Download - Die Mythen – Im Herzen der Schweiz
D I E M Y T H E N
IM HERZEN DER SCHWEIZ
Emil
Zopf
i
www.as-verlag.ch
©AS Verlag&Buchkonzept AG, Zürich 2012
Gestaltung: Urs Bolz, Zürich
Korrektorat: Pablo Egger, Speicher
Druck: B&K Offsetdruck GmbH, Ottersweier
Einband: Josef Spinner Großbuchbinderei GmbH, Ottersweier
ISBN 978-3-909111-96-1
«Seit Jahrzehnten zufriedene Kunden mit dem
Mythen-Bergseil.» So pries die 1865 gegründete Seilerei
Louis Wirz in Ibach 1952 ihre Hanfseile an.
Neben dem Vorwort:
Die Mythen hoch über dem Vierwaldstättersee.
Mit etwas Fantasie erkennt man eine Herzform.
Über dem Vorwort:
Phantasievolle Ansicht der Mythen mit Fünf-Franzen-
kapelle in Ibach. Johann Ulrich Bury (1802–1870).
L’Avenue de Schwyz vers le Mythen. Aquatinta koloriert.
28,6 x 22,3 cm. Mitte 19. Jahrhundert.
Neben dem Inhaltsverzeichnis:
Nordaufstieg am Grossen Mythen, Blick zum Kleinen
Mythen und zum Haggenspitz (rechts).
DIE MYTHENIM HERZEN DER SCHWEIZ
Herausgegeben vonEmil Zopfi
Texte:Daniel Annen,Willy auf der Maur, Xaver Büeler,Christine Doerfel, Georg Hoffmann, Fritz Ineichen,Franz Schenker, Hans Steinegger, Theo Weber,
Viktor Weibel, Christa Zopfi, Emil Zopfi
Fotos:Robert Bösch
weitere von Josef Bettschart, Marcel Dettling, Christine Doerfel,Simone Gloor, Ernst Immoos, Urs Lötscher,
Marco Volken und Vereinzelte
BERGMONOGRAFIE18
Die Mythen sind nicht zu übersehen, sie bilden
eine der bekanntesten Gebirgsformationen der
Schweiz. Maiestätisch überragen die Spitzen
des Kleinen und des Grossen Mythen* die um-
liegenden Voralpenhöhen – in Sagen erscheinen
sie als versteinertes Königspaar, flankiert von
zwei Mönchen mit spitzen Kapuzen.
Gegen dreissigtausend Menschen nehmen jedes
Jahr den gut gesicherten Mythenweg mit den
47 Kehren unter die Füsse – Bergwanderer und
Bergläufer, Familien mit Kindern, Schulklassen,
Senioren und Feriengäste. Der Aufstieg durch
hellen Kalkfels und vorbei an dem rötlichen
Gestein des Rotnollens ist eindrücklich, auf dem
Gipfel empfängt einen der Duft von Kaffee und
frischen Nussgipfeln aus dem Gipfelhaus. Der
Tiefblick nach Schwyz und auf den Vierwald-
städtersee, die Sicht in die Glarner und Inner-
schweizer Berge und hinaus ins Tiefland ist
überwältigend. Man nennt den Grossen Mythen
auch das «Matterhorn der Wanderer».Wer
einmal oben war, kehrt immer wieder dorthin.
Einige schaffen es über hundert Mal – im Jahr!
Andere ziehen die einsamen, aber anspruchs-
vollen Wege vor, den Schafweg mit dem legen-
dären Nollenbrünneli oder den klassischen
Nordgrat auf den Haggenspitz und den Kleinen
Mythen. Kletterer haben Routen in allen
Schwierigkeitsgraden durch die hellgrauen
Felswände erschlossen, die durchwegs alpinen
Charakter aufweisen.
Mit etwas Fantasie erkennt man in der bei
Künstlern beliebten Ansicht von Westen eine
Herzform. Auch in der Geschichte des Landes
kann man die Mythen als «Herz der Schweiz»
bezeichnen, gehören sie doch zum Grundbesitz
der Genossame Schwyz. Die Genossame der
Innerschweiz stehen am Ursprung der Eid-
genossenschaft – dass die Mythen im Zentrum
des Wandgemäldes im Nationalratssaal erschei-
nen, zeigt ihre hohe Symbolkraft. Die Mythen
gehören zum Mythos der Schweiz.
Blättert man durchs Gästebuch des Gipfel-
hauses, so wird klar, dass nicht nur Schweizerin-
nen und Schweizer die Mythen in ihr Herz
geschlossen haben. In den Einträgen schwär-
men Menschen in allen Sprachen der Welt vom
Gipfelerlebnis, das sie mit eigener Muskelkraft
und auch etwas Mut erreicht haben. Man
spürt, wie beglückt sie sind von der einzig-
artigen Aura des Ortes hoch über dem Land.
Die Mythen sind Teil der Geschichte der
Schweiz, sie haben aber auch ihre eigene fas-
zinierende Geschichte. Geschrieben haben sie
unter anderem die Mythenfreunde mit ihrem
unermüdlichen, anstrengenden und freiwilligen
Einsatz für den Unterhalt des Weges und des
Gipfelhauses – und das seit 150 Jahren.
