Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft
Funktionsbegriff und SymbolbegriffErnst Cassirers erkenntniskritische Theorie des Begriffs
Inaugural - Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Doktors der Philosophie
vorgelegt von
WEON-SOOK LEE
aus TAEGU, Republik Korea
Referent: Prof. Dr. Wolfgang Bonsiepen
Korreferent: Prof. Dr. Helmut Pulte
Bochum, den April 2009
Tag der mündlichen Prüfung: 22. 07. 2009
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................................. 1
2
1. Der Grundgedanke der Erkenntniskritik Cassirers ........................................................... 8
1.1. Die Erkenntniskritik bei Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ................. 8
1.2. Cohens Substanzbegriff ............................................................................................. 22
1.3. Die Einheit des Bewusstseins bei Cohen und Cassirer .............................................. 29
1.3.1. Cohens Einheit des Bewusstseins ....................................................................... 29
1.3.2. Das Bewusstsein der Relation bei Cassirer ........................................................ 33
1.4. Cassirers Interpretation der ‚Ideenlehre‘ Platons ........................................................ 38
1.4.1. Ideenlehre ........................................................................................................... 38
1.4.2. Seelenlehre ........................................................................................................ 43
1.4.3. Systematik der Ideen .......................................................................................... 46
1.5. Die ‚Stufen der Objektivierung‘ der Erkenntniskritik ................................................ 49
2. Die Theorie des Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ............................... 57
2.1. Die Theorie der Begriffsbildung ................................................................................. 57
2.1.1. Cassirers Kritik der traditionellen Abstraktionstheorie ..................................... 57
2.1.2. Die Reihenbildung und der Funktionsbegriff ..................................................... 67
2.2. Die Bedeutung des Funktionsbegriffs ..........................................................................74
2.2.1. Der Funktionsbegriff und der Zahlbegriff .......................................................... 74
2.2.2. Der Funktionsbegriff und die Relationslogik ..................................................... 83
2.2.3. Der Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff .......................................................... 85
2.3. Kritik an Cassirers Begriffstheorie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ............ 95
2.3.1. Kritik Hönigswalds: Subsumption oder Reihenbildung? .................................. 96
2.3.2. Kritik von Heymans: Gattungsbegriffe und ‚Merkmalslehre‘ ......................... 107
2.3.3. Cassirers Replik auf Heymans: Bedeutungsfunktion ....................................... 111
3. Die Theorie des Begriffs in Philosophie der symbolischen Formen ........................... 115
3.1. Wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Form ............................................... 119
3.2. Wissenschaftliches und mythisches Bewusstsein ............................................... 130
3.3. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnnis .................................... 137
3.3.1. Der natürliche Weltbegriff und seine Grenze ................................................. 137
3.3.2. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis .............................. 142
3.3.3. Gegenstand als funktionale Einheit ................................................................. 147
3.3.4. Die Korrelation des Allgemeinen und Besonderen .......................................... 155
3.3.5. Das erste und zweite Allgemeine bei Lotze ..................................................... 160
3.4. Zeichen als Bedeutungsträger ................................................................................... 167
3.4.1. Zeichen im natürlichen Weltbegriff ................................................................. 167
3.4.2. Zeichen und die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung .............................. 172
3.4.3. Ordnungszeichen im wissenschaftlichen Begriff ............................................. 177
3.5. Wissenschaftliche Begriffe als intellektuelle Symbole ............................................ 181
3.5.1. Sinnliche Symbole und intellektuelle Symbole ............................................... 181
3.5.2. Symbolfunktion und symbolische Prägnanz .................................................... 185
3.5.2.1. Symbolische Formung und das Wahrnehmungsurteil ............................... 188
3.5.2.2. Symbolische Prägnanz und wissenschaftliche Erkenntnis ......................... 193
3.6. Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer ................................ 204
3.6.1. Marc-Wogaus Kritik an Cassirers Symbolbegriff ............................................ 204
3.6.1.1. Marc-Wogaus Kritik .................................................................................. 205
3.6.1.2. Cassirers Replik: Identitätslogik vs. Relationslogik .................................. 215
3.6.2. Intension und Extension ................................................................................... 219
3.6.2.1. Bestimmungskomplexe und Relationsbestimmung bei Marc-Wogau ....... 223
3.6.2.2. Cassirers Kritik an Marc-Wogau ............................................................... 230
3.6.2.3. Marc-Wogaus Replik auf Cassirers Bemerkungen ................................... 235
3
4. Cassirers symbolische Form der Begriffsbildung ....................................................... 238
4.1. Ergebnis der Untersuchung: Funktionsbegriff und Symbolbegriff .......................... 238
4.2. Die Zeichentheorie und das ‚Bedeutungsproblem‘ bei Cassirer .............................. 245
4.3. Cassirers Invariantengedanke der Wahrnehmung und des Begriffs ......................... 254
4.3.1. Cassirers Invariantengedanke und Kleins Erlanger Programm ........................ 254
4.3.2. Die Wahrnehmungskonstanten und die Invarianten des Begriffs .................... 262
4.4. Cassirers philosophische Systematik und ‚Basisphänomene‘ .................................. 267
4
Resümee .......................................................................................................................... 275
5
Bibliographie ................................................................................................................... 279
1
Einleitung
Wenn man die Entwicklung von Ernst Cassirers Werken, angefangen mit Substanzbegriff
und Funktionsbegriff [SuF] bis hin zur Philosophie der symbolischen Formen [PsF]
verfolgt, lässt sich feststellen, dass der Grundgedanke seiner Erkenntnistheorie nicht nur
von den Kant-Interpretationen oder ‚Kant-Auslegungen‘ seiner Lehrer Hermann Cohen und
Paul Natorp, die Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus, sondern auch von
Platons ‚Ideenlehre‘1 und Gottfried Wilhelm Leibnizens Funktionsbegriff beeinflusst ist.
Das liegt vor allem daran, dass sowohl die Leibniz-Forschung2 als auch die Platon-
Forschung von Cohen und Natorp wesentliche Bestandteile der Arbeit des kritischen
Idealismus der Marburger Schule sind.3
Die gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begonnene philosophische Bewegung, die
unter dem Motto ‚Zurück zu Kant‘ stand, fand ihre Resonanz in der
Universitätsphilosophie. Als Cassirer sein Studium begann, war der Neukantianismus an
vielen deutschen Universitäten dominant.4 1899 promovierte Cassirer5 in Marburg bei
Cohen und Natorp mit der Studie Descartes’ Kritik der mathematischen und
naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Seine Preisschrift Leibniz’ System in seinen
wissenschaftlichen Grundlagen von 1902 repräsentiert die kritische Philosophie der
Marburger Schule. Cassirer vertritt jene Rezeption von Kant, welche die Philosophie Kants
als Philosophie der Wissenschaft versteht, greift den charakteristischen Leitgedanken
dieser Schule auf und macht ihn zum Ausgangspunkt seiner kritischen Erkenntnistheorie.
Einen Einblick in Cassirers Kant-Interpretation gewinnt man über sein Werk Kants Leben
1 Vgl. Cassirer, PdG. Cassirers Platon-Interpretation zeigt deutlich, dass er in ihr weitestgehend denStandpunkt, den seine Lehrer innerhalb der Platonforschung eingenommen hatten, übernommen hat; vgl.auch Cassirer, ZLS besonders S. 204-206.
2 Zur Leibniz-Forschung der Marburger Schule vgl. Helmut Holzhey, Die Leibniz-Rezeption im›Neukantianismus‹ der Marburger Schule. In: A. Heinekamp (Hg.) Beiträge zur Wirkungs- undRezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Studia Leibnitiana, Supplementa XXVI, 1986, S.289-305; Zur Rezeption Cassirers von Descartes und Leibniz vgl. Ihmig (1997a): Kap. II. CassirersRezeption von Descartes und Leibniz; Ferrari weist auch auf den Einfluss von Leibniz auf die PsF hin vgl.Ferrari (1988b); vgl. auch Pätzold (1995).
3 Vgl. Lembeck (1994). 4 Man könnte unter Neukantianismus sechs Schulen nennen: die von Hermann von Helmholtz (1821-1894)
geleitete physiologische Schule, die realistische Schule mit Alois Riehl (1844-1924), die Badische Schulemit Wilhelm Windelband (1848-1915), die relativistische Schule mit Georg Simmel (1858-1918), dieSchule von Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und Neonard Nelson (1882-1927), die Marburger Schulevon Hermann Cohen (1842-1918) und Paul Natorp (1854-1924). Aus „Neo-Kantianism“ in Ency-clopaedia Britannica, Bd. 16, 1967, pp. 213-214.
5 Vgl. Gawronsky (1958), p. 6. Als Cassirer 1894 in Berlin eine Kant-Vorlesung besuchte, erfuhr er durchden Privatdozenten Georg Simmel von Cohen und entschied sich nach Marburg zu gehen. Simmel habegesagt : „Undoubtedly the best books on Kant are written by Herman Cohen; but I must confess that I donot understand them.“
2
und Lehre. Obgleich Cassirer selbst später seinen eigenen Weg beschreitet, bleibt er im
Grundgedanken der Erkenntnistheorie stets ein Marburger Neukantianer.
Innerhalb der Erkenntnistheorie liegt Cassirers Augenmerk vor allem auf der Theorie des
Begriffs. Er stellt sie im Zusammenhang mit der Begriffslogik in den Mittelpunkt seiner
Erkenntnistheorie, und in ihr tritt sein erkenntnistheoretischer Grundgedanke am
deutlichsten hervor. Als Cassirer im Jahre 1910 das Werk SuF veröffentlichte, wurde es
wie zum Beispiel von Johannes Paulsen6 nur als ein Produkt der Marburger Schule
angesehen, dem man keine große Aufmerksamkeit schenkte. Hans Blumenberg spricht bei
der Entgegennahme des Kuno Fischer-Preises der Universität Heidelberg im Juli 1974
zutreffenderweise davon, dass das Werk SuF zu Unrecht vergessen worden ist.7 Man kann
annehmen, das ‚Vergessen‘ resultiere zum Teil daraus, dass sich Cassirer von 1933 an bis
zu seinem Ableben 1945 im Exil aufhielt. Anders als in Deutschland wurde Cassirer in den
USA rezipiert, wo im Jahre 1949 in New York The Philosophy of Ernst Cassirer8 als
sechster Band der Reihe The Library of Living Philosophers erschien, obwohl Cassirer dies
nicht mehr erleben durfte. In diesem Band hebt Kurt Lewin in seinem Essay Cassirer’s
Philosophy of Science and the Social Sciences das Werk SuF mit folgenden Worten hervor:
„To me these decades of rapid scientific growth of psychology and of the social sciences in
general have provided test after test for the correctness of most of the ideas on science and
scientific development expressed in his Substanzbegriff und Funktionsbegriff.“9
In SuF geht es um die Theorie der Begriffsbildung in den mathematischen
Naturwissenschaften, wobei der ‚Funktionsbegriff‘ sowohl die Prinzipien des
mathematischen Funktionsbegriffs als auch Cassirers grundlegende Gedanken zur
erkenntnistheoretischen Begriffslogik ausdrückt. Ein Grundproblem seiner Begriffstheorie,
die er in SuF aufstellt, ist das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem
beziehungsweise von Inhalt und Umfang des Begriffs.
Cassirers Darlegungen seiner Begriffstheorie stützen sich auf die geschichtliche
Entwicklung der Wissenschaften und auf die systematische Darstellung ihres Gehalts
anhand großer Forscher. Von der Beobachtung der wissenschaftlichen Entwicklung Ende
6 Paulsen (1912).7 Blumenberg (1974), S. 457: „Das erste große Thema Cassirers war also ein monumentaler historischer
Nachruf, aber gerade darin kein Mitvollzug der Abwertung: durch ihre Geschichte, durch denumfassenden und abschließenden Blick auf sie, wird die Erkenntnistheorie zum Leitfaden einergeschichtstheoretischen Reflexion. Das zweite große Thema Cassirers war die Theorie derBegriffsbildung in dem noch heute, wie ich meine, unausgeschöpften und weithin zu Unrecht vergessenenWerk von 1910 »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«. ,Vergessen‘ ist ein Stichwort, wenn manWirkung und Wirkungslosigkeit Cassirers in ihren überraschenden Proportionen betrachtet.“
8 Schilpp (1958). 9 Lewin (1958), p. 272.
3
des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ausgehend ergibt sich aber für Cassirer ein
geändertes Bild der traditionellen formalen Logik. Einerseits scheint für ihn die Arbeit, die
man für die Formulierung der Grundlehren der formalen Logik Jahrhunderte lang geleistet
hat, mehr und mehr abzubröckeln, andererseits erkennt er neu entstehende Problemfelder,
die sich besonders aus der Berührung mit der allgemeinen mathematischen
Mannigfaltigkeitslehre ergeben. Weil sich die mathematische Mannigfaltigkeitslehre bis
ins Gebiet der Methodik der Naturerkenntnis hinein erstrecke, verlange der systematische
Zusammenhang, in welchen die Logik auf diese Weise einbezogen werde, eine erneute
Prüfung. So versucht er die Probleme der traditionellen formalen Logik an bestimmten
Wendepunkten in der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft zu erhellen. Die
traditionelle formale Logik hat seit Aristoteles mit der Subsumption von Inhalten, mit dem
Ordnungsrang zweier Begriffe, also Art und Gattung zu tun. In der aristotelischen Logik
bedeutet ‚Wirklichkeit‘ die Wirklichkeit der ontologischen Substanz, das heißt, dass die
Wirklichkeit als die Verhältnisse des Seienden nachzubilden ist. Diese substanzielle
Weltansicht veränderte sich nach Cassirer seit der Renaissance in der Philosophie wie in
der Wissenschaft und man richtete sich gegen die ‚absoluten Substanzen‘. In der
Geschichte der Philosophie zeigt sich aber, dass die Stellungnahmen gegen den
aristotelischen ‚Begriffsrealismus‘, trotz allen mannigfachen Wandlungen in der Logik,
wirkungslos geblieben sind (vgl. SuF, 11). Cassirer ist der Ansicht, dass die herkömmliche
logische Lehre vom Begriff den modernen Wissenschaften nicht mehr genügt, da sie sich
als unzureichend erweist, die neuen Probleme der modernen Wissenschaft vollständig zu
bezeichnen. Darüber hinaus geht er davon aus, dass der sachliche Gehalt der
mathematischen Erkenntnisse auf eine Grundform des Begriffs zurückgewiesen habe, die
in der traditionellen formalen Logik nicht zu klarer Bezeichnung und Anerkennung
gekommen sei. So hat ihn diese Überzeugung, zu der er vor allem durch seine
Untersuchungen über den Reihenbegriff und den ‚Grenzbegriff‘ in der mathematischen
Erkenntnis gelangt war, zu einer erneuten Analyse der Prinzipien der Begriffsbildung
veranlasst. Cassirer stellt hierbei als Kriterien die Geltung und Anwendbarkeit des Begriffs
auf und betont, dass eine eindeutige Bestimmung des Begriffs für die „konkret-
wissenschaftliche Begriffsbildung“ (SuF, 7) an die Stelle der Unbestimmtheit und
Vieldeutigkeit gesetzt werden muss.
Nach Cassirer gibt es zwei Haupttypen der Betrachtungsweise in den
erkenntnistheoretischen Strömungen der Philosophie; der eine richtet den Anfang der
theoretischen Fragestellung auf den Wirklichkeitsbegriff und der andere auf den
4
Wahrheitsbegriff (vgl. ET I, 3; PsF I, 28 f.; SuF, 167 f.). Das heißt, dieser sucht von der
Geltung bestimmter Kriterien der Wahrheit aus die letzte Bedeutung der gegenständlichen
Urteile zu ermitteln, während jener das ‚Dasein‘ der Dinge als das feste Datum gelten lässt
und von diesem aus versucht, den Sinn und Inhalt des Wahrheitsbegriffs zu ermitteln.
Diese beiden laufen in der Geschichte parallel und werden als Gegensätze gegenüber
gestellt. Sie sollen Cassirers Ansicht nach nicht als Widerstreitende, sondern unter dem
Netz der Korrelation betrachtet werden. Denn die Frage nach der Wahrheit einer
Erkenntnis war, wie die Geschichte zeigt, mit der nach der „Übereinstimmung mit dem
Gegenstande“ verknüpft, und damit wurde das Problem zu einer Diallele (ET I, 5).10
Der erkenntnistheoretische Grundgedanke in SuF ist später in der PsF durch den Begriff
des Symbols erhalten geblieben, der wiederum zu einem der zentralen Begriffe seines
späteren philosophischen Denkens wird. Cassirer selbst hat gesehen, dass seine
Bestimmung des Funktionsbegriffs für die Wissenschaft außerhalb der Naturwissenschaft
nicht ohne Einschränkung anwendbar ist. Ihm ist klar geworden, dass „von der besonderen
Form der mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe“ kein
Rückschluss auf die allgemeine Form des Begriffs überhaupt gezogen werden kann (ZTB,
130). Er weist darauf hin, dass das Ergebnis der Untersuchungen in SuF, die sich im
Wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen
Denkens bezogen hatten, nicht für eine methodische Grundlegung der
Geisteswissenschaften ausreichen würde. So unternimmt er in der PsF eine prinzipielle
Erweiterung der Erkenntnistheorie (vgl. PsF I, Vorwort; PsF III, Vorrede) und der damit
verbundenen Begriffstheorie, in der das logische Problem des Begriffs mit dem
allgemeinen ‚Bedeutungsproblem‘ verknüpft ist.
Karl-Norbert Ihmig führt an, dass das Interesse an Cassirers PsF und dem sich darauf
gründenden Versuch einer Kulturphilosophie in den letzten Jahren gewachsen sei, aber
seine Wissenschaftsphilosophie hingegen wenig Beachtung gefunden habe. Dies sei
deshalb erstaunlich, da „die Wurzeln sowohl seiner Idee einer Philosophie der
symbolischen Formen als auch der Begriff der symbolischen Form selbst in seiner
Auseinandersetzung mit wissenschaftsphilosophischen Problemen zu suchen“ seien.11 Die
Mathematik und die mathematischen Naturwissenschaften seien für Cassirer, auch in
seinem Selbstverständis als Neukantianer, stets ein Orientierungspunkt seines Schaffens
geblieben. Berücksichtigt man, dass Cassirer selbst die PsF als eine „kritische Revision“
(ZTB, 130) des Werkes SuF bezeichnet und darauf hinweist, dass es sich bei der PsF um
10 Vgl. Kant (W1990), S. 102. KrV, A 57/ B 82.11 Ihmig (2001), Einleitung, S. 1.
5
eine Erweiterung der Begriffstheorie von seinem Werk SuF handelt, ist man geneigt der
Behauptung Ihmigs zuzustimmen.
Cassirer hebt später noch im Werk Determinismus und Indeterminismus in der modernen
Physik, das ungefähr 27 Jahre nach SuF erschien, seine unveränderte ‚Grundanschauung‘
hervor:
„Was die Grundanschauung betrifft, gemäss der ich selbst diese Fragen zubehandeln suche, so hat sie sich gegenüber meiner Schrift »Substanzbegriff undFunktionsbegriff« (1910) in den eigentlich wesentlichen Zügen nicht geändert.Ich glaube auch heute noch diese Anschauung aufrecht erhalten zu können; jaich glaube, sie auf Grund der Entwicklung der modernen Physik schärferformulieren und besser begründen zu können, als es früher der Fall war.“ (DuI,Vorrede, VII)
Man darf daraus den Schluss ziehen, dass sich der Grundgedanke aus SuF ohne
wesentliche Änderung wie ein roter Faden durch seine ganze Gedankenwelt zieht und der
Funktionsbegriff zu einem Grundstein in der Cassirerschen philosophischen Architektonik
wird.
Die Bedeutungslehre in PsF, in der Cassirer seine Begriffstheorie hinreichend begründen
und vollständig aufbauen zu können glaubt (vgl. ZTB, 130), wird durch eine Theorie des
Zeichens bestimmt. Die Funktion des Zeichens in der Dimension des Mythos hat nur
Ausdrucksfunktion, das heißt, im Mythos kann das Zeichen nur als Ausdruck dienen, und
in der Dimension der Sprache hat das Zeichen Darstellungsfunktion. Dieses Zeichen wird
dann in der Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis zu einem reinen
‚Bedeutungszeichen‘, das „alles bloß-Ausdrücksmäßige, alles anschaulich-Repräsentative
von sich abgestreift“ hat (PsF III, 334), wodurch der wissenschaftliche Begriff
gekennzeichet ist.
Cassirer schreibt im ersten Band der PsF über Die Sprache, den Bereich oder die
Dimension der Darstellungsfunktion, und im zweiten Band über Das mythische Denken,
den Bereich der Ausdrucksfunktion in den symbolischen Formen. Im dritten Band
Phänomenologie der Erkenntnis werden dann diese Bereiche unter dem Gesichtspunkt der
Erkenntniskritik ausgeführt, und die Reihenfolge von Sprache und Mythos wird getauscht.
Hier wird zuerst der Bereich der Ausdrucksfunktion, die für die Ausdruckswelt als Mythos
steht, und dann der Bereich der Darstellungsfunktion, die für die anschauliche Welt steht,
erläutert. Als dritter Teil folgen seine Ausführungen zum Bereich der Bedeutungsfunktion,
die für die wissenschaftliche Erkenntnis steht. Diese drei Dimensionen sollen als
6
‚Stufenfolge der Objektivierung‘ oder ‚Objektivitätsstufen‘ seiner ‚Phänomenologie der
Erkenntnis‘ und somit der Stufenfolge der Begriffsbildung dienen. Die Bereiche der
Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion stehen in der Begriffstheorie unter dem
Bereich des ‚natürlichen Weltbegriffs‘ und der Bereich der Bedeutungsfunktion unter dem
des wissenschaftlichen Weltbegriffs. Die Objektivitätsstufen der Begriffsbildung verlaufen
hier von der Ausdrucksfunktion über die Darstellungsfunktion zur Bedeutungsfunktion.
Es gibt Kritiker, die Cassirer vorwerfen, dass seine Theorie in PsF großenteils nicht
argumentativ gerechtfertigt ist oder dass man über seine Philosophie letztlich im Unklaren
bleibt.12 Versucht man dennoch eine Konvergenz seines philosophischen Systems zu
finden, muss man den Kerngedanken Cassirers in der Theorie des Begriffs suchen.13 Die
vorliegende Arbeit versucht daher das verwobene Cassirersche Gedankennetz der Begriffe
Funktion, Substanz und Symbol zu entflechten, auch wenn dies nicht ganz gelingen sollte.
Sie macht seine Begriffstheorie, die er in SuF und später im dritten Band der PsF aufstellt,
zum Gegenstand der Untersuchung. Bei der Analyse der Begriffstheorie geht es nicht um
die Analyse einzelner Texte, auch wenn sie nicht selten Verwendung findet, sondern um
die Herausarbeitung des wesentlichen Gedankengangs Cassirers. In dieser Arbeit wird
daher rein induktiv vorangegangen. Es wird der Frage nachgegangen, was der
Funktionsbegriff in seiner Begriffstheorie und somit auch innerhalb seiner
Erkenntnistheorie bedeutet. Darüber hinaus wird versucht, den Symbolbegriff in seiner
Philosophie der symbolischen Formen zu klären.14 Dabei soll auch untersucht werden, in
welcher Beziehung die beiden Begriffe Funktion und Symbol stehen. Die Klärung der
Bedeutung des Funktionsbegriffs und des Symbolbegriffs soll letztlich zum besseren
Verständnis der Cassirerschen Gedankenwelt beitragen. Am Ende der vorliegenden Arbeit
soll sich auch zeigen, ob sich die Kritik, die bisher an Cassirers Begriffstheorie geübt
wurde, wirklich rechtfertigen lässt.
Es gibt verschiedene Interpretationen von Cassirers Philosophie, die sich mit den frühen
erkenntnistheoretischen Werken und seiner PsF beschäftigen. In einigen wird der Frage
nachgegangen, „ob das Aufkommen der Philosophie der symbolischen Formen und die
Hinwendung zu einer umfassenden ›Kulturphilosophie‹ zugleich einen Bruch mit seiner
Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie bedeutet. Erscheint die Erkenntnistheorie
dann nur noch »als etwas Sekundäres« und wird sie der Frage nach dem Verstehen von
12 Vgl. Kaegi (1995), S. 73; vgl. auch Orth (1988), S. 47.13 Vgl. Stätter (1952).14 Man bezeichnet Cassirers Philosophie in Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie der
symbolischen Formen.
7
Sinn untergeordnet?“,15 wie zum Beispiel John Michael Krois sich fragt. Demgegenüber
gibt es Autoren, die, wie Massimo Ferrari, einer „durchgehende[n] Linie“ gewahr werden,
die „vom Problem des Begriffs zu dem des Symbols“ führt,16 oder die, wie Wolfgang
Marx, die Philosophie der symbolischen Formen „als eine Erweiterung von Cassirers
Erkenntnistheorie“ ansehen.17
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die
Philosophie der symbolischen Formen Cassirers einen Bruch mit seiner Erkenntnistheorie
und Wissenschaftsphilosophie bedeutet oder eine Erweiterung derselben ist; eine Antwort
darauf soll über die Untersuchung der Begriffstheorie in SuF und PsF gefunden werden.
Der Aufbau dieser Arbeit gestaltet sich wie folgt: Im Kapitel 1 wird auf die Hintergründe
von Cassirers Erkenntniskritik eingegangen. Die Untersuchung der Begriffstheorie in SuF,
die im Kapitel 2 folgt, soll dann dazu dienen, im Kapitel 3 ein besseres Verständnis von
der philosophischen Entwicklung Cassirers und dem späteren Symbolbegriff in PsF zu
erlangen. Das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, das in SuF
als Hauptproblem der Begriffstheorie angesehen wird, wird in PsF wieder aufgenommen
und von Cassirer durch die Theorie des Symbolbegriffs aufzulösen versucht. Im Kapitel 4
werden dann zunächst die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und im
Anschluss daran sich daraus ergebende Probleme noch weiter vertieft.
15 Ihmig (1997a), S. 18; vgl. Die Einleitung von Krois in Cassirer, STS, S. XVII.16 Ferrari (1988a), S. 124; vgl. Ihmig (1997a), S. 18.17 Ihmig (1997a), S. 18. Ihmig verweist auf Marx (1975), S. 312 f.
8
1. Der Grundgedanke der Erkenntniskritik Cassirers
1.1. Die Erkenntniskritik bei Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff
Cohens Werk Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (1883) hat auf
die damaligen Mitglieder der Marburger Schule einen so großen Einfluss ausgeübt, dass
diese es „ohne größere Modifikationen zu ihrer eigenen systematischen Grundansicht
gemacht“ haben.18 Cohen entwickelte seine Thesen aus diesem Werk in der Logik der
reinen Erkenntnis (1902) systematisch weiter, so kommt jenem für die Entwicklung des
Cohenschen Systems eine besondere Bedeutung zu.19
In seiner Abhandlung Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte widmet
Cohen sich hauptsächlich der Frage nach der Realität. Realität bedeutet für ihn letztlich,
dass „nicht von dem bewußtseinsmäßigen Stellvertreter der Realität, der Empfindung, als
Korrelat eines Reizes, auszugehen ist, sondern vom wissenschaftlichen Gegenstand, vom
Gegenstand der wissenschaftlichen Erfahrung, wie er in der mathematischen
Naturwissenschaft konstituiert“ wird.20 Daher ist das Ziel seiner Untersuchung die
Rechtmäßigkeit, die Bedingungen der Gültigkeit der Erkenntnis, zu ergründen und mit
Hilfe dieser die Prinzipien der Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis zu suchen.21 Dabei
steht das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Denken als Korrelation im Vordergrund:
„Es soll das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Denken als ,Korrelation‘bestimmt werden; die Funktion jedes einzelnen Erkenntnisbestandteils läßt sichnicht ohne diese Verbundenheit denken. Nicht als ,psychologischeGrundbeschaffenheiten des Geistes‘, sondern allein als Bedingungen sollenSinnlichkeit und Denken genommen werden, ‚aus deren Wirksamkeit undGeltung die der wissenschaftlichen Erkenntnis sich deduzieren läßt‘.“22
Cohen ist, wie W. Marx hervorhebt, der Auffassung, dass die isolierte Analyse der
Erkenntnisfaktoren nicht die korrelative Verbundenheit erreicht, „welche die Wissenschaft
konstituiert und hinsichtlich deren ihr logischer Wert überhaupt erst bestimmbar wird“.
Nur das „Zusammenfungieren von Sinnlichkeit und Denken ist als Bedingung der
18 Flach (1968), S. 32.19 Vgl. SuF, S. 130 f. Cassirer betont in SuF, dass „C o h e n s Logik der reinen Erkenntnis [...] den Gedanken
des Ursprungs, auf dem sie sich aufbaut, an den Prinzipien der I n f i n i t e s i ma l r e c h n u n g entwickelt[hat].“; vgl. auch Marx (1977), S. 24.
20 Schulthess (1984), S. 7.21 Vgl. Flach (1968), S. 12.22 Marx (1977), S. 23.
9
Funktionsbestimmung der einzelnen Faktoren anzusetzen, es ist die Bedingung der
Möglichkeit der Bestimmung der Bestimmtheit von Wissenschaft und ihren
Gegenständen“.23
Die Erkenntniskritik ist nach Cohen „nicht schlechthin auf den erkennenden Geist
gerichtet, sondern auf den Inhalt der E rkenn tn i s s “.24 Er will die Erkenntnis „nicht als
eine Art und Weise des Bewusstseins, sondern als ein Fa c tum , welches in der
Wi s se ns cha f t sich vollzogen hat und auf gege benen G rund l agen sich zu
vollziehen fortfährt“ verstehen.25 Die Erkenntnis richtet sich auf den Tatbestand der
Wissenschaft und prüft ihre Geltungswerte sowie ihre Rechtsquellen. Daher will Cohen
anstelle der Erkenntnistheorie den Ausdruck der ‚Erkenntniskritik‘ setzen.26
Er interpretiert Kants Kritik der Vernunft als eine Kritik der Erkenntnis oder der
Wissenschaft: „Die Kritik entdeckt das Reine in der Vernunft, insofern sie die
Bedingungen der Gewissheit entdeckt, auf denen die Erkenntniss als Wissenschaft
beruht.“27 Damit unterscheidet die Erkenntniskritik den Kantischen Idealismus von anderen
Idealismen, und sie bestimmt und verdeutlicht den Gehalt des Transzendentalen. Der
Idealismus überhaupt löst die Dinge in Erscheinungen und Ideen auf; die „Erkenntniskritik
hingegen zerlegt die Wissenschaft auf die V ora us se t zunge n und Gr und lagen , die in
ihren Ge se t ze n und für dieselben angenommen werden.“28 Der erkenntniskritische
Idealismus hat also wissenschaftliche Tatsachen zu seinen Objekten und bildet dank des
Begriffs des Transzendentalen die wissenschaftliche Form des Idealismus:
„Denn das Tr anss c enden ta l e bezieht sich auf die Möglichkeit einerErkenntniss, welcher der Werth a p r i o r i s c h e r oder wissenschaftlicherGeltung zukommt. Die E r kenn tn i s k r i t i k ist somit gleichbedeutend mit dert r a n ss cende n ta l en Logik; denn ihre Aufgabe ist die Entdeckung dersyn the t i s chen Gr undsä t z e oder derjenigen G rund la gen desErkennens, auf welchen die Wi s s ens c ha f t sich aufbaut, und von derenGeltung sie abhängt.“ 29
Cohen macht aber den Unterschied zu Kant deutlich, indem er konstatiert: „Während Kant
selbst aber noch mit psychologischen Vorstellungen und Zumuthungen kämpft, so
ob jec t i v i r en wir in seinem Sinne, in dem Geist und Buchstaben des kritischen Systems
23 Marx (1977), S. 24.24 Cohen (1883), S. 10.25 Cohen (1883), S. 5.26 Vgl. Cohen (1883), S. 6.27 Cohen (1883), S. 6.28 Cohen (1883), S. 6.29 Cohen (1883), S. 7.
10
die V er nun f t in der Wis s ens cha f t .“30
Cassirer übernimmt diesen Terminus Erkenntniskritik von Cohen und der Nebentitel von
SuF, Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, lässt vermuten, dass
Cassirer anknüpfend an Cohen, die Grundfragen der Erkenntniskritik weiter zu untersuchen
versucht. W. Marx stellt dazu fest: „E. Cassirers ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘
kann man als Beleg dafür werten, daß die wesentlichen Einsichten der Cohenschen Logik
als einer Theorie der Wissenschaften unabhängig von der Terminologie der ‚Logik der
reinen Erkenninis‘ formulierbar sind.“31
Cohens Werk Logik der reinen Erkenntnis bildet den ersten Teil seines Systems der
Philosophie.32 In diesem Werk beschäftigt sich Cohen weiter mit dem Begriff der Realität,
der seiner Ansicht nach auf keinen Fall mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden darf.
Denn die Wirklichkeit sei eine Instanz der Empfindung und „de r En t s a t z de r
E mpf indung i s t d i e Vora uss e t z ung be i de r Re a l i t ä t de s Unend l i c h -
k l e inen“.33 Die Realität soll als Erzeugnis des reinen Denkens verstanden werden. Denn
„das Unendlichkleine wird [...] nie als reale, aktual unendlichkleine Größe verstanden, es
hat insofern kein Sein, schon gar nicht ein anschauliches [...], sondern es wird als
realisierendes Element des Denkens, das Erzeugen, Konstruieren ist, in seinem
Geltungswert für die Erkenntnis ausgelegt“.34
Es ergibt sich hieraus die Frage, was reines Denken ist. Diese Frage ziele aber, wie Helmut
Holzhey betont, nicht auf eine Definition und verlange auch nicht eine Klärung des
semantischen Feldes von ‚Denken‘. Die Frage, was Denken ist, ist „Ausdruck der
Reflexion des Denkens“.35 Das Verstehen des ‚Ursprungs‘ Cohens kann eine Antwort auf
diese Frage geben, denn er erklärt, „das Denken selbst ist das Ziel und der Gegenstand
seiner Tätigkeit“,36 und „Denke n i s t D enken de s Ur s pr ungs “.37 Die Erkenntnis
30 Cohen (1883), S. 6; vgl. Marx (1977), S. 23. Marx fasst die entscheidenden Einwände von Cohen gegenKants Theorie in zwei Punkten zusammen: „1. Eine metaphysische Deduktion der Kategorien istentbehrlich; vom Standpunkt seiner Logik aus muß man sogar sagen, daß es eine solche überhaupt nichtgeben kann. 2. Kant hat nicht genügend die Konsequenzen bedacht, die sich aus der Vorschaltung einerselbständigen Anschauungsvoraussetzung für das Denken ergeben. Die Kantische Annahme derZweistämmigkeit der menschlichen Erkenntnis hat zur Folge, daß die Theorie des Denkens bzw. der aufAnwendung hin disponierten Verstandesbegriffe sich auf eine Voraussetzung beziehen muß, für die mansich eine theoretische Entschlüsselung solange nicht denken kann, wie es keine Verbindung, sondern nurdas Nebeneinander der heterogenen Stämme gibt.“
31 Marx (1977), S. 42 f.32 Cohens philosophische Systematik wurde auf vier Teile angelegt. Der zweite Teil Ethik des reinen
Willens erschien im Jahre 1904 und 1912 der dritte Teil Ästhetik des reinen Gefühls. Der vierte Teil‚Psychologie‘ ist nicht in Buchform erschienen.
33 Cohen (1902/1914), S 128. 34 Schulthess (1984), S. 31.35 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 183.36 Cohen (1902/1914), S. 29. 37 Cohen (1902/1914), S. 36; vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 183.
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beruht nach Cohen einzig und allein auf Denken und dieses Denken „darf keinen Ursprung
haben außerhalb seiner Selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt
sein muß.“38 Die Ursprünglichkeit des Denkens macht seine Reinheit aus und der
Denkinhalt ist rein, wenn er der Denktätigkeit entspringt. Diese Reinheit des Denkens wird
jedoch dann getrübt, wenn man neben oder vor der Denktätigkeit Anschauung vermutet,
„vor allem wenn eine Empfindungsmaterie als Element oder konstitutive Bedingung des
Denkinhalts angenommen wird“.39 Dies ist ein unreiner, kein wahrhafter Inhalt. Das Reine
ist nicht inhaltlos; es „wird nicht dem Inhalt überhaupt, sondern nur dem nicht aus-
schließlich denkerzeugten Inhalt gegenübergestellt.“40 Diese Reinheit des Denkens hat nach
Cohen einen funktionalen Sinn.41 Denken bedeutet Erzeugen und Denken als Erzeugung ist
die Synthesis der Einheit.42
Karl-Heinz Lembeck weist auch darauf hin, dass Cassirers SuF diesem Grundgedanken
Cohens folgt und ihn weiterentwickelt.43 In seinem umfangreichen Werk Platon in
Marburg behandelt Lembeck ausführlich die Platon-Interpretationen von Cohen und
Natorp. Dabei wird auch deutlich, welchen Stellenwert Platon in der Marburger Schule
hatte und welche Bedeutung ihm dabei zukam. Es ist allgemein bekannt, dass Cohen und
Natorp nicht nur Kant, sondern auch Platon und Leibniz im Sinne des Marburger
Neukantianismus interpretierten. Sie interpretieren nach Lembeck die Platonische Idee als
Funktion,44 wobei Cohen, Lembeck zufolge, die Platonische Idee auf die funktionale Ebene
der zwischen Verstand und Vernunft vermittelnden Urteilskraft reduziere.45 Der statische
Ideenbegriff wird durch den dynamischen Relationsbegriff ersetzt, und die
Substanzvorstellung soll schließlich durch den Funktionsbegriff abgelöst werden. Dieser
Gedanke Cohens ist für Cassirers SuF von Bedeutung. Lembeck weist auch darauf hin,
dass der Titel des Werkes SuF schon in Natorps Platos Ideenlehre nachweisbar ist.46
38 Cohen (1902/1914), S. 13.39 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.40 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.41 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.42 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 28 f., 53 und 26.43 Lembeck (1994), S. 341: „Cassirer bezeichnet Cohens mathematik-theoretische Analysen aus IM [Das
Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte] und LrE [Logik der reinen Erkenntnis] in seinereinschlägigen Untersuchung zum Substanzbegriff und Funktionsbegriff als Höhepunkt und markantestenBeleg für die Folgerichtigkeit dieser Entwicklung.“
44 Vgl. Lembeck (1994), besonders S. 36-43, 204 f. und 341.45 Vgl. Lembeck (1994), S. 40.46 Lembeck (1994), S. 217, Lembeck zitiert Natorps Platos Ideenlehre (1903), S. 109: „Die Einheit des
geistigen Blicks, in der das Mannigfaltige der Sinne zusammengeschaut wird, das ist die »eine Idee«, vonder PLATO schwankt, ob er sie ψυχή oder wie anders nennen soll. Man muß sich hierbei erinnern, daßψυχή sehr oft bei PLATO und überhaupt in der philosophischen Sprache der Griechen als Ersatz für dasfehlende Wort eintritt, welches unserm »Bewußtsein« entspräche. Es ist sehr häufig nicht Substanz-,sondern Funktionsbegriff [...]“.
12
Nach Lembeck kann man für den gesamten Duktus des Natorpschen Platon-Verständnisses
als Schlagwort „den Begriff der Einheit, genauer den der ›synthetischen Einheit‹“
hervorheben, „der die Methodenbedeutung der Idee kennzeichnet und ihren
Gesetzescharakter umschreibt“.47 Die ‚synthetische Einheit‘ erörtert Natorp selbst in
seinem nachgelassenen Manuskript mit den Worten:
„Heiße »Synthesis« die Thesis (Setzung), in der eine Mehrheit vorgegebener,abgesehen davon logisch auseinanderliegender Setzungen in Einheit, das heißtlogischer Simultaneität gesetzt wird, so ergibt sich der Aufbau der Erkenntnis,logisch-genetisch betrachtet, als Aufbau immer höherer Synthesen auf anderen,schon vorausgesetzten, mit dem idealen Ziele einer letzten, allumspannendenSynthese, in der erst »die« Erkenntnis »des« Seins vollendet wäre. In solchemAufbau stellt dann der »Gang« der Erkenntnis sich deutlich in Doppelrichtungdar: als Gang der Vereinigung, Vereinheitlichung einerseits, der Vermannig-faltigung, Differenzierung andererseits. Diesen auf seine Gesetze zu bringen,wird die allgemeine Aufgabe der Logik, die sich konzentriert im Problem derKategorien, als der schlechthin ursprünglichen Weisen oder Richtungen ebendieser Vereinheitlichung und wieder Vermannigfaltigung.“48
Anhand dieser synthetischen Einheit der Methode entwickelt Natorp schließlich den
Schlüsselbegriff des ‚transzendentalen Bewusstseins‘, das er bereits im platonischen
Seelenbegriff glaubt vorzufinden. So sieht Natorp die Einheit des Bewusstseins als
Grundfunktion der Erkenntnis an, die in Platons Begriff der Idee enthalten ist.49 Die
Funktion, die dem Begriff der Seele beziehungsweise dem Begriff des Bewusstseins bei
Platon zukommen solle, sei demnach, die Beziehungen der Logoi untereinander auf jeweils
übergeordnete Erkenntnis-Einheiten und zuletzt die ‚gesetzliche‘ Einheit aller
Wechselbezüge überhaupt zu gewährleisten.50 Daher definiere Natorp das Bewusstsein
allgemein durch den Beziehungsbegriff.51 Dieser Gedanke des ‚transzendentalen
Bewusstseins‘ Natorps ist bei Cassirer im letzten Kapitel von SuF Zur Psychologie der
Relationen deutlich sichtbar und spielt später in PsF eine entscheidende Rolle.
Wenn es auf die Frage nach dem alten philosophischen Problem von Form und Materie
47 Lembeck (1994), S. 21648 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 90. 49 Vgl. Lembeck (1994), S. 216 f. Lembeck zitiert an dieser Stelle: „Die Begründung der Einheit des
Gegenstandes in der Einheit des Bewußtseins und zwar in der Gestalt des Gesetzes dürfte kaum alsoriginelle Entdeckung Kants bezeichnet werden. Sie ist im Prinzip schon sehr klar enthalten in PlatosBegriff der ›Idee‹.“ (Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen 1912, S. 206)
50 Vgl. Lembeck (1994), S. 217. Lembeck verweist hier auf Natorps Über Platos Ideenlehre, Berlin, 1914,S. 15.
51 Lembeck (1994), S. 217. Lembeck verweist auf Natorps Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme,Göttingen 1911, S. 81 und 164 f.; Über Platos Ideenlehre, Berlin 1914, S. 27; Allgemeine Psychologienach kritischer Methode, Tübingen 1912, S. 27.
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ankommt, ist Cassirer im gewissen Sinne doch ein Platoniker. Für ihn scheint weder der
Empirismus noch der Idealimus auf diese Frage eine Antwort geben zu können. Denn der
Empirismus kann nicht die Rolle des Denkens verleugnen und es gibt auch genauso wenig
einen logischen Idealismus, „der versuchen könnte, das ‚reine Denken‘ von der Beziehung
auf die Welt des ‚Faktischen‘ und von der Bindung an sie“ loszulösen (ZER, 27). Die
Platonische Ideenlehre verknüpft Denken und Faktum, aber, so meint Cassirer, „auch für
den Platonischen Idealismus steht der Satz fest, dass es nicht möglich sei zu denken, ohne
aus irgendeiner Wahrnehmung heraus“ (ibd.). Die Funktion des „Logischen in uns“ besteht
aber nicht darin, die Summe der Wahrnehmungen zu ziehen, sondern „sie bewährt sich in
der Unterscheidung und Beurteilung des in der Wahrnehmung Gegebenen. Diese
Unterscheidung macht den eigentlichen Grundcharakter des Denkens [...] aus“ (ibd.).
„In dieser Platonischen Bestimmung des Verhältnisses von Denken undEmpfindung, von Vernunft und Sinnlichkeit, haben wir — wie Cohen betonthat — ,einen der fundamentalen Gedanken in der Entwicklung derErkenntniskritik‘52 vor uns. [...] Die Dialektik der Wahrnehmung ruft die desDenkens zur Beurteilung und zur Entscheidung auf. Überall dort, wo dieWahrnehmungen gleichsam friedlich nebeneinander ruhen, wo keine innereSpannung zwischen ihnen besteht, ruht auch das Denken — erst dort, wo siesich widersprechen, wo sie einander aufzuheben drohen, tritt seingrundlegendes Postulat, seine unbedingte Einheitsforderung hervor undverlangt eine Umbildung, eine Neugestaltung der Erfahrung selbst.“ (ZER, 27f.)
Neben dem Einfluss von Kant ist der Einfluss der Platonischen Ideenlehre von Anfang an
durchgehend in der Cassirerschen Gedankenwelt zu spüren, selbst wenn er auch nicht viel
über Platon geschrieben hat. Cassirers Verständnis der Ideenlehre Platons, wie sehr dieses
auch von dem seiner Lehrer geprägt sein mag, bildet einen Teil des Fundaments seines
Denkens, der ihn vom Funktionsbegriff in SuF bis zu seinem späteren Symbolbegriff in der
PsF begleitet (vgl. ZLS). Cassirer interpretiert die Dialektik Platons als eine nicht nur die
einzelnen Begriffsbestimmungen in ihrem reinen An-Sich erfassende und festhaltende,
sondern mit der Wesensbestimmung zugleich das Verhältnis aufweisen wollende Dialektik.
Ihr Ziel ist das System, die ‚Gemeinschaft‘ der Begriffe, und dieses System aufzustellen ist
die Grund- und Hauptaufgabe, die Platon der Logik stellt.53 Damit hat sich die analytische
Logik der reinen Identität „zu einer synthetischen Logik erweitert, in deren Mittelpunkt die
Frage nach der möglichen Verbindung, der Relation und Korrelation des Verschiedenen
52 Cassirer verweist hier auf Cohen (1871/1918), S. 16 ff.53 Vgl. Cassirer, PdG, S. 83-135.
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steht“ (ZLS, 206). Versteht man unter diesem Gesichtspunkt die Cassirersche Theorie des
Begriffs, so sollte der Symbolbegriff in PsF als Relationsbegriff verstanden werden (vgl.
ZLS, 207).
Cassirer zitiert und stützt sich in den meisten seiner Werke auf Platon. Im Abschnitt 1.4
soll daher die Platon-Interpretation Cassirers kurz dargestellt werden, wobei sich das
Augenmerk auf die ‚Ideenlehre‘ richtet, die in engem Zusammenhang mit der
Begriffstheorie Cassirers steht. Die Intention der Darstellung der Platon-Interpretation wird
es sein, zu zeigen, inwiefern die Begriffstheorie Cassirers unter dem Einfluss der
‚Ideenlehre‘ Platons steht; es wird jedoch nicht beabsichtigt, die Platon-Interpretation
Cassirers kritisch zu hinterfragen.
Wie zuvor kurz skizziert, lassen sich nach Ihmig die sich aus den Interpretationen der
Marburger Neukantianer ergebenden Umgestaltungen von Kants Philosophie wie folgt
zusammenfassen54:
1. Die Rolle der reinen oder empirischen Anschauung wurde neu bestimmt. Die
Anschauung wurde nicht mehr als eigenständige Erkenntnisquelle akzeptiert, sondern das
reine Denken wurde als fundamental für alle Erkenntnis betrachtet.55 Raum und Zeit galten
nicht mehr als Formen der reinen Anschauung, sondern wurden gleichfalls unter die
Formen des reinen Denkens gerechnet.56 Der Philosophie geht es, „um die Entwicklung
eines ,Systems der logischen Denkfunktionen‘57 [...], das die kategorialen Grund-
bestimmungen der Objekte der Wissenschaften offenlegen sollte“.58
2. Der Gegenstand der Erkenntnis sei kein gegebener, sondern ein dem Denken
‚aufgegebener‘ oder ein vom Denken zu konstruierender. Wenn für Kants Begriff des
Gegenstands das Gegebensein eines Mannigfaltigen in der Anschauung wesentlich war,
ließen die Marburger Neukantianer diese Voraussetzung fallen. Die „,Erzeugung‘ des
Gegenstands wurde als unendliche, prinzipiell nicht abschließbare Aufgabe begriffen,
deren Lösung man sich nur sukzessive nähern könne.“59 Die Methode bei diesem Prozess
nimmt aber bei den drei Vertretern der Marburger Schule Cohen, Natorp und Cassirer
unterschiedliche Gestalten an:
54 Ihmig( 1993a), S. 31 ff.55 Vgl. auch Lembeck (1994), S. 108: „mit der Verabschiedung des Kantischen Gedankens von der
Anschauung als eigener Erkenntnisquelle“.56 Vgl. Ihmig (1993a), S. 31.57 Ihmig verweist hierfür auf Natorps Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910), S. 35
und 49.58 Ihmig (1993a), S. 31.59 Ihmig (1993a), S. 31.
