weil
aus unserem Lebenszusammenhang kaum wegzudenken ist, was diese Kathedralen
erschüttern könnte. Wir begegnen ihm als diejenigen, die Lebentragenund weitergeben
sowie als diejenigen, die in einer Gesellschaft mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung
dafür vorgesehen sind zu bearbeiten und zu umsorgen, was sich nicht kreuztabellieren
oder in Fakten zerlegen läßt: die psychische und physische Bedürftigkeit von Kindern,
Kranken und Alten, von gestreßten Chefs und ausgepowerten Lebensgefährten. So ver-
strickt in die Rhythmen und Wechselfälle menschlichen Lebens werden uns Fähigkeiten
abverlangt wie das Eingehen-Können auf Unbezähmbares, Sensibilität für Unvorherge-
sehenes, Sich-Öffnen für das Auf und Ab von Stimmungen, Geduld, Empfindungsbereit-
schaft für das Nicht-Sagbare, kurz: Nähe zum Nicht-Instrumentalisierbaren. Ich möchte
damit nicht einstimmen in den Ruf 'motherhood is beautiful', wie er aus dem Mütter-
manifest ertönt, weil ich auch die einengenden Aspekte dieser Nähe sehe und weil ich
fürchte, daß uns das genannte Motto zu sehr an den einen Ort Familie bindet. In einer
von instrumenteller Vernunft durchherrschten Welt gibt es für uns keinen Ort, nirgends.
Der Nachteil, eine Frau zu sein, ließe sich in einen Vorteil verkehren, wenn wir anfingen,
mit unserer Widerständigkeit herumzuvagabundieren, wenn wir in den Kathedralen
instrumenteller Vernunft, im Berufsleben, in der Welt der Politik, der Wissenschaft und
Wirtschaft überraschend und offensiv für eine Vernünftigkeit einstehen, die dort so
schnell als unsachlich, emotional, irrational abgetan wird. Das hieße, über die Forderung
nach Gleichberechtigung hinausgehen, das hieße, der alten eingeschränkten, lebensver-
neinenden Rationalität eine andere Art Denken und Sehen, eine andere Art Handeln,
eine andere Art Verantwortung entgegensetzen. Ich will konkreter werden — will bei-
spielhaft einige Möglichkeiten benennen, wie für die Anwesenheit des Nicht-Instrumen-
talisierbaren Sorge getragen werden kann.
Ein denkbarer Ansatzpunkt: die Berufswelt. Was mir als Paradebeispiel instrumenteller
Vernunft als erstes ins Auge sticht, sind die beruflichen Senkrechtstarter, meist männ-
lichen Geschlechts. Sie stehen hoch im Kurs, aber sie zahlen das für einen Preis, den die
Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt als „Einpassung in ein Leben, das in
vielerlei Hinsicht einseitig und bedürfnisfern ist, gezähmt und diszipliniert, kurz: strom-
linienförmig durchorganisiert auf das Ziel 'Leistung'!" Das ist ein Preis, der den Verzicht
auf viele Hoffnungen und Sehnsüchte, auf zwischenmenschliche Bindungen, auf Irrita-
tionen und Schmerz beinhaltet, der Abkoppelung von der Fülle des Lebens verlangt. Das
kann nicht ohne Auswirkungen auf ihre Arbeit und deren Produkte bleiben. Es besteht
das Risiko, daß unter den Bedingungen pfeilförmiger Karrieren enstandene Produkte und
Handlungen von menschlichen Bedürfnissen abheben, ja, in gefährlichen Gegensatz zu
ihnen geraten. Als Alternative schweben mir Berufsbiographien mit Brüchen vor, die
Begegnungen mit dem von der instrumentellen Vernunft Ausgesperrten beinhalten,
Begegnungen, wie sie sich in der Kindererziehung, in der Sorge für Kranke, beim Tätig-
werden in Initiativen zur Unterstützung von Ländern der Dritten Welt oder zum Schutz
der Natur ereignen. Wo wir Frauen an der Einstellung von Arbeitskräften mitwirken,
könnten wir darauf drängen, solche Brüche als berufsqualifizierende Merkmale zu
werten. Laufbahnregelungen müßten sich dem anpassen z.B. durch Wegfall von Alters-
grenzen, die gerade Frauen—etwa nach einem späten Hochschulstudium — den Weg in
den Beruf versperren.