Im Herzen der Schweiz
* Die Mythen werden im heutigen Sprachgebrauch meist in männlicher Form bezeichnet, also Grosser Mythen undKleiner Mythen, so auch in den Landeskarten des Bundesamts für Landestopografie. Früher war die weibliche Form häufiger,also die Grosse Mythen. Albert Heim schreibt Panorama von der Grosse Mythe, auch Hugo Müller verwendet diese weiblicheForm im ersten Mythenführer. Auch Gross Mythen und Chli Mythen kommt vor, zum Beispiel im Schwyzer Namenbuch.Je nach Vorliebe der Autorinnen und Autoren verwenden wir im vorliegenen Buch unterschiedliche Formen.
Inhalt
13 Mythen – Mythos und Marke
14 Die Mythen am Ursprung der Schweiz:«Hier ist der Anfang der Eidgenossenschaft»
20 Die Namenwelt um die Mythen: Über Mitun,Haggen, Nollen, Gspaa und Bann (Viktor Weibel)
25 Die Mythen im Reich der Sagen: Drachen, Frevler,Geister und Venediger (Hans Steinegger)
32 Mit den Mythen werben: Eine starke Marke
35 Mythen – Spuren der Geschichte
36 Das goldene Zeitalter der Mythen: «UnterAnstrengung Angst und Gefahr die Spitze erreicht»
40 Die Familie Escher von der Linth und die Mythen:«Die beynahe ganz kahlen Felsenpyramiden»
43 Georg Hoffmann: «Über Nacht in Berggeisterund Kobolde verwandelt»
46 Das Kloster Einsiedeln und die Mythen:«Pater Mytherich», «Dr. Buck» und anderebergbegeisterte Benediktiner
52 Kriegerisches rund um die Mythen: «Zwischenden Mythen von den Franzosen erschossen»
58 Alte Wege und Übergänge im Mythengebiet:Auf den Spuren von Pilgernden, Kriegstruppen,Gelehrten und Hirtinnen (Christine Doerfel)
65 Mythen – 150 Jahre Gipfelglück für Wanderer
66 Die Geschichte von Mythenweg und Gipfelhaus.Hunderfünfzig Jahre auf und ab
70 Dominik Thaddey (1830–1908), Baumeisterdes Mythenwegs: Vom wandernden Orgelmannzum Bauunternehmer
71 Ingenieur Josef Bettschart (1843–1900),engagierter Förderer der Mythengesellschaft:Der erste Mythenfotograf
78 Jürg Lacher,Wegchef am Grossen Mythen:«Ich bin der Mann mit dem Rechen»
88 Burkhard Eggenberger, Pächter des Mythenhauses:Der schwindelfreie Gipfelwirt
89 Der Hunderterclub: «Hier oben ist man nie allein»
91 Mythen – Die Dolo-Mythen der Kletterer
92 Klettergeschichte der Schwyzer Hausberge:Mythen, Fakten und Legenden (Xaver Büeler)
103 Hugo Müller (1883–1961), Autor des erstenMythenführers: «Die prächtige Berggestalt dergrossen Mythe lieb gewinnen»
104 Franz Anderrüthi, Pionier des Extremkletterns:«Ich habe damals nur fürs Bergsteigen gelebt»
105 Willy Auf der Maur (1928–2005): «Harmonieist das A und O der Bergsteigerei»
106 Xaver Büeler: Im Licht der Abendsonne
109 Xaver Büeler, Sportkletterpionier an den Mythenund Direktor der Hochschule Luzern – Wirtschaft:«Klettern ist ein ideales Feld, um Kompetenzenzu entwickeln»
110 Emil Zopfi: Über alle vier Gipfel
114 Frauen am Männerberg: «Sie fürchteten,Frauen könnten besser klettern»
117 Schweizer Alpen-Club, Sektionen Mythenund Einsiedeln: «Symbol des Beständigen undUnvergänglichen»
121 Mythen – verehrt von Künstlern und Dichtern
122 Die Mythen in der Literatur: «UngeheureNaturpyramiden» (Daniel Annen)
134 Albert Heim: «Das beste Panorama, das jemalsgezeichnet und gedruckt wurde»
139 Mythen – Lebensraum für Mensch und Tier
140 Grund und Boden:Wem gehören die Mythen?
143 Fritz Ineichen: Klingende, singende Wandam Grossen Mythen
144 Robert Suter, Senn auf Zwüschet Mythen:Eine Oase der Ruhe
148 Geologische Exkursion zu den Mythen: «Zwei Fels-klötze auf einem Kissen aus Flysch» (Franz Schenker)
155 Der Staatswald ob Schwyz: Hundert JahreSchutz und Pflege (Theo Weber)
160 Willy auf der Maur: Von Füchsen, Mythengämsenund kletternden Geissböcken
162 Schwester Maria Baptista, Einsiedlerin am Fussder Mythen: «In der Stille der Natur Gott nahe sein»(Christa Zopfi)
Anhang
164 Mythen Chronologie
166 Tipps und Trips
170 Literatur und Quellen
171 Bildnachweis
173 Dank
14
Wenn unser Parlament in Bern
tagt, haben die Nationalräte und
-rätinnen stets die Mythen im Blick.