15
„Für Cohen bedeutet sie die Entfaltung der verschiedenen Urteilsarten aus derursprünglichen Einheit des Denkens. Natorp versteht darunter einefortschreitende Entwicklung von ,Synthesen‘ des Denkens, wobei er‚Synthesis‘ charakterisiert als die Methode, das Verschiedene identisch zusetzen und das Identische different [...]. Cassirer schließlich faßt die Methodeals das allgemeinste Verfahren der Reihenbildung überhaupt auf. Einig warensich alle drei darüber, daß in den von ihnen genannten Varianten eineursprüngliche Funktion der Synthesis des Denkens zum Ausdruck gebrachtwird.“60
3. Kants Annahme von ‚Dingen an sich‘ werde übereinstimmend zurückgewiesen.
4. Die ‚synthetische Einheit der Apperzeption‘, die Theorie des Bewusstseins, aus der Kant
versucht hat, eine logische Grundfunktion abzuleiten, „wurde ersetzt durch die Ableitung
derselben aus einem System von Grundsätzen, das die Einheit der wissenschaftlichen
Erfahrung verbürgen sollte“.61 Cohen habe dieser Maxime folgend die Grundsätze der
transzendentalen Analytik in den Mittelpunkt seiner Rezeption der Kantischen Philosophie
gestellt.
5. Kants Kategoriensystem werde von den Neukantianern als ein ‚offenes‘ System
betrachtet, das der Erweiterung und Veränderung fähig sein sollte.
Die Abweichungen Cassirers von seinen Lehrern Cohen und Natorp können mit Ihmig in
folgenden vier Punkten zusammengefasst werden.
1. „Während bei Cohen und Natorp die Lehre vom Urteil den Ausgangspunkt ihrer
Reflexionen über die Methode bildete, stand bei Cassirers Betrachtungen die Lehre vom
Begriff im Vordergrund.“62
2. Cassirer habe in viel stärkerem Maße als Cohen und Natorp auch die neuesten
naturwissenschaftlichen Theorien in seine Überlegungen miteinbezogen.
3. Cassirer hebe den Unterschied zwischen ‚reinen Verstandesbegriffen‘ und den
‚regulativen Prinzipien‘ der Vernunft, denen nach Kant nur subjektive und keine objektive
Bedeutung zukommt, teilweise auf. Während Kant die direkte Art, einem Begriff objektive
Realität zuzuteilen, die Schematisierung eines Begriffs nenne, spreche Cassirer in Bezug
auf die indirekte Art von einer Symbolisierung des Begriffs. Eine solche Symbolisierung
sei nun gleichfalls für die Vernunftideen möglich.
4. Der Symbolbegriff nehme ab 1921/22 eine zentrale Stellung in der Philosophie Cassirers
ein. Er dient einerseits der Vermittelung zwischen Naturwissenschaften und
Geisteswissenschaften, andererseits „ermöglicht er die Anknüpfung an eine Art
60 Ihmig (1993a), S. 31.61 Ihmig (1993a), S. 32.62 Ihmig (1993a), S. 32.
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‚transzendentaler Deduktion‘, sofern Cassirer eine Ableitung der dem Symbolbegriff
zugrunde liegenden ,Urfunktion der Repräsentation‘ aus der Struktur des Bewußtseins
zumindest andeutet“.63
Cassirers Untersuchung in SuF wurde durch seine Studien zur Philosophie der Mathematik
angeregt. Indem er versuchte, von Seiten der Logik aus einen Zugang zu den
Grundbegriffen der Mathematik zu gewinnen, erwies es sich als notwendig, die
‚Begriffsfunktion selbst‘ näher zu zergliedern und auf ihre Voraussetzungen
zurückzuführen (vgl. SuF, Vorwort, V). Die Begriffstheorie in SuF beschäftigt sich
vornehmlich mit der Begriffsbildung innerhalb der mathematischen Naturwissenschaften.
Dabei ist hervorzuheben, dass Cassirer innerhalb seiner Begriffstheorie den
Begriffsrealismus und dessen psychologische Vorstellung von der anschaulichen Welt
strikt ablehnt.
Der Funktionsbegriff, der im Werk SuF eingeführt wird, ist ein mathematischer Begriff.
Geschichtlich betrachtet geht dieser auf Leibniz zurück: „Leibniz entdeckte 1673 den
mathematischen Funktionsbegriff, also zwei Jahre vor seinen revolutionären Gedanken zur
Infinitesimal-Rechnung.“64 Cassirer weist in der Vorrede des Werkes Leibniz’ System
darauf hin, dass die Frage nach den logischen Grundlagen der Mathematik und Mechanik
auf den philosophischen Ursprung dieser Wissenschaften, wie er bei Descartes und Leibniz
thematisiert wird, zurückgeht (vgl. LS, Vorrede, VII ).
Cassirer betrachtet den Funktionsbegriff bereits bei Descartes in dessen analytischer
Geometrie als leitenden Grundgedanken, wobei die Funktion auf die algebraische Quantität
eingeschränkt ist. Der Funktionsbegriff bedeutet „die gegenseitige Abhängigkeit von
Größen, sofern diese durch eine algebraische Gleichung darstellbar gedacht wird“ (LS,
148). Cassirer hebt hervor, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs bei Leibniz ändert,
„indem die Operationen der Algebra sich von Anfang an einem System von Beziehungen
überhaupt einordnen, in welchem erst ihre bedingte Bedeutung sich feststellt“ (ibd.). So
wird das Verhältnis als spezieller Ausdruck für die gegenseitige logische Abhängigkeit
zwischen Inhalten aufgefasst:
„Versteht man daher unter einer »substantiellen« Weltansicht die Auffassung,nach der alles Sein und Geschehen im Grunde auf letzte und starre, absolute»Dinge« sich zurückführt, so ist Leibniz’ Philosophie diesem Standpunkt
63 Ihmig (1993a), S. 33; bezüglich Symbolfunktion und Wahrnehmungsurteil, vgl. 3.5.2.; zum Einfluss derGestaltpsychologie auf Cassirer und dessen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie,vgl. Plümacher (1997), (2003) und auch (2004), S. 51-64; vgl. auch Poggi (1995).
64 Schulthess (1981), S. 225.
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unmittelbar entgegengesetzt. Ihre Tendenz, von der sie ausgeht und die von nunab im Fortschritt des Idealismus sich durchsetzt, geht dahin, den älterenSeinsbegriff durch den Funk t i ons begr i f f zu verdrängen“ ( LS, 538 f.)
Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Cassirer sich in seiner Theorie des
Begriffs an Mathematiker und Wissenschaftler, wie zum Beispiel Hermann von Helmholtz
(1821-1894), Heinrich Hertz (1857-1894), Pierre Duhem (1861-1916), Jules Henri
Poincaré (1854-1912), Felix Klein (1849-1925) und David Hilbert (1862-1943) anlehnt.65
Jedoch muss man in diesem Zusammenhang ganz besonders Felix Kleins
Invariantentheorie im Erlanger Programm66 und David Hilberts ‚Axiomatisierung‘ der
Mathematik hervorheben, die aus dem Bereich der Mathematik den größten Einfluss auf
Cassirers erkenntniskritische Begriffstheorie ausgeübt zu haben scheinen.67
Die Geometrie, die sich seit Euklid nicht viel geändert hatte, erfuhr im 19. Jahrundert, das
als „goldenes Zeitalter der Geometrie“ bezeichnet wird,68 vielfältige Richtungen in ihrer
Entwicklung und erreichte gleichzeitig einen Höhepunkt in ihrer Geschichte. Die
Wichtigkeit der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie und ihr Einfluss auf die
Wissenschaft ist offenkundig und bedarf keiner besonderen Betonung.69 Die Denkweise der
nichteuklidschen Geometrie hat ihre Wirkung nicht nur in der Mathematik und der
Wissenschaft hinterlassen, sondern auch in der Erkenntnistheorie einen Wendepunkt
markiert: „Die nichteuklidische Geometrie ist einer der größten Durchbrüche in der
Geschichte der Mathematik und ein Wendepunkt in der Ideengeschichte überhaupt“.70
Die Begründer der nichteuklidischen Geometrie waren Mathematiker und Denker, die
versuchten, das Parallelenproblem des Beweises von ‚Postulat 5‘ zu lösen,71 und dabei eine
65 Vgl. Seidengart (1995b), S. 135-137.66 Kleins Abhandlung Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen erschien zuerst
als Antrittsvorlesung in der philosophischen Fakultät zu Erlangen im Jahre 1872 und wird geläufig dasErlanger Programm genannt. Es wurde 1893 in Mathematische Annalen 43 (1893), S. 63-100 wiederabgedruckt.
67 Ihmig hat diesen Einfluss von Klein und Hilbert ausführlich behandelt, vgl. Ihmig (1996), (1997a) und(1997b).
68 Ihmig (1997a), S. 281.69 Zu den zahlreichen Schriften über die nichteuklidische Geometrie zählen unter anderem Klein
(1871/1873); Bonola (1919)70 Davis/ Hersh (1994), S. 208.71 Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 49: Das Problem des Beweises von Postulat 5 in Euklids Elementen;
Parallelenaxiom oder Parallelenpostulat sind die heute am meisten verbreiteten Bezeichnungen für dasfolgende Prinzip: „Gefordert soll sein [...], daß, wenn eine Gerade zwei andere Geraden so schneidet, daßdie innen auf derselben Seite entstehenden Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte sind, dann die zweiGeraden bei unbeschränkter Verlängerung sich auf der Seite treffen, auf der die Winkel liegen, diezusammen kleiner als zwei Rechte sind.“; vgl. Davis/ Hersh (1994), S. 225: In derÜberlieferungsgeschichte der Elementen wurde dieses Prinzip in der Tradition der lateinischenEuklidausgabe als fünftes unter den Postulaten und in der Tradition der griechischen Ausgabe als elftesunter den Axiomen aufgeführt. Man beachte, dass, obschon das 5. Postulat als Parallelenpostulat bekanntist, das Wort parallel darin nicht vorkommt. Das Wort wird bei Euklid unter Definition 23 entwickelt.
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neue Geometrie entdeckten. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass diese zwar fast
gleichzeitig dasselbe Problem bearbeiteten, dies aber unabhängig von einander taten. Man
nimmt an, dass Carl Friedrich Gauß (1777-1855) der erste war, der die neue Geometrie
‚nichteuklidisch‘ nannte und schon um 1813 „ein klares Bild von einer konsistenten
Geometrie gewann, in welcher Postulat 5 durch seine Negation ersetzt ist“.72 Gauß
untersuchte in den darauf folgenden Jahren die neue Geometrie und entdeckte eine Reihe
ihrer Sätze.
Ein Professor der Jurisprudenz namens Ferdinand Schweikart (1780-1859) und die
ungarischen Bolyais, Vater Wolfgang Bolyai (1775-1856) und Sohn János Bolyai (1802-
1860), Nicolai Ivanovich Lobatschewski (1793-1856) und F. A. Taurinus (1794-1874)
waren die wichtigen Begründer der nichteuklidischen Geometrie. Sie alle hatten durch ihre
Bemühungen um den Beweis von Postulat 5 die gemeinsame Idee, dass eine neue
Geometrie, die zu Euklid konträr ist, logisch möglich ist. Diese neue Geometrie ist
heutzutage unter dem Namen hyperbolische Geometrie oder Lobatschewskische Geometrie
bekannt. Neben ihr gibt es noch eine weitere nichteuklidische Geometrie, die vor allem von
Bernhard Riemann (1826-1866) entwickelt wurde und als Riemannsche oder elliptische
Geometrie bezeichnet wird. Einer der großen Unterschiede zwischen den beiden genannten
Geometrien ist der, dass, wenn in einer Ebene eine Gerade L und ein Punkt P, der nicht auf
L liegt, gegeben ist, es in der Lobatschewskischen Geometrie mindestens zwei Geraden
gibt, die durch P laufen und zu L parallel verlaufen, und in der Riemannschen Geometrie
keine. Mit anderen Worten, in der Riemannschen Geometrie existieren keine parallele
Geraden.73
Neben dieser nichteuklidischen Geometrie gab es auch die in eine andere Richtung
entwickelte projektive Geometrie. Die Mathematiker wurden schon früher durch die
Probleme der ‚Perspektiven‘, die zum Beispiel von Künstlern, wie Leonardo da Vinci
untersucht wurden, zu Überlegungen bezüglich der projektivischen Eigenschaften der
Geometrie angeregt. Das malerische Bild kann als Projektion des Originals auf die
Leinwand betrachtet werden. Obwohl Längen und Winkel notwendigerweise auf der
Leinwand verzerrt sind, kann man die geometrische Struktur des Originals recht gut
erkennen. Das heißt, dass es geometrische Eigenschaften geben muss, die ‚invariant
gegenüber Projektionen‘ sind. Diese Eigenschaften erscheinen im Bilde unverändert und
ermöglichen daher die ‚Identifizierung‘. Die Aufgabe der projektiven Geometrie ist es,
72 Trudeau (1998), S. 185. 73 Vgl. Davis/ Hersh (1994), S. 229.
19
diese Eigenschaften aufzufinden und zu untersuchen.74
Ein systematisches Studium der projektiven Geometrie begann Ende des 18. Jahrhunderts,
als die École Polytechnique in Paris eine neue Periode des mathematischen Fortschritts
einleitete. Den Grundstein legte einer ihrer Schüler, Jean Victor Poncelet (1788-1867), der
in russischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1813 die berühmte Schrift Traité des
Propriétés projectives des figures verfasste.75 Ohne auf die Details in der Entwicklung der
projektiven Geometrie einzugehen,76 gilt es darauf hinzuweisen, dass im 19. Jahrhundert
die projektive Geometrie zu einem der Hauptgegenstände der mathematischen Forschung
wurde.
Wie Kant sich für sein System der Philosophie auf die Euklidische Geometrie und die
Newtonsche Physik stützt,77 so stützt sich Cassirer auf die nichteuklidische Geometrie und
die moderene Physik. Bei Kant heißen Urteile entweder analytisch oder synthetisch. Das
Urteil heißt analytisch, wenn das Prädikat B im Subjektbegriff A enthalten ist, und wenn
das Prädikat B ganz außerhalb des Subjektbegriffs A liegt, heißt es synthetisch.78
Analytische Urteile sind a priori und synthetische Urteile sind a posteriori. Kant lehnt sich,
um die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft zu begründen, an mathematische
Urteile als ‚synthetische Urteile a priori‘ an. Er erkennt die mathematischen Begriffe als
konstruktive Begriffe, die sich von aller anderen Erkenntnis unterscheiden. Er betont, dass
das „Wesentliche und Unterscheidende der reinen mathematischen Erkenntnis von aller
andern Erkenntnis a priori ist, dass sie durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit
nur durch die Konstruktion der Begriffe [...] vor sich gehen muß.“79
Die Mathematik ist, wie die Geschichte zeigt, nicht mehr die Wissenschaft von Größe und
Zahl, sie erstreckt sich auf „alle Inhalte, in denen vollkommene gesetzliche Bestimmtheit
und stetige deduktive Verknüpfung erreichbar ist“ (KmM, 4). So ist die Mathematik für
Cassirer „die notwendige Vermittlung zwischen den idealen logischen Prinzipien und der
Realität der Natur“ (LS, 123) und dient ihm als Instrument der Forschung, als
Voraussetzung der Entdeckung eines neuen Naturbegriffs. Die Mathematik als Instrument
der Forschung anzusehen ist schon bei Cohen angelegt.80 Dieser sieht dabei Platon „als
74 Vgl. Courant/ Robbins (1992), S. 132.75 Vgl. Courant/ Robbins (1992), S. 132. 1822 erschien die erste Auflage. 76 Einen detailierten Überblick der Entwicklung bietet Ihmig (1997a), S. 281-288.77 Vgl. Cassirer, PN, S. 280.78 Vgl. Kant (W1990), S. 52. KrV, A6 ff./ B10 ff.79 Kant (W1993), S. 132. Prolegomena § 4, A 34.80 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 153, Fußnote 45. Holzhey verweist auf Cohens Kants Theorie der
Erfahrung (1885) S. 222: „dass die Mathematik lediglich als Instrument der Naturwissenschaft unsangeht“ und S. 239: „dass die Mathematik als Gegenstand der transscendentalen Frage immerhin nur alsdas Instrument der Natur-Erkenntnis zu gelten hat“.
20
Gewährsmann eines methodischen Idealismus, der in der Verknüpfung von Philosophie
und Wissenschaft, hier Mathematik, festgemacht ist.“81
Mit der Entwicklung der Mathematik erfährt analog dazu auch die Logik eine Erneuerung
und Erweiterung ihres Gehaltes.82 Sie wird für Cassirer zu einer allgemeinen ‚Logik der
Relationen‘, „die die verschiedenen möglichen Grundtypen der Beziehung analysiert und
auf ihre formalen Momente zurückführt“ (KmM, 4). In SuF wird diese Logik der Relation
der aristotelischen formalen Logik gegenübergestellt und bezieht sich explizit auf Russells
The Principles of Mathematics (vgl. SuF, 48; KmM, 4). Diese sich eng an Russell
orientierende Logik der Relation in der Bildung der Reihenbegriffe in SuF erfährt später
eine Erweiterung durch den Symbolbegriff. In PsF wird sie zu einer ‚symbolischen
Relation‘, die Cassirer auch als die Relation zwischen Bewusstsein und Gegenstand
bezeichnet.
Cassirers Betrachtungsweise oder Methode in der Erkenntnistheorie in SuF beruht auf den
mathematischen Naturwissenschaften, hierbei besonders auf der Relativitätstheorie und der
Quantentheorie in der modernen Physik (vgl. auch ZER; DuI). In seinen
erkenntnistheoretischen Betrachtungen, in seinen philosophie-historischen oder
wissenschaftshistorischen Betrachtungen geht es nur darum, durch sie neue Perspektiven,
neue oder andere Denkweisen und methodische Lösungen zu gewinnen, und nicht darum,
wie man den Eindruck gewinnen könnte, dass er seine umfangreichen Kenntnisse zur
Schau stellen und sich ihrer frei bedienen will.
Die Relativitätstheorie zeigt für Cassirer auch, dass der Physiker nicht das gemessene
Objekt selbst, sondern die besonderen Bedingungen der Messung ins Auge zu fassen hat.
Bei jeder objektiven Messung muss ein bestimmter subjektiver ‚Index‘ hinzugefügt
werden, der die besonderen Bedingungen der Messung kenntlich machen kann. Jede
Wissenschaft erhält nach Cassirer ihren Gegenstand dadurch, dass sie ihn aus dem
Gegebenen durch bestimmte Formbegriffe ‚heraushebt‘. Der Gegenstand der verschiedenen
Wissenschaften kann erst durch den jeweiligen Gesichtspunkt der Erkenntnis bestimmt
sein: „Je nach dem Wechsel dieses ideellen Gesichtspunktes entstehen für das Denken
verschiedene Klassen und verschiedene Systeme von Objekten“ (ZER, 13). Cassirer betont
aber auch die Differenz des Standpunktes innerhalb der Naturwissenschaft, genauer gesagt,
81 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 148 f.; zu Platon und Mathematik vgl. Cohen: Platons Ideenlehre und dieMathematik, 1878; vgl. auch Cohen (1902/1914).
82 Vgl. KmM, S. 4; vgl. auch Irvine (2003), p. 9: „Through Frege and others late in the nineteenth century,mathematics helped transform logic from a merely formal discipline to a mathematical one as well,making available to it the resources of contemporary mathematics. In turn, logic opened up new avenuesof investigation concerning reasoning in mathematics [...]“.
21
zwischen dem Physiker beim Experiment und der Erkenntnistheorie.
Der Standpunkt der Physik und das physikalische Gegenstandskriterium kann durch die
Aussage des Physikers, dass „alles, was man messen kann, auch existiere“ (ZER, 14),
verdeutlicht werden. Vom Standpunkt der Erkenntniskritik aus stellt sich aber die
Aufforderung, die grundlegenden Bedingungen dieser Meßbarkeit selbst aufzudecken und
in systematischer Vollständigkeit zu entwickeln. Selbst die einfachste Messung muss sich
auf gewisse theoretische Voraussetzungen, zum Beispiel ‚Prinzipien‘, ‚Hypothesen‘ oder
‚Axiome‘ stützen, die sie als Postulate des Denkens an diese Welt heranbringen muss
(ibd.).
Die Wirklichkeit des Physikers steht also als ein Vermitteltes gegenüber der Wirklichkeit
der Wahrnehmung und ist dann ein Inbegriff der abstrakten Gedanken, die als Ausdruck für
bestimmte funktionale Zuordnungen und Abhängigkeiten der Erscheinungen dienen:
„Der beschränkte Umkreis von Tatsachen, der uns sinnlich allein zugänglichist, weitet sich vor dem geistigen Blick zum naturgesetzlichen Zusammenhangder Phänomene überhaupt. Die unmittelbare Anzeige des Augenblicks wirdnach allen Richtungen hin überschritten; an ihre Stelle tritt der Gedanke einerallgemeingültigen Ordnung, die im Kleinsten wie im Größten gleichmäßigGeltung besitzt und die sich daher auch von jedem Einzelpunkte aus wiederumrekonstruieren lassen muß. Erst vermöge dieser Bereicherung seinesunmittelbaren Gehalts wird der Inhalt der Wahrnehmung zum Inhalt der Physikund damit zum ,objektiv wirklichen‘ Inhalt.“ (SuF, 372 f.)
Wie bereits erwähnt, steht die kritische Philosophie Cassirers in ihrem theoretischen
System mit der Mathematik und mit den mathematischen Naturwissenschaften eng
zusammen und sucht in diesen die erkenntniskritische Begründung, wobei die
Abbildtheorie, wie zum Beispiel eine Abbildung der empirisch-anschaulichen
Wirklichkeit, strikt abgelehnt wird:
„Was die neue Physik uns gelehrt hat, ist die Tatsache, dass jener Wechsel des‚Standpunkts‘, den wir immer dann vollziehen müssen, wenn wir von einerSinn-Dimension zu einer anderen fortgehen, wenn wir die ,Welt‘ derNaturwissenschaft mit der der Ethik, der Kunst u.s.f. vertauschen, nicht aufdiesen Übergang allein beschränkt ist. Die Mannigfaltigkeit der ,Perspektiven‘,die sich hier vor uns auftut, hat schon im naturwissenschaftlichen Gebiet selbstihr methodisches Gegenbild. Die moderne Physik hat die Hoffnung aufgebenmüssen, mit einem festbestimmten System von Symbolen das Ganze desNaturgeschehens erschöpfend darzustellen. Sie sieht sich vor die Not-wendigkeit gestellt, verschiedene Arten von Symbolen, von schematischen
22
»Erklärungen« auf dasselbe Geschehen anzuwenden; sie muss ein und dasselbeSein als ,Partikel‘ und als ,Welle‘ beschreiben und darf sich von diesemGebrauch nicht dadurch abschrecken lassen, dass die anschaulicheVereinigung der beiden Bilder sich als unmöglich erweist.“ (DuI, 265)
Diese Ansicht Cassirers trägt auch zum Verständnis seines Symbolgedankens in PsF bei,
auf den im Rahmen der Analyse des Symbolbegriffs in Kapitel 3 eingegangen wird.
1.2. Cohens Substanzbegriff
Cohens Auffassung des Substanzbegriffs ist für Cassirers Substanzbegriff in SuF und PsF
von besonderer Bedeutung und soll daher in diesem Abschnitt eingehend betrachtet
werden.
Der Gegenstand der Erkenntnis bedeutet für die Marburger Neukantianer nicht etwas
Feststehendes, an sich Gegebenes: „nicht am Himmel sind Sterne gegeben , sondern in
der Wissenschaft der Astronomie bezeichnen wir diejenigen Gegenstände als gegebene,
welche wir von, wenngleich ernstlich gemeinten, Erzeugungen und Bearbeitungen des
Denkens als in der Sinnlichkeit gegründet unterscheiden“.83 Aber das heißt nicht, dass
Sinnlichkeit und Denken als heterogene Stücke, wie Sinnlichkeit und Verstand bei Kant,
miteinander in Verbindung gebracht werden sollen, sie sollen vielmehr ein homogenes
Ganzes bilden. Beide sind Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Erfahrung, und
man betrachtet diese Möglichkeitsbedingungen als ihre Funktion, nur so können sie, wie
W. Marx es ausdrückt, transzendentallogisch betrachtet werden.84 In diesem
Zusammenhang ist die (sinnliche) Anschauung keineswegs ein „denkfremder Faktor“,85 der
dem Denken gegenüber- und entgegensteht. Sie ist auch „Denken, nur nicht blosses
Gesetzesdenken, sondern volles Gegenstandsdenken“,86 wie Natorp es treffend formuliert.
Damit unterscheidet sich die Rolle der Anschauung in der Marbuger Schule von der bei
Kant.
Für Cohen ist es nicht konsequent genug, dass Kant den Ausgangspunkt für die
mathematische Anschauung, Raum und Zeit, in der Realität des Gegenstandes sucht. Raum
und Zeit fundieren bei Kant bloße Relationen zwischen Gegenständen, und das heißt für
83 Cohen (1883), S. 127.84 Marx (1977), S. 25.85 Natorp (1912), S. 204; vgl. auch Marx (1977), S. 25.86 Natorp (1912), S. 204.
23
Cohen aber, sie sind nicht „das Etwas überhaupt, das in Relation steht und Realitätsgeltung
beansprucht“. Er ist daher der Ansicht, dass der transzendentale Ausgangspunkt nicht in
der ‚transzendentalen Ästhetik‘, sondern in der ‚Analytik der Grundsätze‘ gesucht werden
soll, da die Grundsätze „die Bedingungen objektiver Realität (Gültigkeit) formulieren“.87
Das Urteil der Substanz ist die erste Urteilsart der dritten Urteilsklasse, der Urteile der
mathematischen Naturwissenschaft, in Cohens Logik der reinen Erkenntnis. Bei den
Urteilen der mathematischen Naturwissenschaft geht es um die Mechanik und die sich ihr
angliedernde Naturwissenschaft.88 Cohens Urteilssystem erinnert uns zwar an Kants
Urteilstafel und Kategorientafel, aber weil er, wie erwähnt, von der ‚Analytik der
Grundsätze‘ bei Kant ausgeht, stützt er sich auf die Tafel der Grundsätze, die von Kant als
„Regeln des objektiven Gebrauchs“ der Tafel der Kategorien bezeichnet wird.89 Daraus
ergibt sich, dass die dritte Urteilsklasse, die Urteile der mathematischen Naturwissenschaft,
dem dritten Grundsatz Kants, den Analogien der Erfahrung entspricht. Als Leser hat man
Schwierigkeiten Cohen zu folgen und das hängt, abgesehen davon, dass man den
Beweisgang vermisst, teilweise auch damit zusammen, dass man die Termini, die Cohen
verwendet, genau verstehen muss. So kann man die Urteile in der Logik der reinen
Erkenntnis nach Holzhey als „in sich selbst bestimmte Erkenntnisprinzipien“ verstehen.90
Die Kategorie ist für Cohen das Element der reinen Erkenntnis, sie ist Ausdruck für den
Grundbegriff und Hinweis auf die Grundformen des Urteils. Kategorien sind „die
Grundformen, die Grundrichtungen, die Grundzüge, in denen das Urteil sich vollzieht“.91
Cohen macht aber keine eindeutige Zuordnung von Urteilen und Kategorien, weil man die
„K or r es pondenz j e e i ne r Ka t egor i e mi t j e e ine r Ur t e i l s a r t “ aufgeben
muss92:
„Indem wir also an dem Verhältnis von Kategorie und Urteil festhalten,nehmen wir keine Scheidung unter ihnen dergestalt an, daß nur die Reihe unddie Gliederung der einen, sei es die der Urteile oder die der Kategorien, zum
87 Schulthess (1984), S. 8.88 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 77 f.; das Urteilssystem Cohens besteht aus vier Urteilsklassen: 1. Die Urteile
der Denkgesetze, 2. Die Urteile der Mathematik, 3. Die Urteile der mathematischen Naturwissenschaft, 4.Die Urteile der Methodik. Die Urteilsarten der ersten Klasse sind: das Urteil des Ursprungs, das Urteil derIdentität, das Urteil des Widerspruchs; die der zweiten Klasse: das Urteil der Realität, das Urteil derMehrheit, das Urteil der Allheit; die der dritten Klasse: das Urteil der Substanz, das Urteil des Gesetzesund das Urteil des Begriffs; die der vierten Klasse: das Urteil der Möglichkeit, das Urteil der Wirklichkeitund das Urteil der Notwendigkeit.
89 Vgl. Kant (W1990), S. 203. KrV, A 161/ B 200. Die Tafel der Grundsätze: 1. Axiome der Anschauung, 2.Antizipationen der Wahrnehmung, 3. Analogien der Erfahrung, 4. Postulate des empirischen Denkensüberhaupt.
90 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 93. 91 Cohen (1902/1914), S. 47.92 Cohen (1902/1914), S. 73.
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Leitfaden für die andere werden müßte; sondern wi r ne hme n e inedur chgäng ige Kor r e l a t i on zwi sc hen i hnen an . Demnach kann nichtnur eine Urteilsart eine Mehrheit von Kategorien enthalten; sondern auch eineKategorie kann zugleich in mehreren Urteilsarten enthalten sein. DieVerzweigung und Verästelung des Motivs erweitert zugleich seine Wurzelung.So fließend müssen den Kategorien gegenüber die Grenzen der Urteilsartengedacht werden, ohne daß sie deshalb ihre eigene Gliederung verlieren dürfen.Die Diskretion zwischen Kategorie und Urteil ist wechselseitige. Die Kategorieist das Ziel des Urteils, und das Urteil ist der Weg der Kategorie.“93
Daher lassen sich mehrere Kategorien aus einer Urteilsart ableiten und eine Kategorie kann
in mehreren Urteilsarten vertreten sein. Somit können die Kategorien ‚Bewegung‘,
‚Erhaltung‘ und ‚Substanz‘ unter dem Urteil der Substanz stehen.
Die Substanz wird allgemein als das Sein bezeichnet, aber sie nimmt nach Cohen auf die
Bewegung Rücksicht. Für ihn begeht Aristoteles den Fehler, dass er die Substanz als erste
Kategorie — in ontologischer Anwendung — seiner Kategorientafel aufstellt und damit
das Einzelding zur Substanz macht.94 Der alten und der modernen Substanz fehlt der Wert
und die Kraft des ‚Ursprungs‘, daher konnte sie die Probleme des Seins nicht bewältigen.
Die Geschichte der mathematischen Naturwissenschaft hat gezeigt, dass in ihrem
Mittelpunkt stets der Begriff der Substanz stand. Cohens Ansicht nach durfte der Substanz
der ‚Ursprung‘ und die ‚Realität‘ nicht weiter fehlen (vgl. 1.1). Denn die „Bedeutung der
Realität konnte vielleicht durch die des Ursprungs klar und sichergestellt werden, und
dadurch das Problem der Substanz dem Fortschritt der Wissenschaft gemäß zu neuen
Formulierungen und neuen Lösungen reifen“.95
Die Natur soll nicht als ein bestehendes Ding gedacht werden, sie soll in Vorgängen
aufgehoben werden. Sie besteht in Veränderungen, was zur Folge hat, dass die Substanz in
die Relation, in die Relativität der Vorgänge eingeht. Die Veränderung bildet das
methodische Mittel der Mathematik und durch Veränderung wird die Mathematik zur
mathematischen Naturwissenschaft. Darum will Cohen die Substantialität durch den
Begriff Bewegung erklären. Die Substanz ist die Voraussetzung für die Veränderung, die
Grundlage für die Verhältnisse, die in Proportion (Relation) und Gleichung gebildet
werden, und so ist sie auch die Grundlage für das Verhältnis von Zeit und Raum.
Der Leitgedanke Cohens im Urteil der Substanz ist die Korrelation von Erhaltung und
Bewegung. Raum und Zeit sind feste Beziehungsgrundlagen, um in ihnen die Korrelation
von Erhaltung und Bewegung darzustellen. Cohen vertritt auch Kants Ansicht der Relation
93 Cohen (1902/1914), S. 52: vgl. auch Holzhey (1986), Bd. 1, S. 99. 94 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 248. 95 Cohen (1902/1914), S. 211.
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der Substanz, wobei er bei diesem das kategorische Urteil hervorhebt: „Dieser ersten
Urteilsart der Relation gab Kant die Substanz zur Kategorie.“96 Damit wurde, so Cohen,
eine Art des Urteils als das Urteil der Aussage, das Urteil des Satzes ausgesondert.
Die Korrelaton zwischen Bewegung und Erhaltung, die seinen Substanzbegriff ausmacht,
erklärt Cohen wie folgt. Unter Bewegung wird der Terminus verstanden, der sämtliche
Probleme der mathematischen Naturwissenschaft umfasst und sie alle vereinigt. So ist die
mathematische Naturwissenschaft die Wissenschaft der Bewegung geworden. Die
Bewegung als Kategorie umfasst demnach alle Methoden und bezeichnet zugleich die
Einheit aller Methoden: „Die Bewegung bedeutet nicht allein etwas an und in der Zeit; s i e
s e t z t z ug l e i ch de n Ra um vo r aus .“97
Die Zeit ist durch die Antizipation (Zukunft) und die korrelative Retrospektive
(Vergangenheit) bestimmt. Die Gegenwart ist ein Moment des Raumes, sie bildet einen
relativen, idealen Durchgangspunkt, aber kein selbständiges Glied der Korrelation:
„Gegenwart ist die Festhaltung dessen, was ohne sie in Vergangenheitversinken müßte. Diese Festhaltung vollzieht das Be i sammen , zunächst dasZusammen des Raumes. Auf dem Grunde dieses Beisammen bildet sich eineneue Korrelation zwischen A1 und A2.“98
Die Gegenwart und das Beisammen sind von den beiden Gesichtspunkten der Zeit und des
Raumes aus gesehen zwei Ausdrücke für denselben Inhalt.
Das Beisammen schließt die Bewegungen aus, daher muss das Beisammen des Raumes
aufgelöst werden, wenn die Bewegung entstehen soll. Die Bewegung löst das Beisammen
des Raumes auf. Die Auflösung des Beisammen, als die Auflösung des Raumes, geht in die
Zeit zurück, und diese Auflösung von Raum in Zeit ist die Vollziehung des Verhältnisses
zwischen Zeit und Raum. Ein wahrhaftes Verhältnis vollzieht sich in dieser Auflösung.
Der Raum bildet dann kein fixes Bild mehr, sondern er wird zum „Projektionsfeld“: Er
wird „zum Schauplatz für die Veränderungen, welche in methodischen Operationen an und
auf ihm zur Vollziehung kommen“.99 Hierbei wird aber nur das fixierte Raumgebilde
aufgelöst und der Raum selbst bleibt als Projektionsfeld erhalten. Diese Erhaltung des
Raumes lässt „den inneren Zusammenhang der Bewegung mit dem Leitgedanken der
96 Cohen (1902/1914), S. 217; vgl. Kant (W1990), S. 111, 118 f. Kants ‚kategorische Urteil‘ steht in derUrteilstafel unter ‚Relation‘ und ‚Inhärenz und Subsistenz‘ (substantia et accidens) steht in der Tafel derKategorien als erste Urteilsart der ‚Relation‘.
97 Cohen (1902/1914), S. 229.98 Cohen (1902/1914), S. 228.99 Cohen (1902/1914), S. 231.
26
Substanz wieder hervortreten“.100
Um den Begriff Erhaltung zu erklären, führt Cohen zunächst die Koordinaten-Theorie ein:
„Im Ausdruck der Koordinaten liegt die Relation, als Korrelation. Und dieBewegung ist es, durch welche diese Korrelation ermittelt wird; die Bewegungdes Punktes auf einer Axe hat die entsprechende Bewegung auf der andern Axezur notwendigen Folge. So scheinen die Koordinaten nur ein Mittel derVeranschaulichung zu sein, um die Bewegung kenntlich zu machen, welche einPunkt macht, indem er eine Kurve beschreibt; indessen liegt ihnen eineV or aus se t zung zugrunde, welche ihren Zusammenhang mit derdynamischen Bewegung erkennbar macht. [...] D ie Koor d ina t en- A xenb i lde n da he r e i ne w ich t ige V er t re t ung des Ge dankens de rSubs t anz ; des Seins für die Bewegung.“101
Auf die Erhaltung selbst geht Cohen aber nicht im Detail ein, er stellt sie lediglich der
Bewegung gegenüber: Die Bewegung löst das Beisammen, die feste Verbindung der
Punkte, auf, und das heißt, sie lässt im Raum den festesten Halt, der seine Kraft nur aus der
korrelativen Substanz schöpft, entstehen. Sie ist die umfassende Voraussetzung des Seins
für alle Erscheinungsweisen. Somit betätigt sich die Kategorie der Substanz „als die
Kategorie der Erhaltung in ihrer Korrelation zur Bewegung.“102
Bewegung löst also, fasst man diese Auffassung Cohens kurz zusammen, das Beisammen
auf, und sie löst den Raum in Zeit auf. Erhaltung ist ein selbständiges Element und auf den
Raum übertragbar. Sie bildet das Gegengewicht zur Auflösung des Raumes in die Zeit, und
die Koordinaten-Axen sichern die Erhaltung. Man muss die korrelative Bedeutung der
Substanz an der Immanenz der Erhaltung in der Bewegung erkennen. Die Erhaltung ist die
Substanz, aber sie ist nicht absolut, sondern sie ist das Korrelat der Bewegung. Die
Bewegung und die Erhaltung sollen sich auch vereinigen, und die Erhaltung als Kategorie
ist mit der Bewegung vereinbar und ihr korrelativ. In dieser ‚rein logischen Vereinigung‘
bestehe der Inhalt, also der Inhalt des Gegenstands.
Veränderung, Bewegung und Auflösung sind nach Cohen Begriffe, die zu der Kategorie
des Ursprungs gerechnet werden müssen, eine Forderung auf die es in seinem
Erkenntnisprinzip eigentlich ankommt. So meint er, „B ew egung muß Er zeugung
we rden“,103 und das ist die Vereinbarung, die der Kategorie der Bewegung aufgegeben
ist. Man muss auch in der Substanz die Vereinbarung mit der Kategorie des Ursprungs ins
100 Cohen (1902/1914), S. 232.101 Cohen (1902/1914), S. 233.102 Cohen (1902/1914), S. 234.103 Cohen (1902/1914), S. 237.
27
Reine bringen. Bei der Auflösung des Beisammen ist vorgesehen, dass „die Erzeugung des
Ursprungs obwalte, und in der Erzeugung von Realitäten sich bewähre. Somit ist die
Herrschaft der Kontinuität gesichert“,104 und mit ihr auch die Grundlage der Erhaltung.
So ist die Substanz bei Cohen das Korrelat der Bewegung und Erhaltung, und diese
Auffassung des Substanzbegriffs begründet sich im Begriff der Energie der Mechanik:
„Nicht auf das Sein allein bezieht sich die Erhaltung. Wir haben ja erkannt, daßes ein solches absolutes Sein nicht gibt. Die Substanz ist das Sein derBewegung. Aber auch auf die Bewegung allein darf die Erhaltung nichtbezogen werden. Diese Durchdringung von Sein und Veränderung hat zu einerNüanzierung im Begriffe der Bewegung geführt, [...]. Es läßt sich nun aberverstehen, daß dieselbe Rücksicht auch dem Begriffe der Substanz sichzugewandt hat. Und die Terminologie wird um so gelungener erscheinenmüssen, wenn in ihr beide Rücksichten zugleich befriedigt sind. Diese doppelteTendenz vertritt der moderne Begriff der Ene r g i e .“105
Der Versuch, die Substanz als Korrelat der Bewegung und Erhaltung zu erklären, liegt
abseits der Wege der traditionellen Logik, die die Substanz mit ‚Identitätslogik‘ zu erklären
versucht. So wurde zum Beispiel bei den Eleaten Sein und Denken für identisch gehalten,
und bei Aristoteles wurde die Substanz zum ontologischen ‚Dingbegriff‘.
Auch Natorp erklärt, was die Substanz ist, indem er den Aristotelischen
Gegenstandsbegriff kritisiert.106 Aristoteles schließe vom logischen Bedürfnis der
Erkenntnis auf eine absolut logische Beschaffenheit des Gegenstands, nämlich des
gegebenen Gegenstands unserer empirischen Erkenntnis. Natorp kritisiert noch schärfer,
dass es für Aristoteles sogar keiner Schlussfolgerung bedarf, „weil er von Anfang an das
Denken vom Sein schlechthin abhängig denkt, setzt sich ihm die Aussage, die vom Denken
zunächst gemeint und richtig war, selbstredend und ohne jedes Bedürfnis einer weiteren
Begründung um in eine Aussage über das Sein, das gegebene Sein der Erfahrungs-
objekte“.107 Natorp ist der Ansicht, dass der Substanzsatz ein synthetischer, nicht aber
analytischer Satz ist: er bedeutet
„ein Gesetz des V er fah r ens , den Gegenstand in der Erfahrung e r s tau f zubaue n , das Gesetz eines P r oze ss e s der Erkenntnis, der in der Thatein une nd l i c he r , a b sc h luß l o se r ist. Gegenstand ist das, was wir als eines,identisches s e t ze n ; der Gegenstand als Substanz: was wir als identischen
104 Cohen (1902/1914), S. 238.105 Cohen (1902/1914), S. 288.106 Natorp (1903), S. 387 f.107 Natorp (1903), S. 387.
28
Bezugspunkt unsrer Aussagen, mit jederzeit nur relativer, nicht absoluterGültigkeit ansetzen. ARISTOTELES dagegen setzt zuversichtlich voraus, daß derGegenstand gegeben ist. [...] Allerdings: was notwendig für unsre Erkenntnis,das gilt eben damit für den Gegenstand als Ge gens t and uns r e rEr kenn tn i s . Das heißt aber nicht, daß der Gegenstand an sich, inabschließender Bestimmtheit, so sein muß, wie unsre Erkenntnis ihn setzt.Sondern, er »ist« so, das kann nur heißen: er ist für uns, auf der je erreichtenStufe, unter den jeweiligen Voraussetzungen unsrer Erkenntnis, so zubestimmen, er bleibt aber dabei, und zwar ohne Ende, weiter bestimmbar.“108
Natorp übt jedoch auch Kritik an Cohens Substanzbegriff, die sich in einem
nachgelassenen Manuskript findet.109 Sie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1.
Cohen vertrete die Relativierung der Substanz „zur bloßen Bestimmungsgrundlage für die
Veränderung, welch letztere rein aus den methodischen Voraussetzungen der Erkenntnis,
d.h. rein mathematisch darzustellen ist.“110 2. Es wird auch nicht deutlich „was und welcher
Art das sich Erhaltende sein soll“.111 3. Die Bewegung als Auflösung des Raumes in die
Zeit ist für Natorp nicht deutlich geworden: der Raum wird „nicht aufgelöst, er bleibt.
Bewegung ist nicht bloße Zuordnung von Raumpunkten zu Zeitpunkten sondern
Zuordnung eines und desselben, wie immer zu bestimmenden x für eine jede Zeitstelle zu
einer bestimmten Raumstelle und zwar in stetigem Übergang. Was dies x sei, was in der
Bewegung von Stelle zu Stelle des Raumes sich in der Zeit übertrage, das erst ist die Frage
der Substanz.“112 Man kann die Materie ganz in Energie auflösen, als das Bewegliche im
Raum. Sie ist aber als Substrat der Veränderungen in der Natur nicht entbehrlich.
Die Ausführungen zur Theorie des Begriffs im Kapitel 2 werden zeigen, dass die
angeführte Einsicht Cohens und auch die Natorps für Cassirers eigenen Substanzbegriff
von großer Bedeutung sind.
108 Natorp (1903), S. 388.109 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 2, S. 5-35 und 56-58.110 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 56.111 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 57.112 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 58.
29
1.3. Die Einheit des Bewusstseins bei Cohen und Cassirer
1.3.1. Cohens Einheit des Bewusstseins
Versucht man Cassirers Theorie des Begriffs zu verstehen, stößt man immer wieder auf das
Problem des Bewusstseins des Erkennenden. Dieses Bewusstsein des Erkennenden wird
von Cassirer als Voraussetzung seiner Begriffstheorie und Erkenntnistheorie für so
selbstverständlich erachtet, dass er innerhalb seiner Begriffstheorie keine näheren Angaben
dazu macht. In SuF spricht er von der „Einheit des Bewußtseins“ (SuF, 436), die man im
Sinne von Cohen verstehen sollte.
Cohen selbst setzt sich in seiner Schrift Logik der reinen Erkenntnis kritisch mit der
Einheit des Bewusstseins bei Kant auseinander. Er ist der Ansicht, dass die Einheit des
Bewusstseins bei Kant, obschon dieser sie „als Grundlage und als Einheit der Erkenntnisse
in den Mittelpunkt seiner systematischen Terminologie stellte“, nicht im Zentrum seines
philosophischen Systems und auch nicht im Mittelpunkt der Kritik der reinen Vernunft
steht; „denn sie bezieht sich nicht auf die Probleme der Dialektik. Und sie bezieht sich
auch positiv weder auf die Ethik, noch auf die Ästhetik.“113 Dies sei nach Cohen ein
scheinbarer Fehler in der Terminologie Kants, der jedoch ein Vorzug der Kantischen
Wahrheit geworden sei:
„Denn die Einheit des Bewußtseins beruhte nunmehr strengstens in denGrundlagen derjenigen Erkenntnis, in denen sie sich präzis betätigte; in denensie sich in dem sachlichen Wert von Grundsätzen entfaltete. D ie E inhe i t desBewuß t se in s de f i n i e r t e s i c h a l s d i e E inhe i t desw i s s ens c ha f t l i c hen Bewuß t se in s . “ 1 1 4
Demgegenüber versteht Cohen unter Bewusstsein nicht allein das wissenschaftliche
Bewusstsein, sondern er ist davon überzeugt, dass sich das Bewusstsein auch auf die
Sittlichkeit und die Kunst erstreckt. Das Problem der Einheit des Bewusstseins ist deshalb
als Einheit des Kulturbewusstseins zu verstehen und damit verbietet sich eine rein
psychologische Auffassung des Bewusstseins. Er ist aber der Ansicht, dass man die
Unterschiede der drei Gebiete, also Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, des Bewusstseins
nicht verwischen soll. Man soll den Wert der Psychologie nicht innerhalb der Psychologie
selbst suchen, sondern in dem Problem der Einheit des Kulturbewusstseins, „welches sie
113 Cohen (1902/1914), S. 16.114 Cohen (1902/1914), S. 16.
30
allein im Gesamtgebiete der Philosophie zu verwalten hat“. Somit gehöre sie zum System
der Philosophie:
„D ie s es In t e re s s e an de r E i nhe i t de s K u l t u r bew uß t s e i n s mußa ls e i n sys t e mat i sc hes In t e re s se de r P h i l o s oph ie e r kann twer den . Das System der Philosophie kommt nicht ins Gleichgewicht, wennes nicht dieses Problem einer wahrhaften Einheit des Bewußtseins bewältigthat.“ 115
Cassirer folgt dieser Ansicht Cohens und unterscheidet das Bewusstsein in das
erkenntniskritische Bewusstsein, das Erfahrungsbewusstsein und das empirisch-
wissenschaftliche Bewusstsein, je nachdem mit welchem Gegenstand das Bewusstsein
gerade zu tun hat (vgl. PsF I, 36-41; 3.2). Dies bildet die Voraussetzung für seine
Erkenntnistheorie und Begriffstheorie.
Cassirers Werken merkt man sehr deutlich an, dass in ihnen immer wieder auf Cohens
Kant-Interpretation zurückgegriffen wird. Es wird sogar behauptet, dass Cohen der einzige
war, der für Cassirers Gedankenwelt überhaupt eine große Rolle gespielt hat.116
Hervorgehoben werden kann in diesem Zusammenhang Cassirers Aufsatz Hermann Cohen
und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, da die Analyse desselbigen den Einfluss
der transzendentale Methode Cohens auf Cassirer verdeutlicht.
Cassirer hält in diesem Aufsatz fest, dass die transzendentale Methode dazu führt, „das
Bewußtsein nicht als einen Teil der Natur, sondern als das Insgesamt jener apriorischen
Grundsätze, die die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis der Gegenstände darstellen,
aufzufassen“.117 Er betont auch, das Transzendentale heißt nach Kant diejenige
Betrachtungsweise, „die nicht sowohl von den Gegenständen als von unserer Erkenntnisart
von Gegenständen überhaupt ihren Ausgang nimmt“ (HC, 255). Daher meint er, es sollte
vor der Frage nach dem Sein des Objekts die Frage nach der Erkenntnisart beantwortet
sein. Denn die Frage nach dem Sein des Objekts allein bleibt im transzendentalen Sinne
unbestimmt und unlösbar. Diese Erkenntnisart bedeutet, dass sie ihren Ausgang nicht vom
Objekt zum Subjekt, sondern umgekehrt vom Subjekt zum Objekt nimmt. Die
eigentümliche Wendung von Cohens Kantauffassung und Kantkritik setzt nach Cassirer an
dem Punkt ein, wo Kant selbst den Mittelpunkt seiner Lehre setzt, nämlich an der
‚Revolution der Denkart‘, die in der Vernunftkritik in der transzendentalen
115 Cohen (1902/1914), S. 17.116 Kajon (1988), S. 249.117 Kajon (1988), S. 250.
31
Problemstellung wurzelt.