Gesprächsnetze durch die Institute
Ein anderer Ansatzpunkt: die computerisierte Bearbeitung von Wirklichkeit. Eine Mathe-
matikerin, die computergestützte Tests für medizinische Zwecke entwickelt und durch
führt, klagte in einer Gesprächsrunde über die von ihr geforderte verkürzende Realität-
ssicht, die nur Meßbares erfasse, den ganzen Menschen aber außer acht ließe. Wieder-
holt habe sie in ihrem Arbeitsteam Unbehagen geäußert über diese unzureichende Per-
spektive, die zu falschen Schlüssen verleite. Aber — was sei das schon. Ich denke, das
Benennen des Ausgegrenzten wirkt bereits subversiv. Wollten mehr Mathematikerinnen
ihrem Beispiel folgen, so könnte dies eine Tendenz erschüttern, wie sie nicht nur in der
Medizin, sondern auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen anzutreffen ist: die Tendenz,
nur das für real zu halten, was sich messen, in Zahlen transformieren und verrechnen
läßt. Gegen die Macht dieser Tendenz etwas zu behaupten, was man nicht in Tabellen
und Kurven, ja, oft nicht einmal in Worte zu fassen kriegt, kostet Mut. Er hat Aussicht zu
gedeihen, wo es Frauen gelingt, sich ihrer Verlustwahrnehmungen wechselseitig zu ver-
sichern, so zu vergleichen, sich überihre Konsequenzen klarzuwerden sowie die Anwen-
dung ausgeblendeter Sicht- und Denkweisen auf die zu bearbeitenden Fragen und
Themen zu diskutieren. Was es dazu braucht, sind Gesprächsnetze, die sich spinnweb-
artig durch die Institute, Abteilungen, Tagungen, Berufsorganisationen und Stadtviertel
ziehen, die heute hier und morgen dort den Zweifel an der instrumentellen Vernunft
schüren und sich beliebig erweitern lassen.
Die Stärke des Widerspruchs liegt in seiner Unberechenbarkeit. Nicht die traditionellen
organisierten Formen von Gegenmacht vermögen gegen die instrumenteile Vernunft
etwas auszurichten, sie funktionieren nach den gleichen Gesetzen und tragen deshalb zu
ihrer Verstärkung bei; geschwächt wird die instrumentelle Vernunft am ehesten, wenn
sie es mit ihrem Gegenteil zu tun kriegt, mit schweifenden Gegenkräften, die durch-
drungen sind von Phantasie und auch mal von einem bißchen Subversion, Sabotage und
List (s. Christina von Braun).
Langsamkeit und Vielfalt
Ein dritter Ansatzpunkt: Kindheit. Mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig betrachte ich
die Kindheit als eine Phase, in der es die unmittelbare Begegnung mit der gegenständ-
lichen und — so weit noch vorhanden — natürlichen Welt zu fördern gilt. Wer es gelernt
hat, mit einer beweglichen, schillernden Wirklichkeit umzugehen, sich von ihr vielfältig
berühren zu lassen, sich zu freuen an sinnlichen Wahrnehmungen und dahintreibenden
Phantasien, dem kann die instrumentelle Vernunft nichtso leicht etwas anhaben. Kindern
diese Kernerfahrungen zu erhalten, heißt nach Haitmut von Hentig, sie lange in einer
vieldeutigen Wirklichkeit zu lassen. Dies wäre zu bedenken, wenn wir als Mütter, Lehre-
rinnen oder Erzieherinnen die Einführung von Computern in den Schulen und bald schon
in Kindergärten mitentscheiden.