Nicht von ungefähr. Im Gründungs-
mythos der Schweiz haben sie ihren
festen Platz.
Hohes Felsenufer des Vierwaldstättersees,
Schwyz gegenüber. Der See macht eine
Bucht ins Land, eine Hütte ist unweit dem
Ufer, Fischerknabe fährt sich in einem
Kahn. Über den See hinweg sieht man die
grünen Matten, Dörfer und Höfe von
Schwyz im hellen Sonnenschein liegen.
Zur Linken des Zuschauers zeigen sich die
Spitzen des Haken, mit Wolken umgeben;
zur Rechten im fernen Hintergrund sieht
man die Eisgebirge.
So lautet die Regieanweisung Friedrich
Schillers für den ersten Akt seines Dramas
«Wilhelm Tell», das er 1804 veröffentlicht
hat. Mit dem Tell hat er den Gründungs-
mythos der Eidgenossenschaft festge-
schrieben. Mit den «Spitzen des Haken»
sind die Mythen gemeint, die man damals
so nannte. Es ist dieser Blick aus der Ge-
gend des Rütli über den Urnersee zu den
markanten Felszacken über Schwyz, wie
er in vielen Gemälden dargestellt ist,
unter anderem im grossen Wandbild im
Nationalratssaal oder in der Halle des
Bahnhofs Basel. Man kann die Mythen also
durchaus als «Herz der Schweiz» bezeich-
nen, sie dominieren die Landschaft, in
der sich die Gründung der Urschweiz
vollzogen haben soll.
Moderne Historiker haben den Rütlischwur
zwar längst ins Reich der Mythen verbannt
– gewiss ist jedoch, dass die Idee der Ge-
nossenschaft in dieser voralpinen Gegend
schon lange vor 1291 Fuss gefasst hatte.
Eine Urkunde erwähnt die Oberallmeind-
korporation von Schwyz bereits im Jahr
1114. Die direkte Demokratie der Schweiz
hat also hier ihre Wurzeln; die gemeinsame
Nutzung der Wälder, der Alpweiden, der
Allmenden war ein Sinn des Zusammen-
schlusses, aber auch die Abwehr äusserer
Feinde. Morgarten ist nicht weit.
Die Mythen am Ursprung der Schweiz
«Hier ist der Anfang der Eidgenossenschaft»
Der Festzug auf dem
Marktplatz in Schwyz 1891.
Holzstich. 17,5 x 18,5 cm.
Urschweiz. Blick über den
Vierwaldstättersee in die
Schwyzer- und Glarnerberge
(rechte Seite oben).
Der Schwyzer Panner-
herr auf der Brunnensäule
am Hauptplatz. Figur von
Johann Baptist Babel,
1768 (rechte Seite unten).
38
Anstrengung, Angst und Gefahr die Spitze
erreicht. Eine herrliche Aussicht, die in
einigen Beziehungen noch diejenige des
Rigikulm übertrifft, war die Belohnung,
die jedoch, ich gestehe es aufrichtig, aus
Furcht vor dem schauerlichen Hinunterstei-
gen nicht so von mir beachtet und genos-
sen werden konnte, wie sie es verdient.»
Er nahm sich vor, «niemals mehr aus blos-
ser Liebhaberey zum Bergsteigen in solche
Gefahr mich zu begeben», kehrte jedoch
einige Jahre später zurück, ausgerüstet mit
«Bergschuhen, Alpenstock, Barometer und
Hammer», doch dieses Mal fehlte ihm die
Zeit und auch ein guter Führer, sodass er
wohl nicht ohne Erleichterung verzichtete.
Dafür besuchte er auf dem Rückweg im
Kloster Einsiedeln das Mineralienkabinett
des «Herrn Pater Meinrad, Professor
der Physik», auch ein grosser Freund und
Erforscher der Mythen.
Während «politischer Zerwürfnisse»
ein neues Kreuz
Hirzel-Eschers Bericht beweist, dass der
Berg zu Beginn des 19. Jahrhunderts regel-
mässig von Einheimischen besucht wurde.
1822 (nach anderen Quellen 1828) errich-
tete Johann Schuler wiederum ein Gipfel-
kreuz, zehn Fuss hoch, oder ersetzte das
alte. Auch diesen Zeitpunkt könnte man
religiös-politisch deuten, erstarkte doch in
jenen Jahren die Regenerationsbewegung
in der Schweiz, die in mehreren Kantonen
zu liberalen Verfassungen führte. Schwyz
und die Innerschweiz hielten jedoch an der
alten Ordnung fest, die erst im Sonder-
bundskrieg von 1847 stürzte.
Johann Schuler muss ein mutiger Mann
gewesen sein, blieb doch sein Begleiter
zurück bei jener Kluft, die man mit einem
Sprung überwinden musste. «An dieser
Stelle war es auch, wo der eine von den
zwei Männern, welche die Balken zu dem
auf der Spitze stehenden Kreuze hinauf-
tragen sollten, zurückblieb, mit der Er-
klärung, es schaudere ihm, an diesen Ab-
gründen hin weiter zu gehen; worauf der
andere, beherztere, nachdem er den einen
Balken glücklich auf die Höhe gebracht
hatte, wieder zurückkam, und den andern
auch noch dazu abholte.»