Die Erkenntniskritik handelt „nicht von Vorstellungen und Vorgängen im denkenden
Individuum, sondern von dem Geltungszusammenhang zwischen Prinzipien und ,Sätzen‘“,
der von jeder Betrachtung des subjektiv-psychologischen Denkens unabhängig sein muss
(HC, 257). Daher bildet für Cohen, so Cassirer, die Einheit des Bewusstseins einen anderen
Ausdruck für die Einheit der synthetischen Grundsätze, „auf deren Giltigkeit die
Möglichkeit der Erfahrung und damit die Möglichkeit der Gegenständlichkeit überhaupt
beruht“ (ibd.). Die synthetischen Grundsätze sind für Cohen „die Hebel der Erfahrung“ und
sie bedingen „in letzter Instanz die Möglichkeit der Erfahrung“118. Diese Einheit der
Grundsätze geht auf einen ‚obersten Grundsatz‘, nämlich die Einheit des Bewusstseins
zurück. Die Organisation des ‚Geistes‘, die der Idealismus sucht, kann nach Cohen im
Strukturzusammenhang der Naturwissenschaft, wie der Ethik und Ästhetik abgelesen
werden.
Cassirers Interpretation von Cohens Begriff der Einheit des Bewusstseins kann nach Irene
Kajon unter drei Aspekten zusammengefasst werden.119 Erstens, Cohens Begriff der Einheit
des Bewusstseins basiert auf seiner Auffassung der Kantischen Erkenntnistheorie. Für
Cassirer ist entscheidend, dass Cohen „das Prinzip der Wechselbeziehung zwischen Idee
und Wirklichkeit als dasjenige Prinzip betrachtet, das auch auf sämtliche anderen Bereiche
der menschlichen Erfahrung angewandt werden muß“.120 Der zweite Aspekt sei die
‚Offenheit‘ der transzendentalen Methodik beziehungsweise des transzendentalen
Gesichtspunkts für die Mannigfaltigkeit der Erfahrung. Drittens, der Begriff der Einheit des
Bewusstseins stehe insofern im Zusammenhang mit Kants philosophischer Lehre, als „sich
die Philosophie mit der Ermittlung des letzten Ziels des Menschen befaßt“.121 Das letzte
Ziel des Menschen bestehe in der Verwirklichung jener ethischen Gemeinschaft, die durch
den Begriff der Freiheit selbst bestimmt werde.
Diese drei Aspekte stellen Kajons Meinung nach die charakteristischen Hauptzüge der von
Cassirer selbst in seinen Werken vertretenen Lehre von der Einheit des Bewusstseins dar,
und darüber hinaus ist sie der Ansicht, dass es auf der Basis dieser drei Aspekte möglich
wird, Cassirers Werke und die Folgerichtigkeit seiner philosophischen Entwicklung zu
begreifen. Man kann dieser Meinung Kajons aber nur teilweise zustimmen, denn die
Philosophie Cassirers wird zwar auf dem Fundament der Einheit des Bewusstseins
118 Cohen (1871/1918), S. 518.119 Kajon (1988), S. 252.120 Kajon (1988), S. 252.121 Kajon (1988), S. 253.
32
aufgebaut, ihre Charakteristika aber sind mehrdimensional, denen man nicht einfach unter
den drei Aspekten folgen kann. Seine Philosophie kann man als Philosophie der
Anthropologie, der Wissenschaft und im weitesten Sinne als Kulturphilosophie
bezeichnen, die noch weitere Aspekte verlangt. Wenn man dazu noch bedenkt, dass man
Cassirer als Hegelianer oder logischen Empiristen oder Positivisten bezeichnen könnte,
dann wird noch deutlicher, dass Cassirers Philosophie unter mehr als den von Kajon
ausgeführten Aspekten betrachtet werden muss.
Wie oben angeführt, bildet die Einheit des Kulturbewusstseins bei Cohen als ‚Einheit des
Bewusstseins‘ den Ausgang zur Naturerkenntnis sowie der Ethik und der Ästhetik. In
Cassirers frühen Werken, Leibniz’ System und SuF, wurde dieser Begriff in Bezug auf
moderne Wissenschaft und philosophische Reflexion benutzt.122 Nach Kajon entwickelte
Cassirer in seinen späteren Werken die These, dass „der Begriff der Einheit des
Bewußtseins die Verschiedenheit der menschlichen Erfahrungsbereiche als spezifischer,
jeweils durch ihr eigenes Sonderprinzip bestimmter Bereiche berücksichtigt“.123 Kajon
verfolgt die weitere Entwicklung des Begriffs der Einheit des Bewusstseins im späteren
Schrifttum Cassirers, wobei sowohl die begriffliche Verwendung im Bereich der
Kulturphilosophie als auch im Bereich der Lebensphilosophie analysiert wird. Darauf wird
hier im Folgenden aber nicht weiter eingegangen, stattdessen wird Cassirers Auffassung
des transzendentalen erkenntniskritischen Gegenstandsbewusstseins näher betrachtet.
Man kann an dieser Stelle vorwegnehmen, dass Cassirer in SuF die Funktion des
Bewusstseins als das Bewusstsein der Relation hervorhebt und in PsF als ‚symbolische
Funktion‘ (vgl. PsF I, 22: 3.2). Im folgenden Abschnitt soll auf erstere näher eingegangen
werden, wogegen letztere im Kapitel 3 im Zusammenhang mit dem Symbolbegriff erörtert
wird. In PsF wird der Begriff der ‚Einheit des Bewusstseins‘ weiterentwickelt, so dass
letztlich das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und dem Gegenstand als symbolische
Relation betrachtet und damit auch als symbolische Funktion des Bewusstseins bezeichnet
werden kann, die für die verschiedenen symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und
der wissenschaftlichen Erkenntnis stehen soll. Cassirer schildert die symbolische Funktion
des Bewusstseins präzise im zweiten Band der PsF im Kapitel Charakter und
Grundrichtung des mythischen Gegenstandsbewußtseins, mit der Absicht, zu zeigen, dass
das erkenntniskritische Gegenstandsbewusstsein im Grunde nicht anders als das mythische
Gegenstandsbewusstsein funktioniert. Beide haben denselben Grundcharakter, das heißt,
das Ganze wird dadurch gewonnen, dass jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen122 Vgl. Kajon (1988), S. 254.123 Kajon (1988), S. 257.
33
nicht seinem Inhalt nach, sondern seiner allgemeinen Struktur und Form nach in sich
schließt:
„Jedes Einzelne gehört hier schon ursprünglich einem bestimmten Komple xan und bringt die Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck. Erst dieGesamtheit dieser Regeln aber macht die wahrhafte Einheit des Bewußtseinsals Einheit der Zeit, des Raumes, der gegenständlichen Verknüpfung usf. aus.“(PsF I, 37)
So basiert der Prozess der ‚Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand‘ auf der Einheit
des Bewusstseins, das heißt, auf der Einheit der synthetischen Grundsätze nach Cohen.
1.3.2. Das Bewusstsein der Relation bei Cassirer
Die traditionelle Metaphysik hat nach Cassirer die alten Probleme des Dualismus nicht
überwunden, sondern sie hat immer wieder zur Trennung in eine subjektive und objektive
Welt geführt. Das charakteristische Verfahren der Metaphysik bestehe darin, dass sie auf
dem Gebiet der Erkenntnis selbst, das ‚Logisch-Korrelative‘ in ein ‚Dinglich-
Gegensätzliches‘ umdeute und die zusammengehörigen Gesichtspunkte, welche nur in
Bezug aufeinander bestimmt seien, von einander abtrenne. Die metaphysischen Fragen
nach dem Verhältnis des Denkens und Seins, des Subjekts und Objekts können unter dem
Gesichtspunkt der Erkenntniskritik verdeutlicht und die Probleme können unter dem
Gesichtspunkt der Logik des Reihenbegriffs gelöst werden. Die Metaphysik hat nach
Cassirer an dem Punkt versagt, da sie in der begrifflichen Unterscheidung von ,Dingen‘
und ‚Geist‘ einer räumlichen Trennung in Innen- und Außenwelt folgte: „Die Geschichte
der Metaphysik wechselt zwischen den gegensätzlichen Tendenzen ab, ohne daß es ihr
gelingt, die eine aus der anderen abzuleiten und auf sie zurückzuführen“ (SuF, 360).
Die metaphysischen Fragen verlassen aber das Gebiet der Erkenntnisprobleme nicht. Denn
wenn der Begriff des Objekts deutlich wird, ist damit der Begriff der Wirklichkeit, um den
es der Metaphysik geht, ebenfalls gewonnen. Die Erkenntniskritik versucht auch das
Problem des Dualismus der metaphysischen Grundbegriffe zu lösen, nur beschreitet sie
dabei den umgekehrten Weg, den die traditionelle Metaphysik zurücklegte. Das heißt, für
die Erkenntniskritik lautet das Problem nicht, wie man vom Subjektiven zum Objektiven,
34
sondern vom Objektiven zum Subjektiven gelangen kann.124 Es geht dabei nicht darum,
was eine bestimmte Erfahrung ‚ist‘, sondern um das, was sie ‚wert ist‘, das heißt, welche
Leistung ihr im Aufbau des Ganzen zukommt. Die eigentliche Leistung des Begriffs liegt
nach Cassirer eben in diesem Aufbau des Ganzen der Erfahrung:
„Wie die eigentliche Leistung des Begriffs nicht darin liegt, daß durch ihn eingegebenes Mannigfaltige abstrakt und schematisch ,abgebildet‘ wird, sonderndarin, daß er ein Gesetz der Beziehung in sich schließt, durch welches ein neuerund eigenartiger Zusammenhang des Mannigfaltigen erst geschaffen wird, sozeigt sich hier die Form der Verknüpfung der Erfahrungen als dasjenige, wasdie veränderlichen ‚Eindrücke‘ zu konstanten ,Objekten‘ umschafft.“ (SuF,380)
Alle empirische Erkenntnis hat die Gewinnung der konstanten ‚Objekte‘, also letzter
Invarianten, zum Ziel, die die notwendigen und konstitutiven Faktoren jedes
Erfahrungsurteils bilden (vgl. SuF, 356 f.). Unter diesem Gesichtspunkt scheinen die
mannigfachen empirischen Aussagen von sehr verschiedenem Wert zu sein. Man findet
aber Zusammenhänge, die „im Flusse der Erfahrung beharren“, die man ‚objektiv‘ nennt.
Cassirer erklärt was objektiv und subjektiv heißen soll:
„Objektiv heißen uns zuletzt diejenigen Elemente der Erfahrung, auf denen ihrunwandelbarer Bestand beruht, die sich also in allem Wechsel des Hier undJetzt erhalten; während dasjenige, was diesem Wechsel selbst angehört, wasalso nur eine Bestimmung des i nd iv i due l l e n , einmaligen Hier und Jetztausdrückt, dem Kreise der Subjektivität zugerechnet wird.“ (SuF, 362)
Für die Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv gibt es aber für Cassirer keine
festgelegte Grenzlinie. Der Gegensatz ist vielmehr beweglich, relativ und wechselseitig,125
und er ist nicht räumlicher, sondern dynamischer Natur. Somit ist die Grenze zwischen
Subjekt und Objekt beweglicher Natur. Es handelt sich beim Prozess der Wahrnehmung
um eine Beziehung, „die zwischen dem relativ engeren und dem relativ weiteren
Erfahrungskreis, zwischen relativ abhängigen und relativ unabhängigen Urteilen besteht“
(SuF, 365). Der sinnlichen Wahrnehmung ist somit „von selbst statt einer bloßen Zweiheit
von Bestimmungen, eine Wertfolge gegeben, die nach einer bestimmten Regel
fortschreitet“ (ibd.). Damit kann das ‚Subjektive‘ wie folgt umschrieben werden:
124 Vgl. Natorp (1887), S. 274.125 Vgl. Swabey (1958), p. 141.
35
„Das ,Subjektive‘ ist nicht der gegebene selbstverständliche Ausgangspunkt,von welchem aus nun in einer spekulativen Synthese die Welt der Objekte zuerreichen und zu konstruieren wäre, sondern es ist erst das Ergebnis einerA na ly se , die den Bestand der Erfahrung selbst, die also die Geltung festergesetzlicher Relationen zwischen Inhalten überhaupt, voraussetzt.“ (SuF, 370)
Das Subjektive und das Objektive sind, wie oben angeführt, unmittelbar aufeinander
bezogen, keines kann ohne das andere bestimmt werden. Das Problem der Erkenntnis führt
somit zu einer Relation, zu einem Inbegriff von Beziehungen, welcher selbst dann die
Voraussetzung für die Trennung in subjektiv und objektiv bildet. Es entsteht hier die
Forderung nach einer Psychologie der Relation, die nur durch Umbildung der
psychologischen Methode, also durch ein neues psychologisches Mittel erreicht werden
kann, denn die bloße Betrachtung des sinnlichen Erlebens kann nicht dem Problem gerecht
werden:
„Diese Umformung in den P r inz ip i en der Psychologie bildet selbst einwichtiges erkenntnistheoretisches Problem: es zeigt sich auch hier, daß es dieArt der Begr i f f s b i l dung ist, die, wie in den übrigen Gebieten, einecharakteristische Verschiebung erfährt.“ (SuF, 434)
Cassirer sieht hierbei den Anfang der wissenschaftlichen Psychologie bei Platon.126 Platons
Seelenbegriff wird Cassirers Interpretation zufolge selbständig, indem er aus dem
‚Naturbegriff‘ heraustritt und in die Bedeutung des Selbstbewusstseins hinübergeht (vgl.
1.4.2). Dieser Übergang ist aber nur mit Mitteln der reinen Logik möglich, das heißt, von
der bloßen Wahrnehmung als Teil des Naturprozesses gelangt man nicht zum Selbst. Denn
die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke kann das Ganze der Erkenntnis nie vollständig
erklären. Erkennen bedeutet daher nicht bloße Wahrnehmung, zum Beispiel eines Tons;
Erkenntnis betrifft vielmehr Aussagen über Sein oder Nicht-Sein, Ähnlichkeit oder
Unähnlichkeit, Einheit oder Vielheit, Identität oder Gegensatz der Wahrnehmungsinhalte.
Diese Aussagen lassen sich nicht durch reine Wahrnehmungen belegen, sondern sie gehen
darüber hinaus, indem sie zu einer Verknüpfung dieser Wahrnehmungsinhalte gelangen.
Um jedoch eine solche Verknüpfung erreichen zu können, bedarf es eines besonderen
Zustands, der unabhängig von Wahrnehmungsqualitäten und -organen ist. Dieser Zustand
ist in der Seele selbst gegeben. Durch sie gelangt man aus dem Chaos sinnlicher Erlebnisse
zu einer Einheit des Bewusstseins, zu einem identischen Selbst. Die Seele kann somit als
126 Vgl. Cassirer, PdG, S. 103-109. Cassirer betrachtet die Umbildung des theologischen Seelenbegriffs alsdie entscheidende Leistung Platons.
36
systematische Zusammenfassung der reinen Relationsbegriffe verstanden werden.
Die Begriffe, die sich im wissenschaftlichen Gebrauch als fruchtbar erwiesen haben,
können aber die Elemente, die die psychologische Betrachtung als Träger der Objektivität
ansieht, nicht erfassen. Denn die Bedeutung dieser Elemente beruht darauf, „daß sie sich
von dem Typus der Realität, der hier als Muster dient, entfernen und ihn geflissentlich
überschreiten“ (SuF, 439). Es bleibt daher immer ein letzter Rest, den die
Erkenntnisanalyse weder begreifen, noch beseitigen kann, wie „ein Schattenbild von
unsicherer Wesenheit und Herkunft“ oder Geistern gleich (SuF, 438). Es bleiben immer
Merkmale, die aus der bloßen Summierung der Einzelteile nicht erklärt werden können.
Dieser Umstand kann jedoch durch eine erneute Revision der Grundbegriffe behoben
werden, die im Grunde genommen einer neuen Begriffsbildung innerhalb der Psychologie
gleichkommt. Es ist der Begriff der ‚Gestaltqualität‘,127 der nach Cassirer die erste
Anregung zu einer erneuten Revision der allgemeinen Grundbegriffe der Psychologie
gegeben haben soll.128
Cassirer führt hierfür als Beispiel eine Melodie an, die scheinbar nur durch die
Wahrnehmung der einzelnen Töne zu erfassen ist. In Wirklichkeit aber kann man alle
Einzelteile ändern, zum Beispiel durch eine neue Tonart, und trotzdem bleibt die Einheit
erhalten. Damit kann man festhalten, dass ein Bewusstsein der Identität von Ganzen, von
Einheiten, von psychischen ‚Grundgestalten‘ besteht, das nicht von der Besonderheit der
Elemente abhängt129: „Ein Ganzes bilden heißt im psychologischen Sinne nichts anderes,
127 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 765. Das Wort ‚Gestaltqualität‘ stammt aus dem Aufsatz ÜberGestaltqualitäten, der im Jahre 1890 von Christian von Ehrenfels veröffentlicht wurde. Damit gilt 1890als ‚Geburtsjahr‘ der Gestalttheorie der Psychologie, die sich „zur Deutung und Erklärung psychischerPhänomene auf die Annahme stützt, daß die Einzelphänomene nur durch Rückgriff auf die innerenorganischen Gesetze von ganzheitlichen Gestalten adäquat verstanden werden können“; vgl. Ehrenfels(1890/1988), S. 136: „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welchean das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits ausvoneinander trennbaren (d.h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen. – Jene für dasVorhandensein der Gestaltqualitäten notwendigen Vorstellungskomplexe wollen wir die Grundlage derGestaltqualitäten nennen.“
128 Vgl. SuF, S. 438: „Die m o d e r n e Psychologie versucht zunächst nur in vereinzelten Ansätzen zu einerneuen Fassung des Problems vorzudringen. L e i b n i z greift unmittelbar wieder auf Platon zurück, wenner betont, daß die Inhalte, die die traditionelle Lehre dem ‚Gemeinsinn‘ zuspricht, daß insbesondereA u s d e h n u n g , G e s t a l t , und B e w e g u n g I d e e n d e s r e i n e n V e r s t a n d e s seien, die zwaranläßlich sinnlicher Eindrücke sich bilden, aber sich in ihnen niemals erschöpfend begründen lassen. Inder neueren deutschen Psychologie ist es sodann besonders T e t e n s , der diese Anregung aufnimmt undsie zu einer ausgebildeten Theorie der reinen ‚Verhaltungsgedanken‘ weiterführt. Im Ganzen aber bleibthier durchaus das L o c k e s c h e Schema herrschend, nach welchem ein Begriff erst dann als wahrhaftverstanden und abgeleitet gelten kann, wenn es gelungen ist, die einfachen Sinnesinhalte darzulegen, auswelchen er sich zusammensetzt. Auch die Ideen der ‚Reflexion‘ die anfangs eine besondere Stellungeinzunehmen scheinen, werden zuletzt nach diesem Maßstab gemessen. Sie besitzen nur insoweitwahrhaft p o s i t i v e n Gehalt, als sie sich unmittelbar in einzelnen, anschaulich gegebenenVorstellungsbildern zum Ausdruck bringen lassen.“
129 Vgl. Ehrenfels (1890/1988); vgl. auch Plümacher (2004), S. 52 ff.
37
denn als Ganzes wi r ken . Nicht nur die Teile als solche, sondern auch ihr gesamter
Komplex löst stets bestimmte besondere Wirkungen auf unser Gefühl und unsere
Vorstellung aus“ (SuF, 443). Auf Grund dieser Wirkung, die vom gesamten Komplex
ausgeht, kann man über die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit und so weiter urteilen.
Demnach lautet die Frage, wie man vom Ganzen zu den Teilen gelangen kann, aber nicht
umgekehrt. Es zeigt sich somit, dass man sowohl einfache Empfindungen, als auch
spezifische Beziehungen, wie zum Beispiel, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, als nicht
weiter reduzierbare Daten des Bewusstseins anerkennen muss.
Die Relationen bestehen dabei nicht als zeitlich oder örtlich abgegrenzte Teile, sondern sie
bestehen aus ihrer Notwendigkeit heraus. Das empirische Urteil, das sich auf ein Objekt
der tatsächlichen Wirklichkeit bezieht, ist bloß eine Aussage über die
Erfahrungsgegenstände im Hier und Jetzt. Demgegenüber ist eine Aussage, die sich auf die
Abhängigkeit zwischen zwei Elementen bezieht, durch die Natur der Glieder selbst
determiniert:
„Von den idealen Relationen dieser Art sind Urteile möglich, die, um in ihrerWahrheit erfaßt zu werden, nicht der Probe durch verschiedene, successivdurchlaufene Einzelfälle bedürfen, sondern ein für alle Mal mit der Einsicht indie No t wend igke i t des Zusammenhangs erkannt werden.“ (SuF, 450)
Die Relationen erscheinen zunächst als nachträgliches Ergebnis, das auf den gegebenen
einfachen Empfindungsinhalten aufbaut. Bei der weiteren Analyse zeigt sich aber, dass an
die Stelle des Nacheinander oder der Über- und Unterordnung, also der Zeit und
Raumordnung von Inhalten ein Verhältnis ‚strengster Korrelativität‘ zwischen diesen
treten muss: „Es bedarf einer Reihe verwickelter intellektueller Operationen, es bedarf
immer erneuter begrifflicher Arbeit, um hier den ‚potentiellen‘ logischen Gehalt in
‚aktuellen‘ Gehalt überzuführen.“ (SuF, 451) Das Bewusstsein ist nicht nur in den
sinnlichen Phänomenen, wie zum Beispiel Farben und Töne, Gerüche und Geschmäcke,
sondern auch in den ‚metaphänomenalen‘ Gegenständen, wie Vielheit und Zahl, Identität
und Verschiedenheit, begründet. „Sein Bestand wurzelt lediglich in der gegenseitigen
Zusammengehörigkeit der beiden Momente, deren keines daher als ‚erstes‘ und
ursprüngliches dem anderen voranzustellen ist.“ (SuF, 452) Cassirer ist der Ansicht, dass
jeglicher Inhalt des Bewusstseins schon auf irgendeine Art gegliedert ist, denn
„alles Bewußtsein verlangt irgendeine Art der Ver knüp f ung : und jede Form
38
der Verknüpfung setzt eine Relation des Einzelnen zu einem umfassendenGanzen, setzt eine Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinenGesamtzusammenhang voraus.“ (SuF, 394)
Daraus lässt sich folgern, dass „der Prozeß des Wahrnehmens von dem des Urteils nicht
zu trennen ist. Es sind elementare Urteilsakte, kraft deren der Einzelinhalt als Glied einer
bestimmten Ordnung erfaßt und damit erst in sich selbst gefestigt wird“ (SuF, 453).130 Das
Urteil ist somit eine Form der objektivierenden Bestimmung, „durch welche ein
Sonderinhalt als solcher unterschieden und zugleich einer Mannigfaltigkeit systematisch
eingeordnet wird“ (SuF, 453 f.).
Es zeigt sich somit, dass im gleichzeitigen Erfassen der Relationen und der Empfindung
bereits ein Akt des geistigen Tuns vorliegt, ein Moment der Aktivität des Ich. Die
Empfindungen und ihre Beziehungen werden hierbei nicht als real voneinander getrennt
betrachtet, sondern die Erkenntniskritik spricht den Urteilen einen eigenen Geltungswert
zu. Die Erkenntniskritik betrachtet das Denken nicht als einen Prozess des reinen passiven
Aufnehmens von fertigen Zusammenhängen, sondern als eine produktive Leistung, bei der
Urteile geschaffen werden.
1.4. Cassirers Interpretation der ‚Ideenlehre‘ Platons
1.4.1. Ideenlehre
Cassirer verfasste mit der Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon den
ersten Teil des von Max Dessoir herausgegebenen Werkes Die Geschichte der
Philosophie.131
Platon ist für Cassirer der erste Philosoph, der zum Begriff und zum Problem des Seins
vorgedrungen ist. Erst Platon stelle die Frage nach der Bedeutung des Begriffs, und die
130 Das an dieser Stelle von Cassirer angesprochene ‚Urteil‘ in Bezug auf Wahrnehmung ist vom Urteil derAussage zu unterscheiden, vgl. Ritter et al. (HWP), Bd. 11, S. 436. Das Urteil gehört neben Aussage,Behauptung und Proposition „zu denjenigen Gebilden, die nach traditioneller Auffassung wahr oderfalsch sein können und damit Träger von Wahrheitswerten sind. Die Begriffsgeschichte von [Urteil] istaufgrund dieser Gemeinsamkeit mit der Geschichte der genannten Begriffe aufs engste verwoben“.
131 Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie. Vol. 1. Die Geschichte der Philosophie. Berlin, 1925.Cassirer schreibt in einer Anmerkung zu seiner Darstellung der Platonischen Ideenlehre, dass sie auf denVersuch verzichtet, eine von Dialog zu Dialog fortschreitende ‚genetische‘ Entwicklung desPlatonischen Denkens zu geben. Die Scheidung in die drei Hauptepochen müßte natürlich eingehaltenwerden; innerhalb dieser Epochen aber seien die einzelnen Dialoge als ein Ganzes behandelt. Erverweist hier auf Cohens Platons Ideenlehre und die Mathematik (1878) und Natorps Platos Ideenlehre.Eine Einführung in den Idealismus (1903) vgl. Cassirer, PdG, S. 83.
39
entscheidende Leistung von ihm bestehe in der Entdeckung der inneren Problematik des
Grundbegriffs, auf dem alle vorsokratischen Systeme sich aufbauten. In den
vorsokratischen Systemen ist die reine Form des Gedankens noch an die Form der Dinge
gebunden und in ihr verhaftet.132 Erst Platon setze hier einen scharfen Trennungsstrich, erst
bei ihm werde der Unterschied zwischen dem Reich der Gedanken und dem der Dinge
klarer und zu einer ‚methodischen Antithese‘.
Alle Vorsokratiker hatten gefragt, was das Sein sei und wie es zu bestimmen sei. Platon ist
jedoch der Ansicht, die Bedeutung des Begriffs müsse feststehen, bevor man nach der
näheren Bestimmung eines Begriffs frage. Wenn sich sichere Aussagen über einen Inhalt,
über seine Eigenschaften machen lassen, sollte schon erkannt sein, was er selbst ist. Mit
diesen Fragestellungen geht Platon nicht nur über die Lehren der Vorsokratiker, sondern
auch über Sokrates selbst hinaus, dem er jedoch die Form der Frage als solche verdankt;
das ti esti wird, als das bleibende Instrument, der Methode der Sokratischen
Gesprächsführung entnommen. Die Frage der Eleatik nach dem Sein war auf das Seiende
gerichtet. Die assertorische Behauptung des Parmenides und der Eleatik, ‚das Seiende ist‘,
wird bei Sokrates in eine problematische Form, ‚was ist das Sein ?‘ umgesetzt. Diese Form
wird bei Platon zu höchster Allgemeinheit entwickelt, „indem sie sich gewissermaßen
gegen sich selber wendet und sich in sich selbst reflektiert“ (PdG, 85). Cassirer geht davon
aus, dass das Sein, von dem Sokrates sprach, nicht das Sein der Dinge, sondern das Sein
der Bedeutung war:
„Es ging nicht auf die Ex i s t e nz bestimmter Inhalte, sondern auf dieBestimmung des eindeutigen S inns der Begriffe. Nicht nach dem Dasein oderden Eigenschaften irgendwelcher in der unmittelbaren sinnlichen Anschauungaufweisbarer Ge gens t ände wurde hier gefragt, sondern nach dem Gehalt derPrädikation, der A uss age selbst.“ (PdG, 85 f.)
Das Bedeutungsproblem dient somit Platon als Ausgangspunkt des Philosophierens,
während der Begriff des Seins nur als ein abgeleitetes Resultat, als Folgerung aus diesem
Anfang erscheint. So wird sein Kosmos der Kosmos der Bedeutungen. Sein Blick ist auf
die Wahrheit der Gegenstände, statt auf die Gegenstände selbst, gerichtet.133
132 Vgl. Cassirer, PdG, S. 87. Die Pythagoreer fassen zum Beispiel die Zahl als rein gedanklichesVerhältnis auf, das nur in den Sinnendingen besteht. Bei Heraklit ist Logos die ‚ewig sich selbst gleiche‘Regel und das immanente Gesetz allen Geschehens. Heraklit stellt aber den Logos zugleich in deranschaulichen Form des Weltenfeuers dar, das sich nach Maßen entzündet und nach Maßen verlischt. Inden eleatischen Systemen, angefangen bei Xenophanes bis hin zu Melissos, schlägt immer wieder derBegriff der logischen Einheit in den der kosmischen Ganzheit um.
133 Vgl. PdG, S. 86. Cassirer zitiert hier Platons Phaidon, 99D: „ich müsse mich hüten, daß mir nicht
40
In seinem Aufsatz Zur Theorie des Begriffs meint Cassirer, dass „das logische Problem des
Begriffs mit dem B ede u tungspr ob l em verknüpft“ ist, und dass sich nur innerhalb
einer systematischen „Bedeutungslehre“ die Begriffslehre „zureichend begründen und
vollständig aufbauen“ lässt (ZTB, 130; vgl. ET II, 115). Das Bedeutungsproblem bildet mit
der ‚Symbolfunktion‘ den Mittelpunkt seiner Begriffstheorie in PsF. Eingedenk dieser
Tatsache stellt man bei der Lektüre von Cassirers Platon-Interpretation fest, dass man auch
in ihr seine Gedanken zur Begriffstheorie wiederfindet.
Der geschichtliche Grund für das oben geschilderte Verhältnis zwischen Platon und den
Vorsokratikern liege, so Cassirer, darin, dass seit dem Auftreten des Sokrates das Problem
der Natur nicht mehr als unmittelbarer Anknüpfungspunkt der philosophischen
Betrachtung gelten könne. Cassirer verweist hier auf eine Stelle am Anfang von Platons
Phaidros,134 in der durch die Sokratische Frage nach dem Sinn und Zweck des
menschlichen Daseins, auch alle übrigen philosophischen Fragen einen neuen Akzent
erhalten haben:
„Die große Leistung des Sokrates, wie Platon sie verstand und wie er siezunächst mit einseitiger Schroffheit verkündete, lag eben in der Einsicht, daßdie ‚Vernunft‘ des Seins, daß sein Logos sich nicht in den Dingen, sondern nurim Denken und im Tun, offenbaren könne.“ (PdG, 88)
So entsteht durch die Frage nach der Wirklichkeit im Sokratischen Dialog das
philosophische Grundproblem Platons, das Problem der Dialektik. Cassirer ist der Ansicht,
man sollte sich, um das Problem der Dialektik bei Platon fassen zu können,
vergegenwärtigen, dass für Platon das Sprachproblem und das Bedeutungsproblem
innerlich zusammengehören. Denn das Denken ist für Platon noch ein Gespräch. Das Sein
ist daher auch ursprünglich das, was sich in der Form des Gesprächs expliziert und sich in
keiner anderen Form offenbaren kann. Platon frage nicht wie die Dinge in Raum und Zeit
möglich, noch aus welchen Ursachen sie entstanden seien, sondern aus welchen Quellen
das Verständnis, die Verständigung über die Dinge hervorgehe.
begegne, was denen, welche die Sonnenfinsternis betrachten und anschauen, zu begegnen pflegt. Vielenämlich verderben sich die Augen, wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das B i l d der Sonneanschauen. So etwas merkte ich auch und befürchtete, ich möchte ganz und gar an der Seele geblendetwerden, wenn ich mit den Augen nach den Gegenständen sähe und mit jedem Sinne versuchte, sie zutreffen. Sondern mich dünkte, ich müsse zu den Begriffen (λόγοι) meine Zuflucht nehmen und in ihnendie Wahrheit des Seienden betrachten. Doch vielleicht trifft dieses Gleichnis in gewisser Hinsicht nichtzu: denn das gebe ich keineswegs zu, daß derjenige, der das Seiende in den Begriffen betrachtet, esmehr in Bildern betrachte, als wer in den Dingen.“
134 PdG, S. 87 f., Platon, Phaidros, 230 D: „Das verzeihe mir nur, mein Bester. Ich bin eben lernbegierig,und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“
41
Der sinnliche Akt des Hörens ist die Bedingung für das Verstehen, aber er enthält in sich
nicht das, was zur Erklärung des logischen Aktes des Verstehens dienen kann. Der
gesprochene und gehörte Laut, der an sich Sinnliches ist, weist auf Nicht-Sinnliches hin.
Somit kann es als Tatsache angesehen werden, dass zwischen Laut und Bedeutung ein
‚symbolischer‘ Zusammenhang besteht. Hierauf basierend will Cassirer die griechische
Sprache als ein Organ des Gedankens ansehen: „Das Zeichen [braucht] dem Bezeichneten
in keiner Weise zu g l e i c hen , um seiner geistigen Funktion zu genügen, als ,Hinweis‘ auf
den Gegenstand zu dienen.“ Das einfachste Wort der Sprache enthält bereits einen sicheren
Beleg dafür, „daß eine solche ,Stellvertretung‘ möglich ist, daß im Sinnlichen ein rein
Intellektuelles sich symbolisch auszudrücken vermag“ (PdG, 90).135 Das Wort steht nicht
einzeln, sondern erhält seinen eigentümlichen Sinn aus dem Zusammenhang des Satzes,
und die einzelnen Sätze stehen nicht für sich, „sondern sie fordern und bedingen einander
und schließen sich erst damit zu einem einheitlichen ,Sinngefüge‘, zu einem gegliederten
‚Logos‘ zusammen“ (ibd.).
In diesen Sätzen wird schon die grundlegende Problematik der Begriffstheorie Cassirers
deutlich. Die Termini ‚Zeichen‘, ‚Funktion‘ und ‚symbolisch‘ sind Grundelemente seiner
Theorie des Symbolbegriffs in PsF und die des Funktionsbegriffs in SuF. Der
Substanzbegriff, der das Sein von gegebenen Dingen in Raum und Zeit bezeichnet, wird
von Cassirer in SuF ‚Dingbegriff‘ genannt. Diesen Dingbegriff lehnt er jedoch ab und hebt
stattdessen ‚Logos‘ im Denken hervor, eine Einsicht innerhalb seiner Begriffslehre, die auf
der ‚Ideenlehre‘ Platons beruht.
Über die bisherigen Ausführungen gelangte man sozusagen zum Eingang der Platonischen
Gedankenwelt, von dem aus man „von der Betrachtung der Sprachform zur Betrachtung
der allgemeinen Form des Wis s ens weitergeführt [wird], die für Platon ihren
charakteristischen und prägnanten Ausdruck in den Urteilen der M at hema t i k findet“
(ibd.). Die Mathematik deckt für Platon das innere Gesetz, die Struktur und Wesensform
des Wissens überhaupt auf. Die Gegenstände der Mathematik sind in den Inhalten der
unmittelbaren Sinnenwahrnehmung nicht anzutreffen:
„Wie das Wort der Sprache an einen sinnlichen Inhalt anknüpft, aber seineFunktion als Wort, seine Bedeutung erst dadurch erlangt, daß es über diesenInhalt hinausgreift und ihn als bloßes Symbol, als Hinweis auf ein ,anderes‘
135 PdG, S. 90. Cassirer meint weiter: „Es scheint, daß sich hierin die griechische S p r a c h e , wie so oft, alseigentliches Organ des Gedankens selbst bewiesen hat. Denn im Griechischen ist es ein und dasselbeWort [...], das den physischen Akt des Sprechens und die logische Funktion des ,M e i n e n s ‘ und‚B e d e u t e n s ‘ bezeichnet.“
42
gebraucht, so dienen auch die sinnlichen Gestalten, auf die wir uns bei derAussprache und beim Beweis irgendeines geometrischen Lehrsatzes stützen,nur zur psychologischen Verdeutlichung des Gemeinten, aber sie fassenniemals den Kern der Meinung selbst. [...] was in der mathematischenDef i n i t i on des Kreises oder der Kugel als deren notwendige Bedingungausgesprochen ist, das ist in dem einzelnen sinnlichen Gebilde immer nurunvollkommen erfüllt: das Sinnliche faßt niemals die mathematischeBedeutung schlechthin, sondern verhält sich zu ihr als bloße ,Andeutung‘.“(PdG, 91)
Man müsse aber mit Platon begreifen, so Cassirer, dass die Wirklichkeit in Raum und Zeit
nur dann einen festen Bestand und einen sichern Halt gewinnt, „wenn es eine Wahr he i t
gibt, die in sich selbst feststeht und stand hält, weil sie ,selbst an sich selbst‘ gilt und für
alle Aussagen über das relative, das empirische Sein die Grundlage bildet“ (PdG, 92).
Platon hielt von dem Gorgias bis zu den Gesetzen, einer seiner späteren systematischen
Hauptschriften, an der griechischen Grundanschauung fest, die körperliche Natur könne
keinen festen Bestand aufweisen, wenn sich nicht in ihr, mitten im Wandel des Einzelnen,
die Natur des Ganzen behaupte.
In der Welt des Physischen ist auch das Besondere nicht nur einfach da, sondern es strebt
danach, sich in dieser seiner Besonderung zu erhalten. Diese Erhaltung aber wäre auch
dann möglich, wenn sie verlangt, dass „es seine Bestimmtheit der Art, der Bestimmtheit,
der Regel des Ganzen einfügt. Die Physis des Einzelnen besteht nur kraft dieser ,Fügung‘,
kraft dieser Beziehung, in die sie sich zur ,Physis des Ganzen‘ setzt“ (PdG, 96). Die Natur
des Ganzen ist nicht das bloße Aggregat, sondern sie ist wie die geometrische Gleichheit,
ein an sich unsichtbares Verhältnis: „Sie ist eine Einheit, die alle Einzelheit bedingt, die
aber selbst niemals als Einzelheit erscheint.“ (PdG, 97)
Cassirer betont hier, dass der Inhalt des Grundprinzips der Platonischen Lehre nicht nach
seinem bloßen ‚Was‘ bestimmt werden sollte, sondern nach seinem ‚Warum‘ begriffen, das
heißt, aus seinen gedanklichen Motiven heraus entwickelt werden sollte.
Der Gegenstand der Platonischen Betrachtung wechselte ständig: von den Grundfragen der
Logik und der sprachlichen Bedeutungslehre zu denen der Geometrie und des
mathematischen Wissens, von diesem zu den Problemen der Ethik und Wertlehre, der
Technik und Naturlehre, zur Lehre vom menschlichen wie zu der vom staatlichen Körper.
Platon stellte auf all diesen Gebieten die entscheidenden Fragen, nämlich die nach der
Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine und nach der Bedeutung des ‚Gegenstands‘:
„Was ist es, das in ihnen [Gebieten] allen die Beziehung des Einzelnen auf das Ganze
herstellt und gewährleistet, — was ist es, das dem Besonderen, über sein individuelles
43
Da se i n , über seine Existenz an diesem oder jenem Punkte der empirischen Raum- und
Zeitreihe, eine bestimmte allgemeingültige Bede u tung verleiht?“ (PdG, 100).
Die Erscheinungswelt erweist sich somit als eine Welt, die sich selbst nicht genügt, die in
der bloßen Tatsächlichkeit ihres Daseins einen steten Hinweis auf ein anderes, ihr selbst
nicht Angehöriges enthält. Das Subjekt und das Prädikat im empirischen Urteil gehören
‚gleichsam zwei verschiedenen Dimensionen‘ an. Das Subjekt ist ein bloßes Das-da, das
Prädikat aber hat eine ‚in sich bestimmte Bedeutung‘, die aber selbst nicht unmittelbar
erscheint. Die verschiedenen Arten der Prädikation bestimmen verschiedene Richtlinien,
die alle über das unmittelbare Dasein der Erscheinungen hinausführen. Wenn man alle
diese Richtlinien verfolgt, die sich zuletzt in einem gemeinsamen Punkt schneiden, so
erreicht man in diesem Punkt das Zentrum der Platonischen Lehre, die Idee. Cassirer
interpretiert die Ideen Platons wie folgt:
„Die Ideen sind diejenigen Gebilde, die, selbst keines unmittelbaren Daseinsfähig, alles erscheinende Dasein erst begründen; das heißt: sie sind innerhalbjedes Einzelgebiets die bedeutunggebenden Momente. Wo wir von einem Seinder Phänomene, der Subjekte unserer empirischen Urteile, sprechen, da kennenwir dieses Sein doch immer nur als einen Übergang von einem Zustand zumanderen, also als ein bloßes En t s t ehe n ; die reinen Bedeutungen allein, die alsPrädikate im Urteil fungieren, be s t ehe n als mit sich selbst identische, inihrem Sinn konstante Normen und Bezugspunkte des Urteils. So trennt sich dasSein der Wahrheit von dem des empirischen, des zeitlich-räumlichen Daseins;[...] Beide sind voneinander getrennt und doch notwendig aufeinander bezogen— wie das Abgeleitete, wenn es überhaupt verstanden werden soll, auf seinenUrsprung, das Begründete auf seinen Grund, das Bedingte auf das Unbedingtebezogen werden muß.“ (PdG, 102)
So sei die Idee der Ausdruck des ‚Sinngehalts‘, der der Wahrnehmungswelt durch den
Logos der Sprache und durch den der bildnerischen Tätigkeit, durch die Bestimmung im
reinen Denken und durch die Bestimmung zu einem allgemeingültigen Zweck
fortschreitend verliehen werde.
1.4.2. Seelenlehre
Wenn man die Grundlehre Platons im oben angeführten Sinne versteht, so Cassirer, bleibt
noch die Frage unbeantwortet, ob die Idee als geistige Form etwas anderes und etwas mehr
als eine rein subjektive Form ist.
44
Im Dialog Parmenides wird die Frage gestellt, ob dann, wenn man das reine Denken als
eine Funktion der Seele selbst versteht, alles, was es erreicht, im Kreis der Seele, im Kreis
des Bewusstseins eingeschlossen bleibt. Die Voraussetzung für eine Antwort auf diese
Frage ist, dass das gesamte Verhältnis von Idee und Seele auf eine neue Grundlage gestellt
wird, das heißt, „daß die Begriffe des ,Seins‘ und des ,Bewußtseins‘ einer radikalen
Umbildung unterzogen werden und ihr Verhältnis neu bestimmt wird“ (PdG, 104). Eine
systematisch durchgeführte Antwort auf die Fragen findet sich nach Cassirer aber erst im
Theaitetos.
Cassirer betont, dass die Ursprünglichkeit und die eigentümliche Grundrichtung Platons
bei seiner Seelenlehre deutlich hervortritt, weil er an bestimmte Voraussetzungen gebunden
bleibt, die er nicht im methodisch-dialektischen Beweisgang bestimmt, sondern die er der
philosophischen und religiösen Überlieferung entnimmt. Die Umbildung des theologischen
Seelenbegriffs, „die Peripetie, welche die mythische Lehre von der Seele durch ihre
Beziehung und Hinlenkung auf das Grundproblem der Ideenlehre erfährt“, hält Cassirer für
die entscheidende Leistung Platons (PdG, 105 f.): „Durch die Vermittlung der Ideenlehre,
durch die unlösliche Korrelation, die sich zwischen der Seele und der Idee herstellt, erhält
erst der Begriff der Seele seinen neuen, seinen streng philosophischen Gehalt.“ (PdG, 106)
Cassirer unterscheidet in der Entwicklung des Seelenbegriffs bei Platon drei
Grundauffassungen. In der einen wird die Seele als ein Art Substanz, als ein Ding
genommen, das vom Körper unterschieden, doch in irgendeiner Weise in ihm enthalten ist;
in der zweiten erscheint die Seele als dynamische Ursache der Bewegung; in der dritten
wird sie zum reinen Ausdruck der Persönlichkeit, des Selbstbewusstseins. Diese drei
Momente des Seelenbegriffs liegen, so Cassirer, in Platons Darstellung beieinander und
greifen in der Gestaltung seiner Lehre vielfältig ineinander über. Im Phaidon, in den
Beweisen für die Unsterblichkeit, sieht Cassirer das erste Moment überwiegen, im
Phaidros das zweite und das dritte gelangt dann im Theaitetos zur vollkommenen und
selbstständigen Entfaltung. So hält er den Theaitetos in der Entwicklung des Platonischen
Seelenbegriffs für entscheidend: „Hier sind alle mythischen Reste, alle Reste des
Seelenstoffes oder der Seelenkraft, abgestreift: das Problem der Seele ist zum Problem des
Ich, zum Problem der Bewußtseinseinheit und des Bewußtseinsganzen fortgebildet.“ (ibd.)
Im Reich des Werdens, wie im Heraklitischen Satz vom Fluss aller Dinge, ist die Einheit
des Objekts wie die des Subjekts vielmehr eine bloße Fiktion. Aber in dieser negativen
Feststellung liegt umgekehrt die positive Folgerung, dass sich hier das sinnlich-einzelne
Dasein zu einem Ganzen der Bedeutung zusammenschließen muss:
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„Die einzelnen Elemente müssen nicht als einfaches Neben- oderNacheinander, sondern als ein In-Einander gefaßt werden: derart, daß jedes vonihnen sich auf die Gesamtheit aller andern bezieht und schon in seinemeinfachen Dasein auf diese Gesamtheit, auf die Natur des Ganzen, hinweist.“(PdG, 108)
Cassirers Interpretation zufolge weisen die Hinweise im Theaitetos auf das gleiche System
von Beziehungen hin, nämlich auf die Ideen. Es geht wieder um die Begriffe von Sein und
Nicht-Sein, von So-Sein und Anders-Sein, von Einheit und Vielheit etc., durch die allein
die Verknüpfung und Schaffung eines psychischen Zusammenhangs sich als möglich
erweist.
Die sinnliche Wahrnehmung würde gewöhnlich isolierte, gegeneinander beziehungslose
und daher auseinanderfallende Bestimmungen ergeben, wenn sie überhaupt Bestimmungen
zu geben vermag:
„Damit diese Bestimmungen sich verknüpfen, damit sie zur Einheit eines‚Selbst‘ zusammengehen: dazu muß an ihnen, statt ihrer sinnlichenBesonderheit, vielmehr ein Allgemeines erfaßt werden — und diese Erfassungdes Allgemeinen ist ein Werk der Seele, das sie ohne Vermittlung eineskörperlichen Organs ,selbst durch sich selbst‘ ausüben muß [...].“ (PdG, 108)136
Dasjenige, was man die Einheit des Ich nennt, kommt dadurch zustande, dass man im
Denken alles Einzelne auf ein Allgemeines, auf die Natur des Ganzen bezieht und dass
diese Beziehung nur durch das Medium der reinen Ideen erfolgen kann. Die Ideen seien so
wenig einfache Daten des Bewusstseins, seien so wenig Schöpfungen unseres Ich, dass
vielmehr umgekehrt das wahre Ich erst auf Grund ihrer gedacht, erst durch sie konstituiert
werden könne.
Die Seele ‚greift‘ nach dem Sein, nach dem reinen Begriff von Sein und Nicht-Sein, von
Einheit und Vielheit, von Gleichheit und Verschiedenheit, um die sinnlichen Eindrücke zu
gliedern, zu sondern und zu beurteilen (vgl. PdG, 108). Die menschliche Seele schaut auf
das ‚Seiende‘, auf das Reich der Ideen, und durch diese Schau streckt sich die Seele nach
den Ideen. Die entscheidende Frage dabei ist, wie die Welt der Seele mit der Welt der
räumlich-zeitlichen Erscheinungen zusammenhängt. Die Welt der Dinge erzeugt nicht ein
einfaches Abbild, einen Abdruck ihrer selbst in der Seele. Beide Welten sind mittelbar
136 Hier verweist Cassirer auf Theaitetos 185 D f.; Platon (1993), Bd. IV, S. 101: Theaitetos sagt: „Ich kannkein Organ dafür nennen, doch will es mir scheinen, als gäbe es dafür gar kein besonderes Organ wie fürdie einzelnen Sinneswahrnehmungen, vielmehr dürfte wohl die Seele selbst durch ihre eigene Kraft dasan allen Gemeinsame betrachtend erfassen.“
46
dadurch miteinander verknüpft, „daß sie auf das gleiche Sein, auf das Sein der reinen Idee
als den ursprünglichen Einheitspunkt hinweisen, und daß sie diesem Sein ,nachstreben‘.
Dabei tritt freilich der Sinn und der Charakter dieses Strebens in seiner vollen Klarheit erst
im Gebiet des Seelischen hervor“ (PdG, 109).