Und schließlich will ich in einem übergreifenden Sinn Verlangsamung propagieren. Die
instrumentelle Vernunft verlangt Tempo, die historische Situation, in der wir leben,
dagegen Verlangsamung. Ein Langsamer-Werden erlaubt Umwege, Vielfalt und vor allem
Fehler. Zukünftige Entwicklungen müssen fehlerfreundlich sein — der Reaktor von
Tschernobyl war es nicht.
Ich habe bereits angesprochen: Der kritische Zweifel muß sich un-berechenbare Wege
suchen, er muß sich von der eindimensionalen Logik instrumenteller Vernunft befreien,
soll er ihr wirkungsvoll entgegentreten. Ich weiß schon, daß das so einfach nicht ist. Das
Rütteln an den Kathedralen instrumenteller Vernunft ist ein riskantes Unternehmen,
denn, so Christa Wolf: „Ahnt man, ahnen wir, wie schwer, ja, wie gefährlich es sein
kann, wenn wieder Leben in die Sache kommt", wenn Bewegung entsteht, wenn Unruhe
aufkommt und Sicher-Geglaubtes ins Wanken gerät. Es läßt sich denken, wie gefährdet
die sind, die die Unruhe entfachen. Sie werden Aggressionen auf sich ziehen, Diskrimi-
nierung erfahren, Einsamkeit fühlen und vielleicht als verrückt gelten. Mir scheint,
anders ist der Fortschritt nicht zu haben.
Literatur:
Beck-Gernsheim, E. - 1985. Karriere: Wie hoch ist der Preis? - In: Allvater. E./Baethge,
M. u.a. Arbeit - 2000 - über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Hamburg, S. 132-142
Berman, M. - 1985, Wiederverzauberung der Welt - Reinbek
v. Braun, C. - 1985. Nicht ich. Frankfurt
Eissler, KR. - 1982. Die Seele des Rekruten. Zur Psychologie der US-Armee Kursbuch 67.
S.9-28
Goethe, W. - 1948, In: Beutler. E, Gedenkausgabe der Werke, Briefe. Gespräche. Bd. 26,
Zürich
v. Hentig, H. - 1982. Werden wir die Sprache der Computer sprechen? Manuskript.
Bielefeld
Jansen, S. - 1984. Magie und Technik In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis.
S 69-81
Krell, B. - 1984, Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschnfl. Frankfurt/Main Seager, J.,
Olson. A. - 1986, Der Frauenatlas. Frankfurt/Main
Schachtner, Ch. - 1987. Widerspenstig, sperrig, störend - Alter und Eigen-Sinn. Diss.
München Volpert. W. 1985. Zauberlehrlinge Weinheim/ Basel
Weizenbaum, l. - 1977, Von der Macht der Computer und der Ohnmacht der Vernunft,
Frankfurt/Main
Woesler de Panafieu, Ch. - 1984. Das Konzept von Weiblichkeit als Natur- und
Maschinenkörper. In: Schaeffer-Hegel, B. + Wartmann, B. Mythos und Frau. Berlin. S.
244-268
Wolf, Ch. - 1983, Vorausserzungen einer Erzählung: Kassandra. Darmstadt
Wolf, Ch. - 1986. Krankheit und Liebesentzug. taz vom27.IO.I986
Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der
Ringvorlesung „Veränderungen in Situationen und Selbstverständnis von Frauen" im
Sommersemester '87 an der Universität München gehalten wurde. Die Autorin legt Wert
auf die Feststellung, daß ihre Analysen und Überlegungen nicht allein einsamer Denk-
arbeit entspringen, sondern sie wichtige Anregung und Unterstützung in den Gesprächen
mit ihrer Kollegin Marcsi Rerrich und den Frauen der Gruppe „Tangente" erhielt.