Während der «politischen Zerwürfnisse
im Kanton Schwyz» führte Schuler 1833
zwei Berner Offiziere auf den Gipfel. Durch
ihr Fernrohr habe er die Zeit auf dem
Zifferblatt des Zürcher Fraumünsters ab-
lesen können, behauptete er.
Hoffmanns Erzählungen
Nicht minder mutig war Schulers Sohn,
ebenfalls ein Johann oder Johannes. Er
begleitete am 13. September 1839 Georg
Rudolf Hoffmann (1784–1847), Kaufmann
aus Basel, auf den Gipfel, der darüber in
seinem Buch «Wanderungen in der Glet-
scherwelt» berichtete. Den jungen Schuler
lobt er über alle Massen: «Mein Führer
war ein junger, aber untersetzter und breit-
schultriger Mann, in dessen muskelkräf-
tigem Körper eine aufrichtige Herzensgüte
wohnte. Am Fuss der Mythen aufgewach-
sen, kennt er alle Theile derselben so ge-
nau, dass er auch dann nicht in Verlegen-
heit geräth, wenn ihn der dichteste Nebel
an den überall schroffen Abhängen jener
Berge überfällt.» Im Jahr zuvor habe er das
Gipfelkreuz seines Vaters ersetzt.
Hoffmanns ausführliche Schilderung ist,
wie alle alpinen Besteigungsberichte jener
Zeit, sehr farbig und reich an Details.
Er zitiert auch Hirzel-Escher und nahm die-
selbe Route, die ungefähr dem heutigen
Weg folgt. Zur Verwunderung des Gastes
riet der Führer, für das letzte Stück die
Alpenstöcke zurückzulassen, er selber zog
sogar seine Schuhe aus und kletterte durch
ziemlich grasiges Gelände voran, vorbei
«Die schönen Schweizer
Haken»: Hans Conrad Escher
von der Linth. Ansicht
vom Etzel gegen Einsidlen,
27. August 1795. Feder,
Aquarell. 9,8 x 18,8 cm
(oben).
«4000 Fuss hohe Obelis-
ken»: Hans Conrad Escher
von der Linth, Ansicht
der kleinen Mythen vom
Wirtshaus des Passes
über den Schwytzerhaken,
9. Juni 1805. Feder, Aqua-
rell. 22,7 x 50,1 cm (unten).
39
an weidenden Ziegen. Die berüchtigte
Kluft, offenbar am Ende des Rotnollens
gelegen, fand Hoffmann dann nicht so
schwierig, bloss eine schmale Felsrinne.
Wie er überhaupt Hirzel-Eschers Bericht
etwas übertrieben fand. Er bemerkte je-
doch, dass im Frühjahr an jener Stelle ein
Wildheuer tausend Fuss abgestürzt sei.
Er sei «ausgeglitscht», als er ein Bündel
überwintertes Wildheu zusammenraffen
und aufs Seil legen wollte.
Dann nahte «der Augenblick der Erlösung»,
der Gipfel.Während er die herrliche Rund-
sicht mit einem Fernrohr inspizierte, er-
zählte ihm Schuler einige Anekdoten. Etwa
von einer Gruppe von jungen Leuten aus
46
Vom Kloster Einsiedeln aus sind die
Spitzen der Mythen nicht zu sehen,
doch besitzen sie seit Jahrhunderten
eine grosse Anziehungskraft für
naturliebende und forschende Patres
und Klosterschüler. Einer von ihnen
bezahlte seine Bergbegeisterung mit
dem Leben.
Pater Meinrad Kälin (1789–1858) war
zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer der
Ersten, der den Grossen Mythen bestieg,
lange bevor ein Weg hinaufführte. Der hoch-
gelehrte Naturforscher, Physiker, Chemiker,
Geologe und Anthropologe stammte aus
einer Familie, die offenbar der Wissenschaft
und der Aufklärung nahestand, war doch
sein Vater zur Zeit der Helvetik Bürger-
präsident von Einsiedeln – «sonst ein
rechtschaffener Mann», heisst es im Pro-
fessbuch des Klosters.
Als Wissenschaftler war Pater Meinrad Mit-
glied der Naturforschenden Gesellschaft
von Zürich, wo er mit anderen Alpenfor-
schern zusammentraf wie dem Botaniker,
Arzt und späteren Zürcher Regierungsrat
Johannes Hegetschweiler (1789–1839).
Der Tödipionier Hegetschweiler war oft im
Kloster zu Gast, wo er Patienten betreute.
Neben Naturwissenschaften lehrte Pater
Meinrad auch Philosophie, Theologie und
Französisch, unternahm Reisen nach Rom
und Florenz, schrieb wissenschaftliche
Arbeiten, Reiseberichte und Gedichte –
er war ein echter Universalgelehrter. Von
seinen Exkursionen brachte er Fundstücke
mit für die naturwissenschaftliche Samm-
lung des Klosters. Als der radikale Politiker
Hans Caspar Hirzel-Escher 1816 den
grossen Mythen bestieg, besuchte er auf
dem Rückweg das Mineralienkabinett
des «Herrn Pater Meinrad, Professor der
Physik».