Wenn man auf dem Gebiet des Physischen stehenbleibt, so kann die ‚Teilhabe‘ der
Erscheinung an den Ideen, der methodische Begriff ‚Methexis‘ immer wieder so verstanden
werden, dass er ein dingliches Verhältnis einschließt. Wenn man aber von der Seele
ausgeht, tritt der Sinn der Teilhabe der Erscheinung an den Ideen unverkennbar heraus, das
heißt, der methodische Begriff Methexis fordert die Beziehung des Ganzen der
Erscheinungswelt auf das systematische Ganze der Ideen. Man habe vermutet, so Cassirer,
„daß hier Platon die wahre Methexis e n tdeck t haben muß. Denn jedesseelische Phänomen weist schon in seinem einfachen Dasein, in seinemphänomenalen Bes t and eine doppelte Beziehung auf. Es ist eines und vieles;in sich geschlossen und in sich gespalten; es verweilt in sich selbst und strebtdoch ständig über sich selbst hinaus“. (PdG, 109)
1.4.3. Systematik der Ideen
Cassirer sieht in der Gruppe der Dialoge Platons, die gewöhnlich Alterswerke genannt
werden, die Systematik der Ideen als vervollständigt an. Die Entwicklung des Gedankens
zeige, dass er sich in allgemein methodischer Hinsicht behaupten konnte, obwohl der
Begriff und das Problem des Kosmos vom Phaidon bis zum Timaios Änderungen
unterworfen wurden. Der Phaidon kenne nur den ethischen Kosmos, den Kosmos der
Seele, der ihr dann zuteil werde, wenn sie sich mit der ihr eigentümlichen Besonnenheit
und Gerechtigkeit, mit Tapferkeit und Wahrheit schmücke. Im Timaios dagegen sei es der
Kosmos als Ordnung und Schönheit der sichtbaren Welt. Platons Blick ruhe auf ihrer
inneren Geschlossenheit und Regelmäßigkeit und ihrer Einzigkeit und Selbstgenügsamkeit.
Der Gedanke des Systems bei Platon war nach Cassirer schon im Gorgias konzipiert und
stellt im Timaios den eigentlichen Mittelbegriff zwischen der ethischen, der
mathematischen und der physischen Ordnung dar:
„Aber indem er [der Gedanke des Systems] im Timäus vor allem auf densichtbaren Kosmos bezogen wird, indem das System sich als Weltsystemkonstituiert, hat doch die prinzipielle Scheidung zwischen den empirisch-sinnlichen Dingen und den reinen Vernunftgründen nichts von ihrer Schärfe
47
verloren. Denn eben das, worauf aller Zus amme nha ng der Dinge beruht, istselbst nicht dinglicher Art; ist nicht materiell, sondern mathematisch, und somitrein ideell, zu erfassen. Die Welt ist kein Aggregat von Stoffen, sie ist nichteinmal ein Resultat verschiedener Kraftwirkungen, sondern ihr Bestand ruht inder Wahrheit und Gewißheit reiner Gestalt- und Zahlverhältnisse, in derWahrheit der mathematischen Proportion. [...] Auch die Kosmologie desTimäus ist nicht vom Kosmos zum Logos, sondern von diesem zu jenemgegangen: sie geht von der Gewißheit eines höchsten Vernunftgesetzes aus, dassie sodann im Weltall gleichsam verkörpert wiederfindet.“ (PdG, 124 f.)
Die Welt der Erscheinungen erhielt ihre eigentümliche Bedeutung dadurch, dass sie sich
der Teilhabe an den Ideen fähig erwies. Das besondere und einzelne Dasein fügte sich kraft
der Beziehung auf die Idee zu einem sinnvollen Ganzen zusammen:
„Die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen wurde in die Einheit der Idee‚zusammengesehen‘ [...] Die Form dieser Zusammenschau aber erfolgte derart,daß hierbei beständig an den Akt der Begriffsbildung, das heißt an den Akt dersprachlichen und logischen Prädikation, angeknüpft wurde. [...] Kraft diesesschlichten und überall wiederkehrenden Verfahrens der Begriffsbestimmung[...] konnten wir von den mannigfachsten Ansatzpunkten ― von der Welt desWissens wie von der des Tuns, vom Sein der Körperwelt wie von dem derSeele, von den Gebilden der Natur wie von der politischen und sozialenWirklichkeit ― den ‚Aufstieg‘ zur Idee vollziehen.“ (PdG, 125)
Es scheint, dass die allgemeine Methodik der Ideenlehre auf die verschiedenartigsten
Inhalte und Gebiete in gleicher Weise anwendbar sein könnte. Das Verfahren bietet aber für
die Systematik der Ideen selbst keine unmittelbare Gewähr: „Denn die Idee besagt als
solche nur die Forderung der Sinneinheit selbst, die sich an jedem beliebigen empirischen
Material zum Bewußtsein bringen läßt.“ (PdG, 126) Dieses Problem entwickelt sich daher
zum logischen Grundproblem Platons, das seine Alterswerke beherrscht.
Nach Ansicht Cassirers rücken der Parmenides und der Sophistes, der Politikos und der
Philebos zu einer Einheit zusammen: „die gemeinsame Aufgabe dieser Dialoge [besteht
darin], den Begriff der Dialektik dadurch methodisch zu vollenden, daß bestimmte
Grundverhältnisse, die zuvor nur an der Beziehung der Erscheinung auf die Idee
aufgewiesen waren, nunmehr an den Ideen selbst zur Darstellung kommen sollen.“ (ibd.)
Im Parmenides und im Philebos zeigt sich, dass eine Erscheinung an mehreren, teilweise
sogar entgegengesetzten Ideen teilhaben kann, dass ein Sinnending ‚eines und zugleich
auch vieles‘ sein kann, dass es ein Ganzes ist, das aus einer Mehrheit von Teilen besteht.
In den Alterswerken sieht man, dass die Form der Ideenlehre in strenger methodischer
Kontinuität aus ihr selbst erwächst. Platon spricht hier von einer Bewegung der reinen
48
Ideen, der ‚Kinesis‘, die der ursprünglichen Konzeption der Ideenlehre zu widersprechen
scheint. Der Begriff ‚Kinesis‘ schließt für Platon weder einen räumlichen Nebensinn ein,
noch haftet ihm eine empirisch-zeitliche Bestimmung an. Auch das Anders-Werden geht
nicht auf ein Entstehen oder Vergehen in der Zeit zurück, „sondern es bezeichnet selbst ein
rein ideelles Verhältnis ― es drückt eine Andersartigkeit der Beziehung aus, die durch den
Wechsel des Bezugspunktes ermöglicht und gefordert wird“ (PdG, 128).
„Was ein bestimmter Begriff ist und bedeutet ― das läßt sich im Grundeimmer nur dadurch erfassen, daß er von anderen un t e r sc h i ede n wird. Seinelogische Determination ist zugleich Negation: jedes Prädikat, das ihmzugesprochen wird, bedeutet zugleich, daß ihm ein anderes, diesementgegengesetztes, abgesprochen wird. Und nur durch diese wechselseitigeBejahung und Verneinung, durch dieses Ineinandergreifen von S e i n undN ich t - Se i n im Urteil wird einem Begriff gleichsam seine Stelle im logischenGesamtraum bestimmt. [...] Identität und Andersheit sind daher, rein logischgefaßt, selbst nicht Gegensätze, sondern streng korrelative Momente, die erst inihrer Beziehung aufeinander den einheitlichen Sinn eines Begriffskonstituieren. [...] Der echte Begriff aber soll die Differenzen, die in ihm selbstliegen, nicht in dieser Weise auslöschen und zudecken, sondern er soll sieumgekehrt offenbaren und ersichtlich machen, indem er zugleich freilich eineübergreifende Regel ausdrückt, durch welche alle diese Differenzenaufeinander bezogen und aneinander gebunden sind. Diese Bindung undVerpflechtung kommt nur in einer Wechselbeziehung, in einer Art Bewegungvon der Einheit zur Andersheit und in der Gegenbewegung von der Andersheitzur Einheit hin, zustande. Und sie ist es, die nunmehr für Platon den Akt des‚Logischen‘ überhaupt konstituiert [...].“ (PdG, 128 f.)
Ohne die Beziehung von dem einen auf das andere, ohne die logische und dialektische
Bewegung vom einen zum anderen hin, gibt es auch das, was Vernunft, was Erkenntnis
genannt wird, nicht mehr. Platon stelle in den Altersdialogen das logische Problem des
Urteils in aller Schärfe dar. Als Sokratiker war er selbst ursprünglich von einem
Begriffsproblem ausgegangen und hatte das Allgemeine, das er suchte, als das Allgemeine
des Begriffs bestimmt. „In den Alterswerken erst weitet sich der Begriff der
‚Gemeinschaft‘, der sich bisher auf das Verhältnis der Erscheinung zur Idee bezog, zum
Ausdruck eines Verhältnisses, das unter den Ideen selbst stattfindet.“ (PdG, 130) Damit
wird es zur höchsten Aufgabe der Dialektik, diese systematische Gemeinschaft
herzustellen:
„Die ,Natur‘ jeder Idee, ihr reines Wesen, schließt also notwendig bestimmteRelationen positiver wie negativer Art, Relationen des ,Seins‘ und des Nicht-Seins, der Andersheit oder der Entgegensetzung, der Verträglichkeit oder
49
Unverträglichkeit inbezug auf andere Ideen in sich. Damit erst ist das Urteil alsEinheit des Verschiedenen und somit als synthetisches Urteil gefunden.“ (PdG,130)
Die gesamte griechische Logik hatte nach Cassirer seit Parmenides mit dem Urteilsproblem
gerungen. Die Logik war aber zu keiner Lösung dieses Problem gelangt, „weil sie einseitig
am Satz der Identität als dem obersten Kriterium aller Wahrheit festhielt“ (ibd.). Erst der
Platonische Begriff des Nicht-Seins bringt nach Cassirer die Lösung aus diesem logischen
Bann, erst mit ihm dringt echte geistige Bewegung in die Sphäre des Logischen ein:
„Platon hat hier dieselbe Leistung für die Logik vollbracht, die Demokrit kraftdes gleichen Begriffs für die Physik vollzogen hat. Wie Demokrit alsNaturforscher, so wendet Platon sich als Ideenforscher gegen die Eleatik undihr starres Seins- und Einheitsprinzip: wie jener das Nicht-Seiende, das ,Leere‘,insofern als real erweist, als es die Bedingung für die Bewegung der Atome,also die Bedingung für das Sein und die Erkennbarkeit irgendwelcherobjektiver V er hä l t n i s s e des Realen bildet, so zeigt Platon, daß ohnedasselbe keine objektive U nte r sc he idung , keine Abgrenzung bestimmterlogischer Seins- und Sinnsphären möglich wäre. So bahnt Demokrit alsPhysiker, Platon als Dialektiker den Weg zum kritischen Verständnis desRelationsbegriffs ― jener zeigt, was die Relation im Aufbau des Systems derNatur, dieser, was sie im Aufbau des Systems des reinen Wissens bedeutet.Wenn die Ideenlehre keine andere Leistung als diese vollbracht hätte ― wennsie lediglich den Charakter des Urteils als synthetischen Urteils, als Einheit desVerschiedenen, festgestellt hätte, so würde sie schon aus diesem Grunde eineschlechthin fundamentale Bedeutung für die Geschichte der Logik und für diegesamte Geschichte der Philosophie besitzen.“ (PdG, 131)
1.5. Die ‚Stufen der Objektivierung‘ innerhalb der Erkenntniskritik
Cassirer interpretiert, wie es für einen Neukantianer der Marburger Schule selbst-
verständlich ist, Kants kritische Philosophie in erster Linie als eine ‚Theorie der
Erfahrung‘: „Den wesentlichen Inhalt der Kantischen Lehre bildet nicht das Ich, noch sein
Verhältnis zu den äußeren Gegenständen, sondern worauf sie sich in erster Linie bezieht,
das ist die Gesetzlichkeit und die logische Struktur der Erfahrung“ (EP II, 662). Ungeachtet
dieser Aussage macht er aber auch deutlich, dass bei Kant seiner Meinung nach im
Zusammenhang mit dem Gegenstandsbegriff der Begriff der Objektivität im Vordergrund
steht: „Die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft läßt sich durch den Begriff der
Objektivität bezeichnen. Die objektive Gültigkeit unserer apriorischen Erkenntnisse zu
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erweisen, bildet ihre zentrale Aufgabe“ (EP II, 733). Cassirer weist auch darauf hin, dass
die methodische Grundlegung, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat, als
Voraussetzung für all seine eigenen Arbeiten auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie
angesehen werden muss.137 So bildet der Begriff der Objektivität sowohl in SuF als auch in
PsF den Ausgangspunkt seiner Begriffstheorie.
Der Prozess, über den man nach und nach zur ‚Objektivität‘ gelangt, kann nach Cassirer in
drei Stufen unterteilt werden, die er als „Stufen der Objektivierung“ (SuF, 367) oder
„Stufenfolge in den Graden der Objektivität“ (SuF, 365) bezeichnet. Die Untersuchungen
in der vorliegenden Arbeit werden offenlegen, dass die Objektivierungsstufen oder auch
Objektivitätsstufen eng mit den drei Stufen der Symbolfunktion in PsF —
Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Bedeutungsfunktion — in Verbindung
stehen, deren Unterschiede später in Kapitel 3 dargestellt werden.
Die erste Stufe beginnt mit der unmittelbaren Erfahrung, „die noch von keinem Moment
der Reflexion durchsetzt ist“ und diese Stufe ist die des ‚Daseins‘ schlechthin, „die alle
Inhalte gleichmäßig und unterschiedslos in sich befaßt“. Das Bewusstsein kann etwas nur
in der Form auffassen, „in der es sich der direkten Erfahrung darbietet“. In dieser Stufe
besteht noch keine feste Scheidewand zwischen Erfahrungen: „Die mannigfachen Inhalte
ordnen sich gleichsam in e ine r Ebene: noch gibt es keine bestimmten Gesichtspunkte, die
irgendeinen Vorrang des einen vor den andern begründen könnten.“ (SuF, 361) Die direkte
Wahrnehmung bietet uns nur isolierte Bruchstücke, „nur völlig d i s k r e t e Werte, die in
keiner Zusammenfassung ein stetiges Ganzes ausmachen“ dar (SuF, 366).
Man muss aber dieser Stufe, sofern man zur Charakteristik derselben den Gegensatz des
Subjektiven und Objektiven heranziehen möchte, das Merkmal „durchgängiger
Objektivität“ anerkennen: „denn in ihr besitzen die Inhalte noch jene Passivität, jene
fraglose und unzweifelhafte Gegebenheit, die wir mit dem Gedanken des ‚Dinges‘ zu
verknüpfen pflegen“ (SuF, 361).
Die zweite Stufe beginnt unmittelbar, sobald die logische Reflexion diesen Eindruck der
„vollkommenen Einheit und Geschlossenheit“ aufhebt (SuF, 361). In dieser Stufe setzt die
Entzweiung ein, die bereits in den ersten Ansätzen der wissenschaftlichen Weltbetrachtung
verborgen liegt: „Die Grundtendenz dieser Betrachtung geht dahin, die sinnlichen Daten
nicht einfach hinzunehmen, sondern sie in ihrem Wer t e zu unterscheiden“ (SuF, 361).
137 Vgl. Cassirer, ZLS, S. 227 f. Er macht deutlich, dass er in PsF dem Weg, „den Kant der ,kritischenPhilosophie‘ gewiesen hat“, zu folgen versucht: „Sie [PsF] will nicht von einem allgemeinendogmatischen Satz über die Natur des absoluten Seins ausgehen, sondern sie stellt vorerst die Frage, wasdie Aussage über ein Sein, über einen ,Gegenstand‘ der Erkenntnis überhaupt bedeutet, und auf welchenWegen und durch welche Mittel Gegenständlichkeit überhaupt erreichbar und zugänglich ist.“
51
Man solle hier nicht bei dem metaphysischen Unterschied des Innen und Außen stehen
bleiben, denn damit sei ein Gegensatz gegeben, der keine Vermittlung zulasse. Bei Cassirer
geht es darum, zu erkennen, dass der Gegenssatz des Subjektiven und Objektiven in einer
‚Beziehung‘ steht, „die zwischen dem relativ engeren und dem relativ weiteren
Erfahrungskreis, zwischen relativ abhängigen und relativ unabhängigen Urteilen besteht“
(SuF, 365). Wenn der sinnliche Eindruck, der einem gegeben ist, von der Farbe her als
grün oder blau bezeichnet wird, so bedeutet dies, dass ein ‚primitiver‘ Urteilsakt ausgeübt
wurde, der bereits in jener Richtung „vom Variablen zum Konstanten“ liegt (SuF, 366).
Der Inhalt der Empfindung wird hier vom momentanen Erlebnis losgelöst und erscheint als
ein gleichbleibendes Moment, das sich in identischer Bestimmung festhalten lässt. Aber es
genügt hier nicht, „sinnliche Wahrnehmungen schlechthin zusammenzunehmen, sondern
neben diese bloße Vereinigung des Gegebenen muß ein Akt der l og i s che n E r gänzung
treten“ (ibd.). Auf dieser zweiten Stufe tritt nach Cassirer „das allgemeine Verfahren der
Umformung und Bereicherung des Gegebenen auf Grund der logischen Forderung seiner
durchgängigen Verknüpfung“ in voller Schärfe hervor (ibd.). Der Gegenstand der
Erfahrung wird „als ein kon t inu i e r l i ches Sein gedacht, dessen Fortbestand in jedem
Punkte der stetigen Folge der Zeitmomente als no t we nd ig postuliert wird“ (ibd.). Die
direkte Wahrnehmung, wie zum Beispiel das ‚Gesehene‘ und ‚Gehörte‘ gebe nur
unzusammenhängende, zeitlich auseinanderfallende Massen von Perzeptionen, während
der Begriff des ‚Gegenstandes‘ die vollkommene Erfüllung der Zeitreihe, also streng
genommen die Setzung eines unendlichen Inbegriffs von Elementen, verlange.
Die dritte Stufe ist gekennzeichnet durch die Fortbildung des oben erwähnten allgemeinen
Verfahrens, worauf die Wissenschaft ihre Definition der Natur und des Naturobjekts
gründen soll (vgl. SuF, 366). Die logischen Ansätze werden jetzt bewusst aufgenommen
und in methodischer Absicht weitergeführt. In diesem Zusammenhang hebt Cassirer die
‚Denktätigkeit‘ hervor:
„Um diese Festigkeit und Stetigkeit, die in keinem sinnlich wahrnehmbarenObjekt jemals völlig erfüllt ist, zu erreichen, sieht sich der Gedanke zu einemhypothetischen Unterbau des empirischen Seins hingeführt, der aber keineandere Funktion besitzt, als die beständige Ordnung innerhalb dieses Seinsselbst darzustellen. [...] Der Abschluß dieses Prozesses wäre erreicht, sobald esuns gelungen wäre, zu jenen letzten Konstanten der Erfahrung überhauptvorzudringen, die, wie sich zeigte, zugleich Voraussetzung und Ziel derForschung bilden. Das System dieser unveränderlichen Elemente bildet dasMuster der Objektivität überhaupt; ― sofern dieser Terminus rein auf eineBedeutung eingeschränkt wird, die der Erkenntnis völlig faßbar und erreichbar
52
ist.“ (SuF, 367)
Wie man diesem Zitat entnehmen kann, meint Cassirer mit der oben erwähnten ‚logischen
Ergänzung‘ im Grunde genommen die Zuordnungsfunktion des Gedankens. Der Gedanke
der Ordnung und der Objektivität, die man über die einzelnen Stufen der Objektivierung
erreicht, lässt sich auch in seinem Systembegriff erkennen, was zur Folge hat, dass er auch
zu einem grundlegenden Gedanken seiner Begriffstheorie in SuF wird, in der der
Funktionsbegriff und der damit verbundene Gesetzesbegriff hervortreten.
Ihmig stellt im Zuge seiner Untersuchung in der Schrift Cassirers Invariantentheorie der
Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹ fest138, dass Kant die Idee eines
Systems der Erfahrung auch unter Einschluss der besonderen Naturgesetze entwickelt hat139
und Cassirer in diesem Sinne sein eigenes System auch als System der Erfahrung versteht.
Cassirers Kantinterpretation entnimmt er, dass die Zusammenhänge in Kants
Transzendentalphilosophie für Cassirer von Bedeutung sind, die „zwischen dem Begriff
der Objektivität und dem Begriff des Gegenstandes, sowie zwischen dem Gesetzes- und
Naturbegriff bestehen“.140 Im Folgenden wird, um die Begriffstheorie Cassirers besser zu
verstehen, Ihmigs Interpretation des Cassirerschen Systembegriffs kurz dargestellt.
Die oben genannten ‚Zusammenhänge‘ in Kants Systemgedanken sind Cassirers Ansicht
nach durch die Entwicklung der Einzelwissenschaften nicht im Geringsten widerlegt,
sonderen haben sich vielmehr als zutreffend erwiesen. Kants transzendentale Methode, die
nicht ein im absoluten Sinne gegebenes Sein voraussetzt, sondern die Bedingungen
aufzusuchen bestrebt ist, ist nach Cassirer charakteristisch für eine „funktionale Ansicht der
Erkenntnis“.141 Diese ‚funktionale Ansicht der Erkenntnis‘ interpretiert Ihmig als objektive
Erkenntnis, von der „immer nur in bezug auf gewisse (apriorische) Erkenntnisbedingungen
gesprochen werden kann“142:
„Daher hat die Transzendentalphilosophie primär die Aufgabe, das
138 Ihmig (1997a).139 Ihmig verweist hier auf Kants Einleitung in Kritik der Urteilskraft (Kant, Akademie Ausgabe, Bd. XX,
S. 201-211) und zitiert daraus folgende Stelle (S. 203): Ihmig (1997a) S. 158: „Gleichwohl aber bedarfdie besondere, durchgehends nach beständigen Principien zusammenhängende, Erfahrung auch diesensystematischen Zusammenhang empirischer Gesetze, damit es für die Urteilskraft möglich werde, dasbesondere unter das Allgemeine, wie wohl immer noch empirische und so fort an, bis zu den oberstenempirischen Gesetzen und denen ihnen gemäßen Naturformen zu subsumiren, mithin das Aggregatbesonderer Erfahrungen als System derselben zu betrachten; denn ohne diese Voraussetzung kann keinduchgängig gesetzmäßiger Zusammenhang, d.i. empirische Einheit derselben statt finden.“
140 Ihmig (1997a), S. 216.141 Ihmig (1997a), S. 163; vgl. EP IV, S. 69 f.142 Ihmig (1997a), S. 216 f.
53
Zustandekommen objektiver Erkenntnis dadurch einsichtig zu machen, daß siediese Bedingungen offenzulegen versucht. Genügen diese Bedingungendarüber hinaus den Kriterien, daß sie erstens in einem inneren Zusammenhangstehen, d.h. eine Einheit gemäß einem Prinzip und somit ein System bilden, undzweitens auch für empirische Gegenstände Gültigkeit besitzen, dann machendiese Bedingungen ein System der Erfahrung aus.“143
Diese Erkenntnisbedingungen bei Kant weisen nach Ihmig erhebliche qualitative
Differenzen auf. Die Erkenntnisbedingungen gliedern sich „in eine Stufenreihe von
empirischen Anschauungen, reinen Anschauungen, Kategorien und Vernunftideen“. Die
qualitativen Unterschiede entstehen jedoch dadurch, dass Kant „jede einzelne Stufe mit
einem besonderen Erkenntnisvermögen in Verbindung bringt und diese Vermögen als
völlig unabhängig voneinander betrachtet“.144 So bedeutet das Korrelat der empirischen
Anschauungen bei Kant ‚Vermögen der Sinnlichkeit‘, das Korrelat der reinen
Anschauungen ‚Einbildungskraft‘, das Korrelat der Kategorien ‚Verstand‘ und das der
Ideen ‚Vernunft‘.
Bei der „Weiterentwicklung kantischer Grundgedanken im Hinblick auf die Konstitution
eines Systems der Erfahrung“145 versucht Cassirer zwar einerseits Kants Konzeption des
Systems von Erkenntnisbedingungen beizubehalten, andererseits aber gibt er „Kants
Korrelation der einzelnen Stufen mit gewissen Erkenntnisvermögen“,146 auf:
„Gleichzeitig versucht er vermittels einer Analyse der unterschiedlichen Stufenein Prinzip herauszuarbeiten, das von der speziellen Natur einer ganzbestimmten Stufe unabhängig ist und deshalb als ein Gesichtspunkt betrachtetwerden kann, der diese ›Objektivitätsstufen‹, wie sie Cassirer auch nennt, zueinem System verbindet. Das von Cassirer entdeckte methodische Prinzip,welches die Einheit des Systems fundieren soll, manifestiert sich in derMethode der Invariantenbildung.“147
Diese ‚Methode der Invariantenbildung‘ erläutert Cassirer selbst in SuF so, dass die
kritische Erfahrungslehre die „a l l geme i ne Inva r i an t e n theo r i e de r E r fah r ung“
bilden will und damit versucht, eine Forderung zuerfüllen, „auf welche die Charakteristik
des induktiven Verfahrens selbst immer deutlicher hindrängt“ (SuF, 356). Dieser Gedanke
der Invariantenbildung lehnt sich an Felix Kleins Erlanger Programm an und wird später
im Zusammenhang mit Cassirers Wahrnehmungstheorie im Kapitel 4 detailliert erörtert.
143 Ihmig(1997a), S. 217.144 Ihmig(1997a), S. 217.145 Ihmig(1997a), S. 217.146 Vgl. 1.3.1, Distanzierung von der Kantischen ‚Psychologie‘ bei Cohen.147 Ihmig(1997a), S. 217.
54
Ihmig ist der Meinung, dass Cassirer sich, um seinen eigenen Systembegriff von der
traditionellen metaphysisch-spekulativen Fassung desselben abzugrenzen, der von Kant
genannten Entgegensetzung zwischen dem Analytisch-Allgemeinen und dem Synthetisch-
Allgemeinen bedient. Cassirers kritische Betrachtungsweise bei der Systembildung beruht
auf Kants Begriff des Analytisch-Allgemeinen, und dies schildert er selbst im
Zusammenhang mit seiner Philosophie der symbolischen Formen.148 Die Allgemeinheit
aber, die er sowohl in SuF als auch in PsF darzustellen versucht, wird von ihm als
„konkrete Allgemeinheit“ (SuF, 26) bezeichnet, auf welche im Zusammenhang mit dem
Allgemeinen bei Rudolf Hermann Lotze im Kapitel 3 näher eingegangen wird.
Hier wird zunächst der Frage Ihmigs nachgegangen: „Was ist der Unterschied zwischen
dem ›Analytisch-Allgemeinen‹, welches Cassirer als grundlegend für seine System-
konzeption betrachtet, und dem ›Synthetisch-Allgemeinen‹?“149 Cassirer erläutert den
Unterschied zwischen den beiden in PsF. Die Frage nach der Allgemeinheit geht nach
Cassirer auf Platons Sophistes zurück, in dem dieser die systematische ‚Gemeinschaft‘ der
reinen Ideen und Formbegriffe aufgestellt hat. Die zwei Betrachtungsweisen, die kritische
und die metaphysisch-spekulative Betrachtungsweise, unterscheiden sich in ihrer Lösung
dieses Problems und auch dadurch, „daß beide einen verschiedenen Begriff des
‚Allgemeinen‘ und damit einen verschiedenen Sinn des logischen Systems selber
voraussetzen“ (PsF I, 28). So erläutert Cassirer, dass die kritische Betrachtung auf den
Begriff des Analytisch-Allgemeinen zurückgeht und die metaphysisch-spekulative
Betrachtung auf den des Synthetisch-Allgemeinen hinzielt. Die kritische Betrachtung
begnügt sich damit, „die Mannigfaltigkeit der möglichen Verknüpfungsformen in einem
höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen
un te r z uor dnen“ (PsF I, 29). Die metaphysisch-spekulative Betrachtungsweise setzt
dagegen den Begriff des Synthetisch-Allgemeinen voraus, insofern „sich a us einem
einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen
entwickelt“ (ibd.)
Im § 77 der Kritik der Urteilskraft Kants geht es um die Eigentümlichkeit des
menschlichen Verstandes, die nach Ihmig für die gesamte Transzendentalphilosophie von
wesentlicher Bedeutung ist. Kant schloss eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage,
auf welchem Grund die Beziehung der Vorstellung zum Gegenstand beruht, kategorisch
148 Vgl. PsF I, 29; auch EP III, S. 363 und 373, Anm.1; Ihmig (1997a), S. 218: „Der Systembegriff deskritischen Idealismus gründet sich demgemäß auf einen Begriff der Allgemeinheit, der dem desAnalytisch-Allgemeinen nahesteht“.
149 Ihmig (1997a), S. 218.
55
aus, „weil der menschliche Verstand nicht von der Art ist, daß er mit seinen Vorstellungen
zugleich die Gegenstände der Vorstellungen hervorbringen könnte gleich einem göttlichen
Verstand oder intellectus archetypus“.150 In der Kritik der reinen Vernunft spricht er von
letzterem „als einem intuitiven Verstand, der »in einer nichtsinnlichen Anschauung« (Kant,
KrV, B 312) seinen Gegenstand zu erkennen vermag, im Unterschied zu unserem rein
diskursiven Verstand, der in seiner Erkenntnismöglichkeit immer auf sinnliche
Anschauungen angewiesen ist“.151
Kant unterscheidet im § 77 der Kritik der Urteilskraft diesen diskursiven menschlichen
Verstand von einem intuitiven Verstand. Er wähle, so Ihmig, um diesen Unterschied
deutlich zu machen, als Kriterium die Art und Weise, wie das Allgemeine auf das
Besondere bezogen werde, „denn der menschliche Verstand erkennt vermittels Begriffen
(indem er urteilt), und Begriffe sind nach Kant allgemeine Vorstellungen“.152 So bezeichnet
Kant die Allgemeinheit, die für Begriffe charakteristisch ist, als Analytisch-Allgemeines:
„Unser Verstand nämlich hat die Eigenschaft, daß er in seinem Erkenntnisse, z.B. der Ursache eines Produkts, vom A na ly t i s ch- Al lge me i ne n (vonBegriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehenmuß; [...] Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil ernicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Syn the t i s ch -A l lgeme ine n (der Anschauung eines Ganzen, als eines solchen) zumBesondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessenVorstellung des Ganzen die Zufä l l i gke i t der Verbindung der Teile nicht insich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, dieunser Verstand bedarf, welcher von den Teilen, als allgemein-gedachtenGründen, zu verschiedenen darunter zu subsumierenden möglichen Formen, alsFolgen, fortgehen muß.“153
Kant verbindet auch das Kennzeichen des Analytisch-Allgemeinen der Begriffe als
conceptus communes mit dem Begriff der ‚analytischen Einheit des Bewusstseins‘.154
Cassirer interpretiert diesen Begriff des Analytisch-Allgemeinen Kants in Bezug auf
150 Ihmig (1997a), S. 219. 151 Ihmig (1997a), S. 219.152 Ihmig (1997a), S. 219.153 Kant (W1989), S. 361. Kant, KdU, A 344 f./ B 348 f.154 Vgl. Ihmig (1997a), S. 219; Kant (W1990), S. 137. KrV, B 134 Anm: „Die analytiche Einheit des
Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z. B. wenn ich mir r o t überhauptdenke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen,oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachtenmöglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen.“; vgl. auch Ihmig (1997a), S.221. Ihmig interpretiert die analytische Einheit bei Kant wie folgt: „Das Spezifikum dieser Art vonEinheit tritt am deutlichsten hervor, wenn man einen Blick auf das Verhältnis von Ganzem und Teilenwirft, das für diese Einheit typisch ist, und dieses Verhältnis dann mit demjenigen konfrontiert, das jederintuitiven Erkenntnis (bzw. insbesondere den Anschauungen) innewohnt.“
56
Gesetzesbegriff und Funktionsbegriff:
„Kant schränkt das Denken auf das »Analytisch-Allgemeine« ein: aber diesesAnalytisch Allgemeine ist für ihn nicht das Allgemeine des Gattungsbegriffssondern des Funktions- und Gesetzesbegriffs. Das Allgemeine desGesetzesbegriffes enthält das Besondere der Einzelfälle nicht nur, wie dieGattung, un t e r sich, sondern wahrhaft i n sich: es bestimmt an ihnen nicht nureinen Te i l , der willkürlich herausgehoben wird, sondern unterwirft sie in ihrerGesamtheit der Regel einer notwendigen Verknüpfung, wenngleich auch hierdie Besonderheiten der Anwendung (die besonderen »Konstanten« desEinzelfalls) nicht nach der Weise des Synthetisch-Allgemeinen a us derGesetzesform als solcher herleitbar sind. Die Gesetzes- und Funktionsbegriffestellen so diejenige Art der »konkreten Allgemeinheit« dar, die innerhalb desAnalytisch-Allgemeinen des diskursiven Denkens allein erreichbar ist.“ (EP III,373, Anm.1).
Ihmigs Ansicht nach ist die aus diesem Text herauszulesende Behauptung Cassirers, dass
Kant ‚uneingeschränkt‘ das Analytisch-Allgemeine mit dem Gesetzesbegriff in Ver-
bindung gebracht haben soll, recht problematisch: „Denn dasjenige, was Cassirer als
›Gattungsbegriffe‹ bezeichnet, deren Allgemeinheit er von der Allgemeinhiet der
Gesetzesbegriffe abgrenzt, entspricht im wesentlichen den empirischen Allge-
meinbegriffen“ und „es gibt aber keine Hinweise darauf, daß Kant, wenn er davon ausgeht,
daß das Analytisch-Allgemeine a l l en diskursiven Begriffen anhaftet, gerade die
empirischen Allgemeinbegriffe ausgeschlossen hätte.“155 Daher meint Ihmig, dass man
Cassirers These auf die Kategorien und die mathematischen Begriffe einschränken sollte.
Es ist charakteristisch für Cassirers frühe Arbeiten wie SuF, dass er das Analytisch-
Allgemeine mit dem Gesetzes- und Funktionsbegriff in Verbindung bringt. Es kommt ihm
in seiner Interpretation des Analytisch-Allgemeinen in erster Linie auf das Verhältnis vom
Besonderen und Allgemeinen an,156 das auch für den Begriff des Analytisch-Allgemeinen
kennzeichnend ist.
155 Ihmig (1997a), S. 224.156 Vgl. Ihmig (1997a), S. 225.
57
2. Die Theorie des Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff
2.1. Die Theorie der Begriffsbildung
2.1.1. Cassirers Kritik der traditionellen Abstraktionstheorie
Die traditionelle aristotelische Logik ist nach Cassirer in allgemeinen Prinzipien der
getreue Ausdruck und Spiegel der Aristotelischen Metaphysik: „Die Auffassung vom
Wesen und von der Gliederung des Seins bedingt die Auffassung der Grundformen des
Denkens“ (SuF, 4). So wird im System des Aristoteles die Lücke in der Logik durch die
Metaphysik ergänzt und ausgefüllt. In den modernen Bestrebungen zur Reform der Logik
bleibt jedoch diese Verknüpfung mit allgemeinen Grundanschauungen und tritt besonders
an den großen Wendepunkten in der geschichtlichen Entwicklung deutlich hervor. Die im
Aufbau der logischen Erkenntnisse der Theorie des Begriffs zugewiesene fundamentale
Bedeutung weist auf diesen Zusammenhang zurück.
Cassirers Interpretation zufolge wurde die Weiterentwicklung der Logik seit Aristoteles
durch den Versuch gekennzeichnet, das Problem der ontologischen Form der
aristotelischen Logik zu lösen. Die neuzeitlichen Bestrebungen zur Reform der Logik
versuchten das überlieferte Problem zu lösen, indem sie die ‚Lehre vom Urteil‘ der ‚Lehre
vom Begriff‘ vorangehen ließen.157 Diese neuen Versuche zeigten aber, dass die
Urteilslehre selbst nur aus der aristotelischen Abstraktionstheorie des Gattungsbegriffs
heraus zu verstehen und zu begründen ist. Somit hat sich nur die äußere Gliederung der
Elemente des Begriffs verschoben: „Der gedankliche Zwang, unter dem auch all jene
Neuerungsversuche noch standen, machte sich alsbald darin geltend, daß in die Urteilslehre
selbst sich immer wiederum Züge eindrängten, die nur aus der herkömmlichen Theorie des
Gattungsbegriffs völlig zu verstehen und zu begründen waren.“ (SuF, 4 f.) Daraus ergibt
sich für Cassirer, dass sich alle kritischen Versuche einer Umformung der Logik auf einen
Punkt konzentrieren müssen, nämlich auf die allgemeine Lehre der Begriffsbildung.
Cassirer interpretiert den Grundbegriff der Substanz in den logischen Theorien von
157 Vgl. ‚Logik‘ in: Ritter et al. (HWP), Bd. 5, S. 357-383; Logik in der Neuzeit vgl. Ritter et al. (HWP),Bd. 5, S. 452-459; vgl. auch Kneale & Kneale (1962). Man kann die neuzeitliche Entwicklung in derGeschichte der Logik in drei Perioden unterteilen: die erste dauerte von 16. Jahrhundert bis Mitte des17. Jahrhunderts, die zweite von Mitte des 17. bis zum 18. Jahrhundert und die dritte Periode das 19.Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die traditionelle Logik in verschiedene Richtungen.Cassirer ist der Ansicht, dass die Bestrebungen, die traditionelle aristotelische Logik zu überwinden, bisEnde des 19. Jahrhunderts (bis vor Frege) erfolglos waren.
58
Aristoteles, die bei diesem als erste Kategorie158 hervortritt, wie folgt:
„Die Lehre vom Begriff ist das eigentliche Bindeglied, das beide Gebiete[Logik und Metaphysik] aneinander kettet. [...] Die echten und letztenGemeinsamkeiten der Dinge sind zugleich die schöpferischen Kräfte, ausdenen sie hervorgehen und denen gemäß sie sich gestalten. Der Prozeß derVergleichung der Dinge und ihrer Zusammenfassung nach übereinstimmendenMerkmalen, wie er sich zunächst in der S p r ac he ausdrückt, führt nicht insUnbestimmte, sondern endet, richtig geleitet, in der Feststellung der realenWesensbegriffe. Das Denken isoliert nur den Ar t t ypus , der in der einzelnenkonkreten Wirklichkeit als tätiger Faktor enthalten ist und der denmannigfaltigen, besonderen Gestaltungen die allgemeine Prägung verleiht. Diebiologische Gattung bezeichnet zugleich das Ziel, nach welchem die einzelneLebensform hinstrebt, wie die immanente Kraft, von der ihre Entwicklunggeleitet ist. Die logische Form der Begriffsbildung und der Definition kann nurim Hinblick auf diese Grundverhältnisse des Realen festgestellt werden. DieBestimmung des Begriffs durch seine nächsthöhere Gattung und durch diespezifische Differenz gibt den Fortschritt wieder, kraft dessen die realeSubstanz sich successiv in ihre besonderen Seinsweisen entfaltet. So ist esdieser Gr undbeg r i f f de r Subs t a nz , auf den auch die rein logischenTheorien des Aristoteles dauernd bezogen bleiben. Das vollständige System derwissenschaftlichen Definitionen wäre zugleich der vollständige Ausdruck dersubstanziellen Krä f t e , die die Wirklichkeit beherrschen [...].“ (SuF, 9)
Die höchste Wirklichkeit in der aristotelischen Logik ist somit die Wirklichkeit der
Substanz und sie geht nur von festen Subjekten aus, um ihnen nacheinander verschiedene
Prädikate zuzusprechen. Dies bedeutet, dass das Urteil hier nur als das Verhältnis des
Seienden zu Seienden wiederholt und nachgebildet werden kann. Der ‚Dingbegriff‘ ist der
Gattungsbegriff in der aristotelischen Klassifikation und diese wird für Cassirer ein
Problem des Verhältnisses zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs. An die Stelle des
Substanzbegriffs, der nach Cassirer bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hindurch in der
Philosophie der Logik weitgehend seine oberste Position bewahrt hat, soll der
Funktionsbegriff in der modernen Logik der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie treten.159
Mit dieser Überzeugung analysiert Cassirer die Prinzipien der Begriffsbildung erneut.
Cassirers Kritik an der traditionellen formalen Logik richtet sich hauptsächlich auf ihre
158 Vgl. Aristoteles (1995), Bd. 2, S. 11: Topik, Erstes Buch, 9. Kapitel (103b); vgl. auch Mittelstraß (EPW1995), S. 368. Die Zehn Kategorien von Aristoteles sind Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort,Zeitpunkt, Lage, Haben, Wirken und Leiden.
159 Vgl. Irvine (2003), p. 9; vgl. Kneale & Kneale (1962), besonders chap. VIII-4. Frege’s Achievement. p.510 ff.: „Furthermore, even the supposedly simple theory of the four kinds of categorical statementbecomes more easily intelligible when it is realized that, whatever else it may convey, ‘Everyman ismortal’ entails the universal closure of the functional expression ‘if x is a man x is mortal’. And whenthis has been clarified, the relation of Aristotle’s logic to that of the Stoics becomes clear for the firsttime. In short, it is no exaggeration to say that use of quantifiers to bind variables was one of the greatestintellectual inventions of the nineteenth century.“ (p. 511).
59
Voraussetzungen und Verfahren. Denn bei ihr werden nur das Dasein der Dinge und das
Vermögen des Geistes vorausgesetzt. Das heißt, in der traditionellen formalen Logik bildet
das Dasein der Dinge nur als gegebenes Existierendes den Gegenstand der Betrachtung,
und dies geschieht durch das psychologische Vorstellungsvermögen des Geistes. Dabei
werden die Objekte, die nur durch den gemeinsamen Besitz ein und derselben Eigenschaft
gekennzeichnet werden, klassifiziert.
Im aristotelischen Verfahren der Klassifikationssyteme werden die Dinge, die durch den
gemeinsamen Besitz der Eigenschaft gekennzeichnet sind, zunächst zu Klassen vereinigt.
Danach entsteht allmählich eine immer festere Ordnung und Gliederung des Seins je nach
der Abstufung der sachlichen Ähnlichkeit. Bei der Begriffsbildung hebt man nur die
übereinstimmenden Merkmale eines Objekts hervor, lässt alle übrigen fallen und gewinnt
dadurch statt der ursprünglichen, anschaulichen Gesamtheit nur einen Teilbestand. Dieser
Teil aber erhebt den Anspruch, das Ganze zu beherrschen und zu erklären. Das
Vergleichen und Unterscheiden, also die Reflexion führt zu einer Abstraktion, die diese
verwandten Züge losgelöst von aller Beimischung mit ungleichartigen Bestandteilen rein
für sich erfasst und heraushebt. Dadurch besitzt jede Reihe vergleichbarer Objekte einen
höchsten Gattungsbegriff. Diese Auffassung liegt der traditionellen formalen Logik
zugrunde und sucht ihre Rechtfertigung in der Einheit des natürlichen Weltbildes.
In der traditionellen formalen Logik wird der Allgemeinbegriff durch die Klassifikation
von Gattungen und Arten gebildet, die durch Subsumption von Merkmalen gewonnen
werden. Durch Weglassung von Merkmalen der Arten steigt man zu einem immer
allgemeineren Gattungsbegriff empor. Dabei entsteht ein reziprokes Verhältnis von Inhalt
und Umfang des Gattungsbegriffs, das heißt, durch das Verhältnis zwischen der Abnahme
der Größe des Inhalts und der Zunahme der Größe des Umfangs entsteht eine
‚Begriffspyramide‘. Die Einteilung in Gattungen und Arten führt zu immer allgemeineren
und inhaltsärmeren Begriffen und das heißt, das Besondere verliert dadurch die spezifische
Bedeutung. So besitzen die allgemeinsten Begriffe keinerlei auszeichnende
Eigentümlichkeit und Bestimmtheit und führen mithin nicht zur Bestimmung der
Gegenstände und zu einer daraus folgenden Umgestaltung des natürlichen Weltbildes. Dies
bedeutet, das Allgemeine ist hier das inhaltsärmere Allgemeine, dennoch erhebt es
Anspruch auf Wirklichkeit. Das Reziprozitätsgesetz von Inhalt und Umfang in der
traditionellen Abstraktionstheorie zeigt für Cassirer deshalb den Mangel dieser Theorie an.
Er betont daher an dieser Stelle, dass es die Aufgabe des höheren Begriffs ist, den niederen
verständlich zu machen, „indem er den Grund seiner besonderen Gestaltung aufdeckt und
60
für sich hinstellt“ (SuF, 8).
Die logische Form der Begriffsbildung und der Definition in der aristotelischen Logik
kann, wie oben erwähnt, nur im Hinblick auf die in der Metaphysik thematisierten
Grundverhältnisse des Realen festgestellt werden. Die Bestimmung des Begriffs durch
seine nächsthöhere Gattung und durch die spezifische Differenz gibt den Fortschritt der
Klassifikation wieder, kraft dessen die reale Substanz sich sukzessiv in ihre besonderen
Seinsweisen entfaltet. So ist es dieser Grundbegriff der Substanz, auf den auch die rein
logischen Theorien von Aristoteles dauerhaft bezogen bleiben. Daher stellt Cassirer fest,
dass die spezifische Fassung der aristotelischen Logik durch die spezifische Fassung seines
Seinsbegriffs bedingt ist. Das, was Cassirer an der aristotelischen Logik am schärfsten
kritisiert, ist somit ihr Begriffsrealismus, in dem der Begriff als etwas Existierendes in der
Wirklichkeit und als Abbild der Wirklichkeit betrachtet wird. Hierbei geht es letzten Endes
um eine Feststellung der realen Wesensbegriffe.
Aristoteles habe selbst, so Cassirer, das Problem seiner Begriffsbildung erkannt und in
seiner Kategorienlehre die verschiedenen Arten und Bedeutungen des Seins geschieden
und versucht, diese Sonderung des Seins in seine verschiedenen Unterarten zu verfolgen
und deutlich zu machen. Dennoch ist in all diesen Versuchen der logische Vorrang des
Substanzbegriffs unverändert geblieben. So besagt das vollständige System der
wissenschaftlichen Definitionen bei Aristoteles nichts anderes als den vollständigen
Ausdruck der substantiellen Kräfte, die die Wirklichkeit beherrschen: „Quantität und
Qualität, Raum- und Zeitbestimmungen bestehen [so gesehen] nicht an und für sich,
sondern lediglich als Eigenschaften an absoluten, für sich bestehenden Wirklichkeiten.“
(SuF, 10) Damit wird Folgendes für die aristotelische Begriffsbildung charakteristisch:
„Das kategoriale Grundverhältnis des D inges zu seinen E i genscha f t e nbleibt fortan der leitende Gesichtspunkt, während alle relativen Bestimmungennur insofern in Betracht gezogen werden, als sie sich zuletzt, durchVermittlungen irgendwelcher Art, in Zustände an einem Subjekt oder an einerMehrheit von Subjekten umdeuten lassen.“ (SuF, 10)
Die Kategorie der Relation bei Aristoteles werde auch durch seine metaphysische
Grundlehre in eine abhängige und untergeordnete Stellung heruntergestuft. Jean Seidengart
bemerkt auch unter diesem Gesichtspunkt zum aristotelischen Substantialismus, dass die
Begriffstheorien von diesem und des Empirismus den Substraten auf Kosten der
Relationen ein Vorrecht einräumten: „Indem sich jedoch die wissenschaftliche Sprache
61
mathematisierte, hat sie die Verschiedenheit der kategorialen Tätigkeiten erweitert, welche
die gewöhnliche Sprache entweder auf die mereologische Relation (das Ganze oder der
Teil) oder auf die Zugehörigkeitsrelation (Ding und Eigenschaft) beschränkte.“160
Für Cassirer bleibt zu fragen, ob die aristotelische Theorie des Begriffs zureichend das
Verfahren der konkreten Wissenschaften darstellen kann, ob sie alle Einzelzüge dieses
Verfahrens umfassen und beherrschen und diese Einzelzüge in ihrem Zusammenhang wie
in ihrer spezifischen Besonderung darstellen kann. Man muss dies verneinen, denn „die
Begriffe, die Aristoteles letzten Endes sucht und auf die sein Interesse vornehmlich
gerichtet ist, sind die Gattungsbegriffe der beschreibenden und klassifizierenden
Naturwissenschaft“ (SuF, 15). Hierin liegt für Cassirer auch der Grund, warum die
aristotelische Lehre von der Begriffsbildung in all den mannigfachen Wandlungen, die sie
erfahren hat, unverändert geblieben ist. In der Geschichte der Philosophie zeigt sich in der
Tat, so Cassirer, dass aller Kampf gegen den aristotelischen Begriffsrealismus an diesem
Punkt wirkungslos geblieben ist.
Was Cassirer in Frage stellt, ist die Geltung und Anwendbarkeit der traditionellen
logischen Lehre vom Begriff. Es müssen sich gegen den gesamten Weg der
Begriffsbildung dieser Logik Bedenken erheben, weil diese Art und Weise der
Begriffsbildung schließlich gänzlich ins Leere führt. Insbesondere kann diese Methode der
Begriffsbildung die Forderung nach der ‚konkreten wissenschaftlichen Begriffsbildung‘
nicht erfüllen. Für ihn geht es letzten Endes um die Geltung und Anwendbarkeit des
Begriffs für die Wissenschaft. Daher stellt er dem Gattungsbegriff den Funktionsbegriff
gegenüber und sucht seine Begründung hierfür im Prozess der wissenschaftlichen
Entwicklung. Er ist der Meinung, wenn man den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung
verfolgt, muss man anerkennen, dass die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs der
Logik des Gattungsbegriffs gegenübertritt. Dabei stellt er eine Wandlung in der Bedeutung
des Substanzbegriffs fest und erkennt zugleich die Notwendigkeit der Schaffung einer
neuen Bedeutung für den Substanzbegriff.