1835 wurde Pater Meinrad als Professor
ans neue Kloster St. Stephan nach Augs-
burg berufen und wurde später dessen
Prior. Im fortgeschrittenen Alter kehrte
er nach Einsiedeln zurück, lehrte weiter
naturwissenschaftliche Fächer, litt jedoch
während der letzten Lebensjahre unter
Demenz.
Benediktiner schreiben Alpingeschichte
Benediktiner spielten bei der Erforschung
der Alpen eine bedeutende Rolle. Allen vor-
an der legendäre Pater Placidus Spescha
(1752–1833) aus der Surselva, dem einige
Erstbesteigungen gelangen, unter anderem
Das Kloster Einsiedeln und die Mythen
«Pater Mytherich», «Dr. Buck» und anderebergbegeisterte Benediktiner
Naturforscher und Mythen-
pionier Pater Meinrad Kälin,
rechts des Globus sitzend,
im Kreis von Professoren
der Stiftsschule Einsiedeln.
Auszug aus einer hand-
kolorierten Fotografie
des Einsiedler Fotografen
Schönbächler aus dem
Jahr 1856.
Vorangehende Doppelseite:
Auf dem Vorgipfel des
Kleinen Mythen. Nebelmeer
über dem Vierwaldstätter-
see. Links Stoos und Fron-
alpstock, dahinter die
Urner- und Unterwaldner-
Berge, am Horizont die
Berner Alpen. Rechts die
Spitze von Rigi Hohfluh,
der Rücken von Rigi
Scheidegg, am Horizont
der Pilatus.
47
die Erstbesteigung des Rheinwaldhorns im
Revolutionsjahr 1789. Die Erstbesteigung
des Tödi von Süden her blieb Pater Spescha
allerdings versagt, wie auch Hegetschwei-
ler, der den Aufstieg von Norden versuchte.
Der aufgeklärte Geist Spescha galt als
Franzosenfreund und wurde von den Öster-
reichern eine Zeitlang nach Innsbruck
deportiert. Auch die Benediktinerabtei von
Engelberg spielte in der Alpingeschichte
eine Rolle, waren es doch ein Käser, ein
Pförtner, ein Pferdeknecht und ein Schmied
des Klosters, denen 1744 die Erstbestei-
gung des ersten Gletscherbergs der Alpen,
des Titlis, gelang.
«Pater Mytherich» nannte man Pater
Moritz Egger (1846–1931), der aus
St. Fiden bei St. Gallen stammte. Gegen
siebzig Mal habe der begeisterte Natur-
freund den Grossen Mythen bestiegen,
heisst es im Professbuch. Allerdings
gab es zu seiner Zeit schon den Weg und
die Gipfelhütte, wo sich Pater Moritz sicher
gern einen Gipfelschoppen genehmigte.
Als sogenannter Spätmesser war er mit
dem Kopieren «der alten unleserlichen
Tagebücher des Dekan Michael Schlageter»
beschäftigt; die Wanderungen waren
sicher ein Ausgleich zur sitzenden Tätig-
keit in der Schreibstube. Pater Moritz
betreute auch die meteorologische Station
in Einsiedeln.
Das Kloster Einsiedeln
vor romantisch über-
höhter Bergkulisse mit
den Mythen. Gabriel Lory
(1763–1840). Vue de
l’Abbaye d’Einsiedlen et
de ses Environs, dans le
Canton de Schweitz.
Umrissradierung, koloriert.
44,2 x 30,6 cm. Um 1790.
«Pater Mytherich» Moritz
Egger bestieg den Grossen
Mythen gegen siebzig Mal
(unten).
65
Vom Blutgericht des Alten Landes Schwyz
soll ein Landsmann wegen eines angeblich
begangenen Verbrechens zum Tode ver-
uteilt worden sein. Seine fortwährend
dargebrachten Unschuldsbeteuerungen
bewirkten die Ansetzung des sogenannten
Gottesgerichtes. Um durch höhere Macht,
durch Gottesurteil, sich vom angedichteten
Vergehen zu reinigen, wurde dem Delin-
quenten unter Erlass der Todesstrafe
auferlegt, die Ersteigung des damals un-
bezwingbar, wild und schreckhaft aus-
schauenden Mythen zu machen. Kehre er
heil vom Gipfel des Berges ins Tal zurück,
sei seine Unschuld durch göttliche Vor-
sehung bewiesen, verliere er dabei das
Leben durch Absturz oder sonst wie,
so habe ihn Gott in gerechter Weise für
sein Vergehen bestraft. Der dem Schicksal
preisgegebene Landsgenosse soll den
Gipfel bezwungen und wohlbehalten
zurückgekehrt sein. (Schwyzer Sagen)
Mythen – 150 JahreGipfelglück für Wanderer
Sicher zum Gipfel – und wieder
ins Tal. Freiwillige vom Verein
der Mythenfreunde sorgen mit
grossem Einsatz für den Unter-
halt und die Sicherung des
einzigartigen Pionierwerks
des Wandertourismus.
Man nennt den Grossen Mythen auch das «Matterhorn der Wanderer» –
denn was für Bergsteiger der Walliser Viertausender ist, ist für Bergwanderer
aus der ganzen Welt der 1898 Meter hohe Schwyzer Hausberg: ein begehrens-
wertes Gipfelziel, das aus eigener Kraft erreicht werden muss. Und das seit
anderthalb Jahrhunderten, dank der Weitsicht der Gründer der Mythen-
gesellschaft im Jahr 1863 und des unermüdlichen Einsatzes von Freiwilligen
der Mythenfreunde bis auf den heutigen Tag.
80
Der Blitz fährt der Gasleitung entlang
zum Haus und entzündet die Kellerdecke.
Wirt Albert Klein, der Ende Saison mit
Aufräumen beschäftigt ist, kann die Keller-
decke noch löschen, bevor er zur
Holzegg hinabläuft und Alarm schlägt.
Handys gibt es noch nicht. Ohne seine
Geistesgegenwart wäre das im Jahr zuvor
renovierte Gipfelhaus auch abgebrannt.
1984 schlägt der Blitz wieder zu und be-
schädigt die Toilette. 2006 beschädigt ein
heftiger Blitzschlag die Solaranlage der
neuen Hütte, verursacht einen Schaden
von 14000 Franken und reisst einen tiefen
Graben auf.
Mythenwirte leben gefährlich. Am 1. Au-
gust 2010 zieht ein gewaltiges Gewitter
über Schwyz hinweg, das Mythenkreuz
kann nicht entfacht werden, der Wirt
Burkhard Eggenberger «entkommt ganz
knapp einem Blitzschlag», heisst es in
der Chronik.
Nicht nur Gewitter verursachen immer wie-
der Schäden, neben Mythenfreunden gibt
es auch «Mythenfeinde», wie Chronik und
Presse berichten. Schon 1891 haben
böswillige Besucher ihrer Zerstörungswut
freien Lauf gelassen. 1995 schneiden Van-
dalen Absperr- und Sicherungsseile durch
und reissen Orientierungstafeln weg. Im
Oktober 1996 verstopfen Unbekannte den
WC-Spülkasten, sodass das gesammelte
Regenwasser abfliesst. Nachschub muss in
dem trockenen Monat der Heli hochfliegen.
Am 4. November 2002 wird ins Gipfelhaus
eingebrochen. Die Berge sind Teil der
Gesellschaft, und was sich im Tal abspielt,
findet seinen Niederschlag auf den Gipfeln
– im negativen wie auch im positiven Sinn.
Einst liessen die Bergsteiger ihren Müll ein-
fach liegen, heute tragen ihn die meisten
im Rucksack zu Tal, oder er wird, wie vom
Grossen Mythen, per Helikopter fachge-
recht entsorgt.
Berg bleibt Berg. Auch die
beste Sicherung schützt
nicht bei fahrlässigem Ver-
halten (links).
Keiner zu klein. Der Mythen-
weg bietet auch Kindern ein
unvergessliches Bergerleb-
nis – vorausgesetzt, sie
werden gut betreut (rechts).
Ziel der Totalsanierung des
Mythenwegs von 2005 war
eine professionelle Sicherung
mit einheitlichem, rostfreiem
Material (rechte Seite oben).
Sind viele Menschen un-
terwegs, ist doppelte Vor-
sicht geboten – vor allem
auch im Abstieg. Unacht-
sames Gehen, Stolpern, ein
Rutscher, ein ausgelöster
Stein können böse Folgen
haben (rechte Seite unten).
94
der Blick aus dem Talkessel von Schwyz
ungetrübte Kletterfreuden in hellem Jura-
kalk. Der Umstand, dass sich die Kletter-
freuden etwas ungleich verteilen zwischen
der Nordost- und der Südwestseite des
Berges, hat denn auch immer wieder zu
Neckereien zwischen Schwyzern und Ein-
siedlern Anlass gegeben.
Für die Pioniere des Bergsteigens an den
Mythen stand aber nicht der Tanz in der
Senkrechten im Vordergrund, sondern die
schlichte Suche nach einemWeg auf die –
nach damaligem Verständnis – nahezu
unbezwingbaren Gipfel. Es darf angenom-
men werden, dass der Vorgipfel des Chli
Mythen über seine Westflanke, die Glätti,
schon seit Jahrhunderten von Jägern und
Sennen der umliegenden Alpen gelegentlich
Besuch erhalten hat. Das Haggenspitzli
wie auch der Hauptgipfel des Chli Mythen
dürften ebenfalls schon lange vor der im
Jahr 1907 in der Zeitschrift Alpina erwähn-
ten Überschreitung bestiegen worden sein.
Der Grosse Mythen hingegen scheint
erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts
erstiegen worden zu sein, denn erst für
diese Periode finden sich Hinweise auf
eine Besteigung.