Die Psychologie der Abstraktion — die nach Cassirer für George Berkeley charakteristisch
ist — hat auch nur „die Fähigkeit der Reproduktion einmal gegebener
Vorstellungsinhalte“, auf die der logische Gehalt schließlich zurückgeht: „Abstrakte
Gegenstände entstehen in jedem vorstellenden Wesen, dem sich in wiederholten Wahr-
nehmungen gleiche Bestimmungen des Wahrgenommenen dargeboten haben.“ (SuF, 13)
Somit bringt die psychologische Deutung des Begriffs der Abstraktion keine wahrhafte
160 Seidengart (1995a), S. 198.
62
Umwandlung. Der wissenschaftliche Begriff in Mathematik und Physik hat eine andere
Aufgabe und Leistung zu erfüllen; ihm soll nicht wie bei Berkeley die Aufgabe der
scholastischen Erklärung zugewiesen werden, sondern er soll im Sinne einer
Begriffsfunktion verstanden werden. Die psychologische Ableitung des Begriffs bei
Berkeley hat das traditionelle Schema nicht verändert, es wurde nur auf ein anderes Gebiet
verschoben. Denn die Vorstellungen existierender Dinge werden miteinander verglichen
und daraus wird ein gemeinsamer Bestand herausgehoben: „Der Prozeß ist gleichsam nur
in eine andere Dimension versetzt, indem er aus dem Gebiet des Physischen in das des
Psychischen übergetreten ist, während sein allgemeiner Ablauf und seine Struktur die
gleichen geblieben sind.“ (SuF, 12) Cassirers Kritikpunkt an der psychologischen
Abstraktion ist, dass die Vorstellung bei ihr das Abbild des sinnlichen Gegenstandes ist.
Auch die Assoziationstheorie David Humes wird von Cassirer kritisch unter denselben
Gesichtspunkten, unter denen er zuvor Berkeley kritisiert hatte, beleuchtet. Die Assoziation
der Vorstellungen bei Hume, in der Gedanken und Vorstellungen im Gedächtnis
beziehungsweise in Einbildungen miteinander verknüpft sind, unterliegt den drei
Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung: Ähnlichkeit, Berührung in Zeit und Raum und
Ursache und Wirkung.161 Der Standpunkt dieser psychologischen Abstraktion ist für
Cassirer mit dem des mittelalterlichen ‚Konzeptualismus‘ nahe verwandt:
„die sachlichen und sprachlichen Abstrakta können aus den Wahrneh-mungsinhalten abgeleitet werden, weil sie in ihnen als konstante gemeinsameBestandteile aktuell enthalten sind. Nur darin besteht der Unterschied derontologischen und der psychologischen Betrachtungsweise, daß die ,Dinge‘ derScholastik das im Denken abgebildete Seiende bedeuten, während dieGegenstände, von denen hier die Rede ist, nicht mehr sein wollen alsVorstellungsinhalte.“ (SuF, 14)
Er kritisiert den britischen Empirismus auch später in PsF wiederholt an diesem Punkt,
besonders unter Verwendung der Bezeichnung psychologischer Empirismus oder
Sensualismus (vgl. PsF III, 338 ff.; auch EP II, Sechstes Buch). Eine kurze Darstellung der
Ansichten des britischen Empirismus in Bezug auf ‚general ideas‘ (allgemeine
Vorstellungen)162 wird verdeutlichen, worin Cassirers Motivation zur Kritik begründet
liegt.
Worauf John Locke in seinem Werk An Essay concerning Human Understanding abzielt,
161 Vgl. Hume (1748/1993), p. 25.162 Die Lockesche ‚idea‘ wird gewöhnlich ins Deutsche als ‚Vorstellung‘ und manchmal auch als ‚Idee‘
übersetzt.
63
schildert er mit folgenden Worten: „[...] being my Purpose to enquire into the Original,
Certainty, and Extent of humane Knowledge; together, with the Grounds and Degrees of
Belief, Opinion and Assent“.163 Dabei definiert er das Wort ‚idea‘ als „whatsoever is the
Object of the Understanding when a Man thinks“,164 was bedeutet, dass unsere Kenntnis
von physischen Dingen oder Materie aus ‚ideas‘ besteht. Aber seine ‚idea‘ schließt, wie er
selbst anführt, die ‚Sinnesempfindung‘ (sensation) und die ‚Sinnesbilder‘ (sensory images)
ein.165
Bei der Erklärung der ‚ideas‘ unterschied Locke zwischen primären und sekundären
Qualitäten. Ein Körper kann primäre Qualitäten, wie zum Beispiel Größe, Gestalt und
Bewegung besitzen, und nur die primären Qualitäten gehören den physischen Dingen selbst
an. Diese primären Qualitäten gleichen den primären Qualitäten von ‚ideas‘. Die
sekundären Qualitäten, wie zum Beispiel Farbe, Geruch und Geräusch, sind dagegen
abhängig von unseren Sinnesorganen und daher nur im Geist (mind) existierend.166 Locke
versucht auch mit dem Beispiel des Begriffs ‚allgemeines Dreieck‘ das Problem der
‚general ideas‘ zu verdeutlichen. Demnach kann die ‚idea‘ kein besonderes Merkmal des
einzelnen Dreiecks, wie zum Beispiel rechtwinklig oder schiefwinklig, tragen, sondern nur
all die Gesamtheit von Dreiecken.
George Berkeley hat gegen Lockes Konzept ‚abstrakter allgemeiner Vorstellungen‘ unter
anderem den Einwand erhoben, dass man die Vorstellung von außer-mentalen Objekten
nicht formen kann:
163 Vgl. Locke (1690/1979), p. 43.164 Locke (1690/1979), p. 47.165 Vgl. Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xii: „The term ‘idea’ as coined by Locke and
used by Berkeley does not have its normal sense — a fact much remarked upon by Locke’scontemporaries. We think of ideas as creatures of the intellect, as things that are thought: indeed ‘idea’is very close to ‘concept’. Locke, however, defined an idea as ‘whatever is the object of theunderstanding when a man thinks’ and included sensations and sensory images amongst ideas: indeed,not merely did he include them, they became the paradigm ideas, for ideas are treated as sensory, orquasi-sensory, images. Traditional Aristotelian and scholastic philosophy had distinguished between twokinds of objects of mental life. On the one hand, there are forms or species, which are universals, and soappropriate for intellect and thought: these are, roughly, what we would call ‘concepts’. On the otherhand, there are phantasms, which are the objects for sensory perception, and are particular sensoryimages or sense-data. Locke’s adoption of the term ‘idea’ for all mental objects signalled hisdetermination to assimilate these two groups — the intellectual and the sensory — to each other, and tomake the sensory the model for both.“
166 Vgl. Locke (1690/1979), pp. 134-137. „That the Ideas of primary Qualities of Bodies, areResemblances of them, and their Patterns do really exist in the Bodies themselves; but the Ideas,produced in us by these Secondary Qualities, have no resemblance of them at all.“ (p. 137); vgl. auchRobinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xi: „But the secondary qualities are a vital componentof the world as we experience it. It follows that the world of experience is very different from the worldas science discovers it really to be. And not merely are they different qualitatively, but they are locatedin different realms. Because the things of which we are immediately aware really do possess secondaryqualities, and because secondary qualities exist only ‘in the mind’, then what we are aware of are ‘ideasin the mind’, not objects in the external world.“
64
„Berkeley [...] was determined to hold on to the ideas that we are directly awareof the physical world itself, whilst accepting that what we are aware of must bemind-dependent ideas. He was, therefore, forced to conclude that the physicalworld consists essentially of ideas in our minds — that its esse is percipi: formaterial objects, to be is to be perceived.“167
Bei Berkeley sind alle allgemeinen Vorstellungen individuelle Vorstellungen, die jeweils
mit einem Namen verknüpft sind, der eine umfassende Bedeutung besitzt und ähnliche
Vorstellungen hervorruft. Die folgende Erklärung von Howard Robinson verdeutlicht recht
anschaulich den Unterschied zwischen Locke und Berkeley:
„Locke tried to solve the problem of generality by invoking abstract generalideas, which, sometimes at least, he treats as abstract general images. So theidea of triangle is an image which is, at the same time, every specific kind oftriangle — isosceles, rectangle, scalene, etc. — and none in particular. Berkeleyhas no difficulty showing that there is no sense in the idea of such an image.His alternative theory is that a thoroughly particular image becomes general byrepresenting or standing for some class of images.“168
Auch David Hume ist der Ansicht, dass „all unsere Vorstellungen oder schwächeren
Auffassungen [...] Abbilder unserer Eindrücke oder lebhafteren Auffassungen“ sind.169 In
seinem Werk A Treatise of Human Nature schildert er zunächst die Ansicht Berkeleys zur
allgemeinen Vorstellung wie folgt:
„A very material question has been started concerning abstract or generalideas, whether they be general or particular in the mind’s conception of them.A great philosopher [Dr. Berkeley] has disputed the receiv’d opinion in thisparticular, and has asserted, that all general ideas are nothing but particularones, annexed to a certain term, which gives them a more extensivesignification, and makes them recall upon occasion other individuals, which aresimilar to them.“170
Man könne, so Hume weiter, die allgemeine Vorstellung als diejenige auffassen, die
entweder alle Einzelheiten oder überhaupt keine Einzelheiten enthalte.171 Er vertritt die
erstere Meinung und versucht dabei zu beweisen, dass man nicht eine allgemeine
167 Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, pp. xiii f.168 Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xxviii.169 Hume (1748/1993), S.19.170 Hume (1739/1978), Book I, Section VII, Of abstract ideas, p. 17. 171 Vgl. Hume (1739/1978), p. 18: „The abstract idea of a man represents men of all sizes and all qualities;
which ’tis concluded it cannot do, but either by representing at once all possible sizes and all possiblequalities, or by representing no particular one at all.“
65
Vorstellung ohne die eines bestimmten Grades, zum Beispiel der Größe oder Qualität
haben kann:
„first, by proving, that ’tis utterly impossible to conceive any quantity orquality, without forming a precise notion of its degrees: And secondly byshowing, that tho’ the capacity of the mind be not infinite, yet we can at onceform a notion of all possible degrees of quantity and quality, in such a mannerat least, as, however imperfect, may serve all the purposes of reflexion andconversation.“172
Cassirer anerkennt später in PsF im Zusammenhang mit der Symbolfunktion Berkeleys
‚Repräsentationsfunktion‘, wobei er besonders hervorhebt, dass dieser die Allgemeinheit
der „repräsentativen Funktion“ bestehen ließ, als er sich gegen die Lockesche allgemeine
Vorstellung richtete (vgl. PsF III, 339 ff.; EP II, 297 ff. ):
„Berkeley glaubt durch seine Kritik den Begriff an seiner Wurzel getroffen zuhaben ― aber denkt man diese Kritik zu Ende, so ergibt sich vielmehr ein fürsein Verständnis und für seine Würdigung höchst fruchtbares positivesMoment. Denn nicht der Begriff als solcher ist es, dem hier der Lebensfadenabgeschnitten wird ― sondern was durch einen scharfen Schnitt beseitigt wird,ist vielmehr die Verbindung, in welcher er sich bisher, kraft einerjahrhundertealten logischen und psychologischen Tradition, mit der»Allgemeinvorstellung«, mit der »general idea« befand. Diese letztere wirdentschlossen beseitigt, wird als innerlich-widerspruchloses Gebilde erkannt.Die »allgemeine« Idee, das B i ld eines Dreiecks, das weder rechtwinklig nochspitzwinklig noch stumpfwinklig, und das zudem dies alles zugleich sein soll,ist eine leere Erdichtung. Aber indem Berkeley diese Erdichtung bestreitet, hater damit, gegen seine eigene Grundabsicht, vielmehr erst für eine andere undtiefere Auffassung des Begriffs den Boden bereitet. Denn was auch er bei allerBekämpfung der allgemeinen V ors t e l l ung bestehen läßt, ist dieAllgemeinheit der r ep rä se n t a t i ve n Funk t ion .“ (PsF III, 339 f.)
Cassirer richtet schon im ersten Band seines Werkes Das Erkenntnisproblem in der
Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit seine Aufmerksamkeit auf den Begriff der
Repräsentation und hebt nun in SuF die Wichtigkeit der Funktion der Repräsentation
besonders hervor (vgl. SuF, 377). Die besondere Betonung und Kommentierung von
Berkeleys Repräsentation enthält nach Martina Plümacher bereits den Kern von Cassirers
Repräsentationstheorie,173 wie man sie beispielsweise in PsF findet.
Wie die Kritik am psychologischen Empirismus zeigt, bezieht sich für Cassirer der Streit
172 Hume (1739/1978), p. 18. 173 Plümacher (2004), S. 267.
66
zwischen Nominalismus und Realismus auch nur auf die Frage nach der metaphysischen
Wirklichkeit der Begriffe, „während die Frage nach ihrer gültigen logischen Def i n i t i on
außer Betracht bleibt“ (SuF, 11). Beide Seiten kommen nämlich stillschweigend überein,
dass „der Begriff als universale Gattung, als gemeinsamer Bestandteil in einer Reihe
gleichartiger oder ähnlicher Einzeldinge aufzufassen ist“ (ibd.):
„In den Handbüchern der formalen Logik bekundet sich diese Ansicht darin,daß hier in der Regel die Verhältnisse oder Beziehungen zu den‚außerwesentlichen‘ Merkmalen eines Begriffs gerechnet werden, die somit inseiner Definition ohne Schaden fortbleiben können. Hier tritt bereits einemethodische Sonderung von eingreifender Bedeutung hervor: je nach demverschiedenen Wertverhältnis, das zwischen Di ngbe gr i f f undR el a t i ons beg r i f f angenommen wird, unterscheiden sich [...] die beidentyp i s che n Ha up t f o r men der Log ik , die insbesondere in der modernenwissenschaftlichen Entwicklung einander gegenüberstehen.“ ( SuF, 10 f.)
Cassirer verdeutlicht im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik
(1913) diesen Standpunkt der Begriffsbildung. Die Aufgabe der Erkenntniskritik, also die
Betrachtungsmethode der Erkenntnistheorie der kritischen Philosophie, besteht darin, „von
der Einheit des allgemeinen Objektbegriffs, der auf der Einheit des Bewusstseins ruht, auf
die Mannigfaltigkeit der notwendigen und hinreichenden Bedingungen zurückzugehen, die
ihn konstituieren“ und das Ganze der Erkenntnis in systematischer Einheit darzustellen (ET
I, 18). Die kritische Erkenntnistheorie soll daher den Sinn des Gegenstandsbegriffs
entwickeln und ihn in den Entgegensetzungen von Wahrheit und Falschheit, von
Notwendigkeit und Zufälligkeit deutlich machen. Von diesem Standpunkt aus schlägt
Cassirer vor, das Problem des aristotelischen Klassifikationsmodell in der traditionellen
Abstraktionstheorie durch die mathematischen Grundbegriffe, nämlich die Reihenbildung
mit ihrem Reihenbegriff und das Reihenprinzip abzulösen.
Die bis jetzt ausgeführten Einwände Cassirers gegen die Abstraktionstheorie können nach
Ihmig wie folgt zusammengefasst werden.174
1. Im Rahmen der traditionellen Abstraktionstheorie wird immer das Gegebensein einer
endlichen Anzahl von Dingen oder Inhalten vorausgesetzt.
2. Die Relation beschränkt sich auf die Ähnlichkeitsrelation.
3. Das Fortschreiten in der traditionellen Abstraktionstheorie bewegt sich hin zu Begriffen
von größerer Allgemeinheit im Weglassen von Merkmalen. Damit wird einerseits ein
völlig ‚leerer‘ Begriff als höchster Gattungsbegriff zum Zielpunkt jeder Begriffsbildung,
174 Ihmig (1993d), S. 181.
67
und „andererseits bleibt der Rückgang vom Allgemeinen zum Besonderen verstellt, da es
keine Möglichkeit gibt, den allgemeinen Begriff als Bestimmungsgrundlage des
besonderen Begriffs aufzufassen“.
4. In dieser Explikation der Begriffsbildung liegt ein Zirkel vor. Denn das gemeinsame
Merkmal, das verglichen werden solle, müsse schon vor der Vergleichung ausgewählt
werden und könne daher nicht als das Resultat dieser Vergleichung verstanden werden.
5. Bei der Auffassung des Begriffs als ein allgemeines Merkmal ist die Gefahr groß, dass
Begriffe und verglichene Dinge auf die gleiche Stufe gestellt werden und Begriffe auf diese
Weise als ein Teil der Wirklichkeit selbst angesehen werden können.
Cassirer leugnet aber ‚Dinge‘ in der anschaulichen Welt nicht, er hält selbst die Dinge für
unentbehrlich (vgl. ET I, 18). Was er lediglich ablehnt ist, dass man den Begriff nur als
Abbild von Dingen und mithin als den Begriff für die ganze Wirklichkeit auffasst. Wie
bereits erwähnt, ist es die Aufgabe der kritischen Erkenntnistheorie, den Sinn des
Gegenstandsbegriffs zu entwickeln und ihn in aller Relation deutlich zu machen:
„In diesem Sinne [im Sinne der Aufgabe der Erkenntniskritik] löst sichdasjenige, was die Erkenntnis ihren »Gegenstand« nennt, in ein Gewebe vonRelationen auf, die durch oberste Regeln und Prinzipien in sich selbstzusammengehalten werden. Und was hier im allgemeinen gilt, das bewährt sichweiterhin an den speziellen Dingbegriffen, mit denen die besonderenWissenschaften, wie auch die gewöhnliche Anschauung, operieren. Auch dieseBegriffe sind als Haltpunkte und erste Ansatzpunkte unentbehrlich: aber sobaldman ihren Sinn näher analysiert, erkennt man, daß in ihnen nicht irgendeinAbsolutum »jenseits« der logischen Erkenntnisformen gemeint ist, sonderneine Funktionsbeziehung innerhalb dieser Formen und kraft ihrer zumAusdruck gebracht werden soll.“ (ET I, 18)
Es geht Cassirer letztlich darum, den Dingbegriff als Relationsbegriff zu fassen und ihn als
Begriff der ‚funktionalen Beziehung‘ mit Hilfe der ‚Relationslogik‘ aufzufassen.
2.1.2. Die Reihenbildung und der Funktionsbegriff
Die mathematischen Begriffe unterscheiden sich von den empirischen, die lediglich die
Nachbildung irgendwelcher tatsächlicher Züge in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge
sein wollen. Nach Cassirer ist es Ziel der mathematischen Begriffe, die Mannigfaltigkeit,
die den Gegenstand der Betrachtung bildet, erst zu schaffen, indem aus einem einfachen
68
Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Verknüpfung von
Denkgebilden hervorgebracht wird. So tritt eine freie Produktion bestimmter Relations-
Zusammenhänge der Abstraktion gegenüber.
Der Akt der Identifikation in der traditionellen Abstraktionstheorie ist nur dann wirksam,
wenn die Ähnlichkeit der Dinge als solche erfasst und beurteilt wird, sonst bleiben das
Wahrnehmungsbild und ein neuer Eindruck so lange gleichgültig nebeneinander bestehen,
wie beide Elemente nicht als ähnlich erkannt sind. Der Mangel der traditionellen
Abstraktionstheorie besteht somit in dieser Einseitigkeit, mit der sie aus der Fülle der
möglichen Prinzipien lediglich das Prinzip der Ähnlichkeit herausgreift, statt das Prinzip
als wechselseitige logische Zuordnung anzusehen.
Gegenüber dieser traditionellen Abstraktionstheorie hebt Cassirer den Funktionsbegriff
oder Reihenbegriff hervor. Er ist der Auffassung, dass der Mangel des
Reziprozitätsgesetzes von Inhalt und Umfang der traditionellen Abstraktionstheorie durch
die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs aufgehoben werden kann und „alle
Begriffsbildung an eine bestimmte For m de r R e ihenb i ldung gebunden ist“ (SuF, 19).
Damit wird der Reihenbegriff mit dem Funktionsbegriff gleichgestellt. Eine präzise
Definition des Funktionsbegriffs bleibt Cassirer zunächst schuldig, er merkt aber zur
‚Funktion‘ Folgendes an:
„Die Funktion F(a,b), F(b,c) ... die die Art der Abhängigkeit zwischen denaufeinanderfolgenden Gliedern festsetzt, ist augenscheinlich nicht selbst alsGlied der Reihe aufzeigbar, die ihr gemäß entsteht und sich entwickelt. DieEinheit des Begriffsinhalts kann somit aus den besonderen Elementen desUmfangs nur in der Weise ,abstrahiert‘ werden, daß wir uns an ihnen derspezifischen Regel, durch die sie in Beziehung stehen, bewußt werden: nichtaber derart, daß wir diese Regel au s ihnen, durch bloße Summierung oderFortlassung von Teilen zusammensetzen.“ (SuF, 21 f.)
Den Reihenbegriff erklärt er wie folgt:
„Wir gehen von einer Reihe a α1 β1, a α2 β2, a α3 β3 ... nicht unmittelbar zu ihremgemeinsamen B es t a nd t e i l a über, sondern denken uns das Ganze derEinzelglieder α durch einen veränderlichen Ausdruck x, das Ganze der Gliederβ durch einen veränderlichen Ausdruck y gegeben. Auf diese Weise fassen wirdas Gesamtsystem in einem Ausdruck a x y... zusammen, der durch stetigeAbwandlung in die konkrete Allheit der Reihenglieder übergeführt werdenkann und uns daher den Aufbau und die logische Gliederung des Inbegriffsvollgültig darstellt.“ (SuF, 29)
69
Somit kann man festhalten, dass Cassirer die Form der Reihenbildung analog zu den
mathematischen Reihen und deren Regeln beziehungsweise Prinzipien der Reihenbildung
darstellt. Dabei ist für Cassirer wichtig, dass das Gesetz beziehungsweise das bestehende
Reihenprinzip die Glieder zuordnet. Dadurch soll der Einzelwert der Glieder nicht verloren
gehen, und die neu gesetzten oder zugeordneten Glieder selbst bestimmen wiederum das
Reihenprinzip mit. Somit entsteht eine Korrelation zwischen dem Reihenprinzip und den
Reihengliedern. Im Gegensatz zur traditionellen Abstraktionstheorie, die einseitig nur aus
dem Prinzip der Ähnlichkeit den Gattungsbegriff bildet, erläutert er die Vorgehensweise
der Reihenbildung mit folgenden Worten:
Es „wird sich zeigen, daß eine Reihe von Inhalten, um begrifflich erfaßt undgeordnet zu heißen, nach den verschiedensten Gesichtspunkten abgestuft seinkann: sofern nur der leitende Gesichtspunkt selbst in seiner qualitativenEigenart, im Aufbau der Reihe unverändert festgehalten ist. So können wiretwa neben Ähnlichkeitsreihen, in deren einzelnen Inhalten ein gemeinsamerBestandteil gleichförmig wiederkehrt, Reihen setzen, in denen zwischen jedemGlied und dem darauf folgenden ein bestimmter Grad des U n te r s ch i e de sobwaltet; so können wir die Glieder nach Gleichheit oder Ungleichheit, nachZahl und Größe, nach räumlichen und zeitlichen Beziehungen oder nach ihrerkausalen Abhängigkeit geordnet denken. Entscheidend ist in jedem Fallelediglich die N ot wend igke i t s - R e l a t i on , die damit geschaffen wird, undfür die der Begriff nur der Ausdruck und die Hülle ist, nicht dieGattungsvor s t e l l ung , die sich unter besonderen Umständen nebenhereinstellen mag, die aber in die Definition nicht als wirksamer Bestandteileingeht.“ (SuF, 20)
Die Reihenordnung soll sich „als Raum- und Zeitordnung, als Größen- und Zahlordnung,
als Ordnung der wechselseitigen dynamischen Verknüpfung der Ereignisse“ darstellen.
Und in dieser Reihenordnung liegt das Moment, „was den »realen« empirischen Inhalt von
dem bloß »subjektiven« flüchtigen und wechselnden Eindruck unterscheidet“. Das Problem
des Begriffs der Existenz kann daher nur dann bewältigt werden, „wenn in einer
allgemeinen Theorie der »Reihenbegriffe« die Grundlage für das Verständis seiner
einzelnen konstitutiven Momente gewonnen worden ist“ (ET I, 18 f.).
Man kann somit das Reihenprinzip als allgemeines Gesetz der Zuordnung ansehen:
„Die Verknüpfung der Glieder wird in jedem Falle durch irgendein allgemeinesGese t z de r Z uor dnung geschaffen, kraft dessen eine durchgängige Regelder Abfolge festgestellt wird. Was den Elementen der Reihe a, b, c ... ihrenZusammenhalt verleiht, ist nicht selbst ein neues Element, das mit ihnensachlich verschmolzen wäre, sondern es ist die Regel des Fortschritts, die alsein und dieselbe festgehalten wird, gleichviel an welchen Gliedern sie sich
70
darstellt.“ (SuF, 21)
Was Cassirer in der Theorie der Abstraktion als Hindernis ansieht, ist der Umstand, dass
die traditionelle Abstraktionstheorie „die Inhalte, aus welchen der Begriff sich entwickeln
soll, selbst nicht als unve r bundene Besonde rhe i t e n voraussetzt, sondern sie bereits
stillschweigend in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt“ (SuF, 22). Das heißt,
dass der ‚Begriff‘ nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen ist, „denn indem wir einer
Mannigfaltigkeit eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen,
haben wir ihn, wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden
Funktion bereits vorausgesetzt“ (ibd.). Das ‚Gegebene‘ sei damit lediglich beschrieben,
und gemäß einem bestimmten begrifflichen Gegensatz beurteilt und geformt.
Cassirers Analyse der traditionellen Abstraktionstheorie macht deutlich, dass der Vergleich
der Inhalte in der traditionellen Abstraktionstheorie ein vager und vieldeutiger Ausdruck
ist. Für ihn sind es verschiedene kategoriale Funktionen, die in der traditionellen
Abstraktionstheorie unter einem bloßen Sammelnamen vereinigt sind. Die kategorialen
Akte, die man durch den Begriff des Ganzen und des Teils, des Dinges und seiner
Eigenschaften bezeichnet, stehen nicht isoliert, sondern gehören einem System logischer
Kategorien an. Daher könnte man versuchen, zunächst einen Gesamtplan dieses Systems in
einer allgemeinen logischen Theorie der Relationen zu erstellen und danach seine
Einzelheiten zu bestimmen. Es ist aber nicht möglich, unter dem eingeschränkten
Gesichtspunkt bestimmter Beziehungen, wie bei der traditionellen Abstraktionstheorie mit
ihrer Ähnlichkeitsrelation, einen Überblick über das Ganze möglicher Weisen der
Verknüpfung zu gewinnen.
Der Begriff tritt für Cassirer nicht bloß der sinnlichen Wirklichkeit gegenüber, sondern
bildet einen Teil dieser Wirklichkeit selbst. Die Begriffe der exakten mathematischen
Wissenschaft stehen in dieser Hinsicht mit den Begriffen der beschreibenden
Wissenschaften auf gleicher Stufe. Der Begriff soll nur nicht als Nachbildung einer
dinglich vorhandenen Existenz, nicht als Aggregat von Einzelvorstellungen, sondern eher
als gedankliche Schöpfung verstanden werden (vgl. EP I, 3). Der wissenschaftliche Begriff
muss derjenige sein, der „an Stelle der ursprünglichen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit
des Vorstellungsinhalts eine scharfe und eindeutige Bes t i mmung setzt“ (SuF, 7). Wenn
die Aufgabe, die der logischen Theorie gegenüber einem bestimmten Begriff zukommt,
darin bestehen sollte, die Funktionen in ihrer Eigentümlichkeit darzulegen und ihre
formalen Grundmomente zu entwickeln, dann bedeutet dies, dass die traditionelle
71
Abstraktionstheorie diese Aufgabe verdunkelt.
Der ‚echte‘ Begriff bei Cassirer bedeutet daher, dass der Begriff die Eigentümlichkeiten
und Besonderheiten der Inhalte nicht nur nicht achtlos lässt, sondern auch versucht, „das
Auftreten und den Zusammenhang dieser Besonderheiten als no twe nd ig zu erweisen.
Was er gibt, ist eine universelle R ege l für die Verknüpfung des Besonderen selbst“ (SuF,
25). Somit soll sich der allgemeine Begriff zugleich als der inhaltsreichere erweisen175:
„wer ihn [den allgemeinen Begriff] besitzt, der vermag aus ihm allemathematischen Verhältnisse, die an dem besonderen Problem auftreten,abzuleiten, während er anderseits dieses Problem nicht isoliert, sondern inkontinuierlicher Verknüpfung mit anderen, also in seiner tieferensystematischen Bedeutung erfaßt. Die Einzelfälle sind nicht von derBetrachtung ausgeschieden, sondern als völlig bestimmte S tu f en imallgemeinen Prozeß der Veränderung fixiert und festgehalten.“ (SuF, 25)
Hier geht es nicht um die Allgemeinheit eines Vorstellungsbildes, sondern die
Allgemeingültigkeit eines Reihenprinzips. Man schafft für die Glieder der Mannigfaltigkeit
eine eindeutige Beziehung, indem man sie durch ein durchgreifendes Gesetz verbunden
denkt. Unter diesem Gesichtspunkt tritt die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs
der Logik des Gattungsbegriffs gegenüber, die unter der Herrschaft des Substanzbegriffs
steht.
Cassirers Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass der Funktionsbegriff das Allgemeine und
zugleich das Besondere des Begriffs darstellt. Er hebt in diesem Zusammenhang die
Hegelsche ‚konkrete Allgemeinheit‘ hervor, die der ‚abstrakten Allgemeinheit‘ des
Begriffs gegenübergestellt wird. Abstrakte Allgemeinheit komme der Gattung zu, sofern
sie, an und für sich gedacht, alle Artunterschiede fallen lasse. Konkrete Allgemeinheit
komme dagegen dem Gesamtbegriff zu, „der das Besondere aller Arten in sich aufnimmt
und es nach einer Regel entwickelt“ (SuF, 26). Cassirer sucht diese konkrete Allgemeinheit
in seiner Begriffstheorie sowohl in SuF als auch in PsF zu bestimmen. Er lehnt sich in
diesem Zusammenhang besonders an Lotze an, der gegen das Abstraktionsverfahren
Einwände erhebt und dabei das erste Allgemeine vom zweiten Allgemeinen unterscheidet
(vgl. 3.3.5).
Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem soll nach Cassirer unter der Korrelation
betrachtet werden. Das Allgemeine und Besondere sollen unter einer gegenseitig
175 Vgl. Seidengart (1995a) 199 f.: „So ist der Reichtum der Individuen nicht verloren, also nichts von denindividuellen Werten oder vom Besonderen: der mathematische Begriff führt zu einem konkretenAllgemeinen. Dieses konkrete Allgemeine ist nichts anderes als das Gesetz der Variation der Größen.“
72
bedingenden Beziehung stehen, so dass das Allgemeine das Besondere enthält und der
Erkenntnisgrund des Besonderen sein wird und das Besondere zugleich allgemeine
Bestimmungen enthält und auf das Allgemeine hinweist.176 Darüber hinaus ist er der
Ansicht, dass Inhalt und Umfang eines Begriffs verschiedenen Dimensionen angehören:
„Der I n h a l t des Begriffs läßt sich in die Elemente des U m f a n g s nichtauflösen, weil beide nicht in einer Linie liegen, sondern prinzipiellverschiedenen Dimensionen angehören. Die Bedeutung des G e s e t z e s , dasdie Einzelglieder verknüpft, ist durch die Aufzählung noch so vieler Fälle desGesetzes nicht zu erschöpfen; denn bei dieser Aufzählung fiele gerade daserzeugende P r i n z i p fort, das die einzelnen Glieder zu einem funktionalenInbegriff verknüpfbar macht.“ (SuF, 33)
Die Reihenform, die die Glieder einer Mannigfaltigkeit verknüpft, lässt sich nicht in der
Art eines einzelnen a oder b oder c denken. Wenn man die Relation in der Reihenform von
a b c ... kenne, so könne man sie durch Reflexion herauslösen und zum gesonderten
Gegenstand des Denkens machen. Es sei dagegen unmöglich die Eigenart der
verknüpfenden Relation zu gewinnen, indem man diese Form von a b c ... als bloßes
Beisammen von a, b, c in der Vorstellung betrachte. So bestimmt die Logik der Relationen
die gesamte Wirklichkeitserkenntnis. Das Sein besteht ausschließlich in der logischen
Bestimmtheit, die nur in einem synthetischen Akt der Definitionen ihren Ausdruck findet.
Cassirers Rückgriff auf die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft bei der
Rechtfertigung seiner Theoriebildung steht, wie man deutlich merkt, unter dem Einfluss
der Marburger Schule.
Im mathematischen Funktionsbegriff, der durch die Zeichen aufgezeigt wird, ist also die
Funktion selbst nicht als Glied der Reihe aufzeigbar, man muss die Regel der Funktion
mitdenken. Das heißt, mit der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs ist ein
Gesetzesbegriff des Denkens gemeint, anders formuliert, eine Denktätigkeit. Diese Form
der Logik findet nach Cassirer nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der modernen
Naturerkenntnis ihre Anwendung, die wesentlich eine mathematische Naturwissenschaft
ist. Denn „der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das allgemeine Schema und das
Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden
176 Vgl. Ihmig (1993d), S. 185 f.; vgl. auch den Korrelationsbegriff von Natorp in Allgemeine Psychologie1912. Die Korrelation von Subjektivem und Objektivem ist als lebendiger Prozess zu denken, in demvon dem vordergründig Subjektiven zum Subjektiven im Vollsinn, zur „konkreten T o t a l i t ä t d e sE r l e b t e n “ (S. 70) fortgegangen wird — hier wird deutlich, dass die Korrelation von Allgemeinem undBesonderem auf die Subjektivität zielt, dies ist bei Cassirer wohl in PsF intendiert, aber im SinneCohens, nicht Natorps übernommen worden.
73
geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat“ (SuF, 27).
Beim sensualistischen Empirismus mit seiner Psychologie der Abstraktion geht der
logische Gehalt der Begriffsform schlicht auf die Reproduktion der einmal gegebenen
Vorstellungsinhalte zurück. Innerhalb der Naturwissenschaften angewandt, wird der
Begriff zur Kopie des Gegebenen. Die Gültigkeit des physikalischen Begriffs soll dagegen
nicht auf seinem Gehalt an direkt aufzeigbaren ‚Daseinselementen‘ beruhen, sondern auf
der ‚Verknüpfung‘: „Der e inze l e ne Begriff kann daher niemals für sich allein an der
Erfahrung gemessen und beglaubigt werden, sondern er erhält diese Bestätigung stets nur
als Glied eines theoretischen Gesamtkomplexes.“ (SuF, 194; vgl. 2.2.3, 90)177 Die
Betrachtung der physikalischen Grundbegriffe bestätigt und erweitert diese Auffassung der
mathematischen Begriffsbildung, die durch das Verfahren der Reihenbildung zeigt, dass
sich die Einheit des Begriffs „nicht in einem festen Bestand an Merkmalen“ bekundet,
„sondern in der Regel, durch welche die bloße Verschiedenheit als eine gesetzliche
Abfolge von Elementen dargestellt“ wird. (SuF, 196) Alle diese Begriffe fassen das
‚Gegebene‘ in Reihen und weisen ihm innerhalb dieser Reihen seine feste Stelle an: „Der
wissenschaftliche Versuch leistet diese letzte endgültige Fixierung; aber damit sie möglich
ist, müssen die Reihenprinzipien selbst, müssen die Ges i ch t s punk te , unter denen die
Vergleichung und Zuordnung der Elemente erfolgt, theoretisch festgestellt und begründet
sein.“ (SuF, 196) Das einzelne Ding muss dann für den Physiker einen Inbegriff
physikalischer Konstanten bedeuten, denn „außerhalb dieser Konstanten besitzt er keine
Möglichkeit und keine Handhabe, die Besonderheit eines Objekts zu bezeichnen“ (ibd.).
In der theoretischen Erkenntnis muss man den Gegenstand des Begriffs nicht in der
anschaulichen sinnlichen Welt suchen. Der Begriff, der aus den Gegenständen der
empirischen Welt gewonnen wird, kann niemals eine exakte Korrespondenz in denselben
Gegenständen finden. Die Geschichte der traditionellen formalen Logik zeigt aber nach
Cassirer, dass sie diesen Fehler wiederholt. Die Irrungen in der logischen und
erkenntnistheoretischen Theorie über das Wesen des Begriffs gehen nach Cassirer darauf
zurück, dass man ihn nicht als reinen Gesichtspunkt, sondern als ein sichtbares Ding, als
ein Etwas, annahm. Die Nominalisten, die gegen den Begriffsrealismus waren, behandelten
die Sprache, das Wort oder den Laut, als eine sekundäre Art des Daseins. Die Materialisten
und Spiritualisten, die Realisten und Norminalisten haben immer wieder den Fehler
gemacht, in irgendeine Sphäre des Seins zurückzugreifen, wenn sie den Sinn des Begriffs
festzustellen suchten.
177 Vgl. Duhem (1906/1998), S. 245.
74
2.2. Die Bedeutung des Funktionsbegriffs
2.2.1. Der Funktionsbegriff und der Zahlbegriff
Geschichtlich betrachtet ist es umstritten, wann der Funktionsbegriff ursprünglich
eingeführt wurde, und es gibt diesbezüglich sehr unterschiedliche Meinungen. Eine von
diesen geht davon aus, dass er seinen Ursprung in der Mathematik der alten Griechen hat,
und eine andere traut ihn sogar den babylonischen Mathematikern mit „Instinkt für
Funktionaltät“ zu.178
Die Entwicklung der Idee der Funktion bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kann nach A. P.
Youschkevitsch in drei Perioden unterteilt werden:
„(1) Antiquity, the stage in which the study of particular cases of dependencesbetween two quantities had not yet isolated general notions of variablequantities and functions. (2) The Middle Ages, the stage in which, in theEuropean sciences of the 14th century, these general notions were first definitelyexpressed both in geometrical and mechanical forms, but in which, as also inantiquity, each concrete case of dependence between two quantities wasdefined by a verbal description, or by a graph rather than by formula. (3) TheModern Period, the stage in which, beginning at the end of the 16th century,and, especially, during the 17th century, analytical expressions of functionsbegan to prevail, the class of analytic functions generally expressed by sums ofinfinite power series soon becoming the main class used.“179
Da sich die Interpretation der Funktion als analytischer Ausdruck bis zur Mitte des 18.
Jahrhunderts als inadäquat erwies, wurde eine neue, allgemeine Definition eingeführt.
Diese später universell in der mathematischen Analysis akzeptierte Definition eröffnete in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorme Möglichkeiten für die Entwicklung einer
Theorie der Funktionen. Die allgemein akzeptierte Definition lautet: „a function y of the
variable x, y = f (x), is a relation between pairs of elements of two number sets, X and Y,
such that to each element x from the first set X one and only one element y from the second
set Y is assigned according to some definite rule“.180 Jedoch offenbarten sich auch logische
Schwierigkeiten, die dazu führten, dass im 20. Jahrhundert die Essenz des
Funktionsbegriffs grundlegend überdacht wurde. Der Streit zwischen den verschiedenen
Standpunkten ist nicht abgeschlossen. Sicher ist aber, dass das Wort ‚Funktion‘ erstmals in
178 Youschkevitch (1976/77), S. 38. 179 Youschkevitch (1976/77), S. 39.180 Youschkevitch (1976/77), S. 39.
75
Leibniz’ Manuskript genannt wurde, das im August des Jahres 1673 erschienen ist.181 Das
lateinische Wort für Funktion hat in dem Fall aber nicht ganz den heutigen mathematischen
Sinn, sondern steht für „Verrichtung“, „die ein Glied eines Organismus oder ein Teil einer
Maschine zu leisten hat, seine Aufgabe, Stellung oder Wirkungsweise“.182
Der Funktionsbegriff bei Leibniz steht nach Cassirer mit dem Wahrheitsbegriff in engem
Zusammenhang. Die Wandlung des Wahrheitsbegriffs in der Geschichte der Philosophie,
von dem dogmatischen wie dem skeptischen Wahrheitsbegriff zum idealistischen
Wahrheitsbegriff, zeigt, dass die Wahrheit der Erkenntnis nicht „an irgendwelchen
transzendenten Objekten“ gemessen wird, sondern umgekehrt „die Bedeutung des
Gegenstandsbegriffs auf der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs“ gründet. „Die ‚Wahrheit‘
der Erkenntnis wandelt sich aus einem bloßen Bildausdruck zum reinen
Funktionsausdruck“ (ZER, 54). Diese Wendung wird nach Cassirer zuerst bei Leibniz in
aller Klarheit vollzogen, wenngleich der Leibnizsche neue Grundgedanke in der Fassung
des Metaphysischen, in der Sprache des monadologischen Weltbildes erscheint:
„Jede Monade ist mit all den Inhalten, die sie in sich faßt, eine völliggeschlossene Welt, die kein äußeres Sein abbildet oder widerspiegelt, sondernlediglich nach eigenem Gesetz das Ganze ihrer Vorstellungsinhalte umfaßt undregelt; aber alle diese verschiedenen individuellen Welten drückennichtsdestoweniger ein gemeinsames Universum und eine gemeinsameWahrheit aus. Diese Gemeinsamkeit aber kommt nicht dadurch zustande, daßalle diese verschiedenen Weltbilder sich zueinander wie die Kopien einesgemeinsamen ‚Originals‘ verhalten, sondern daß sie in ihren innerenBeziehungen und in der allgemeinen Form ihres Aufbaus einander funktionalentsprechen.“ (ZER, 54 f.)183
Charakteristisch ist für die Leibnizische Lehre, so Cassirer, dass Leibniz „den älteren
Seinsbegriff durch den Funktionsbegriff zu verdrängen“ versuchte und dies, in
Anknüpfung an die früheren Auffassungen, in geschichtlicher Kontinuität durchführte:
„Der Substanzgedanke, der bisher als die festeste philosophische Stütze derdinglichen Ansicht des Universums galt, wird nicht bekämpft, sondernaufgenommen und in sich selbst aufgeklärt und umgebildet. Was unter demBegriff des Dinges der eigentlichen logischen Absicht nach gesucht war, das
181 Vgl. Youschkevitch (1976/77), S. 56; vgl. auch Leibniz, Mathematische Schriften Bd. 3, S. 251. Leibnizverwendet functio erstmals in der Schrift Methodus tangentium inversa, seu de functionibus (datiertAugust 1673).
182 Youschkevitch (1976/77), S. 56: Aus einem Zitat von D. Mahnke, Neue Einblicke in dieEntdeckungsgeschichte der höheren Analysis (1925, S. 47).
183 Cassirer ist der Ansicht, dass dieser Leibnizische Wahrheitsbegriff von Kant aufgenommen und vondiesem zu seiner eigenen Fassung des kritischen Gegenstandsbegriffs entwickelt wurde, vgl. ZER, S. 55.
76
kann, [...] nur durch die Identität der Funktion wahrhaft und befriedigendbestimmt werden.“ (LS, 539)
Die Funktion als Begriff wird auch in Kants Kritik der reinen Vernunft gebraucht. Dort
heißt es:
„Nun können wir, unabhängig von der Sinnlichkeit, keiner Anschauungteilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. Esgibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durchBegriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen,Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sonderen diskursiv.Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also aufFunktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung,verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“184
Um Missverständnisse, resultierend aus den verschiedenen Bedeutungen in der Geschichte
des Funktionsbegriffs, zu vermeiden, sollte man den Funktionsbegriff, der in Cassirers
Begriffstheorie in SuF Verwendung findet, genauer betrachten. Das Problem dabei ist, dass
Cassirer den Funktionsbegriff nicht explizit definiert. So bleibt zunächst der Zugang zu
seinem genauen Funktionsbegriff verschlossen, und es können vorerst nur Vermutungen
diesbezüglich angestellt werden, die auf seinen Hinweisen basieren. Er stellt in seiner
Theorie des Begriffs den Reihenbegriff, der mit der Form der Reihenbildung
zusammenhängt, dem Funktionsbegriff gleich und verwendet die beiden Begriffe ohne
große Unterschiede.
Zur Intention seines Werkes SuF merkt er an:
„Was ich zu bestreiten suchte, war nicht die Fas sung , in der die Lehre vomBegriff, als eine einzelne Theorie, in dieser Logik auftritt — es war vielmehrdie Problemstellung und die Aufgabe, es war das konstitutive ,Prinzip‘ ebendieser Logik selbst. ,Untersuchungen über die Grundfragen derEr kenn tn i s k r i t i k ‘: so lautet der Untertitel, den ich meinem Buche gegebenhabe. Damit sollte von Anfang an ausgedrückt werden, daß hier keineswegsallein von der ,Form‘ des Begriffs, sondern von seinem Erkenntniswert, vonseinem objektiven ,Sinn‘ und seiner gegenständlichen ‚Geltung‘ die Rede seinsollte.“ ( ZTB, 131)
184 Kant (W1990), S. 109 f. KrV, A 68/ B 93; vgl. Schulthess (1981), S. 233. Schulthess ist der Meinung,dass Kant den mathematischen Begriff der Funktion auch für die Philosophie fruchtbar machte. DenFunktionsbegriff von Kant interpretiert er wie folgt: „In der KrV [Kritik der reinen Vernunft] wird derFunktionsbegriff einerseits als Begriff der Theorie der Erkenntnisvermögen, also in alter Tradition,gebraucht, andererseits wird der mathematische Sinn nahtlos in die Theorie der Funktions desVerstandes eingebaut [...], die so nicht mehr psychologische, sondern transzendentale Theorie ist.“
77
Damit wird deutlich, dass der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff, den Cassirer statt des
Gattungsbegriffs als Alternative vorschlägt, diese Forderung seiner Erkenntniskritik
erfüllen muss, das heißt, dass der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff den Erkenntniswert,
den objektiven Sinn und die gegenständliche Geltung umfassen muss.
Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie Cassirers ist, wie bereits erwähnt, in erster
Linie der mathematische Funktionsbegriff. Er spricht aber nicht ausschließlich vom
Funktionsbegriff, sondern auch von der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs. Das
heißt, dass nicht nur der mathematische Funktionsbegriff selbst, sondern auch der logische
Gehalt dieses Funktionsbegriffs von Bedeutung sind. Der rein rationale Charakter der
mathematischen Begriffe, die Grundsätze und die Einheit des Systems innerhalb der
Mathematik besitzen aus Cassirers erkenntniskritischer Sicht heraus ‚Erkenntniswert‘.
Daher meint er, dass das Reihenprinzip, das die Glieder einer Reihe zuordnet und setzt,
nicht von Anfang an feststeht, sondern zugleich auf den durch die Setzung der Glieder
jeweils neu entstehenden Umständen weiter aufgebaut werden muss. Diese Ansicht beruht
auf der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs. Somit ist für die Begriffstheorie
Cassirers die Gesetzmäßigkeit des mathematischen Begriffs oder des Funktionsbegriffs
entscheidend. Die Gesetzmäßigkeit des Funktionsbegriffs und der Wahrheitswert der
Funktion bereiten den Weg zur Objektivität der Erkenntnis.
Es gibt Untersuchungen, die zu dem Schluss gelangen, dass Cassirers Funktionsbegriff
stark an die Definitionen der Zahlen von Richard Dedekind (1831-1916) angelehnt ist.185
Ryckman weist darauf hin, dass Funktion bei Cassirer Relation und Koordination bedeutet
und dies auf Dedekind beruht. „For Cassirer functionality had no other meaning than that
of relation and the mutual coordination of one thing to another. This had been clearly
exhibited by Dedekind, who sought to ground all of arithmetic upon »the sole operation of
relation and mutual coordination of contents«.“186 Auf die Definitionen, die Dedekind
1887 in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? aufgestellt hat, weist Cassirer
selbst an mehreren Stellen hin (SuF, 46 ff., 50; KmM, 7, 13, 15, 22; EP IV, 74, 76), um die
derzeitige Tendenz der mathematischen Entwicklung hervorzuheben.187
185 Vgl. Ihmig (1997a), S. 268; vgl. auch Ryckman (1991).186 Ryckman (1991), S. 63.187 Cassirer zitiert Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? (2. Auflage, Braunschweig 1893, S.