Bei den frühen Besteigungen wird aus den
Berichten nicht immer klar, ob sie über den
heute üblichenWeg von der Holzegg über
das Chalberstöckli oder über die föhren-
bewachsene Chrüzplangg (III) erfolgten,
die im Volksmund «Affegartä» genannt
wird. Die Pioniere erfüllte das Bewusstsein,
die Grenzen des Menschenmöglichen er-
reicht, wenn nicht sogar überschritten zu
haben. Ihre Berichte machen denn auch
ausgiebig Gebrauch von einem Vokabular,
das einem mittelalterlichen Heldenepos
wohl angestanden wäre.
Suche nach den einfachsten Linien
Mit der ersten bekanntenWinterbesteigung
durch E. Huber im Jahr 1887 beginnt eine
neue Periode: nicht mehr allein der Gipfel
ist das Ziel, sondern die Suche nach neuen
alpinistischen Herausforderungen. Es dauert
aber nochmals dreissig Jahre, bis die starke
Luzerner Seilschaft Casimir Grüter, Karl
Moor und Josef Schobinger sich in die
abweisendeWestwand vorwagt und mit
demWyss Wändli (III+) einen bis heute
sehr beliebten Kletterpfad findet. 1910 ist
es wiederum Casimir Grüter, diesmal in
Begleitung von Hermann Schärli, dem mit
dem Gelb Wändli (IV+) klettertechnisch
eine deutliche Steigerung gelingt. Für diese
Pionierphase ebenfalls erwähnenswert sind
die Erkletterung des markanten Adlerspitzli
über den Südgrat (III+) durch Walter Hess
und A. Pfister (1920) sowie der Nordgrat
Mythen-Überschreitung.Cyrill Bösch im Kamin vordem Gipfel des KleinenMythen, Blick zurück zumHaggenspitz.
Der Fels am Nordgrat desHaggenspitz ist nicht immerfest. Die Kletterei verlangtVorsicht und starke Nerven(rechte Seite oben).Gedenktafeln erinnernda und dort an verunglückteBergsteiger (unten links).Kein Gelände für Hallen-kletterer. Auch Wurzelnund Grasbüschel dienengelegentlich als Griff(unten rechts).
100
Freiklettern bis zum neunten Grad
Mitte der 70er-Jahre erfolgte – wieder
einmal – ein Generationenwechsel an den
Mythen. Zum aktivsten Erschliesser der
folgenden Periode wird Thedy Ulrich, der
sein Gesellenstück zusammen mit seinem
Bruder Alois am Grossen Mythen abliefert.
Der Hampeissiweg (1974, VI-/A1) durch-
zieht die Westwand im zentralen Bereich
und gilt bis heute als eine der lohnendsten
Klettereien mittlerer Schwierigkeit an den
Mythen. Beide Brüder ereilte allzu früh der
Bergtod, Alois am Chli Mythen, Thedy an
der Dent d’Hérens. Josef «Sebi» Gwerder
ereilte dieses Schicksal bei einemWächten-
bruch am Fiescherhorn bereits in jungen
Jahren, kurz nachdem er zusammen mit
Hans Nievergelt in der Westwand durch
Sebi’s Route (1977, VI-/A2) sein ausser-
ordentliches Talent unter Beweis gestellt
hatte. Thedy Ulrich machte sich auch
verdient durch die Erschliessung von
lohnenden einfacheren Routen, etwa der
Wiss Nollen-Westwand (IV+/A0) und des
«Couches Rouges»-Pfeilers (V-) zusammen
mit Stefan Kessler im Jahr 1979, oder des
Geissstock-Risspfeilers (V-, 1982) zusammen
mit Röbi Kessler. Vom Hampeissiweg abge-
sehen, finden auch diese Routen nur mehr
wenige Wiederholer, weil sie dem Zeitgeist
nicht entsprechen. Das ist bedauerlich,
denn sie bieten schöne Klettereien in un-
vergleichlicher Ambiance hoch über dem
Talkessel von Schwyz. Zudem wurden viele
dieser Klassiker inzwischen saniert, sodass
sie alpinen Genusskletterern guten Gewis-
sens empfohlen werden können.
Genuss der etwas anspruchsvolleren Art
versprechen auch einige Neutouren, die
in den letzten zwanzig Jahren entstanden
sind. Die Schauplätze heissen – einmal
mehr – Geissstock-Südostwand,Westwand
des Adlerspitzli sowie Zwüschet-Mythen-
Wand. Trotz ihrer teilweise ausserordentli-
chen Schwierigkeiten werden diese Routen
– von zwei Ausnahmen abgesehen – kaum
je wiederholt, was teilweise mit der Fels-
qualität oder der mangelhaften Absiche-
rung zu erklären ist. Beide Einschränkungen
treffen auf die hier abschliessend erwähn-
ten Routen nicht zu, an deren Erschliessung
ich persönlich beteiligt war.
Anfang der 90er-Jahre widerhallen die
Wände der Mythen erstmals vom Rattern
einer Bohrmaschine. Der Mauerläufer
(1991, VIII+), von Thomas Betschart und mir
erstbegangen, darf als erste Freikletterroute
modernen Zuschnitts an den Mythen be-
Kletterer im Hampeissi-
weg in der Westwand des
Grossen Mythen. Eine
Erstbegehung der später
verunglückten Schwyzer
Kletterer Thedy und
Alois Ulrich.
Kurz vor dem Gipfel des
Adlerspitzli, der Felsnadel
vor der Südwand des Geiss-
stocks. Der Südgrat ist eine
oft begangene, leichtere
Kletterroute (unten).
Selbst im Winter kann
man am Geissstock im
T-Shirt klettern. Bergführer
Kurt Müller im Extrem-
klassiker «Mauerläufer»
(rechte Seite).
110110
Vier Gipfel sind es, die wir überschreiten
an diesem Tag. Dabei meint man doch, die
Mythen hätten nur zwei: den Grossen und
den Kleinen. So ist das halt in den Bergen,
dieWahrheit zeigt sich oft erst vor Ort.Auch
bei den Churfirsten ist es so. Alle Welt
spricht von sieben, doch zählt man nach, so
sind es wesentlich mehr. Aber lassen wir
das, der Morgen ist kühl, die Sonne gefiltert
durch Nebelfetzen, der Wetterbericht ist
ausnahmsweise gut, das Gras noch nass.
Das gibt zu denken. Einsteigen oder warten,
bis die Sonne die Flanken trocknet? Mein
Freund, Begleiter und Fotograf Marco
Volken geht weiter, während wir über Poli-
tik reden. Und unversehens sind wir schon
im steilen Gelände, wo sich Gras und Fels-
stufen mischen, heikel halt, aber ich trage
meine neuen Bergschuhe, blau und extra für
die Mythen gekauft.Vor zwei Jahren. Es gibt
Projekte, die schiebt man so vor sich her.
Mal ist es zu heiss, mal zu kalt, mal zu nass,
oder dann hat man anderes vor oder der
Freund keine Zeit.Was immer. Zu nass ist es
ohnehin in diesem Sommer, trocknen wird
das die Sonne nicht mehr an diesem Tag.
Also klettern wir, schön vorsichtig Schritt
um Schritt, den Nordgrat des Haggenspitz
hoch.Mein Freund warnt vor losem Gestein,
also noch vorsichtiger als vorsichtig, vorbei
an neuen Stand- und Zwischenhaken. Wir
suchen das Müllerkamin, das möchten wir
fotografieren. Vielleicht sind wir ja schon
vorbei? Haben es rechts liegenlassen, sind
zu weit links geraten – etwa wegen der po-
litischen Gespräche zuvor? Weiter also,
zurücksteigen macht keinen Sinn. Höher
oben finden wir dann doch den Kamin, et-
was rechts der Kante hinter einem Fels-
zacken. Benannt ist er nach Hugo Müller,
Arzt in Wohlen und Verfasser des ersten
Mythenführers, ein Bijou unter den Berg-
und Kletterführern, wie man sie heute nicht
mehr findet. Müller hat viel Erschliessungs-
arbeit geleistet an den Mythen und am Sal-
bitschijen, wo es auch einen Müllerkamin
gibt, am Salbitzahn. Jeder, der den Salbit-
Süd klettert, stemmt sich darin hoch. Hier
dagegen ist es eine eher zahme Sache, ein
Griff über einen Klemmblock, schon vorbei.
Halt, Fototermin, ein bisschen posieren und
Blick in die Tiefe; ich bin doch froh, haben
wir für die paar Meter das Seil ausgepackt,
es ist ja alles etwas abgespeckt und die Pro-
filsohlen sind nass und dreckig.
Bald schon der Gipfel des Haggenspitz,
ein Hightech-Gipfelkreuz mit Hightech-
Gipfelbuchbüchse. Einschreiben bitte! Weit
fällt das Auge ins Land, hätte man wohl
früher geschrieben, aber das Auge fällt ja
nicht und schon gar nicht weit. Einsiedeln,
Rothenthurm, Schwyz. Schlachtfelder von
einst, mal gegen die Franzosen, mal gegen
das eigene Militär, welches das Hochmoor
zumWaffenplatz ausbauen wollte. Und ein-
mal, im Zweiten Weltkrieg, da marschierte
ein ganzes Regiment auf, auch Eidgenossen,
gegen aufmüpfige Bauern und Schwarz-
händler von Steinen SZ. Der sogenannte
Steiner Aufstand. Wir befinden uns also
im Herzen der Schweiz und der Schweizer-
geschichte. Und noch eine schwarze Ge-
schichte: Ich zeige Marco die kleine Kapelle
tief unten bei der Haggenegg, wo die
Einsiedler Patres in der Franzosenzeit ihre
Schwarze Madonna vergruben. Unter den
Benediktinern gab es auch tüchtige Klette-
rer; einer von ihnen stürzte zwischen Hag-
genspitz und Kleinem Mythen in ein Couloir
hinab zu Tode.
Auf dem Gipfel des Kleinen sitzt ein einsa-
mer Mann an der Sonne, grüsst, wünscht
guten Abstieg. Weiter geht es über einen
Zackengrat und dann auf einen Gipfel ohne
Kreuz, das gibt es tatsächlich noch, aber
eine Tafel ist doch angeschraubt und weist
Über alle vier Gipfel
Gipfel des Haggenspitz mit neuem
Kreuz aus Aluminiumrohren und
Steinmann (oben).
Die letzten Felsstufen am Nordgrat
vor dem Gipfel des Haggenspitz
(rechte Seite).