VIII), SuF, S. 46: „Verfolgt man genau, was wir bei dem Zählen der Menge oder Anzahl von Dingentun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen,einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welcheFähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst ganz unentbehrlichenGrundlage muß [...] die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.“; auch SuF, S. 50, Dedekind(1893) § 6, S. 21: „Wenn man bei der Betrachtung eines einfach unendlichen, durch eine Abbildung φgeordneten Systems N von der besonderen Beschaffenheit der Elemente gänzlich absieht, lediglich ihreUnterscheidbarkeit festhält und nur die Beziehungen auffaßt, in die sie durch die ordnende Abbildung φ
78
Dedekinds Ausgangspunkt ist jedoch die traditionelle formale Logik, die eine Mehrheit
von Dingen und das Vermögen des Geistes, sie abzubilden, voraussetzt. Sein Verdienst sei
es, dass die überlieferten Bezeichnungen, zum Beispiel ‚Dinge‘ und ‚Abbildung‘ einen
neuen Gehalt und eine neue Bedeutung gewonnen haben. Die Dinge werden nicht als
selbständige Existenzen vor jeder Beziehung als vorhanden vorausgesetzt, sondern sie
erhalten nur als Gesamtes Bestand. „Sie sind R e l a t i ons t e r me , die niemals losgelöst,
sondern nur in idealer Gemeinschaft miteinander ‚gegeben‘ sein können.“ (SuF, 47) Durch
Dedekind erfahren nach Cassirer nicht nur der Dingbegriff sondern auch die ‚Abbildung‘
eine charakteristische Wandlung. So interpretiert er Dedekinds Abbildung als die
„gedankliche Zuor dnung“, durch die die verschiedenartigen Elemente zu einer
systematischen Einheit verknüpft werden können, und die „,Abbildung‘ schafft kein neues
Ding, sondern eine neue notwendige O rdnung zwischen Denkschritten und
Denkgegenständen“ (ibd.). Diese gedankliche Zuordnung tritt im Funktionsbegriff deutlich
hervor und wird in der Entwicklung der Zahlbegriffe am deutlichsten gezeigt. „Denn eben
weil die Zahl das S che ma der Ordnung und Reihung überhaupt darstellt, sieht sich das
Denken immer wieder auf sie zurückgewiesen, sobald es den Inha l t des Seins als
geordneten zu erfassen sucht“ ( PsF III, 408).
Weitere Hinweise finden sich im zweiten Kapitel von SuF Die Zahlbegriffe, auf die sich
Cassirer als bestes Beispiel für die Gestaltung der reinen ,Funktionalbegriffe‘ seiner
Begriffstheorie stützt. Diese Gestaltung der Zahlbegriffe ist für seine Begriffstheorie von
großer Bedeutung.
In diesem Kapitel stellt er die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Zahlen innerhalb
der Mathematik dar und weist dabei auf die allgemeine Bedeutung der Funktion hin. Der
Zahlbegriff nimmt später in PsF an Bedeutung zu, sofern die Frage nach Form und Materie,
nach dem metaphysischen Dualismus gestellt wird. In PsF wird der Zahlbegriff als Vorbild
der reinen Form des Begriffs betrachtet, und dieses Charakteristikum der Zahlen in Bezug
auf den anschaulichen Gegenstand kann als bestes Beispiel für Cassirers
‚Bedeutungsfunktion‘ bezeichnet werden (vgl. 3.3). Der Begriff der Zahl steht für ihn unter
den Grundbegriffen der reinen Wissenschaft an erster Stelle und ist der „getreueste
Ausdruck der rationalen Methodik“ (SuF, 35) in der exakten Wissenschaft überhaupt. Die
zueinander gesetzt sind, so heißen diese Elemente n a t ü r l i c h e Z a h l e n oder O r d i n a l z a h l e n oderauch schlechthin Z a h l e n und das Grundelement 1 heißt die G r u n d z a h l der Z a h l e n r e i h e N. InRücksicht auf diese Befreiung der Elemente von jedem anderen Inhalt (Abstraktion) kann man dieZahlen mit Recht eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes nennen. Die Beziehungen oderGesetze, welche [...] in allen geordneten einfach unendlichen Systemen immer dieselben sind, wie auchdie den einzelnen Elementen zufällig gegebenen Namen lauten mögen [...], bilden den nächstenGegenstand der W i s s e n s c h a f t v o n d e n Z a h l e n oder der A r i t h m e t i k . “
79
prinzipiellen Gegensätze in der Grundauffassung der Erkenntnis spiegeln sich daher im
Zahlbegriff unmittelbar wider.
Um dies zu verdeutlichen, führt Cassirer John Stuart Mills empirischen Standpunkt der
Mathematik an. Um sein arithmetisches Grundprinzip zu wahren, deutet Mill die
mathematischen Begriffe und Wahrheiten nur als Ausdruck der physischen Tatbestände,
das heißt, er versucht durch die Erfahrung des Zählens und Messens das Ganze der
Erkenntnis zu fassen.188 Er ist der Ansicht, dass die Synthesis des Zählens an physischen
Objekten durchgeführt werden kann. Dies bedeutet aber, dass der logische Unterschied von
Zahlen begrenzt und an die psychologische Unterscheidungsfähigkeit gebunden ist. Diese
Ansicht versagt nach Cassirer aber gerade deshalb, weil alle arithmetischen Urteile der
Theorie Mills nach auf physische Gegenstände zurückgehen und in ihrer Geltung an die
physischen Gegenstände geknüpft bleiben. Man muss dagegen „die logische Struktur der
reinen Zahlenlehre mit aller Energie und Schärfe von der Mill’schen Arithmetik der
‚Kieselsteine und Pfeffernüsse‘ absondern“ (SuF, 37).189 Um Mills sensualistischen
empirischen Standpunkt deutlich darzustellen, zitiert Cassirer an dieser Stelle Gottlob
Freges Kritik an Mills Theorie:
„Es wäre in der Tat wunderbar, wenn eine von äußeren Dingen abstrahierteEigenschaft auf Ereignisse, auf Vorstellungen, auf Begriffe ohne Änderung desSinnes übertragen werden könnte. [...] Es ist ungereimt, daß an Unsinnlichemvorkomme, was seiner Natur nach sinnlich ist. Wenn wir eine blaue Flächesehen, so haben wir einen eigentümlichen Eindruck, der dem Worte »blau«entspricht; und diesen erkennen wir wieder, wenn wir eine andere blaue Flächeerblicken. Wollten wir annehmen, daß in derselben Weise beim Anblick einesDreiecks etwas Sinnliches dem Worte »drei« entspräche, so müßten wir diesauch in drei Begriffen wiederfinden; etwas Unsinnliches würde etwasSinnliches an sich haben. [...] Man kann wohl zugeben, daß dem Worte»dreieckig« eine Art sinnlicher Eindrücke entspreche, aber man muß dabei diesWort als Ganzes nehmen. Die Drei darin sehen wir nicht unmittelbar; sondernwir sehen etwas, woran eine geistige Tätigkeit anknüpfen kann, welche zueinem Urteile führt, in dem die Zahl 3 vorkommt.“190
Die wissenschaftliche Arithmetik bei Frege wird durch die Forderung, den Zahlbegriff aus
rein logischen Prämissen abzuleiten, charakterisiert.188 Vgl. SuF, S. 16 f.; Cassirer verweist hierfür auf J. S. Mill, A Sytem of Logic. 7th ed. London 1868, Book
II, Chap. 5 und Book III, Chap. 24.189 Vgl. Frege (1884/1987), S. 21. Anmerkung des Herausgebers, J. Schulte: „Bei Mill ist nur von
Kieselsteinen die Rede, während Frege es liebt, zusätzlich »Pfeffernüsse« und »Pfefferkuchen« ins Spielzu bringen.“ Dies wird wieder von Ludwig Wittgenstein als „Pfeffernußstandpunkt“ zitiert. vgl.Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen. Werkausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M., 1984, S. 127.
190 Frege (1884/1987), S. 54; vgl. SuF, S. 38 f. Cassirer zitiert aus Frege, Die Grundlagen der Arithmetik.Breslau 1884, S. 31 f.
80
Cassirers Untersuchung der Zahlbegriffe verdeutlicht seinen Standpunkt, den er bezüglich
der Begriffstheorie einnimmt; auch hierbei kritisiert er die Abstraktionstheorie innerhalb
der mathematischen Begriffsbildung. In den verschiedenen Deutungen des Zahlbegriffs in
der Entwicklung der Mathematik wiederholt sich für Cassirer der allgemeine Kampf
zwischen der Logik der Gattungsbegriffe und der Logik der Relationsbegriffe.
Die moderne Entwicklung des Klassenbegriffs erscheint Cassirer bedeutsam für die
Relationslogik seiner Begriffstheorie. Der Klassenbegriff entstand bei dem Versuch, den
Zahlbegriff in rein ‚logische Konstanten‘ aufzulösen. Cassirer erkennt an, dass die Logik
der Relation in der Theorie des Klassenbegriffs am deutlichsten hervortritt, kritisiert aber
gleichzeitig, dass die Formung des Begriffs innerhalb dieser Theorie auf der traditionellen
Abstraktionstheorie beruht:
„Die Analysis der Zahl schien erst dann abgeschlossen, wenn es gelungen war,allen Sondergehalt der Zahl aus der a l l geme i nen Funk t i on de sBegr i f f s überhaupt herzuleiten: — begriffliche Formung aber bedeutetewiederum nach der herrschenden logischen Grundüberzeugung nichts anderesals die Zusammenfassung der Gegenstände in Arten und Gattungen vermögeder Subsumption unter generelle Merkmale.“ (SuF, 57)
Betrachtet man den Zahlbegriff nicht als ideelles Ganzes, sondern als Begriff dieser oder
jener bestimmten Zahl, wie in der Theorie des Klassenbegriffs, so hat man es bei ihm nicht
mit einem logischen Allgemeinbegriff, sondern mit einem Individualbegriff zu tun. Es
handele sich bei dieser Theorie der Klassen um die Fixierung einer eindeutig bestimmten
Stelle innerhalb eines Gesamtsystems: „Es gibt nur e ine Zwei, nur e ine Vier und beiden
kommen bestimmte mathematische Eigenschaften und Merkmale zu, die sie mit keinem
anderen Gegenstand teilen.“ (SuF, 58) Wenn die einzelnen Zahlen in der traditionellen
formalen Logik als gegebene, als bekannte vorausgesetzt werden und auf Grund dieser
Bekanntschaft über ihre Gleichheit oder Ungleichheit entschieden wird, so gilt für die
Theorie der Klassen das umgekehrte Verfahren: „Das V er hä l t n i s , das in der Gleichung
ausgesagt wird, ist das allein Bekannte; während die E l emen t e , die dieses Verhältnis
eingehen, in ihrer Bedeutung zunächst noch unbestimmt sind und erst kraft der Gleichung
allmählich bestimmbar werden.“ (SuF, 59 f.)191 Es ist das Charakteristische der Auffassung
191 Vgl. SuF, S. 58: „Um zu bestimmen, was die Zahl ihrem reinen Wesen nach ‚ist‘, suchen wir nicht sieselbst unmittelbar in inhaltlich einfachere Bestandteile zu zerlegen, sondern fragen zunächst, was dieG l e i c h h e i t v o n Z a h l e n bedeutet. Sobald einmal festgestellt ist, unter welchen Bedingungen wirzwei Mengen hinsichtlich ihrer Zahl als g l e i c h w e r t i g betrachten, ist damit zugleich mittelbar dieEigenart des Merkmals bestimmt, das wir in beiden als identisch annehmen. Das Kriterium für dieGleichzahligkeit zweier Mengen aber besteht darin, daß es möglich ist, eine bestimmte Relation
81
des Klassenbegriffs, „daß sie dasjenige, was in der gewöhnlichen Ansicht ledglich als das
Kr i t e r i um der Anzahlgleichheit erscheint, als das eigentlich konstitutive Merkmal
heraushebt, auf dem aller Inha l t des Zahlbegriffs selbst beruht“ (SuF, 59).
Hier zeigt sich für Cassirer eine aller mathematischen Begriffsbildung zugrunde liegende
methodische Tendenz, dass „das ‚Gebilde‘ [...] seinen gesamten Bestand aus den
Relationen erhalten“ soll, „die es erfüllt“ (SuF, 60). Die Theorie der Klassen zeigt
gegenüber der Theorie der empirischen Anschauung vom Wesen der Zahl, dass sie auf die
eigentliche Funktion hinweist, die der Zahl im wirklichen Ganzen der Erkenntnis
zukommt: „Das ,Wieviel‘ der Elemente im gewöhnlichen Sinne läßt sich durch keine
logische Umdeutung in eine bloße Aussage über das ,Gleichviel‘ verwandeln; es bleibt als
selbständige Frage und Aufgabe der Erkenntnis zurück.“ (SuF, 62)
Die Verdienste Russells und Freges seien, dass sie die Zahl nicht als eine Eigenschaft an
physischen Dingen, sondern als Aussage über eine bestimmte Beschaffenheit von Klassen
haben erscheinen lassen. Dies ist für Cassirer unbestreitbar, dennoch lehnt er es aber ab,
diesem Klassenbegriff den rein begrifflichen Charakter der Zahl zuzuschreiben, weil in
diesem Klassenbegriff Dingbegriffe und Funktionsbegriffe auf eine Stufe gestellt sind:
„Die Zahl erscheint alsdann nicht als der Ausdruck der Grundbedingung, die die Setzung
jeglicher Mehrheit erst ermöglicht, sondern als ein Merkmal, das an der gegebenen
Mehrheit der Klassen haftet und sich aus ihr durch Vergleichung absondern läßt.“ (SuF, 69
f.) So wiederholt sich für Cassirer der Grundmangel aller Abstraktionstheorien:
Was „als rein kategorialer Ges i ch t spunk t die Begriffsbildung leitet undbeherrscht, das sucht man irgendwie als i nha l t l i c hen B es t and t e i l in denverglichenen Objekten selbst wiederzufinden. [...] Die Theorie erweist sichzuletzt als der subtile und konsequent durchgeführte Versuch, mit demallgemeinen Schematismus der Gattungsbegriffe ein Problem zu bewältigen,das seiner Bedeutung und seinem Umfang nach einem neuen Gebiete angehörtund einen anderen Begriff der Erkenntnis voraussetzt.“ (SuF, 70)
Cassirer hebt daher gegenüber dem Grundmangel der Abstraktionstheorie die Bedeutung
der Imaginärzahl von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) hervor. In der Imaginärzahl wird
die Rolle der Relationslogik besonders deutlich, und der dingliche Gehalt der Imaginärzahl
nimmt mit der ersten Verallgemeinerung und Weiterführung des Zahlbegriffs ab:
anzugeben, durch welche sich die Glieder der beiden Mengen einander w e c h s e l s e i t i g e i n d e u t i gz u o r d n e n l a s s e n . Kraft dieses Verfahrens der Zuordnung stiften wir unter den unendlich vielenmöglichen Klassen von Gegenständen bestimmte Z u s a m me n g e h ö r i g k e i t e n , indem wir Gruppen,die sich auf diese Weise miteinander verknüpfen lassen, zu je einem Gesamtkomplex vereinigen.“
82
„Der Begriff und die Bezeichnung der ,imaginären‘ Zahl ist der Ausdruck einesGedankens, der seinem ersten Ansatz nach bereits in jeder der neuen Zahlartenwirksam ist und der ihr das charakteristische Gepräge gibt. Es sind Urteile undAussagen über ‚N ic h t -Wi rk l i ches ‘ , die hier dennoch einen bestimmten,unentbehrlichen E r kenn tn i s wer t für sich in Anspruch nehmen.“ (SuF, 71)
Der Sinn dieser erweiterten Zahlbegriffe lässt sich nach Cassirer nicht fassen, wenn man
das, was sie bedeuten, an Substanzen aufzeigen will. Um den Sinn zu enthüllen, muss man
in den Zahlbegriffen den Ausdruck reiner Beziehungen sehen, „durch welche die
Verhältnisse in einer konstruktiv erschaffenen Reihe geregelt werden“:
„Eine negative S ubs t anz , die zugleich Sein und Nichtsein bedeuten müßte,wäre eine contradictio in adjecto; eine negative B ez i ehung ist nur dasnotwendige logische Korrelat des Relationsbegriffs überhaupt, da jede Relationvon A zu B sich zugleich als eine solche von B zu A darstellen undaussprechen läßt.“ (SuF, 72 f.)
Als Beispiel hierfür führt Cassirer den logischen Leitgedanken der Deduktion in der
Dedekindschen Erklärung an, in der die irrationalen Zahlen als ‚Schnitte‘ bezeichnet
werden. Die Zahl in der Theorie der Schnitte besitzt nach ihrer ursprünglichen Erklärung
keine spezifisch-inhaltlichen Merkmale, sondern ist lediglich der allgemeinste Ausdruck
der Ordnungs- und Reihenform überhaupt. Die Schnitte ‚sind‘ Zahlen, denn sie bilden in
sich eine streng gegliederte Mannigfaltigkeit, in der die relative Stellung der einzelnen
Elemente nach einer begrifflichen Regel feststeht (vgl. SuF, 75).
Aus der Betrachtung der verschiedenen Zahlbegriffe ergibt sich für Cassirer ein
übergreifender Gesichtspunkt, nämlich den Begriff als Funktion anzusehen:
„Der Gedanke, die Zahl aus der s ucces s i ve n Add i t i on von E inhe i t enentstehen zu lassen und in dieser Operation ihre eigentliche begrifflicheWesenheit zu begründen, muß jetzt aufgegeben werden. Ein derartigesVerfahren enthält zwar e in Prinzip, geordnete Inbegriffe hervorgehen zulassen, aber keineswegs da s Prinzip der Erschaffung solcher Inbegriffeschlechthin. Die Einführung des Irrationalen ist zuletzt nichts anderes als derallgemeine Ausdruck dieses Gedankens: sie gibt der Zahl die ganze Freiheitund Weite einer Methode der Ordnungsbildung überhaupt wieder, ohne sie aufirgendeine inhaltlich bestimmte E inze l r e l a t i on zu beschränken, kraft derensich Glieder in geregelter Folge setzen und entwickeln lassen. Das begriffliche ,Sein‘ der Einzelzahl geht hierbei immer reiner und deutlicher in ihreeigentümliche begriffliche Funk t i on auf“ (SuF, 79 f.).
Somit kommt man zu dem Schluss, dass Cassirer durch die Darstellung der Zahlentheorien
83
versucht, den Substanzbegriff neu zu bestimmen und ihn als Funktionsbegriff zu erklären.
In der Methode der ‚Zahlwissenschaft‘ wird, wie gezeigt, nicht das ‚Was‘ der Elemente in
ihr, sondern das ‚Wie‘ des Zusammenhangs, in dem die Elemente miteinander stehen,
berücksichtigt. Dieses Verfahren ist für die gesamte Begriffsbildung der Mathematik von
großer Bedeutung, und Cassirers Absicht ist es, zu zeigen, wie dieses Verfahren für die
Begriffsbildung fruchtbar sein kann.
2.2.2. Der Funktionsbegriff und die Relationslogik
Der Subtitel des ersten Teils von SuF Dingbegriffe und Relationsbegriffe lässt auch
vermuten, dass sein Funktionsbegriff mit dem Relationsbegriff gleichgestellt wird. Darüber
hinaus ist erwiesen, dass in der Geschichte der Mathematik Funktion zugleich Relation
bedeutet.192
Die allgemeine Logik der Relation ist überhaupt die Voraussetzung für die Ableitung des
Zahlbegriffs. Casssirer hebt in diesem Zusammenhang die bestimmten Klassen von
Relationen in der Russellschen Logik hervor, und für ihn tritt die Logik der Relation vor
allem in der Theorie des Klassenbegriffs deutlich zutage.
Russell ist der Ansicht, dass sich ‚Funktion‘ in ihrer allgemeinen Form nicht von
‚Relation‘ unterscheidet. Das Wesen der Funktion erläutert er wie folgt:
„If x has a certain relation to y, I shall call x the referent, and y the relatum,with regard to the relation in question. If now x be defined as belonging tosome class contained in the domain of the relation, then the relation defines yas a function of x. That is to say, an independent variable is constituted by acollection of terms, each of which can be referent in regard to a certain relation.Then each of these terms has one or more relata, and any one of these is acertain function of its referent, the function being defined by the relation.“193
Cassirer betont die Relationslogik bei Russell auch besonders deshalb, weil die Klassen der
Relationen eine bestimmte Ordnung einschließen (vgl. KmM, 6), denn Relation heißt bei
Russell, dass sie nicht lediglich durch ihre beiden Termini, wie zum Beispiel durch Paare
von Elementen (x, y) oder (u, v) definiert zu denken ist.
In Russells The Principles of Mathematics (1903) werden die Klassen der Relationen wie
folgt unterteilt: 192 Vgl. Schulthess (1981), S. 226; Russell (1903/1996), § 254 ,Functions‘ p. 263 f.193 Russell (1903/1996), p. 263.
84
„Relations may be divided into four classes, according as they do or do notpossess either of two attributes, transitiveness and symmetry. Relations suchthat xRy always implies yRx are called symmetrical; relations such that xRy,yRz together always imply xRz are called transitive. Relations which do notpossess the first property I shall call not symmetrical; relations which dopossess the opposite property, i.e. for which xRy always excludes yRx, I shallcall asymmetrical. Relations which do not possess the second property I shallcall not transitive; those which possess the property that xRy, yRz alwaysexclude xRz I shall call intransitive.“ 194
Dies besagt, dass die Ordnung an der Reihenrelation, durch die sie zustandekommt, haftet
und all ihre Bestimmtheit und Eigenart aus dieser Reihenrelation ableitbar ist. Es wird
letzten Endes eine transitive und asymmetrische Beziehung gefordert,195 um den Gliedern
eines Inbegriffs eine bestimmte Ordnung aufzuprägen, denn es ist bei der transitiven
asymmetrischen Relation nicht erlaubt, die beiden Glieder (x, y) umzukehren und an Stelle
der Beziehung (xRy) die andere (yRx) zu setzen:
„Der Begriff der Ordnung selbst aber ist nur eine besondere Art der Beziehung,sodass diese Definition das Moment, das sie zur Bestimmung bringen will,implicit bereits vorausetzen muss. Nicht die ,Klasse‘ ist somit der erste undursprüngliche Begriff; umgekehrt ist es die bestimmte Eigenart einerR e l a t i on , die es erst ermöglicht, feste Klassen zu setzen und abzugrenzen.“(KmM, 6)196
Damit kann man festhalten, dass der Relationsbegriff in Cassirers Begriffstheorie auch mit
der Ordnung verbunden ist.
Die Tendenz in der Entwicklung der Mathematik, die im vorherigen Abschnitt gezeigt
wurde, ist für Cassirer auch für die Entwicklung der Wissenschaft grundlegend. Das, was
ihm jedoch noch wichtiger erscheint, ist die Tendenz der Veränderung innerhalb der Logik.
Die Logik, die „bisher kaum irgend ein anderes Verhältnis, als die Subsumption eines
bestimmten Subjekts unter einen umfassenden Prädikatsbegriff betrachtete“ (KmM, 4),194 Russell (1903/1996), p. 218. Russell erklärt diese Fälle im übertragenen Sinne mit zwischen-
menschlichen Beziehungen (pp. 218 f.): „The relation brother or sister is symmetrical, and is transitiveif we allow that a man may be his own brother, and a woman her own sister. The relation brother is notsymmetrical, but is transitive. Half-brother or half-sister is symmetrical but not transitive. Spouse issymmetrical but intransitive; descendant is asymmetrical but transitive.[...] Finally, father is bothasymmetrical and intransitive.“
195 Vgl. Russell (1903/1996), p. 218. „We have now seen that all order depends upon transitiveasymmetrical relations.“
196 Cassirers Hinweis auf Russell (1903) § 27-28, vgl. Russell (1903/1996), pp. 23-25. Hier erkennt manauch deutlich, dass Cassirer die Logik der Relation für die Klassentheorie als entscheidend ansieht.Cassirer meint, in Russells Behandlung der mathematischen Prinzipienlehre tritt durch denRelationskalkül der logische Primat des Relationsbegriffs vor dem Klassenbegriff hervor; vgl. auch PsFIII, S. 343.
85
erfährt die Fortschritte der modernen Mathematik und wird zur allgemeinen Logik der
Relationen. Somit wird die Logik der Relation zum Fundament der Theorie der
Begriffsbildung und der Begriffslehre Cassirers:
„Betrachten wir nunmehr eine Reihe, die ein e r s t e s Glied besitzt und für dieein bestimmtes Gesetz des Fortschritts derart festgestellt ist, daß zu jedemGlied ein unmittelbar nachfolgendes gehört, mit dem es durch eine eindeutige,transitive und asymmetrische Beziehung verknüpft ist, die im Ganzen derReihe überall dieselbe bleibt, so haben wir in einer derartigen ,Progression‘bereits den eigentlichen Grundtypus aller Gegenstände erfaßt, mit denen dieArithmetik es zu tun hat. Alle Sätze der Arithmetik, alle Operationen, die siedefiniert, beziehen sich lediglich auf die allgemeinen Eigenschaften derProgressionen; sie gehen daher niemals unmittelbar auf ‚Dinge‘, sondern aufdie ordinalen Beziehungen, die zwischen den Elementen bestimmter Inbegriffeobwalten.“ (SuF, 49)
Der ganze Bestand der Zahlen beruht, wie im Anschnitt 2.2.1 gezeigt, auf den
Verhältnissen, die sie in sich selber aufweisen, nicht aber auf der Beziehung zu einer
sinnlich gegenständlichen Wirklichkeit. Dieses Charakteristikum der Zahlen stellt, wie
bereits erwähnt, ein ideales Vorbild für Cassirers Begriffstheorie dar.
2.2.3. Der Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff
Cassirers Funktionsbegriff lehnt sich, wie gezeigt, sowohl an die Definition der Zahlen von
Dedekind, da er die Dedekindsche Abbildung als Zuordnung interpretiert, als auch an die
Russellsche Definition der Relation an. Auch seine Ansicht zum Verhältnis von Begriff
und Gegenstand orientiert sich am Zahlbegriff, denn der Begriff soll, wie seine Kritik am
Begriffsrealismus zeigt, sich von der anschaulichen empirischen Wirklichkeit abheben. Der
Versuch, den gedanklich gewonnenen Begriff wieder mit dem empirischen anschaulichen
Gegenstand zu vergleichen, um eventuelle Übereinstimmung zu finden, soll ein Ende
haben.
Er stellt fest, wenn ein System von Bedingungen gegeben ist, das sich in verschiedenen
Inhalten erfüllen kann, — dafür muss sich der Begriff vom sinnlich Empirischen abheben
— dann kann diese Systemform als Invariante festgehalten und ihre Gesetze können
deduktiv entwickelt werden. Dies bedeutet, dass der Funktionsbegriff sowohl für die
Zuordnung als auch für die Gesetzmäßigkeit steht.
86
Der sachliche Zusammenhang „zwischen dem Begriff des Begriffs und dem Begriff des
Gesetzes“ bei Cassirer hat nach Ihmig zwei Wurzeln.197 Einen Anhaltspunkt finde man
darin, dass Cassirer die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe Kants in ihrer
Bedeutung als Invarianten hervorhebe; diese Bedeutung ergibt sich daraus, dass Kategorien
„Regeln der Synthesis des Mannigfaltigen“198 darstellen, die als objektive Regeln zugleich
Gesetze sind. Die zweite Wurzel der Verbindung von Begriff und Gesetz finde sich in der
Entwicklung des neuzeitlichen Naturbegriffs, der wesentlich von der Möglichkeit der
Mathematisierung der Natur geprägt sei. Denn in der Neuzeit, so Ihmig, habe sich die
Einsicht gefestigt, dass die Begriffe der Mathematik und der mathematischen
Naturwissenschaften entscheidend dazu beigetragen hätten, die gesetzmäßige Einheit der
Natur zu sichern.
Die Grundbegriffe der Mathematik sind, wie gezeigt, für Cassirer das leitende Prinzip für
die kritische Philosophie und bieten zugleich die Methodik für die Wissenschaften. Die
mathematische Begriffsbildung wird durch das Verfahren der Reihenbildung bestimmt,
wobei das Reihenprinzip festgestellt wird und dann das so gewonnene Reihenprinzip die
verschiedenen Glieder gegenseitig bestimmt. Trotz des wissenschaftlichen experimentellen
Versuches, der die endgültige Fixierung des einheitlichen Begriffs leistet, muss das
Reihenprinzip auch als ein Gesichtspunkt in der Begriffsbildung funktionieren und dadurch
theoretisch festgestellt und begründet sein (vgl. SuF, 196). Diesen Gesichtspunkt kann man
im Sinne von ‚Richtung‘ verstehen. Der wissenschaftlichen Erfahrung soll die Änderung
der begrifflichen Beziehung in der Reihenbildung vorbehalten sein. Man braucht aber, wie
in der Mathematik, nicht all die Änderungen wirklich zu vollziehen und tatsächlich zu
durchlaufen, um die Unabhängigkeit einer begrifflichen Beziehung von bestimmten
Änderungen festzustellen. Es genügt, die ‚Richtung‘ der Änderung ins Auge zu fassen, um
die Entscheidung zu treffen. Die Bedeutung dieser Richtung erläutert Cassirer wie folgt:
„Das Ziel der kritischen Analyse wäre erreicht, wenn es gelänge, auf dieseWeise199 das letzte Gemeinsame aller möglichen Formen der wissen-schaftlichen Erfahrung herauszustellen, d.h. diejenigen Momente begrifflich zufixieren, die sich im Fortschritt von Theorie zu Theorie erhalten, weil sie dieBedingungen jedweder Theorie sind. Dieses Ziel mag auf keiner gegebenen
197 Ihmig (1997a), S. 264.198 Ihmig (1997a), S. 264.199 Gemeint ist wie „der S i n n bestimmter Erfahrungsfunktionen von einem Wechsel in dem materialen
Inhalt, in welchem sie sich ausprägen, prinzipiell nicht betroffen wird: wie z. B. die Geltung einerräumlich-zeitlichen Abhängigkeit der Elemente des Geschehens überhaupt, die sich im a l l g e m e i n e nK a u s a l g e s e t z ausspricht, von jeder Änderung in den b e s o n d e r e n Kausalsätzen unberührt bleibt“(SuF, S. 356 f.).
87
Stufe des Wissens vollständig erreicht sein: als Fo r de rung bleibt esnichtsdestoweniger bestehen und bestimmt in der stetigen Entfaltung undEntwicklung der Erfahrungssysteme selbst eine feste Richtung.“ (SuF, 357)
An dieser Stelle sieht man auch, dass Cassirer das Reihenprinzip beziehungsweise das
Gesetz nicht für absolut hält, was daran liegt, dass er die Erkenntnis der Wissenschaft als
immerwährenden Prozessgang betrachtet. Es gibt für ihn weder ein absolutes Sein, noch
ein absolutes Wissen. Das Gesetz, das Prinzip soll daher in einer Theorie der
wissenschaftlichen Erfahrungssysteme als Gesichtspunkt, als Richtung funktionieren. So
stellt er auch in PsF die Forderung auf, dass der Begriff eine bestimmte Richtung und eine
bestimmte Norm des discursus aufstellen und den Gesichtspunkt angeben soll.200
Auch später hebt Cassirer im Werk Determinismus und Indeterminismus in der modernen
Physik von 1937 den Funktionsbegriff als unentbehrliches ‚Instrument‘ hervor. Er führt in
diesem Werk vier Typen von Aussagen ein, nämlich Maßaussagen, Gesetzes-Aussagen,
Prinzipien-Aussagen sowie den allgemeinen Kausalsatz als allgemeinen Typ von
Aussagen, die die Stufen des Fortgangs innerhalb des wissenschaftlichen
Erfahrungssystems bilden.201 Die Maßaussagen sind die Grundtypen physikalischer
Aussagen und bilden daher die erste Objektivitätsstufe, die „einen gewissen einzelnen
Zahlwert an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit“ konstatiert.202 Die
Gesetzes-Aussagen sind durch die Behauptung der exakten Beziehung zwischen
verschiedenen Gruppen von Maßaussagen charakterisiert:
„Die Gesetzes-Aussagen sind [...] der einzige und der allein-zulässige Weg, umdas Einzelne an das Ganze anzuschliessen und das Ganze mit dem Einzelnenzusammenzuschliessen und so jene ‚Harmonie‘ zwischen ihnen herzustellen,die das eigentliche Ziel aller Naturerkenntnis bildet.“ (DuI, 48)
Der mathematische Funktionsbegriff ist ein wichtiges Mittel, um diese Beziehung
zwischen verschiedenen Gruppen von Aussagen, besonders innerhalb von Gesetzes-
Aussagen, zum Ausdruck zu bringen:
200 Vgl. PsF III, S. 349: „Und der Begriff tut nichts anders, als daß er diese gestaltenden Momente für sichherausstellt und daß er sie für den Gedanken f i x i e r t . Er stellt irgendeine bestimmte Richtung und einebestimmte Norm des »discursus« auf: er gibt den »Gesichtspunkt« an, unter dem eine Mannigfaltigkeitvon Inhalten, mögen sie nun der Wahrnehmung, der Anschauung oder dem reinen Denken angehören,gefaßt und vermöge dessen sie »zusammengesehen« werden.“
201 Vgl. auch Ihmig (2001), S. 85 f.202 Ihmig (2001), S. 84.
88
„Mit ihm [Funktionsbegriff] ist eine universelle Form gegeben, in die ständigneuer Inhalt einströmen kann, ohne sie zu sprengen — ja ohne sie auch nur inihren wesentlichen Zügen zu verändern. Bei Galilei sind es Fallräume undFallzeiten, bei Kepler sind es Abstände und Geschwindigkeiten, bei Huyghenssind es Länge und Schwingungsdauer des Pendels, bei Boyle, Mariotte, GayLussac ist es das Volumen, der Druck, die Temperatur eines idealen Gases, wasdurch diese Form erfasst und in seiner gegenseitigen Beziehung bestimmtwird.“ (DuI, 48)203
Das Ziel der höheren Stufe von Prinzipien-Aussagen, die Aussagen der dritten Stufe, wäre
erreicht, wenn die „letzten l og i s che n Inva r i an t en “ ( SuF, 357) gefunden werden.
Diese drei Aussagen stehen jeweils für ‚Tatsachen‘ ‚Gesetze‘ und ‚Prinzipien‘, die nach
Cassirer als Dreischritte der wissenschaftlichen Entwicklung bezeichnet werden können. Er
charakterisiert in rein formaler und methodischer Hinsicht die Maßaussagen als
‚individuell‘, die Gesetzesaussagen als ‚generell‘ und die Prinzipien-Aussagen als
‚universell‘ (DuI, 68). Und zu der vierten Stufe, dem allgemeinen Kausalsatz gelangt man,
so Cassirer, nur durch einen ‚Sprung‘204. Der Kausalsatz ist für ihn im üblichen Sinne des
Wortes kein ‚Naturgesetz‘. In dieser Hinsicht stimmt er der Meinung Ernst Machs zu,
„dass es in der Natur keine Ursache und keine Wirkung gebe, da die Natur nur e inma l da
sei, und nicht in ihr, sondern nur in unserem schematischen Nachbilden jene »gleichen
Fälle« bestehen, auf die wir hinweisen, indem wir sagen, dass unter gleichen Umständen
gleiche Erfolge eintreten.“ (DuI, 73)205 Somit versteht Cassirer die Kausalität nicht als
Naturaussage, nicht als eine Aussage über die Welt der ‚absoluten Dinge‘, sondern als
‚transzendentale‘ Aussage, „die sich nicht sowohl auf Gegenstände als vielmehr auf unsere
Erkenntnis von Gegenständen überhaupt bezieht.“ (DuI, 73)
Bei seinem wissenschaftlichen Erfahrungssystem lehnt sich Cassirer nach Ihmig an Kants
Idee eines Systems der Erfahrung an, „das eine Einheit besonderer Prinzipien der
Einzelwissenschaften mit allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundbegriffen be-
inhaltet“.206 Sein Ausgangspunkt unterscheidet sich jedoch von Kants. Denn Cassirer geht
nicht „von einem feststehenden Kanon von Kategorien“ aus, sondern „er betrachtet
203 Vgl. Ihmig (2001). S. 85. Mit dem Funktionsbegriff ist nach Ihmig „eine allgemeine Form gegeben, dieauf ganz unterschiedliche Inhalte anwendbar ist“
204 Vgl. Cassirer, DuI, S. 71 f.: „[...] bleibt der Unterschied zwischen noch so allgemeinen Prinzipien-Aussagen und dem Kausalsatz selbst unverwischbar. Auch das Energieprinzip, so sehr es sich in seinerAllgemeinheit bewährt hat, ist und bleibt ein »besonderes Naturgesetz«, dessen Negation keineswegs derAufhebung des »Kausalsatzes überhaupt« gleichkäme. Zu dem letzteren können wir daher, auch von derEbene der universellen Prinzipien aus, immer nur durch einen »Sprung« gelangen“.
205 Cassirer verweist hier auf Machs Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung,Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 2. Aufl. 1892, S. 221.
206 Ihmig (2001), S. 98.
89
vielmehr die Gewinnung ‚letzter Invarianten‘ als eine in der Entwicklung der
Wissenschaften selbst angelegte Möglichkeit“.207 Daraus folgert Ihmig, dass nicht allein die
Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des ‚Faktums‘ der Wissenschaften, sondern
auch „die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Entwicklung der
Wissenschaften mit dem Systemgedanken Cassirers in engem sachlichen Zusammenhang
steht“.208
Cassirers Verständnis einer kontinuierlichen Wissenschaftsentwicklung findet schon seinen
Ausdruck im ersten Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft in der neueren Zeit, in welchem er vorzugsweise Philosophen der
Renaissance vorstellt, die er als Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaften
einstuft. Auch im vierten Kapitel Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung von SuF wird
dieses erneut erkennbar, wenn er neben der Entwicklung der Physik und Mechanik auch
die Entwicklung der Chemie im 19. Jahrhundert behandelt.209 Cassirer hat nach Ihmig bei
der Kontinuitätsfrage in der Entwicklung der Naturwissenschaften, besonders die
physikalischen Theorien von Duhems Kontinuitätshypothese rezipiert.210
Ihmig stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich bei Cassirer unter der funktionalen
Erkenntnisauffassung das Verhältnis von Kontinuität und Veränderung innerhalb der
Wissenschaftsentwicklung zeigt.211
Bei Duhem impliziert ‚Experiment‘ schon eine ‚theoretische Interpretation‘: „Ein
physikalisches Experiment ist nicht einfach die Beobachtung einer Erscheinung, es ist
außerdem die theoretische Interpretation derselben.“212 Er ist der Ansicht, dass „das von
den Geometern verwendete ad-absurdum-Führen“ nicht auf die Überprüfung einer
physikalischen Hypothese übertragbar ist, und dass das „experimentum crucis“ in der
207 Ihmig (2001), S. 98.208 Ihmig (2001), S. 98.209 Vgl. Ihmig (2001), S. 99. Ihmig fasst den Standpunkt von Cassirers Wissenschaftsgeschichtsschreibung
oder Wissenschaftshistoriographie in zwei Punkten zusammen: „Zum einen hat er [Cassirer] großenWert darauf gelegt, Anachronismen zu vermeiden und die Eigentümlichkeiten jeder Entwicklungsstufeim Lichte ihres zeitgenössischen Umfeldes herauszuarbeiten. [...] Zum anderen kam es ihm aber auchdarauf an, mögliche Zusammenhänge aufzuzeigen und auf übergreifende Entwicklungen aufmerksam zumachen. Dazu war es nötig, einen Gesichtspunkt auszuwählen, hinsichtlich dessen sich solcheZusammenhänge begreiflich machen lassen. Um dabei Anachronismen zu vermeiden, mußte dieserGesichtspunkt sowohl aus einer Analyse der wissenschaftlichen Werke beispielsweise des 17.Jahrhunderts als auch aus der Betrachtung moderner Arbeiten entwickelt werden können. In diesemSinne kommt den übergreifenden Gesichtspunkten, unter denen die Ereignisse und Werke derWissenschaftsgeschichte betrachtet werden, eine ordnende, systematisierende Funktion zu.“
210 Ihmig (2001), S. 103: „Es gibt kaum ein größeres Werk von Cassirer, in dem im Zusammenhang mit derErörterung wissenschaftsphilosophischer Probleme nicht ein Hinweis auf Duhem erfolgt. Imallgemeinen bringt Cassirer bei solchen Anlässen seine grundsätzliche Zustimmung zu Duhems Thesenzum Ausdruck. In der Tat sind die Gemeinsamkeiten der Auffassungen beider kaum zu übersehen.“
211 Vgl. Ihmig (2001), Kap.II. Cassirers Konzeption der Wissenschaftsentwicklung, besonders Kap. II, 2.Cassirer und Duhems Kontinuitätshypothese, S. 102-126.
212 Duhem (1906/1998), S. 188.
90
Physik unmöglich ist213:
„Der experimentelle Widerspruch ermöglicht es uns nicht — wie das von denGeometern verwendete ad-absurdum-Führen — eine physikalische Hypothesein eine unbestreitbare Wahrheit zu verwandeln. Um ihr diese zu ermöglichen,müßte man alle verschiedenen Hypothesen aufzählen, die bei einer bestimmtenGruppe von Erscheinungen auftreten können. Der Physiker ist nun niemalssicher, alle denkbaren Annahmen erschöpft zu haben“.214
Es fehlt die Sicherheit, dass es, sofern man beispielsweise neun von zehn bestehenden
Hypothesen mittels eines experimentum crucis ausgeschlossen hat, nicht noch weitere
gäbe, die man hätte ebenfalls ausschließen müssen. Aus Duhems Analyse des Verhältnisses
von Experiment, Gesetz und Theorie ergibt sich eine ‚holistische‘ Auffassung der
Wissenschaft, die später durch Willard Van Orman Quine als „Duhem-Quine-These“
bekannt geworden ist.215 Duhems holistische Auffassung zeigt sich deutlich in seiner
folgenden Erläuterung:
„Ein Pysiker will die Unrichtigkeit eines Lehrsatzes beweisen. Um aus diesemLehrsatz eine zu erwartende Erscheinung abzuleiten, um das Experiment, daszeigen soll, ob diese Erscheinung eintritt oder nicht, anzuordnen, um dieResultate dieses Experimentes zu interpretieren und um zu konstatieren, ob dieerwartete Erscheinung aufgetreten sei, kann er sich nicht auf die Anwendungdes in Frage stehenden Lehrsatzes beschränken. Er wendet noch eine ganzeGruppe von Theorien an, die von ihm nicht in Frage gestellt sind. DasAuftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die Debatte entscheidensoll, ergibt sich nicht aus dem strittigen Lehrsatz allein, sondern aus derVerbindung desselben mit dieser ganzen Gruppe von Theorien. Wenn dieerwartete Erscheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einzige strittigeLehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische Gerüst, von dem derPhysiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment lehrt uns bloß, daß unter allenLehrsätzen, die dazu gedient haben, die Erscheinung vorauszusagen und zukonstatieren, daß sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum sei. Aber wodieser Irrtum liegt, sagt es uns nicht.“ 216
213 Vgl. Duhem (1906/1998), S 249-253; Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 624: Experimentum crucis geht„terminologisch auf das »Novum organum scientiarum« (1620) F. Bacons [zurück] (wo unter Hinweiseauf Wegkreuze an sich trennenden Wegen von ›instantiae crucis‹ gesprochen wird)“.
214 Duhem (1906/1998), S. 252 f.215 Vgl. Duhem (1906/1998), Einleitung, S. XXVI. Nachdem Willard Van Orman Quine 1951 sich in
seinem Aufsatz Two Dogmas of Empiricism (in Philosophical Review, 60 (1), pp. 20-43, auch in Froma Logical Point of View, 1953) an Duhems holistischer These orientierend eine Attacke gegen eines derHauptdogmen des logischen Empirismus vortrug, schloss sich daran eine überaus lebhafte Diskussionan, die bis heute nicht zum Erliegen gekommen ist.
216 Duhem (1906/1998), S. 245; vgl. auch Duhem (1906/1998), Einleitung (von Lothar Schäfer), S. XXVIf.: „Die experimentelle Überprüfung einer bestimmten Hypothese ist nur dadurch möglich, daß von einerganzen Gruppe weiterer Gesetze — letztlich der gesamten Theorie — Gebrauch gemacht wird. Solltedas Experiment negativ ausfallen, richtet sich mithin der Widerspruch nicht gegen diese einzelneHypothese, sondern gegen das gesamte theoretische Gefüge, das bei der Überprüfung in Anspruch
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Bei den Voraussetzungen, die Duhems Kontinuitätshypothese zugrunde liegen, spielt,
neben dieser holistischen Auffassung, der Gedanke des Ziels der physikalischen Theorien
noch eine wichtige Rolle. Das Ziel der physikalischen Theorien besteht in einer
„naturgemäßen Klassifikation“ der Phänomene.217 Dieses Ziel muss jedoch „als Resultat
eines Konvergenzprozesses begriffen werden, in dessen Verlauf eine stetige Annäherung
an die Realität erfolgt“.218 Darüber hinaus unterscheidet Duhem zwischen einem
‚beschreibenden‘ und einem ‚erklärenden‘ Teil einer Theorie:
„Wenn man eine der von den Physikern geschaffenen Theorien, die diewahrnehmbaren Erscheinungen erklären wollen, analysiert, erkennt mangewöhnlich bald, daß diese Theorie aus zwei wesentlich verschiedenen Teilenbesteht: der eine ist der einfach beschreibende, der die Gesetzmäßigkeitenklassifizieren will, der andere ist der erklärende, der unter den Erscheinungendie Realität zu erfassen sucht.“ 219
Der beschreibende Teil ist für die theoretische Physik entscheidend. Er „entwickelt sich auf
eigene Rechnung durch die eigentlichen und selbständigen Methoden der theoretischen
Physik“220 und soll die Kontinuität der Entwicklung gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund fasst Ihmig die Thesen, die Duhem und Cassirer übereinstimmend
vertreten haben, in acht Punkten zusammen221 und hegt dabei die Vermutung, dass die
genommen werden mußte. Allenfalls das Ganze einer physikalischen Theorie muß falsch genanntwerden. Kein Experiment kann jedoch zeigen, an welcher Stelle des Systems der Fehler steckt. Also istdie an das experimentum crucis seit Bacons Tagen gebundene Hoffnung, auf diese Weise alternativeHypothesen eliminieren zu können, preiszugeben: ein Entscheidungsexperiment zwischenkonkurrierenden Hypothesen ist unmöglich.“
217 Ihmig (2001), S. 104. Ihmig führt diese naturgemäßen Klassifikation bei Duhem ausführlich an, vgl.Ihmig (2001), S.111-119.
218 Ihmig (2001), S. 104: Der Konvergenzprozeß impliziert nach Ihmig zwei Momente: „Zum einen istdamit eine systematische Vereinheitlichung verknüpft, die die Prognosefähigkeit der Theorien erhöht.Zum anderen unterscheidet er [Duhem] zwischen einem ‚beschreibenden‘ und einem ‚erklärenden‘ Teileiner Theorie, wobei der beschreibende Teil wegen seiner Unabhängigkeit von metaphysischenVoraussetzungen geeignet sei, von der ihr nachfolgenden Theorie übernommen zu werden und auf dieseWeise zur Kontinuität der Entwicklung beizutragen.“
219 Duhem (1906/1998), S. 37.220 Duhem (1906/1998), S. 37.221 Ihmig (2001), S. 103: „Erstens: Ein rein induktivistisches Verständnis physikalischer Theorien ist
unzureichend. Theoriebildung impliziert stets ein schöpferisch-kreatives Moment, das sich nicht auseinem ‚gegebenen‘ Datenmaterial unmittelbar ableiten läßt. Zweitens: Theorien sind symbolischeKonstrukte, die ihren Ursprung der schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Geistes verdanken.Drittens: Die Feststellung experimenteller Befunde kann nicht unabhängig von Voraussetzungenerfolgen, die durch solche Konstrukte vorgegeben sind. Es gibt keine feste Grenze, die es erlaubte,zwischen ‚reiner Theorie‘ auf der einen und ‚reinen Beobachtungsdaten‘ auf der anderen Seite zuunterscheiden. Viertens: Eine empirische Überprüfung isolierter Hypothesen, Prinzipien oder Sätze einerTheorie ist nicht möglich. Der Erfahrungsbezug von Theorien ist nur auf holistische Weise herzustellen.Fünftens: Es gibt keinen kontinuierlichen Übergang von der Alltagserfahrung zur wissenschaftlichenErfahrung, wie etwa Mach oder Popper angenommen haben. Zwischen beidem besteht eine prinzipielleKluft. Sechstens: Der Kern jeder physikalischen Theorie besteht in ihrer mathematischen Struktur. Sieliefert die Prinzipien der ‚Einheit des Mannigfaltigen‘, die eine Reihe beobachtbarer Phänomene zu
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Übereinstimmung, auf der die Ähnlichkeit der Auffassungen der beiden beruht, besonders
darin begründet ist, dass „es sich bei physikalischen Theorien um symbolische Konstrukte
des menschlichen Geistes handelt, die kein unmittelbares Korrelat in der Realität
besitzen“.222
Cassirers Rezeption von Duhems Kontinuitätshypothese ist nach Ihmig am meisten durch
den Gedanken geprägt, dass „der Fortschritt in den Wissenschaften auf eine wachsende
Vereinheitlichung und Prognosefähigkeit der Theorien hinausläuft“, den Cassirer positiv
aufgreift und in die Sprache seines wissenschaftlichen Erfahrungssystems „übersetzt“.223 Er
lehnt jedoch ab, dass Duhem in seiner Theoriebildung eine Wirklichkeit voraussetzt, die
sich von den begrifflichen Voraussetzungen unterscheidet und mit dessen
Konvergenzkonzept verbunden ist. Er lehnt auch die Annahme Duhems ab, dass lediglich
der beschreibende Teil einer Theorie die Kontinuität der Entwicklung gewährleistet. Die
Auffassung der Begriffstheorie Cassirers besagt, dass die Beziehung zwischen
Allgemeinem und Besonderem oder zwischen Reihenprinzip und Reihenglied als
Korrelation zu verstehen ist, und dass der Einzelwert der Glieder trotz der weiteren
Begriffsbildung oder Reihenbildung nicht verloren gehen soll. Dies lässt auch verständlich
werden, warum Cassirer einerseits auf den Systemcharakter jeder einzelnen Wissenschaft
hinweist und andererseits von einem „System der Wissenschaften insgesamt im Sinne
eines Systems der wissenschaftlichen Erfahrung“ spricht.224 Dieser letzte Gedanke beruht,
wie bereits erwähnt, auf Kants transzendentalphilosophischem ‚System der Erfahrung‘,225
obschon sich Cassirers erkenntnistheoretischer Standpunkt von der Kantischen
Transzendentalphilosophie unterscheidet. Daraus ergibt sich nach Ihmig für Cassirer das
Problem, dass die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung
„einerseits als Voraussetzung der Wissenschaften angesehen werden [müssten] und
andererseits als das Resultat von deren Entwicklung“.226 Somit drängt sich die Frage auf,
einer Einheit verknüpfen. Siebtens: Wissenschaftliche Prinzipien und Begriffe bilden keine Tatsachenab, sondern sie sind ihrem Wesen nach (kontrafaktische) ‚Grenzbegriffe‘. Die vermittels dieserPrinzipien formulierten Aussagen und Gesetze beziehen sich nicht unmittelbar aufWahrnehmungsgegebenheiten, sondern auf deren ‚ideale Grenzen‘. Achtens: Zum tieferen Verständniseiner Theorie und ihrer grundlegenden Prinzipien ist die Kenntnis ihrer Geschichte unabdingbar.Wissenschaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte ist ‚leer‘.“
222 Ihmig (2001), S. 103 f.223 Ihmig (2001), S. 105.224 Ihmig (2001), S. 122.225 Vgl. Ihmig (2001), S. 122: „Das, was ein System der Erfahrung nach Kant ausmacht, ist die Verbindung
von Einheitsprinzipien (oder: Prinzipien der Synthesis) unterschiedlicher Allgemeinheitsgrade, wobeinur die ‚höchsten‘ dieser Prinzipien, sofern sie konstitutiv für Gegenstände überhaupt sind, a priorizugrunde gelegt werden können, während die besonderen Gesetze unter diesen höchsten Prinzipien zwarauch eine Hierarchie bilden, aber nicht a priori, sondern nur mit Hilfe der Erfahrung gefunden werdenkönnen.“
226 Ihmig (2001), S. 124.
93
wie die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung diese Forderung
erfüllen können? Ihmig erläutert, dass hier zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden sind:
„Die Bedingung sollen zwar für Erfahrung Gültigkeit, nicht aber ihrenUrsprung in der Erfahrung haben. Sie als das Resultat wissenschaftlicherEntwicklung zu betrachten, bedeutet zunächst nur, daß sich ihre Gültigkeit fürErfahrungsinhalte im Laufe der Entwicklung immer deutlicher gezeigt hat. Daßim Zuge dieses Nachweises der Bezug auf Empirie auch eine Rolle spielt,bedeutet aber noch nicht schon, daß die Begriffe (Prinzipien, Gesetze,Hypothesen) ihren Ursprung derart in der Erfahrung haben, daß sie induktiv auseiner Reihe von empirischen Befunden abgeleitet oder abstrahiert wordenwären.“227
Ihmig ist der Meinung, dass das System der Erfahrung bei Cassirer als ein System der
wissenschaftlichen Begriffe und damit die Entwicklung dieses Systems als
Begriffsentwicklung aufgefasst werden kann. Um seinen Aspekt verständlicher zu machen,
erläutert er, was einen wissenschaftlichen Begriff Cassirers Meinung nach auszeichnet. Der
wissenschaftliche Begriff bei Cassirer sei eine Vorstellung des menschlichen Geistes,
vermöge derer eine vorgegebene, ungeordnete Mannigfaltigkeit in eine erkenntnismäßige
Abhängigkeit oder Ordnung gebracht werde.228 Ihmig erkennt hierbei, dass sich bei
Cassirer folgende vier Gesichtspunkte verbinden: Erstens, der Gesetzescharakter
wissenschaftlicher Begriffe, die zu einer ‚Umformung‘ des einheitlichen Objekts der
wissenschaftlichen Betrachtung hinführen, ist durch die Umformung selbst mit der
Objektivierung verknüpft. Der zweite Gesichtspunkt ist eben diese Objektivierung, die „die
Einordnung von etwas Einzelnem, Isoliertem [...] in einen übergreifenden Zusammenhang“
beinhaltet.229 Drittens, Begriffe werden in dieser Weise als ‚Prinzipien‘ der Synthesis des
Mannigfaltigen aufgefasst und gehören einer anderen Ebene an. Viertens, die
Ordnungsprinzipien sind etwas, „das gegenüber dem stetigen Wandel des Mannigfaltigen,
worauf sie bezogen sind, konstant und unveränderlich bleibt. [...] Wissenschaftliche
Begriffe sind unter diesem Aspekt ein gutes Beispiel für das, was Cassirer Invarianten der
Erfahrung nennt“.230 Somit besteht die Leistung wissenschaftlicher Begriffe weder darin,
„daß sie Abkürzungen oder Zeichen für eine Summe von Einzeltatsachen darstellen, noch
daß sie irgendwelchen vorausgesetzten Objekten Merkmale oder Eigenschaften
zusprechen“.231 Sie seien vielmehr Ausdruck bestimmter Gesetzmäßigkeiten und227 Ihmig (2001), S. 124 f.228 Ihmig (2001), S. 127.229 Ihmig (2001), S. 127.230 Ihmig (2001), S. 128.231 Ihmig (2001), S. 128.
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Strukturen, deren Gültigkeit für einen Gegenstandsbereich angenommen werde. Ihmig
stellt fest, dass Cassirer unter diesen Voraussetzungen bei seinen Analysen der
Wissenschaftsentwicklung die Entwicklung der Begriffe in den Vordergrund stellt.
Cassirers Gedanke der kontinuierlichen Wissenschaftsentwicklung ist nach Ihmig durch die
drei allgemeinen Charakteristika, nämlich Begriffsentwicklung, Verallgemeinerung und
Objektivierung gekennzeichnet, wobei Cassirers Interpretation der mathematischen
Naturwissenschaften als eines Prozesses der Begriffsentwicklung bestimmend ist.232 Wenn
man sich aber Cassirers übergreifenden Gesichtspunkt des Funktionsbegriffs
vergegenwärtigt und den Funktionsbegriff als Ordnungs- und Gesetzesbegriff versteht,
kann man zu dem Schluss kommen, dass der Funktionsbegriff all diese Charakteriska
umfasst.
Cassirer selbst spricht aber auch von der Logik dieses Funktionsbegriffs und davon, dass
die Funktion selbst nicht als Glied der Reihe aufzeigbar ist (vgl. SuF, 21). Dies impliziert,
dass die Funktion gleichbedeutend mit der „Funktion des Denkens“ (KmM, 33) und der
des „Logischen in uns“ (ZER, 27) oder ‚Tun‘ des Geistes ist.233
Der Funktionsbegriff in der Begriffsbildung muss zugleich als Gesetzesbegriff nun der
Forderung der Cassirerschen Erkenntniskritik genügen können. Die Frage nach der Geltung
und Anwendung des Begriffs war Cassirers Ausgangspunkt in der Kritik an der
aristotelischen Logik. In seiner Untersuchung über die Begriffstheorie innerhalb der
kritischen Erkenntnistheorie geht es um den Erkenntniswert des Begriffs, seinen objektiven
Sinn und seine gegenständliche Geltung. Der Funktionsbegriff muss das Kriterium für den
‚echten‘ Begriff Cassirers erfüllen können.
Die gegenständliche Geltung muss auch auf den einzelnen Gegenstand bezogen werden,
weil die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften verschieden sind. Hier stellt sich die
Frage, was Cassirer unter Gegenstand versteht und was sein Gegenstandsbegriff bedeutet.
Der Gegenstand der verschiedenen Wissenschaften ist, vom erkenntnistheoretischen
Gesichtspunkt aus betrachtet, kein Feststehendes und an sich Gegebenes. Der Gegenstand
der Mathematik ist ein anderer als der der Physik. Weil Cassirer sich für seine
Begriffstheorie auf den mathematischen Funktionsbegriff stützt, ist das Gegenstands-
232 Vgl. Ihmig (2001), S. 130: „[...] beinhaltet die Auffassung der Wissenschaftsentwicklung alsBegriffsentwicklung das Charakteristikum einer besonderen Form der Verallgemeinerung. Zweitensbeinhaltet die Deutung von Grundbegriffen der mathematischen Naturwissenschaften als Gesetzen einweiteres Charakteristikum, nämlich das der Objektivierung.“
233 Vgl. Cassirers Interpretation der Ideen Platons, 1.4.1; vgl. auch Frege (1884/1987), § 88, S. 120. Fregespricht im Zusammenhang mit der Stetigkeit der Funktion auch von organischen Verbindungen derBestimmungen: „Dasselbe gilt auch von den wirklich fruchtbaren Definitionen in der Mathematik, z.B.der Stetigkeit einer Funktion. Wir haben da nicht eine Reihe beigeordneter Merkmale, sondern eineinnigere, ich möchte sagen organische Verbindung der Bestimmungen.“
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problem insofern wichtig, wenn man der Frage nachgeht, „wie der Übergang vom
mathematischen Gegenstand zum physikalisch-realen Objekt zu denken“ ist.234 Der Inhalt
des besonderen Gebiets der Erkenntnis bestimmt sich durch die charakteristische Urteils-
und Frageform, von der die Erkenntnis ausgeht. Man sieht hier, dass die Frage nach der
gegenständlichen Geltung erst dann beantwortet werden kann, wenn man zuerst die Frage,
was man unter Gegenstand versteht, beantwortet hat. Die Frage nach dem Gegenstand wird
daher mit der Begriffstheorie in PsF zusammen behandelt, da Cassirer im Kapitel Begriff
und Gegenstand im dritten Band von PsF das Gegenstandsproblem ausführlich darstellt.
Das Verhältnis von Begriff und Gegenstand bildet ein Hauptproblem der Erkenntniskritik
Cassirers, wobei er sich wohl an den Kantischen Gegenstandesgedanken anlehnt, aber auch
Kritik an der Kantischen transzendentalen Deduktion, besonders bezüglich der
‚synthetischen Einheit der Apperzeption‘ übt. Denn Anschauung heißt bei Cassirer nur
„irgendwie geordnete Anschauung“ und auch Wahrnehmung ist „nicht vereinzelt, sondern
nur als ein Ganzes geordneter Wahrnehmung“ zu sehen (ET I, 25). Cassirer versucht in PsF
das überlieferte Problem der Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand durch die neu
definierte ‚Einheit der Apperzeption‘, das heißt, durch seinen Korrelationsgedanken
aufzulösen.235
Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Funktionsbegriff für die Begriffsbildung bei
allen Wissenschaften gilt. Wie gewinnt man die gegenständliche Geltung des Begriffs
innerhalb der Geisteswissenschaften? Die hier entstehende Frage war Cassirer bewusst,
und er sah die Notwendigkeit der Erweiterung seiner Begriffstheorie (vgl. PsF III, Vorrede,
V). Er meint, dass der mathematische Funktionsbegriff sich auf die mathematischen
Naturwissenschaften beschränken muss. Daher sucht er in PsF mit Hilfe des
Symbolbegriffs die allgemeine Form des Begriffs überhaupt.
2.3. Kritik an Cassirers Begriffstheorie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff
In diesem Abschnitt wird auf die Kritiken an Cassirers Begriffstheorie in SuF seitens
Richard Hönigswald und Gerard Heymans eingegangen, wobei der Versuch unternommen
wird, die sich aus den kritischen Bemerkungen der beiden Autoren ergebenden
Hauptprobleme zu analysieren und zu bewerten. Anschließend wird Cassirers Replik auf
Heymans skizziert, wobei auch der erkenntniskritische Standpunkt Cassirers deutlich234 Lembeck (1994), S. 102.235 Vgl. PsF III, Dritter Teil, Kap. II. Begriff und Gegenstand; auch KmM.
96
werden soll.
2.3.1. Kritik Hönigswalds: Subsumption oder Reihenbildung?
Hönigswald fasst in seiner Rezension236 von SuF zunächst zusammen, was der Begriff als
solcher im philosophischen Kritizismus237 — gemeint ist die Marburger Schule —
bedeutet.
Der Begriff des philosophischen Systems hat nach Hönigswald durch den philosophischen
Kritizismus einen tiefgehenden Bedeutungswandel erfahren. Ein philosophisches System
zu entwickeln heißt für den Vertreter des philosophischen Kritizismus, dass die
Bedingungen möglicher Erkenntnis überhaupt in der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften
aufgewiesen und gerechtfertigt werden können:
„Das kritische System der Erkenntnis ist das System der wissenschaftlichenMethoden; es ist, weil sich im Begr i f f allein die logischen Forderungen zurGeltung bringen, die mit dem Tatbestande der Methode gegeben sind, eineUntersuchung über die Tatsache und über die Gründe der Mannigfaltigkeit, inwelcher der B eg r i f f die Vielgestaltigkeit wissenschaftlicher Methoden oder,was dasselbe bedeutet, das System der Wissenschaften repräsentiert. Dask r i t i s c he System der Philosophie ist das System der wissenschaftlichenBegriffsbildung.“238
Damit wird deutlich, warum Cassirers Theorie der Begriffsbildung im Mittelpunkt der
Erkenntniskritik steht.
Hönigswalds Kritik an Cassirers Theorie der Begriffsbildung entwickelt sich hauptsächlich
aus dem Versuch heraus, Antworten auf zwei sich selbst gestellte Fragen zu finden.239
Seine erste Frage ist darauf gerichtet, ob das Verhältnis zwischen der Subsumption und der
Reihenbildung, wie es Cassirer auffasst, sich wirklich im Prinzip als Gegensatz darstellt.
Die zweite Frage beschäftigt sich damit, ob man das mathematische Reihenprinzip und
Reihenglied ohne weiteres auf die Naturwissenschaft anwenden kann, denn die Relation
zwischen Reihenglied und Reihenprinzip ist für Hönigswald in der Mathematik und in der
Naturwissenschaft oder Naturforschung völlig verschieden.
236 Hönigswald (1912a): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirersgleichnamigen Werk.
237 Die Bezeichnungen ‚philosophischer Kritizismus‘, ‚kritische Philosophie‘ und ‚kritischer Idealismus‘sind gleich bedeutend.
238 Hönigswald (1912a), S. 2822.239 Vgl. Bermes (1997), S. 202 ff. Bermes geht kurz auf die Kritik Hönigswalds an Cassirers SuF ein.
97
Die Subsumption und die Reihenbildung bedeuten nach Hönigswald keineswegs
Gegensätze, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt des Begriffs der Erkenntnis
hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Moment der allgemeinen Gültigkeit betrachtet.
Cassirer habe versucht, so Hönigswald, am grundsätzlichen Auseinandertreten der Begriffe
‚Abstraktion‘ und ‚Subsumption‘ festzuhalten, damit die Subsumption aus den
Erwägungen über die wissenschaftliche Begriffsbildung herausgehalten wird. Eine
‚abstraktive‘ Naturwissenschaft sei unter dem Gesichtpunkt der scharf erfassten
Forderungen des Erkenntnisbegriffs unmöglich, eine nicht subsumierende aber sei
undenkbar, „wenn sonst die Erfüllung einer im »Obersatz« gestellten Bedingung mi t zu
dem methodischen Bestande naturwissenschaftlicher Forschung gehören soll“.240
Die aristotelische Tradition rechnete nicht mit der Vielgestaltigkeit der Bedingungen,
welchen der Begriff selbst unterliegt, sondern ihr
„galt der Begriff als das logische Symbol jener metaphysischen Beziehung, diesie zwischen Individuum und Klasse statuiert hatte. Es ist die Beziehung, in derfür sie die »Realität« der Welt ungeschmälert zum Ausdruck kommt. Nur weilund sofern der Begriff den Bedingungen jener Beziehung genügt, gilt er ihr alsdas Mittel der Erkenntnis.“241
Das Schema der Subsumption ist für den Aristotelismus die eigentliche Form der
Wissenschaft, und das Schema der Abstraktion ist für die aristotelische Tradition der
logische Weg der Erkenntnis der Klassenbildung und der Begriffsentwicklung. Die
Aufgabe der modernen Wissenschaftstheorie sei demgegenüber deutlich umschrieben:
„Nur in Beziehung auf die Mannigfaltigkeit möglicher Methoden kann ihr derGedanke zum Problem werden, daß es dennoch e ine Gesetzlichkeit sei, derenBedingungen die gesamte Begriffsbildung der Wissenschaft beherrschen; nurindem sie die Vielgestaltigkeit wissenschaftlicher Methoden bejaht, vermag siedie durchgängige Einheit der Funktion des Begriffs in aller Wissenschaft zuerfassen und deren System unter dem Gesichtspunkte solcher Einheit zuüberschauen.“242
Die Subsumption braucht sich für Hönigswald keineswegs auf Abstraktion zu gründen,
auch wenn die Abstraktion bei ihrem Vollzug als erkenntnispsychologisch bedeutsames
Element in Betracht kommen sollte. Die Subsumption muss aber seiner Meinung nach den
240 Hönigswald (1912a), S. 2887.241 Hönigswald (1912a), S. 2823.242 Hönigswald (1912a), S. 2824.
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strengsten Erkenntnisforderungen genügen können:
„Der Träger des Gedankens der Wissenschaftlichkeit überhaupt ist der Begriffder Ge l tung . In diesem Begriff aber ist neben dem Gedanken derUnabhängigkeit e ine r Beziehung von gewissen anderen auch der jenerspezifischen Abhäng igke i t , wie sie in der Verhältnisbezeichnung »Geltungfür« ihren sprachlichen Ausdruck findet, enthalten. Genau die gleicheVerhältnisbezeichnung aber entspricht auch der Beziehung der Subsumtion.Insofern muß auch die S ubsumt i on den strengsten Erkenntnisforderungengenügen können.“243
Hönigswald behauptet daher, dass der Begriff der Reihe den Begriff der Subsumption nicht
ausschließen darf und der Reihenbegriff diesen „im Rahmen seiner eigenen Bedingungen
ausdrücklich zur Geltung bringen“ muss. Darüber hinaus müsste die Beziehung der
Subsumption „als eine spezifische Determination der Reihengesetzlichkeit“ erfasst
werden.244 Er ist der Ansicht, dass die moderne Logik der Relation gewiss nicht in einer
absoluten Opposition zur aristotelischen Syllogistik verharren kann, da diese am Aufbau
der wissenschaftlichen Methodik entscheidend mitwirkt. Die aristotelische Logik müsse,
aus den Fesseln der Abstraktionstheorie befreit, ein Element im Rahmen einer Logik der
Relation werden, das heißt, die Logik der Relation müsse den Foderungen, die der Begriff
der Subsumption stelle, in vollem Umfang genügen. Erst wenn diese Bedingung erfüllt ist,
wäre nach Hönigswald eine wirkliche Logik des naturwissenschaftlichen Experiments
möglich:
Sie „erst würde auch das Moment der »Denkfremdheit« der »Tatsache«, dessenBeseitigung eine der entschiedensten Forderungen Cassirers darstellt, wirklichüberwinden. Solange der logische Tatbestand der Subsumtion aus einer Theorieder wissenschaftlichen Begriffsbildung ausgeschlossen bleibt, so lange bleibtauch die Kluft zwischen »Wirklichkeit« und »Erkenntnis« auf dem Boden derMethodenlehre unüberbrückt.“245
Die Beziehung der Subsumption gehört nach Hönigswald somit zu den gedanklichen
Formen, die im System der Logik ihre vollgültige Vertretung finden. Denn sie sei es, „in
der sich die allgemeine Geltung einer Voraussetzung im Sinne der Forderungen des
‚Tatsächlichen‘ determiniert“.246 Alle ‚Anwendung‘ von Naturgesetzlichkeiten bedeute im
einfacheren oder komplexeren Sinne des Wortes Subsumption.
243 Hönigswald (1912a), S. 2886. 244 Hönigswald (1912a), S. 2887. 245 Hönigswald (1912a), S. 2888.246 Hönigswald (1912a), S. 2888.
99
Diese Behauptung Hönigswalds soll zwar geprüft werden, aber wie die Beziehung der
Subsumption die Geltung des Begriffs in Anspruch nehmen kann, das heißt, was alle
Anwendung von Naturgesetzlichkeit im Sinne von Subsumption bedeuten soll, darüber
spricht er nicht. Es mag sein, dass Cassirer, wie Hönigswald behauptet, versucht hat, am
grundsätzlichen Auseinandertreten der Begriffe Abstraktion und Subsumption festzuhalten
und damit die Subsumption aus den Erwägungen über die wissenschaftliche
Begriffsbildung herauszuhalten. Das, was Hönigswald in seiner ganzen Kritik anführt, ist
das Problem der Anwendung von allgemeinen naturwissenschaftlichen Gesetzen auf
empirische Beobachtungen. Dieses Problem ist aber allgemein als ein solches der
Voraussetzung der Naturwissenschaft anzusehen. Wenn es bei Hönigswald um das
Problem der Voraussetzungen der Naturwissenschaften geht, kann an dieser Stelle auf den
vorigen Abschnitt ‚Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff‘ hingewiesen werden, in dem
Cassirers Ansicht diesbezüglich erörtert wurde.
Um die Problematik der Geltung des Begriffs in der Subsumption zu verdeutlichen, soll im
Folgenden kurz auf den aristotelischen Syllogismus eingegangen werden.
Ein Syllogismus im Sinne von Aristoteles ist ein Argument mit drei Teilen, Obersatz,
Untersatz und Schlusssatz. Es gibt zahlreiche Syllogismen, von denen einzelne auch
Namen besitzen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Modus ‚Barbara‘: „All
men are mortal, Socrates is a man, therefore Socrates is mortal“ oder „all men are mortal,
all Greeks are men, therefore all Greeks are mortal“. Aristoteles machte zwischen diesen
beiden Formen keinen Unterschied, was nach Russell ein Fehler von ihm war.247 ‚Barbara‘
bildet zusammen mit den Formen ‚Celarent‘ („No fishes are rational, all sharks are fishes,
therefore no sharks are rational.“) ‚Darii‘ („All men are rational, some animals are men,
therefore some animals are rational.“) und ‚Ferio‘ („No Greeks are black, some men are
Greeks, therefore some men are not black.“) die erste Aristotelische Figur.248 Dieser fügte
Aristoteles noch eine zweite und dritte Figur hinzu, die aber, genauso wie die später durch
Galenus hinzugefügte vierte Figur, an dieser Stelle nicht erläutert werden.249
Zu den formalen Defekten im Syllogismus merkt Russell anhand der Beispielsätze ‚alle
Griechen sind Menschen‘ und ‚Sokrates ist ein Mensch‘, zwischen denen Aristoteles selbst
keinen Unterschied macht, Folgendes an: Eine Aussage ‚alle Griechen sind Menschen‘
wird im Allgemeinen dahingehend interpretiert, dass sie impliziert, es gibt Griechen, und
ohne diese Implikation sind manche der Aristotelischen Syllogismen nicht valid. ‚Alle
247 Russell (1945a), p. 206 f. 248 Russell (1945a), p. 207.249 Vgl. Russell (1945a), p. 207; vgl. auch Lotze (1843/1989), Logik, Buch 1, S. 109.
100
Griechen sind Menschen‘ ist dann valid, wenn es Griechen gibt. Daher muss man nach
Russell diese Aussage in zwei Sätze, ‚Es gibt Griechen‘ und ‚Wenn irgendwas Grieche ist,
dann ist es ein Mensch‘ unterteilen, wobei der letzte Satz aber rein hypothetisch ist und
nicht impliziert, dass es Griechen gibt.250 Die Aussage ‚alle Griechen sind Menschen‘ ist,
wie oben gezeigt, viel komplexer in ihrer Form als die Aussage ‚Sokrates ist ein Mensch‘.
Der Satz ‚Sokrates ist ein Mensch‘ hat nach Russell Sokrates zum Subjekt, aber der Satz
‚alle Griechen sind Menschen‘ hat nicht ‚alle Griechen‘ zum Subjekt, denn dieser Satz
besagt nichts über ‚alle Griechen‘ genauso wenig die Aussage ‚es gibt Griechen‘.
Ein weiterer Fehler bei Aristoteles sei der Gedanke, dass ein Prädikat von einem Prädikat
das Prädikat des echten Subjekts sein kann. Zur Veranschaulichung zieht Russell hierfür
den Satz ‚Socrates is Greek, all Greeks are human‘ heran. Aristoteles denke, dass ‚human‘
auch das Prädikat von ‚Greek‘ sei, während ‚Greek‘ das Prädikat von ‚Socrates‘ und somit
wiederum ‚human‘ das Prädikat von ‚Socrates‘ sei. Bei genauerer Betrachtung dieses
Satzes komme man aber zu dem Schluss, dass ‚human‘ nicht das Prädikat von ‚Greek‘
sei.251 Russell betont hier, dass die Unterscheidung zwischen Namen und Prädikaten oder
zwischen Allgemeinen und Besonderen in der Sprache der Metaphysik verschwommen ist.
Der Aristotelische Syllogismus wird auch nach Lotze als „jede Verknüpfung zweier
Urtheile zur Erzeugung eines gültigen dritten, das nicht in der bloßen Summirung jener
beiden besteht“ verstanden.252 Diese Erzeugung von dritten ist aber nur möglich, wenn
beide Prämissen (Obersatz, Untersatz) einen gemeinsamen Bestandteil, den Mittelbegriff
(M) enthalten, welchen die eine mit dem Subjekt (S), die andere mit dem Prädikat (P) in
Beziehung setzt. Durch diese Vermittlung können die beiden Begriffe S und P in der
Konklusion zu einem Urteil von der Form, S ist P, zusammentreten, und der Mittelbegriff,
der zu seiner Erzeugung gedient hat, verschwindet wieder. Man kann nach Lotze die vier
250 Vgl, Russell (1945a), p. 208.251 Bei Russell sind ‚Namen‘ ähnlich den Individuen oder Einzelnen. ‚Name‘ ist ein einfaches Symbol, das
ein Individuum bezeichnet oder auf dieses hinweist (vgl. Gross, 1970, pp. 78 f.). Nach Russell sollenauch Namen die Beschreibung nicht abkürzen und keinen Sinn haben (also nur ‚Bedeutung‘ haben). Soist ‚Walter Scott‘ zum Beispiel nach Russell kein Name, da bei ‚Walter Scott‘ die Beschreibungabgekürzt ist (vgl. Kripke, 1986, p. 27, fn. 4). ‚Socrates‘ im Satz ‚Socrates is Greek‘ ist in diesem Sinnkein Name. Der Satz ‚Socrates is Greek‘ besagt nicht, wer oder was ‚Socrates‘ ist. Es muss mindestensein Mensch existieren, der ‚Socrates‘ heißt und Grieche ist, dann ist der Satz wahr. Es können aber auchmehrere Menschen ‚Socrates‘ heißen, die nicht Griechen sind. ‚Socrates‘ kann der Name eines Hundesoder einer Katze sein. Damit ist die Schlussfolgerung ‚Socrates is human‘ schon falsch. Man kannaußerdem das Prädikat im generellen Satz nicht für das Prädikat eines partikulären Satzes ohne weiteresverwenden. Darüber hinaus unterscheidet Russell durch ‚denoting‘ zwischen ‚concept of class‘ und‚class-concept‘. Demnach sind ‚all Greeks‘ ‚concept of class‘ und eine Klasse. ‚Greek‘ ist nur ein ‚class-concept‘, denn ‚Greek‘ denotes Nichts. Das Prädikat ‚human‘ von ‚all Greeks‘ kann somit nicht, wieAristoteles denkt, als Prädikat von ‚Greek‘ gedacht werden. Vgl. 3.3.4 (S. 156 f.); Russell (1903/1996),p. 19, 53, 67; auch Russell (1905); Die Diskussion gegen Russells Meinung in Bezug auf ‚Name‘ vgl.Kripke (1986).
252 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 108.
101
verschiedenen Figuren des Syllogismus wie folgt zusammenfassen253:
I II III IV Obersatz MP PM MP PMUntersatz SM SM MS MSSchluss SP SP SP SP
Lotze bezeichnet den Schluss bei Aristoteles als ‚Schluss durch Subsumption‘ und stellt
die Wahrheitsfrage bezüglich der Form des Syllogismus. Zu der Aussage „alle Menschen
sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist Cajus sterblich“ fragt Lotze, wo die Wahrheit
des Obersatzes und Untersatzes bleibe254:
„In der That, wo bliebe die Wahrheit des Obersatzes: alle Menschen seiensterblich, wenn es in Bezug auf Cajus noch nicht gewiß wäre, daß er an dieserEigenschaft Theil hat? Und wo bliebe die Wahrheit des Untersatzes, daß Cajusein Mensch sei, wenn es noch zweifelhaft wäre, ob er außer andernEigenschaften des Menschen auch die der Sterblichkeit hat, die ja der Obersatzals allgemeines Merkmal jedes Menschen aufführt?“ 255
Die beiden Prämissen sind nur unter Voraussetzung der Wahrheit des Schlusssatzes richtig,
anstatt die Wahrheit des Schlusssatzes durch die für sich feststehende Wahrheit der
Prämissen zu beweisen. Dieser doppelte Zyklus scheint, so Lotze, jede logische Leistung
des Syllogismus unmöglich zu machen.
In seinen weiteren Ausführungen versucht Lotze zu veranschaulichen, welche Folgen es
haben würde, den Obersatz ‚MP‘ als ein analytisches Urteil, als ein synthetisches Urteil
oder als ein hypothetisches Urteil zu betrachten. Wenn man sich einen Obersatz ‚MP‘ als
ein analytisches Urteil vorstellt, so ergibt sich für diesen Folgendes:
„P sei ein festes Merkmal, ohne welches sich überhaupt der Inhalt des BegriffsM nicht vollständig denken lasse, so steht allerdings dann die Allgemein-gültigkeit des Obersatzes für sich fest; aber der Untersatz kann dann ein S nichtdem M unterordnen, ohne dem S dies unentbehrliche P bereits zuzuschreiben,also den Schlußsatz vorauszusetzen, der diese Behauptung erst aussprechensollte.“256
253 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 109; vgl. Menne (1991), S. 119-122. 254 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.255 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.256 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.
102
Nennt man als Beispiel den Obersatz ‚alle Körper sind schwer‘; er kann im Untersatz die
Luft nicht einen Körper nennen, ohne mitzudenken, was der Schlusssatz besagen soll, dass
auch die Luft schwer ist.257 Das heißt im Allgemeinen: „der Grundsatz der Subsumption
verlangt, daß das untergeordnete Einzelne die Merkmale seines Allgemeinen theile; aber
umgekehrt läßt sich nichts einem Allgemeinen unterordnen, ohne bereits die Merkmale zu
haben, die dieses ihm vorschreibt“.258
Wenn man sich aber den Obersatz ‚MP‘ als ein synthetisches Urteil von allgemeiner
Geltung denke, dann hieße es, der Inhalt des Begriffs ‚M‘ würde sich vollständig fassen
lassen,
„ohne in ihm P mitgedacht zu haben, aber eine Gewißheit von irgend welchemUrsprung lehrte uns zugleich, daß überall mit diesem M auch P verbunden sei.Darauf würde der Untersatz an S nur die Merkmale nachzuweisen haben, durchdie es ein M ist, und nun erst der Schlußsatz das noch nicht mitgedachte Phinzufügen, welches dem S um seiner Unterordnung unter M willen gebührt.Im wirklichen Gebrauche der Subsumptionsschlüsse macht man dieseVoraussetzungen immer.“259
Wenn man sich dann den Obersatz hypothetisch vorstellt:
„Dann reicht es hin, im Untersatz S dem M allein unterzuordnen, um imSchlußsatz zu folgern, daß auch S, wenn die gleiche Bedingung x einwirkt, dasMerkmal P zeigen müsse. Und auf diese Form laufen in der That die meisten inder Wissenschaft wirksamen Anwendungen der Syllogismen zurück; sie zeigenfast alle, daß S, weil es eine Art von M ist unter der Bedingung x imAllgemeinen dieselbe Wirkung P entfalten oder erfahren werde, die wir an Mkennen.“260
Wie Lotze angeführt hat, ist bei einem analytischen Obersatz der Untersatz fragwürdig und
bei einem synthetischen Obersatz wird dessen Allgemeingültigkeit selbst in Frage gestellt,
denn die Allgemeingültigkeit der Sterblichkeit der Menschen kann nur unter
Voraussetzung der Richtigkeit des Schlusssatzes bestehen. Sie wird hinfällig, wenn es
einen Cajus gibt, der nicht stirbt. Wie oben angeführt, erkennt Lotze an, dass der
hypothetische Obersatz nur unter bestimmten Bedingungen die Anwendung der
Syllogismen261 auf die Wissenschaft zulässt. Der hypothetische Satz bleibt eben
257 Vgl. Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122 f. 258 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.259 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.260 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.261 Darüber hinaus ist noch der divisive Induktionsschluss zu nennen vgl. Bonsiepen (1999), Fries’ Logik,
103
hypothetisch und kann keine Allgemeingültigkeit besitzen.
Wie die bis jetzt angeführten Probleme des Subsumptionsschlusses zeigen, ist es
fragwürdig, ob die Subsumption allein, wie Hönigswald meint, die Bedingung der Geltung
für die Wissenschaft erfüllen kann. Das Problem der Abstraktion, wie ‚Schluss durch
Subsumption‘ ist, dass man nur einen inhaltsleeren Gattungsbegriff gewinnt, der, wie
Cassirer in SuF bewiesen hat, die Bedingung der Geltung der gegenständlichen Erkenntnis
in der modernen Naturwissenschaft nicht erfüllen kann. An dieser Stelle soll nochmals
darauf hingewiesen werden, dass Lotze die Subsumption in der Abstraktion strickt ablehnt
und von der „geistlosen Subsumption“ spricht.262 Cassirer spricht in SuF nicht über die
Subsumption. Er hat mit der Ablehnung der Abstraktionstheorie einen ihrer wesentlichen
Bestandteile (Subsumption) nicht als notwendiges Moment erkannt. Wenn er dennoch, wie
Hönigswald behauptet, die Subsumption als Gegensatz zur Reihenbildung dargestellt hätte,
dann hätte es sich bei ihr wahrscheinlich um die Subsumption im oben angeführten Sinne
gehandelt, die von Lotze abgelehnt wurde.
An der mathematischen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kritisiert Hönigswald,
dass Cassirer dazu neige, „überall die logische Form des mathematischen Denkens mit den
Bedingungen aller wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt zu identifizieren.“263
Hönigswald ist der Ansicht, dass die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und
Reihenprinzip in der Mathematik und in der Naturforschung völlig verschieden ist,264 denn
der Stellenwert des Einzelnen bietet in der Naturwissenschaft keine erschöpfende logische
Charakteristik dieses Einzelnen wie in der Mathematik:
„Es gibt kein »Einzelnes« im Rahmen naturwissenschaftlicher Erfahrung, dassich aus der fortgesetzten Anwendung eines in einer ursprünglichen Setzungfixierten Prinzips »erzeugen« ließe, wie denn auch die »Wiederholbarkeit« [...]ein Merkmal lediglich der mathematischen Erkenntnis darstellt.“265
Hönigswald sieht daher angesichts dieser Verhältnisse zwei Möglichkeiten: Entweder es
erfahre der Begriff der Reihe als Ausdruck der besonderen Struktur naturwissenschaftlicher
Erkenntnis eine der mathematischen gegenüber durchgreifende Veränderung, oder aber es
werde der spezifische Begriff der ‚Gegebenheit‘ naturwissenschaftlicher Reihenglieder von
besonders S. 201.262 Vgl. Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 53.263 Hönigswald (1912a), S. 2891.264 Vgl. Hönigswald (1912c), Vorwort. Hönigswalds Standpunkt ist der, dass die Erkenntnistheorie in allen
Beziehungen weder mathematisch noch naturwissenschaftlich ist. 265 Hönigswald (1912a), S. 2891 f.
104
vornherein schon in den Ausgangspunkt der Reihe hineinverlegt. In beiden Fällen handele
es sich beim Verhältnis zwischen mathematischer und naturwissenschaftlicher Reihe nicht
mehr um ein Verhältnis der Identität, sondern im äussersten Fall um das einer gewissen
Analogie.266 Innerhalb der Mathematik erschaffen nach Hönigswald „die Reihenprinzipien
vollkommen in sich geschlossene und gegenständlich bestimmte Systeme von
Beziehungen, »ein Gefüge idealer Gegenstände«“. Den Reihenprinzipien der
naturwissenschaftlichen Erfahrung gelingt dieses jedoch nicht. Dies liegt darin begründet,
dass das Reihenprinzip, welches in der Mathematik allein als die Quelle und die Gewähr
der Einheit eines mathematischen Gegenstandes angesehen wird, in der
naturwissenschaftlichen Erfahrung nur „in Beziehung auf das Moment der »Gegebenheit«
von Reihenelementen Sinn und Bedeutung“ hat. Es steht zu ihnen in der Beziehung
wechselseitiger Determination: „Es gibt kein System gegenständlich gültiger Beziehungen,
das, gleich der Mathematik, völlig unabhängig von dem Gegebenheitswert der
Erfahrungselemente nur durch die Ka tego r i e n möglich würde.“267 Auch wenn durch die
auf Kategorien bezogenen Anschauungsformen von Raum und Zeit ein gemeinsames Feld
zwischen der Mathematik und der Naturwissenschaft als Voraussetzung der Erfahrung
geschaffen wird, so ist es gerade eine solche Gemeinsamkeit, die „das Unterscheidende nur
noch deutlicher hervortreten läßt und zu verdoppelter Vorsicht bei der Übertragung
mathematischer Gesichtspunkte auf die Erörterung der Prinzipien der Erfahrung
ermahnt“.268 Somit behauptet Hönigswald, dass eine nähere Analyse des Gesamtproblems
letztlich das gänzliche Versagen des Reihengedankens offenbaren würde. Gleichzeitig aber
würden auch die prinzipiellen Schranken, die sich für die von Cassirer in SuF vertretene
Position aus der logischen Tatsache einer Mannigfaltigkeit von Wissenschaften ergeben,
deutlich erkennbar werden:
„Gerade weil den Voraussetzungen des Cassirerschen Werkes das gewaltigemethodologische Problem eines Systems der Wissenschaften, sofern es dasProblem ihrer Mannigfaltigkeit bedeutet, fremd ist, wird man unter demGesichtspunkt jener Voraussetzungen nur allzu leicht Gefahr laufen, zuübersehen, daß die Schwierigkeiten des Problems von Form und Inhalt derErkenntnis nicht erst da beginnen, wo der materiale Faktor, wie in Biologieoder Geschichte, in handgreiflicher Selbständigkeit hervortritt; daß sievielmehr schon mit der primärsten Differenzierung des Geltungsgedankensüberhaupt einsetzen. Schon dem gege nse i t i gen Unterschied dermathematischen Reihenprinzipien liegt eine Gliederung nach eigenartigen
266 Hönigswald (1912a), S. 2892.267 Hönigswald (1912a), S. 2892.268 Hönigswald (1912a), S. 2893.
105
mat e r i a l en Gesichtspunkten zugrunde.“ 269
Man sollte an dieser Stelle anmerken, dass Cassirer selbst versuchte, nicht ein Verhältnis
der Indentität zwischen mathematischer und naturwissenschaftlicher Reihe aufzustellen,
sondern eine Analogie, die die Funktion der mathematischen Reihe auf die Ebene der
Naturwissenschaft, der Funktion des Begriffs in der Naturwissenschaft stellt. Darüber
hinaus sollte man es nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass Cassirer selbst den
methodischen Unterschied zwischen der Mathematik und der Naturwissenschaft erkannt
hat:
„Die mathematischen Konstruktionsbegriffe mögen innerhalb ihres engerenBereichs fruchtbar und unentbehrlich sein: aber es fehlt ihnen, wie es scheint,ein wesentliches Moment, um als Beispiel für den ganzen Umkreis derlogischen Aufgaben, um als Typus für die Beschaffenheit des Begr i f f sübe r haup t zu dienen. Denn so sehr die Logik sich im ‚Formalen‘ beschränkt,so ist dennoch in ihr der Zusammenhang mit den Problemen des Seins nirgendsabgebrochen. Die Struktur und Verfassung des Seins ist es, die der Begriff, diedas logisch gültige Urteil und Schlußverfahren treffen wollen.“ ( SuF, 148)
Im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik (1913) entgegnet Cassirer
der Kritik Hönigswalds aber nur am Rande und betrachtet dessen Auffassung der
Erkenntnistheorie kritisch.270 Cassirers Kritikpunkt in diesem Aufsatz ist, dass Hönigswald
den Gegensatz von Form und Materie in der dualistischen Wendung nimmt. Hönigswald,
so Cassirer, habe zu zeigen versucht, dass sich der allgemeine Gedanke der objektiven
Gültigkeit von den spezifischen Besonderungen scheiden lässt, um so das allgemeine
erkenntnistheoretische Problem vom Problem der Methodologie zu sondern. Für
Hönigswald sei die Einheit des Objektgedankens so entscheidend, dass an ihr bei aller
Besonderung durchweg als oberster Maßstab festgehalten werde. Sein Hauptgedanke ist
das einheitliche wissenschaftliche Objekt bei aller Differenzierung der Methoden der
verschiedenen Wissenschaften. Dieser Objektgedanke soll nach Hönigswald als letztes
Geltungsprinzip durch „das Medium der an ihm orientierten Methoden deren Objekt“
schaffen (ET I, 23). Dies bedeutet für Cassirer, dass die Einzelmethoden am Gegenstand
orientiert werden sollen. Wenn aber nach Hönigswald von einem Dasein der Wirklichkeit
nur im Hinblick auf den Objektgedanken gesprochen werden kann, bedeutet dies für
269 Hönigswald (1912a), S. 2894.270 Cassirers Kritik richtet sich hauptsächlich auf die Erkenntnistheorie Hönigswalds in Zur
Wissenschaftstheorie und -systematik (1912) und Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre(1906). Cassirer schrieb zu dieser Schrift eine Rezension. In: Kant-Studien,14 (1909), S. 91-98.
106
Cassirer, dass Hönigswald den Anspruch jeder Einzelwissenschaft bestreitet, „die
»Wirklichkeit« als feststehendes, vor aller methodologischen Besinnung gegebenes Datum
wiederzugeben“ (ET I, 24). Bei jeder Einzeldisziplin muss also, das, „was für sie als
wirklich gilt“, durch den besonderen methodischen Gesichtspunkt bestimmt werden.
Cassirer betont an dieser Stelle seine Ansicht zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung
gegenüber der Kritik Hönigswalds wie folgt:
„Die Einheit »des« Begriffs, d.h. der Begriffsfunktion als solcher solltegegenüber allen Besonderungen, die diese Funktion nachträglich durch dieAnwendung auf bestimmte Einzel-Probleme erfährt, herausgestellt und betontwerden. Daß, nachdem einmal das leitende Prinzip gewonnen, dieses Prinzipweitere Unterschiede und Determinationen zuläßt und fordert, sollte nichtbestritten werden: die mathematische und naturwissenschaftliche Begriffs-bildung wurde lediglich als Paradigma des allgemeinen »Reihenbegriffs«,nicht aber als erschöpfender Ausdruck seiner Leistung und Bedeutungangesehen. Wie weit die Grundauffassung des Begriffs, die hierdurchbezeichnet ist, sich über die Grenzen der Mathematik und Physik hinausbewährt und welche näheren Bestimmungen und Modifikationen sie hierbeierfährt, vermöchte nur ihre Durchführung durch die speziellen Problemgebietezu zeigen.“ (ET I, 26, Fußnote 16)
Hönigwalds Ansicht, es müsse eine Differenzierung innerhalb der wissenschaftlichen
Begriffsbildung geben, ist großenteils plausibel, aber wenn man seine kritischen Aussagen
vor dem Hintergrund des Cassirerschen Werkes analysiert, dann kommt man zu dem
Schluss, dass Hönigswald Cassirer bei manchen Kritikpunkten missverstanden hat (vgl. 97,
99, 105). Cassirer betont also die gemeinsame funktionale Betrachtungsweise; auf die
Forderung Hönigswalds, die Subsumption ― von den Fesseln der aristotelischen
Abstraktionstheorie befreit ― in die funktionale Reihenbildung als Element einzubeziehen,
geht er nicht direkt ein.
Darüber hinaus hinterlässt die Kritik Hönigswalds einige offene Fragen. Er meint zum
Beispiel, dass „die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und Reihenprinzip [...]
in Mathematik und in Naturforschung völlig verschieden“ sei,271 womit er letzlich
einräumt, das Reihenglied und Reihenprinzip in der Naturforschung zu dulden. Nur die
Beantwortung der Fragen, was Reihenglied und Reihenprinzip in der Naturforschung sind
und wie diese außerhalb des Gebiets der Mathematik funktionieren, bleibt er schuldig, da
er es versäumt zu erklären, was die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und
Reihenprinzip innerhalb der Naturwissenschaft eigentlich ist.
271 Hönigswald (1912a), S. 2891; vgl. SuF, S. 153.
107
2.3.2. Kritik von Heymans: Gattungsbegriffe und ‚Merkmalslehre‘
Wie Hönigswald in seiner Kritik die Subsumption in der Begriffsbildung gegen die
Reihenbildung verteidigt, so kritisiert Heymans in seinem Aufsatz Zur Cassirerschen
Reform der Begriffslehre die Begriffstheorie Cassirers, indem er die traditionelle Logik
verteidigt.272 Er meint, dass Cassirer zu Unrecht behauptet, die Aristotelische Logik setze
die Aristotelische Metaphysik voraus oder hänge irgendwie von derselben ab.
Heymans widerspricht der Behauptung Cassirers, dass die Begriffe der alten Logik speziell
auf „das kategoriale Grundverhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften“ eingerichtet sind
und für andere, besonders für relative Bestimmungen nur in mehr oder weniger
gewaltsamer Weise Raum schaffen können.273 Wenn das Band zwischen der traditionellen
Begriffslehre und der Aristotelischen Metaphysik ein so enges wäre, wie Cassirer in SuF
darstelle, dann hätten sich alle traditionellen Begriffslehren in Bezug auf die wesentlichen
‚Bedingungen‘ und ‚Voraussetzungen‘ ihrer Anschauungen gründlich und durchgängig
geirrt. Dies sei nicht der Fall gewesen. Da Cassirer glaube, dass die traditionelle
Begriffslehre nur auf das Verhältnis zwischen einem Ding und seinen Eigenschaften
eingestellt sei, habe er den Begriff zwangsläufig als eine Summe oder Gruppe von
Merkmalen definiert, wobei er diese Merkmale nur als ‚konstante Einzelmerkmale‘ und
‚feste Eigenschaften‘ gedacht habe.
Nach Heymans können die Merkmale, die sich auf Relationen, als solche, die sich auf
Qualitäten beziehen, ohne Problem zur Begriffsbestimmung verwendet werden.274
Merkmale bilden den Inhalt des Begriffs, „und der Begriff selbst läßt sich a l s e i ne i m
De nken zus a mme nge fa ß t e Gr uppe von Me rkma l en“ bestimmen.275 Selbst
Aristoteles habe schon in seiner Kategorienlehre Aussagen über Beziehungen, räumliche
und zeitliche Bestimmungen, sowie Wirken und Leiden neben den Aussagen über Dinge
und Eigenschaften zugelassen.276 Die traditionelle Begriffslehre kann nach Heymans auch
hinreichend die Erfordernis der logischen Reihenbildung Cassirers entgegennehmen.
Heymans Interpretation zufolge beinhaltet die Erläuterung der Reihenbildung Cassirers
(SuF, 29; 2.1.2) nur „die Forderung, in die Begriffe nicht nur dasjenige, was an ihren
Exemplaren stets zu sehen ist (a), sondern auch die gesetzlichen Verhältnisse (x, y), nach
272 Heymans (1928).273 Heymans (1928), S. 111.274 Heymans (1928), S. 111 f.275 Heymans (1928), S. 109.276 Heymans (1928), S. 112; vgl. Aristoteles (1995), Bd. 1, Kategorien, S. 28. „Das Wirken und Leiden und
die anderen Kategorien“; vgl. auch Aristoteles Werke (AA), Bd. 1/ I, S. 29 f. „das Tun und das Leiden“.
108
welchen unter bestimmten Bedingungen daran etwas (α, β) zusehen sein würde,
aufzunehmen“.277 Er meint, dass die alte Begriffslehre aber auch diese Forderung erfüllen
kann und glaubt fest daran, dass die alte Merkmalslehre in der Lage ist, auch diesen Fall zu
bewältigen. Dafür kommt es aber darauf an, dass in der alten Merkmalslehre nicht nur für
„r e l a t i ve Mer kma le , sondern auch für R e l a t i onen zw i s chen oder i n de n
M er kma l en“ Raum geschaffen wird.278 Da letzteres auch für ihn ein Schwieriges
Unterfangen darstellt, wendet er sich zunächst der Frage nach Inhalt und Umfang eines
Begriffs zu:
„Wie verhält es sich z. B. mit dem Begriff: ‚Kenner aller europäischenSprachen‘, von dem bekanntlich behauptet wurde, daß er sich der Regel vomumgekehrten Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang nicht mehr fügt, indemdie Hinzufügung des Wortes ‚lebenden‘ zwischen ‚aller‘ und ‚europäischen‘,also scheinbar eine Vermehrung des Inhaltes, auch eine Vermehrung desUmfangs mit sich führt?“279
Die Forderung, die er im Zuge der Beantwortung dieser Frage aufstellt, lautet: man soll
„nicht jede einzelne im Begriff auftretende Vorstellung für ein selbständiges Merkmal
halten, sondern überall bloß nach den Bedingungen fragen, denen ein Gegenstand genügen
muß, um mit dem betreffenden Namen benannt zu werden; so viele solche Bedingungen es
gibt, so viele Merkmale hat der Begriff“.280 Damit wird deutlich, dass von Heymans’
Standpunkt aus gesehen, die Cassirersche Auseinandersetzung mit den Merkmalen, eine
fruchtlose, wenn nicht gar sinnlose Unternehmung darstellt.
An der obengenannten Forderung Heymans ist unverkennbar, dass er den Gegenstand mit
dem Namen verknüpft und Bedingungen für die Begriffsbestimmung zugleich Merkmale
sind. Das kann aber einerseits in den Nominalismus führen, und andererseits dahin, dass
die Bedingungen für die Begriffsbildung und -bestimmung nur tatsächlich vorhandene
Merkmale sein dürfen. Wenn dies der Fall wäre, dann würde der Stand der Wissenschaft
auf den von Aristoteles zurückgesetzt.
Gegen Cassirers Meinung, dass die Theorie der Abstraktion willkürlich aus allen
möglichen Beziehungen die Ähnlichkeitsbeziehung herausgreift und die anderen
vernachlässigt, wendet Heymans ein, dass „die herkömmliche Begriffslehre nicht eine
277 Heymans (1928), S. 113. Also etwa im „Begriff des Eisens nicht nur seine Farbe und Schwere, sondernauch die magnetischen und chemischen Gesetze, welche sein Verhalten unter verschiedenartigenEinwirkungen bestimmen.“
278 Heymans (1928), S. 113.279 Heymans (1928), S. 113.280 Heymans (1928), S. 114.
109
Theorie der Abstraktion zu heißen verdient, wenn darunter eine solche verstanden wird,
nach welcher die Begriffe überall ein mehreren Gegenständen Gemeinsames in sich
zusammenfassen sollten“.281 Die Gattungsbegriffe, „welche tatsächlich eine Mehrheit
gleichartiger Gegenstände unter sich befassen“,282 spielen seiner Meinung nach eine große
Rolle und allein deshalb kann nicht von einem willkürlichen Vorzug und Herausgreifen der
Ähnlichkeitsbeziehung die Rede sein, da
„a l l e B ez i ehungen , s oba l d s i e beg r i f f s mäß i g da r ges t e l l twer den , no t we nd ig d i e Tende nz haben , Ähn l i chke i t s be -z i ehungen neben s i ch he rvo r t r e t en z u l a s s e n . Das folgt ohneweiteres aus der Natur des Begriffs als einer scharfbestimmten, also nur einebeschränkte Anzahl von Merkmalen umfassenden Vorstellung“.283
Heymans betont, dass er in der Ablehnung der assoziationistischen Theorie der
Begriffsbildung sowie der assoziationistischen Psychologie durchaus mit Cassirer
einverstanden sei und des weiteren sicher nicht der Ansicht sei, dass Logik und
Psychologie sich so fremd gegenüberstehen sollten:
„ic h kann abs o lu t n i c h t e i n s ehen , i nw ie fe r n d i e l og i scheBegr i f f s l eh r e übe r d i e F r age , w i e Beg r i f f e p sycho log i s c hen t s t e hen , i rgend e t was vo ra us z use t ze n haben s o l l t e . Für dieLogik ist ein Begriff nichts weiter als eine scharfbestimmte Gruppe vonMerkmalen; und sie kann unbedenklich jeden psychischen Prozeß, welcher zurBildung einer solchen scharfbestimmten Gruppe von Merkmalen führt, als einemögliche Entstehungsweise von Begriffen zulassen. Und so hat es dieherkömmliche Logik auch tatsächlich gemacht.“284
Seiner Meinung nach können „unter die Gattungsbegriffe jener herkömmlichen
Begriffslehre, ebensowohl die konstruierten wie die abstrahierten Begriffe untergebracht
werden“.285 Heymans ist außerdem der Ansicht, dass man sich an die alte Logik halten
sollte. Denn die Wissenschaft braucht nun einmal, ebenso wie empirische Begriffe, auch
281 Heymans (1928), S. 116.282 Heymans (1928), S. 116.283 Heymans (1928), S. 117.284 Heymans (1928), S. 115.285 Heymans (1928), S. 117 f.: „Der alten Unterscheidung von abstrahierten und konstruierten
(,analytischen‘ und ,synthetischen‘) Begriffen wird die neue von Gattungs- und mathematischenFunktionsbegriffen einfach superponiert [...], und nicht eingesehen, daß unter die Gattungsbegriffe jenerherkömmlichen Begriffslehre ebensowohl die konstruierten wie die abstrahierten Begriffe untergebrachtwerden können, demzufolge denn die von Cassirer [...] angegebenen ,Hauptsätze der (alten)Begriffslehre‘, welche sich auf Gattung und Art, Abstraktion und Determination, Inhalt und Umfang derBegriffe beziehen, für diese wie für jene durchaus die gleiche Gültigkeit besitzen.“
110
empirische Klassifikationen. So kommt er bezüglich Cassirers Begriffslogik zu dem
Schluss, dass in dieser keine Ersetzung der alten Logik durch eine Neue stattgefunden hat;
was zudem von Heymans auch nicht als nötig erachtet wurde. Man kann an dieser Stelle
nur auf die Kritik von Russell und von Lotze am Aristotelischen Syllogismus hinweisen
und darüber nachdenken, wie sich die Logik selbst seit Ende des 19. Jahrhunderts
entwickelt hat.
Heymans geht in seiner Kritik auch auf den Begriff ‚Reihe‘ ein. Das Reihenprinzip und die
Reihenform in der Cassirerschen Terminologie entspricht für Heymans im Grunde
genommen dem ‚Gesetz‘, und damit können seiner Meinung nach die alten
‚Anwendungsfälle des Gesetzes‘ als ‚Reihenglieder‘ bezeichnet werden. Darüber hinaus
stellt er auch die Frage, ob die Reihenprinzipen Begriffe oder Urteile sind;286 eine Frage auf
die er bei Cassirer keine genaue Antwort findet. Für Heymans ist aber gerade die
Beantwortung dieser Frage für die Logik wichtig, denn man hat im Urteil nicht nur mit
einer Verbindung von Vorstellungen oder Begriffen, sondern mit einer Beurteilung des
Erkenntniswertes dieser Verbindung zu tun. So sind Urteile und Begriffe dadurch
voneinander zu unterscheiden, dass „im Urteil etwas behauptet wird, im Begriff aber
nicht“.287 Die beiden können durcheinander laufen, sofern Cassirer die Begriffe aus
allgemeinen Regeln aufbauen will:
„Wenn die Reihenprinzipien Urteile sind, so gehören sie eben in dieBegriffslehre nicht hinein, wenn aber Begriffe, so lassen sich daraus [...] bloßanalytische Urteile ableiten und sind sie also für die Wissenschaft unfruchtbar.Dagegen liegt für die herkömmliche Logik die Sache sehr einfach: die Gesetzesind allgemeine Urteile, und die besonderen Fälle, welche nach diesenGesetzen möglich sind, lassen sich in Reihen von Begriffen ordnen.“ 288
Heymans hat, wie man sehr leicht bemerkt, dabei übersehen, dass Cassirers Kritik gerade
darauf gerichtet ist herauszufinden, wie man zu diesen Gesetzen beziehungsweise
Prinzipien gelangen kann. Es scheint, dass Heymans einfach das Gesetz als allgemeines
Urteil annimmt und nicht, wie bei Cassirer geschehen, die Bildung oder Formung des
Gesetzes beziehungsweise des Prinzips selbst in Frage stellt. Für Cassirer stehen, wie
bereits erwähnt, das Reihenglied und das Reihenprinzip in der Begriffsbildung in einer
Korrelation. Das heißt, das Reihenprinzip steht nicht als etwas Absolutes, als feststehendes
‚Gesetz‘, sondern es wird mit und durch die Setzung des Reihenbegriffs zusammen
286 Heymans (1928), S. 126.287 Heymans (1928), S. 126.288 Heymans (1928), S. 126.
111
aufgebaut. Will man die obengenannte Frage von Heymans beantworten, dann bedeutet das
Reihenprinzip bei Cassirer das Gesetz der Zuordnung.
Man kann das Reihenprinzip bei Cassirer als „Er z eugungspr i nz i p “ ( KmM, 25) und
auch mit Ihmig als ein System von Axiomen beziehungsweise Bedingungen verstehen. Die
Begriffsbildung selbst ist bei Cassirer ein Prozess, ein dynamischer Werdegang.289 Die
allgemeinen Reihenprinzipien bei Cassirer haben ihren Ursprung im Verstand und sind
nicht etwa aus einer Vielzahl von Einzelbeispielen abstrahiert. Eine Mannigfaltigkeit von
Einzelinhalten wird durch diese Reihenprinzipien, Formprinzipien, konstituiert und zu
einer Einheit zusammengeschlossen.290
Bei der Kritik Heymans ist auch auffällig, dass seine Vorgehensweise und manche seiner
Beispiele an der sprachanalytischen Betrachtungsweise orientiert sind. So fordert er zum
Beispiel, dass Cassirer, um der Verwirrung vorzubeugen, für den neuen Inhalt ein neues
Wort hätte suchen sollen.
2.3.3. Cassirers Replik auf Heymans: Bedeutungsfunktion
Cassirer entgegnet im Aufsatz Zur Theorie des Begriffs der Kritik Heymans. Er geht in
diesem Aufsatz jedoch nicht direkt auf einzelne Kritikpunkte Heymans ein, sondern gibt
allgemein seinen Grundgedanken zur Begriffslehre wieder und hebt seinen Standpunkt und
seine Ansicht zur Theorie der logisch-wissenschaftlichen Begriffsbildung hervor. Auch
gerade deshalb ist dieser Aufsatz im Hinblick auf die Weiterentwicklung seiner
Begriffstheorie seit SuF von großer Bedeutung. Der Aufsatz, der im Jahre 1928 erschien,
also ein Jahr vor der Veröffentlichung seines dritten Bandes der PsF und fast 18 Jahre nach
SuF, zeigt deutlich die Wandlung von Cassirers Gedanken (vgl. ZTB, 129). Man kann
feststellen, dass in diesem Aufsatz seine Gedanken zur Begriffstheorie mehr oder weniger
vollständig dargelegt sind. Sehr deutlich merkt man auch, dass das Gebiet seiner
Fragestellung zur Begriffstheorie erweitert wurde, ohne dass sich sein grundsätzlicher
Standpunkt verändert hätte.
289 Ihmig (1993d), S. 186: „Der Zahlbegriff ist für Cassirer der Prototyp des wissenschaftlichen Begriffsüberhaupt, sofern in ihm das Prinzip der Reihenbildung in seiner reinsten Form zum Ausdruck kommt.Den einfachsten Fall stellt hier die Reihe der natürlichen Zahlen dar. Sie besitzt einerseits einallgemeines Erzeugungsprinzip, das den Fortgang von einer Zahl zur nächsten regelt und welcheszugleich mit einem System von Axiomen bzw. Bedingungen verknüpft ist, das die Beziehungen dereinzelnen Zahlen untereinander bestimmt. In diesem Fall ist das allgemeine Prinzip derBestimmungsgrund des Besonderen oder Einzelnen.“
290 Vgl. Ihmig (1993d), S. 187.
112
Cassirer war sich bewusst, dass seine Bestimmung des Funktionsbegriffs für die
Wissenschaft außerhalb der Naturwissenschaft nicht ohne Einschränkung anwendbar war.
Denn er hatte verstanden, dass „keineswegs [...] mehr von der besonderen Form der
mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe ein Rückschluß auf die
allgemeine Form des ,Begriffs überhaupt‘ versucht werden [darf]“ (ZTB, 130). Er erläutert
in diesem Aufsatz auch, was er in PsF darzustellen versucht und betont seinen
Korrelationsgedanken von Allgemeinem und Besonderem:
„das ,Allgemeine‘, das ich suche und fordere, soll das Besondere, das sich ihmunterordnet, nicht nur ,umgreifen‘, sondern auch ,begreifen‘; es soll fürdasselbe nicht nur die Einheit eines bloßen Schemas und einer Schablone,sondern die Einheit des ‚Grundes‘ darstellen. Eine Allgemeinheit d i e s e r Artaber ist niemals zu gewinnen, wenn man von der leeren ,Form‘ des Denkensausgeht und sie zu isolieren strebt: sie kann nur durch die Betrachtung desgegens t änd l i chen Sinnes und der gegenständlichen Bindungen desDenkens gewonnen werden. Eine wahrhafte ‚allgemeine‘ Logik kann sichdaher nur auf einer ,transzendentalen‘ Logik, d. h. auf einer Logik der Denk-Gegenstände erheben. Ihre Struktur, ihre Beschaffenheit, ihre wechselseitigeBeziehung und ihre notwendige Verknüpfung gilt es zu erforschen. Auf dieseund keine andere Aufgabe zielten auch die Darlegungen in meiner Schrift‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ wesentlich ab.“ (ZTB, 130 f.)
Damit wird deutlich, dass die Begriffstheorie in PsF zugleich eine „kritische Revision“ von
SuF beinhaltet (ZTB, 130). Man kann auf der Basis dieser Erörterung mindestens zwei
Punkte festhalten: Zum einen bildet, wie bereits erwähnt, das Verhältnis von Allgemeinem
und Besonderem den Mittelpunkt seiner Begriffstheorie. Zum anderen kann man die
Begriffslogik bei Cassirer als eine ‚im weitesten Sinne‘ transzendentale Logik ansehen.291
Cassirers Logik des Begriffs bezeichnet man auch als eine „Logik der gegenständlichen
Erkenntnis“ (KmM, 44)292 beziehungsweise als „Erkenntnislogik“.293 Cassirer entgegnet
von diesem Standpunkt aus der Kritik Heymans’ und betont die Erweiterung seiner
Begriffstheorie in PsF:
,,Aber dieser Versuch einer kritischen Revision [PsF III] hat mich freilich demStandpunkt, auf dem Heymans steht, nicht genähert. Denn noch weit enger, als
291 Vgl. Ihmig (1997a), S. 263. 292 KmM, S. 44: „was die kritische Philosophie sucht und was sie fordern muss, ist eine Logik der
gegenständlichen Erkenntnis“.293 Ihmig (1997a), S. 263. Ihmig merkt an, dass die Cassirersche Begriffslogik eine „im weitesten Sinne
transzendentale Logik“ ist, weil sich die Begriffslogik nicht nur auf die Form, sondern auch auf dieInhalte der Erkenntnis bezieht. Das sei der Grund dafür, warum man „von Cassirers Logik desFunktionsbegriffs vielleicht besser als von einer ›Logik der gegenständlichen Erkenntnis‹ oder einer›Erkenntnislogik‹ spricht, weil sie nicht von allen Erkenntnisinhalten abstrahiert“.
113
es in der früheren Darstellung der Fall war, erscheint jetzt für mich das logischeProblem des Begriffs mit dem allgemeinen Bedeu t ungs pr ob l e mverknüpft. Nur im Rahmen einer systematischen ,Bedeutungslehre‘ läßt sichwie mir scheint, die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständigaufbauen.“ (ZTB, 130)
Was er in SuF zu bestreiten suche, so Cassirer, sei nicht die Fassung, in der die Lehre vom
Begriff als eine einzelne Theorie in der Logik auftrete, sondern die Problemstellung und
die Aufgabe dieser Logik und ihres konstitutiven Prinzips. Dies bedeutet, dass es bei
Cassirer nicht nur um die Form des Begriffs geht, sondern auch um den Erkenntniswert,
den objektiven Sinn und die gegenständliche Geltung des Begriffs. Cassirer erkennt an,
dass diese Objektivität sich weder auf die „‘idealen‘ mathematischen Gegenstände, noch
auf das Gebiet der ‚Natur‘, der ‚physischen‘ Dinge und Ereignisse einschränken läßt“, und
dass „sie überall dort statt hat, wo überhaupt ein Ganzes, eine ‚Welt‘, ein geistiger,
Kosmos‘ sich aufbaut und nach bestimmten Gesetzen gestaltet“ (ZTB, 131). Aber von
dieser Anerkennung führe für ihn kein Weg zur klassischen formalen Logik zurück. Wenn
die formale Logik, der Kantischen Definition nach, ihre Eigenart darin hätte, dass sie „von
allen Objekten der Erkenntnis und ihrem Unterschiede abstrahiert“,294 so stelle sich seine
philosophische Theorie des Begriffs die diametral-entgegengesetzte Aufgabe.
„Sie [die philosophische Theorie des Begriffs] sieht von dieserMannigfaltigkeit der gegenständlichen Struktur nicht ab, sondern sie will sievielmehr in ihrem ganzen Umfang erst sichtbar machen. Sie strebt nicht zueinem Formal-Allgemeinen j en s e i t [ s ] der Unterschiede der Gegenstands-struktur, sondern sie will die immanente Bedeutung, die innere Gliederungeben dieser Differenzen selbst aufweisen. Nur von dieser ihrer universellenGrundabsicht aus lassen sich auch alle einzelnen Aufstellungen über den‚Begriff‘ und seine logische Funktion verstehen.“ (ZTB, 131)
Dies ist der leitende Gedanke in der Begriffstheorie Cassirers. Die Frage lautet nun, was
die ‚immanente Bedeutung‘ ist und wie die Differenzen der Gegenstandsstruktur innerlich
gegliedert sind. Die systematische Grundfrage der Begriffstheorie ist für ihn die Frage, was
der Begriff für den Aufbau der Erkenntnis bedeutet und leistet. Eine Antwort auf diese
Fragen lässt sich in der Begriffstheorie in PsF finden, worauf im Kapitel 3 eingegangen
wird.
Cassirer will aber die Behauptung Heymans nicht bestreiten, dass Begriffe der
verschiedensten Art, ‚Dingbegriffe‘ wie ‚Relationsbegriffe‘, ‚abstrahierte‘ wie
294 ZTB, S. 131; vgl. Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B IX und B 79.
114
‚konstruierte‘ Begriffe, in das herkömmliche logische Schema des Begriffs untergebracht
werden können.295 Was er bestreitet, sei, dass „diese Möglichkeit der nachträglichen
Einordnung irgend etwas für den eigentlichen ‚Ursprung‘ dieser Begriffe, für den Grund
ihrer spezifischen Gültigkeit besagt“ (ZTB, 133). Zur Definition des Begriffs von
Heymans, „für die Logik ist ein Begriff nichts weiter als eine scharfbestimmte Gruppe von
Merkmalen“,296 meint Cassirer, dass dieser glaube, den Begriff ganz im Sinne der
traditionellen Logik zur Genüge geklärt und erklärt zu haben. Aber er habe dabei nicht die
Frage gestellt, „was unter den ,Merkmalen‘ selbst zu verstehen [sei] und wie ,Merkmale‘
überhaupt gewonnen und gegen einander abgegrenzt werden können“ (ZTB, 133 f.).
Kritisch bemerkt Cassirer, dass bei Heymans die traditionelle formale Logik überall mit der
Gegebenheit der Merkmale beginnt, anstatt mit ihr zu enden:
„Dadurch kommt in die Behandlung der formalen Logik gewissermaßen einMoment des ,naiven Realismus‘ hinein, das fortan ihren ganzen Aufbaubeherrscht und bestimmt. Nach dem ,Ursprung‘ der Merkmale selbst wird nichtgefragt: ihn hat nicht die Logik, sondern ihn hat die gegebene Welt der ,Dinge‘oder aber die gegebene Welt der ,Eindrücke‘ zu verantworten.“ (ZTB, 134 f.)
Cassirer verweist diesbezüglich noch auf den dritten Band der PsF, in dem sich der
Unterschied zwischen Heymans Auffassung und seiner eigenen am deutlichsten zu
enthüllen scheint.
295 Vgl. 2.3.2 ; Heymans (1928) S. 117 f.296 Heymans (1928), S. 115.
115
3. Die Theorie des Begriffs in Philosophie der symbolischen Formen
Die Theorie des Begriffs in PsF ist, wie bereits erwähnt, eine kritische Revision von SuF.
Cassirers Problemstellung in der Begriffstheorie in SuF lässt sich folglich auch in PsF
wiederfinden. In PsF wird jedoch nicht nur versucht, den Sinn des Gegenstandes zu klären,
um damit die Einheit des allgemeinen Objektbegriffs zu bilden, sondern auch die Regel der
allgemeinen Erkenntnisfunktion gesucht, die die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zu
einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfassen soll. Die Erkenntnis ist daher
wesentlich auf „die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und
Ordnungsform“ (PsF I, 8) gerichtet und bleibt als Mittel, ein Individuelles zu einem
Allgemeingültigen zu erheben.297
Cassirer bezeichnet in PsF die Sprache, die theoretische Erkenntnis, den Mythos, die Kunst
und die Religion als symbolische Formen, die er auch als innere geistige Formen und
geistige Kulturformen bezeichnet. Geistige Kultur bedeutet für ihn, dass der Inhalt der
Kultur nicht Einzelinhalt ist. Dies bedeutet wiederum, dass der Inhalt der Kultur in einem
allgemeinen Formprinzip, das heißt, dem allgemeinen Prinzip der Symbolfunktion
gegründet ist und eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat: Denn der
„Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des
geistigen Produzierens nicht loslösen: das ,Sein‘ ist hier nirgends anders als im ,Tun‘
erfaßbar.“ (PsF I, 11) Man kann vorwegnehmen, dass es in der PsF um dieses allgemeine
Formprinzip geht, sofern die Fragestellung auf die symbolischen Formen und auf die
allgemeine Form des Begriffs gerichtet ist.
Die Sprache, der Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis gehören zu diesen
symbolischen Formen, aber sie stehen jeweils in verschiedenen Dimensionen und sollen
nach Cassirer genauso wie jede andere symbolische Form stets ihre Besonderheit behalten.
Die Dimensionen werden nach den verschiedenen Funktionen des Zeichengebrauches und
des Symbols in die Dimension der Ausdrucksfunktion, die der Darstellungsfunktion und
die der Bedeutungsfunktion unterteilt, die jeweils für den Mythos, die Sprache und die
wissenschaftliche Erkenntnis stehen. Die Theorie des Begriffs in PsF wird in der
297 Cassirer führt hier das Programm Cohens weiter, vom Faktum der Wissenschaft ausgehend das Apriorider Erkenntnis zu formulieren, vgl. Cohen (1871/1918), S. 108. Die PsF ist allerdings noch weitergefasst, nämlich als Lehre von der Einheit des Kulturbewusstseins im Sinne der von Cohen projektiertenAbschlusswissenschaft, vgl. Zeidler (2001), S. 141 f.; in PsF verwirklichte Cassirer Plümacher zufolgeden Plan Natorps, „spezifische Prinzipien und Formen auch der nicht wissenschaftlichenErkenntnisformen zu entschlüsseln. Dem Mythos widmete er [Cassirer] sich z. B. in dererkenntniskritischen Absicht zu zeigen, daß Wahrnehmungen und Kategorisierungen der ‚natürlichenWelt‘ weniger festgelegt sind als sie gemeinhin erscheinen.“ Plümacher (2004), S. 243.
116
Dimension der Bedeutungsfunktion, also in der wissenschaftlichen Erkenntnis aufgebaut.
Die Ausdrucksfunktion und die Darstellungsfunktion, die für die Ausdruckswelt und die
anschauliche Welt stehen, gehören in der Begriffstheorie dem Bereich des natürlichen
Weltbegriffs an (vgl. 3.3).
Sobald man die Vorgehensweise von Cassirer, wie er die Sprache, den Mythos und die
Wissenschaft unter den symbolischen Formen fasst, versteht, gewinnt man Indizien dafür,
dass er mit dem Begriff der symbolischen Form eine Allgemeinheit des Begriffs, oder
anders formuliert das allgemeine Prinzip, das die drei symbolischen Formen umfassen soll,
aufzustellen versucht. Darüber hinaus bemüht er sich, ebenfalls mit dem Begriff ‚Symbol‘
zu zeigen, wie sich sinnliche Symbole in intellektuelle Symbole umwandeln. In seiner
Begriffstheorie sind ‚Symbole‘ Begriffe; insbesondere die wissenschaftlichen Begriffe
versteht er als intellektuelle Symbole.
Die Ansicht Cassirers, die wissenschaftlichen Begriffe als Symbole zu sehen, war schon in
seinem frühen Werk zu vernehmen. „Die Begriffe der Wissenschaft erschienen jetzt nicht
mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen
und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen“ (EP I, 3). In der PsF formuliert
er: „Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und
ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen
Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole “ (PsF I, 5).
Er beabsichtigt in PsF, einerseits die Formlehre mit Hilfe der Symbolik oder der ‚Symbole‘
und andererseits die Bedeutungslehre mit Hilfe der Semiotik oder der Zeichen aufzubauen.
Die Art und Weise seiner Darstellung der Zeichen lassen aber keine klaren Rückschlüsse
darauf zu, wie die Semiotik mit der Symbolik zusammenkommen soll und löst daher Kritik
aus, die durchaus ihre Berechtigung hat.298
Cassirer verwendet je nach dem Gebrauch des Zeichens mehrere Ausdrücke für Zeichen,
die mit seiner Bedeutungslehre zusammenhängen. Zum Beispiel sollen die „sinnlichen
Zeichen“ (PsF I, 19) aus dem Bereich der Ausdrucksfunktion im Bereich der
Bedeutungsfunktion zu reinen „Bedeutungszeichen“ (PsF III, 334) werden, die auch
„Begriffszeichen“ (PsF I, 20) genannt werden. Das Zeichen wird im Bereich der
Darstellungsfunktion „Wortzeichen“ (PsF III, 388) oder „Sprachzeichen“ (PsF I, 20)
genannt,299 das sonst im gewöhnlichen Sinne Sprache oder Lautsprache genannt werden
298 Vgl. Heusden (2003); Wildgen (2003).299 Der Ausdruck ‚Wortzeichen‘ wird schon in SuF verwendet, vgl. SuF, S. 25: „Das Ideal des
w i s s e n s c h a f t l i c h e n Begriffs tritt hier der schematischen Gattungsvorstellung, die ihren Ausdruckim bloßen sprachlichen W o r t z e i c h e n findet, gegenüber.“
117
kann. Die sinnlichen Zeichen und Wortzeichen im Bereich des natürlichen Weltbegriffs
werden im Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs zu Begriffszeichen oder reinen
Bedeutungszeichen, die „alles bloß-Ausdrucksmäßige, ja alles anschaulich-Repräsentative
von sich abgestreift“ haben (PsF III, 334). Die reinen Bedeutungszeichen sind
wissenschaftliche Begriffe und zugleich intellektuelle Symbole. Der Funktionsbegriff und
das intellektuelle Symbol haben an diesem Punkt gemeinsam, dass sich beide von der
sinnlich-empirischen Wirklichkeit abheben.
Cassirers Standpunkt gegenüber dem Begriffsrealismus in SuF wird in PsF durch die
Konkretisierung des Symbolbegriffs noch gefestigt. Neben dem Problem des Verhältnisses
von Allgemeinem und Besonderem beziehungsweise Inhalt und Umfang des Begriffs bildet
für ihn auch das Verhältnis von Form und Materie eine weitere Problemstellung der
Begriffstheorie.
Die Frage nach Form und Materie innerhalb der Erkenntnistheorie ist seiner Ansicht nach
ein altes Problem, dass sich auf Parmenides zurückführen lässt.300 Bei ihm waren der
Gedanke und der Gegenstand eins. Der Satz der Identität von Denken und Sein bei
Parmenides erfährt in der Geschichte der Philosophie eine Veränderung im inhaltlichen
Sinn, aber die Form ist unverändert geblieben. Berkeleys esse est percipi heißt für Cassirer
auch nur, dass man den Gegenstand statt des Denkens als bloße Wirklichkeit der Empirie
erfasst (vgl. PsF III, 339). Man soll jetzt den Gegenstand im Unterschied zu Berkeley durch
die symbolische Deutung und Bedeutung begreifen.
Bei dem Versuch, das Problem von Form und Materie und dessen Dualismus in der
Metaphysik aufzuheben, lehnt sich Cassirer wieder an den Zahlbegriff an. Die Wichtigkeit
des Zahlbegriffs und ihre Bedeutung für die Begriffsbildung hat er schon in seinem Werk
SuF erkannt (vgl. 2.2.1), in dem er den Zahlbegriff als bestes Beipiel für den
Funktionsbegriff anführt. Auch in PsF zieht er als Beispiel die Entstehung der griechischen
Mathematik heran, um zu zeigen, wo die Problemstellung seiner Begriffstheorie liegt. Die
Zahl in der pythagoreischen Schule stand nach Cassirer einerseits noch in einer mythischen
Bindung, andererseits in einer reinen anschaulichen Bindung. In der Anfangsphase der
Entwicklung wurde sie als Anzahl der Menge gedacht und an räumliche Bestimmungen
gebunden, das heißt, sie war ebensowohl geometrischer wie arithmetischer Natur. Als aber
die logische Natur der Zahl erkannt wurde, kam es zur Grundlegung einer reinen
Wissenschaft der Zahl. Das bedeutet, die Zahl sonderte sich von der anschaulichen
Wirklichkeit ab und wurde zum Zahlbegriff. Sie ist nun nicht mehr ein physisches Ding
300 Vgl. PsF III, Einleitung, 1. Materie und Form der Erkenntnis.
118
oder nach der Analogie irgendwelcher empirischer Objekte bestimmbar, sondern „ihr
[kommt] doch eine Form der Erkenntnis zu, die von der sinnlichen Wahrnehmung oder
Anschauung klar geschieden ist“ (PsF III, 332). Dieses Verhältnis von
„E n t s t o f f l i c hung der Zeichen“ (PsF III, 388) oder „Ab l ös ba r ke i t des Zeichens von
den Dingen“ (ibd.) ist für die wissenschaftliche Begriffsbildung Cassirers entscheidend.
Auf die Zeichenfunktion selbst wird im Abschnitt 3.4 näher eingegangen.
Cassirer sucht in seiner Begriffstheorie schließlich eine allgemeine Form des Begriffs,
nämlich den Symbolbegriff, der sowohl die Kulturwissenschaft als auch die
Naturwissenschaft umfassen sollte. Daher ist er der Meinung, dass man, um ein komplexes
und doch differenziertes Ganzes von Denk- und Erkenntnisformen zu finden, von der
Dimension des wissenschaftlichen Weltbegriffs in die des natürlichen Weltbegriffs
zurückgehen muss (vgl. PsF III, 347 f.). Was dies bedeutet, soll durch die Untersuchung
seiner Begriffstheorie verdeutlicht werden.
Die Wahrnehmung ist für Cassirer eine Grundfunktion, die mit der Denktätigkeit
zusammen die Form der Erkenntnis gestaltet. Diese Funktion der Wahrnehmung in der
Erkenntnis hat er bereits in SuF hervorgehoben (vgl. SuF, 453 f.; 1.3.2).
Die Wahrnehmung in der Wissenschaft oder der theoretischen Erkenntnnis bedeutet für
Cassirer eine Grundfunktion, einen Urteilsakt, in dem ein Einzelinhalt als Teil eines
Ganzen, einer festen Ordnung, erfasst wird. Die sinnliche Wahrnehmung ist niemals bloße
sinnliche Rezeptivität, sondern ihr liegt der ‚Aktus der Spontaneität‘ zugrunde. Die von
Cassirer bezüglich der Wahrnehmungsfunktion gewonnene Einsicht, dass die
Wahrnehmung von Anfang an als ein Akt des Urteils zu betrachten ist, unterscheidet sich
von der Auffassung Kants. Man kann sagen, Cassirer versucht durch eine Erweiterung des
Gebiets der transzendentalen Einheit der Apperzeption das Kantische Problem der
Schematismuslehre zu überwinden. Das heißt, dass die Einheit der Apperzeption, mit
Cassirerschen Worten gesprochen, nicht nur auf das Gebiet des wissenschaftlichen
Weltbegriffs, sondern auch auf das Gebiet des natürlichen Weltbegriffs von Anfang an
bezogen sein muss (vgl. PsF III, 347 f.). Die Beziehung des Bewusstseins zum Gegenstand
wird in PsF als symbolische Relation erkannt, wobei zu betonen ist, dass die
Symbolfunktion schon in der Wahrnehmung aktiv sein soll. Daher nehmen Anschauung
und Wahrnehmung in seiner Begriffstheorie in PsF einen wichtigen Platz ein und heben
damit auch die symbolische Funktion des Bewusstseins hervor. Auf das Verhältnis
zwischen Symbolfunktion und Wahrnehmung wird im Abschnitt 3.5 eingegangen.
In den folgenden Abschnitten werden die oben genannten Problemstellungen der
119
Begriffstheorie näher behandelt, und es soll der Versuch unternommen werden,
herauszufinden, welche Bedeutung die Symbolfunktion für die Begriffstheorie Cassirers
besitzt und inwiefern die intellektuellen Symbole mit seinem früheren Funktionsbegriff in
gedanklicher Verbindung stehen. Darüber hinaus muss bezüglich der Zeichenfunktion, die
eng mit dem Bedeutungsproblem verbunden ist, geklärt werden, was zum Beispiel unter
den reinen Bedeutungszeichen in seiner Begriffstheorie verstanden wird. Dabei soll auch
deutlich werden, was seine Begriffstheorie eigentlich ausmacht. Wie bereits in der
Einleitung erwähnt, soll damit auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen einen Bruch mit seiner Erkenntnistheorie
und Wissenschaftsphilosophie oder eine Erweiterung derselben bedeutet. Wie bereits im
Kapitel 2 angekündigt, muss man in diesem Zusammenhang auch den Gegenstandsbegriff
bei Cassirer näher betrachten, denn dieser Begriff bildet sowohl in SuF als auch in PsF den
Mittelpunkt seiner Begriffstheorie.
3.1. Wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Form
Cassirer stellt in PsF, gestützt auf seine kritische Betrachtungsweise, den Mythos, die
Sprache und die wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Formen dar. Die Theorie
des Begriffs wird dann auf der symbolischen Form der theoretischen oder
wissenschaftlichen Erkenntnis, die der Dimension der reinen Bedeutung angehört,
aufgebaut. Bevor man auf die Theorie des Begriffs eingeht, sollte man jedoch zunächst
versuchen zu verstehen, was die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis
bedeutet.
Cassirer macht zunächst deutlich, was die Aufgabe der philosophischen Erkenntniskritik
ist:
„Sie muß den Weg, den die besonderen Wissenschaften im einzelnenbeschreiten, im ganzen verfolgen und im ganzen überblicken. Sie muß dieFrage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderenDisziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfachesNebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungenein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen.“ (PsF I, 8)
Eine positive Beantwortung des zweiten Teils der Frage soll als Voraussetzung für die
philosophische Erkenntniskritik dienen, so dass sich das Aufstellen der allgemeinen
120
Bedingungen dieser Funktion und die Klarlegung des Prinzips, von dem diese Funktion
beherrscht wird, als weitere Aufgabe ergibt:
„Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit derSubstanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetztnach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit undVerschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sieaufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sichgeschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt.“ (PsF I, 8)
Cassirer will in PsF ‚Erkenntnis‘ in erweitertem Sinne verstehen. Das Ziel aller Erkenntnis
ist, „die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des ,Satzes vom Grunde‘ zu unterwerfen.
Das Einzelne soll nicht a l s einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem
Zusammenhang einreihen“, das heißt, die Erkenntnis ist wesentlich auf „die Einfügung des
Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform“ gerichtet (PsF I, 8). Neben
dieser Form der intellektuellen Synthesis, der theoretischen Erkenntnis also, stehen andere
geistige Formen mit anderen Gestaltungsweisen, wie zum Beispiel Mythos, Sprache und
Kunst. Sie erreichen auch Allgemeingültigkeit, jedoch auf anderen Wegen als dem Weg
des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes:
„Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einenentscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloßeine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv einVorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes insich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte‚Bedeutung‘, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für dieKunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion.“(PsF I, 9)
In PsF kommen von den verschiedenen symbolischen Formen jedoch nur drei, der Mythos,
die Sprache und die theoretische Erkenntnis in Betracht, die für Cassirer repräsentativ für
das Erfassen, Verstehen und Begreifen unserer geistigen Tätigkeit oder Denkformen
erscheinen (vgl. ZLS, 210). Unter diesen drei symbolischen Formen wird jedoch die
‚innere Form‘ der Sprache, die für ihn nichts anderes als eine eigentümliche gedankliche
Gesetzlichkeit bedeutet,301 für die symbolischen Formen Mythos und wissenschaftliche
301 Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in STS, S. 125: „Wir müssen, um dieSprache zu verstehen, nicht bei ihren Gebilden stehen bleiben, sondern dem inneren Gesetz des Bildensnachspüren ― wir dürfen sie nicht als ein Fertiges und Erzeugtes, sondern wir müssen sie als eineErzeugung, als eine sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes betrachten.“
121
Erkenntnis vorausgesetzt (vgl. PsF I, 12).302 Dies zeigt sich deutlich, wenn der Aufbau der
inneren Bindung zwischen der Form der Sprache und der Form, unter der die anschauliche
Wirklichkeit erfasst wird, durch dieselben Etappen von der Ausdrucksfunktion über die
Darstellungsfunktion bis hin zu der Bedeutungsfunktion hindurchgeführt wird. Damit ist
gemeint, dass man durch die Funktion der Repräsentation und Rekognition eine innere
Bindung zwischen Sprache und ‚Außenwelt‘ aufbaut: „Je genauer wir die besonderen
Wege verfolgen, die die allgemeine Grundfunktion der ,Repräsentation‘ und der
‚Rekognition‘ geht, um so klarer wird für uns ihr Wesen und ihre spezifische Einheit
heraustreten“ (PsF III, 136). So ist die Sprache eine symbolische Form einer Dimension mit
Darstellungsfunktion. Cassirer betrachtet die Sprache auch selbst als Ausdruck, so dass sie
im Bereich der Ausdrucksfunktion eine mimische Funktion, in dem der
Darstellungsfunktion eine analogische und in dem der Bedeutungsfunktion eine
symbolische Funktion besitzt.
Neben dieser inneren Sprachform dient auch das ,mythische Denken‘ als Fundament für
die weitere geistige Entwicklung in der Erkenntnis. Cassirer ist der Ansicht, dass der
Mythos eine entscheidende Bedeutung besitzt, „wenn man sich die Genesis der
Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein vor Augen hält“.
Zudem geht er davon aus, dass keine der symbolischen Formen „von Anfang an ein
selbständiges Sein und eine eigene klar abgegrenzte Gestalt“ besitzt, „sondern jede [...] uns
gleichsam verkleidet und eingehüllt in irgendeine Gestalt des Mythos entgegen“ tritt (PsF
II, IX). Der Mythos ist eine Welt der Bilder, die vom Zeichengebrauch her der Dimension
der Ausdrucksfunktion angehört. In dieser Dimension, die Dimension der ‚Urphänomene
des Ausdrucks‘, gibt es keine Differenz von ‚Bild‘ und ‚Sache‘, von ‚Zeichen‘ und
‚Bezeichnetem‘ (PsF III, 109). Es gibt hier auch keine klare Unterscheidung zwischen
Subjekt und Objekt:
„Alle seine [des Mythos] Gebilde bewegen sich vielmehr in einer einzigenSeins-Ebene, in der sie ihr völliges Genüge finden. Hier gibt es weder Kernnoch Schale; hier gibt es keine Ding-Substanz, die als beständiges undbeharrendes Etwas den wechselnden und flüchtigen Erscheinungen, den bloßen
302 Vgl. Sandkühler/Pätzold (Hg.) (2003), S. 30: „Cassirer hat die Sprache als wichtiges, auch für dieErkenntnistheorie zentrales Problemfeld etwa seit 1916 ernstgenommen und eine Sprachphilosophie inder Tradition von Leibniz, Herder, Hamann und Humboldt konzipiert.“ „In dem Sprache gewidmetenersten Band der Philosophie symbolischer Formen rezipiert Cassirer ausgiebig die neueren Ergebnisseder typologisch vergleichenden Sprachforschung und ordnet sie in eine Humboldtsche Gesamtsicht ein.Ebenso integrativ verfährt Cassirer mit Bühlers Sprachtheorie und dem europäischen Strukturalismus,den er als eine Aktualisierung des Humboldtschen Programms versteht.“; vgl. auch Orth (1988), S. 57:„Sprache erweist sich so in Cassirers Humbolt-Interpretation als eine »Arbeit des Geistes«, eine»Energie« im Sinne einer inneren Form, aus der sich ihre Leistungen wie aus einem Prinzip entwickeln.“
122
‚Akzidenzen‘ zugrunde liegt.“ (PsF III, 79)
Die Sprache ist eine Welt, die sich als „Selbstwelt und Dingwelt“303 darstellt, und wie
bereits erwähnt, der Dimension der Darstellungsfunktion angehört. Die Funktion der
Darstellung tritt hervor, „wo es gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner
Gegenwart, in seiner einfachen ‚Präsenz‘ aufzugehen, als Darstellung, als ‚Repräsentation‘
eines anderen zu nehmen“ (PsF III, 131). Und in diesem Bereich wird jeder sinnliche
Eindruck als Symbol erfasst, während im Bereich der Ausdrucksfunktion die
‚Ausdruckswahrnehmung‘ noch in dem ‚Präsenten‘, das heißt, in dem gegebenen Eindruck,
gefangen ist. Der Fortgang des Bewusstseins von der Ausdrucksfunktion zur
Darstellungsfunktion erreicht somit eine „neue Höhenlage des Bewußtseins“ (PsF III, 131).
Die theoretische Erkenntnis stellt sich eine „Welt als Ordnungsgefüge“304 vor und gehört
der Dimension der Bedeutungsfunktion an, worauf in diesem Kapitel näher eingegangen
wird.
Cassirer bezeichnet sowohl den Mythos und die Kunst als auch die Sprache und die
Wissenschaft als „Prägungen zum Sein“:
„Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaosder sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestaltanzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeinerRichtung der Zeichengebung, b i l de nd gegenübertreten, gewinnt er für unsForm und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in derWissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedenerWeise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darinüberein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt,in keinem Zuge mehr dem bloßen Ma t e r i a l gleicht, von dem sie anfänglichausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion derZeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaftdas geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle derpassiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbständigePrägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedeneWirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythosund die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem SinnePrägungen z um Sein: sie sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenenWirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigenBewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche alsEines und Vieles konstituiert, — als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen,die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.“(PsF I, 43)
303 Bermes (1997), S. 161.304 Bermes (1997), S. 161.
123
Wirft man die Frage auf, was die symbolische Form ist, so wird man feststellen, dass es
sich zum einen um eine sehr komplexe Frage handelt, die zum anderen auch in PsF nicht
eindeutig beantwortet wird. Cassirer verwendet in PsF Ausdrücke wie „selbständige
Energie des Geistes“ (PsF I, 9), „Aktivität des Geistes“ (PsF I, 21), „Tun des Geistes“ (PsF
I, 11) und „Freiheit des geistigen Tuns“ (PsF I, 43), um die symbolische Form zu
charakterisieren, eine klare Definition bleibt er aber schuldig. Er versuchte jedoch bereits
in seinem Vortrag Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaft
(1921)305 eine Definition der symbolischen Form zu geben306: „Unter einer symbolischen
Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger
Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen
innerlich zugeeignet wird.“307 Auf der Basis dieser Definition kann man zunächst
festhalten, dass die symbolische Form als symbolische Formung oder Handlung308
beziehungsweise geistige Tätigkeit verstanden wird:
„Wir sahen, daß die wesentliche und eigentümliche Leistung jedersymbolischen Form — der Sprachform wie der mythischen Form oder derreinen Erkenntnisform — nicht darin besteht, ein gegebenes Material vonEindrücken, das in sich schon eine feste Bestimmtheit, eine gegebene Qualitätund Struktur besitzt, einfach aufzunehmen, um ihm sodann eine andere, aus dereigenen Energie des Bewußtseins stammende Form gleichsam von außen heraufzupfropfen, sondern daß die charakteristische Leistung des Geistes schonweit früher einsetzt.“ (PsF II, 117)
Nach Cassirer soll allen symbolischen Formen ein allgemeines Prinzip zugrunde liegen,
das als Ganzes die Verschiedenheit der möglichen Anwendungen der Formen umfasst und
den allgemeinen Charakter der symbolischen Formen heraushebt. Er will dabei aber die
prinzipiellen Unterschiede der einzelnen symbolischen Formen, die zwischen all den
mannigfachen Anwendungsformen des Symbolbegriffs bestehen, nicht leugnen und nicht
in Einem schematisieren:
„Im Gegenteil: durch die Herausarbeitung und Abgrenzung der drei»Dimensionen« — der Dimension des »Ausdrucks«, der »Darstellung« und der»Bedeutung« — sollte für diese Unterscheidung der Grund gelegt, sollte eineArt von methodischem Gerüst für sie geschaffen werden. Aber die volle
305 Dieser wurde im Jahre 1921 im Rahmen der Vorträge der Bibliothek Warburg gehalten. 306 Vgl. Ihmig (1993d), S. 179. Ihmig ist der Meinung, dass es sich hierbei um den einzigen ihm bekannten
expliziten Definitionsversuch seitens Cassirer handelt.307 BsF, S. 175; vgl. auch BsF, S. 177.308 Vgl. Kaegi (1995), S. 75: „[...] symbolische Formen stellen geistige Energien dar, also Handlungen bzw.
Tätigkeit, die sich auf [...] sinnliche Zeichen richten.“
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Anerkennung der spezifischen Differenzen zwingt uns, so viel ich sehe, nichtdazu, das »genus proximum« fallen zu lassen und aufzugeben. Soaußerordentlich groß die Spannweite der Bedeutung ist, die das Symbolischeumschließt: die Einheit seines Begriffs bricht darum nicht auseinander.“309
Daher fordert seine kritische Betrachtungsweise in PsF, die auf Kants Begriff des
Analytisch-Allgemeinen beruht,310 „eine Mehrheit verschiedener ‚Dimensionen‘ der
Betrachtung“ (PsF I, 29), um den Mythos, die Sprache und die theoretische Erkenntnis
unter den symbolischen Formen zusammenzubringen:
„Sie [die kritische Betrachtung] stellt das Problem einer Einheit, die vonAnfang an auf Einfachheit verzichtet. Die verschiedenen Weisen der geistigenFormung werden als solche anerkannt, ohne daß der Versuch gemacht wird, sieeiner einzigen, einfach-fortschreitenden Reihe einzuordnen. Und dort wird,gerade in einer solchen Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformenunter sich keineswegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt derGedanke des Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eineseinfachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt.“ (PsF I, 29)
Jede symbolische Form soll einer besonderen Ebene, die Cassirer auch als Dimension oder
Sphäre bezeichnet, zugeteilt werden, in der sie sich auswirken und ihre spezifische
Eigenart völlig unabhängig entfalten kann. In der Gesamtheit dieser ideellen
Wirkungsweisen aller Formen sollen zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische
Verhaltungsweisen hervortreten, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen
(vgl. PsF I, 29).311 Zudem hebt Cassirer hervor, dass das, was durch den Begriff der
symbolischen Form bezeichnet werden soll, ein Allgemeineres ist:
„Es handelt sich darum, den symbolischen Ausdruck, d.h. den Ausdruck eines‚Geistigen‘ durch sinnliche ,Zeichen‘ und ,Bilder‘, in seiner weitestenBedeutung zu nehmen; es handelt sich um die Frage, ob dieser Ausdrucksformbei aller Verschiedenheit ihrer möglichen Anwendungen ein Prinzip zugrundeliegt, das sie als ein in sich geschlossenes und einheitliches Grundverfahrenkennzeichnet. Nicht also was das Symbol in irgendeiner be s onde r en Sphäre,was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, soll hiergefragt werden; sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes , der
309 ,Schlußwort‘ der Diskussion über den Vortrag Cassirers Das Symbolproblem und seine Stellung imSystem der Philosophie [SP]. SP, S. 321.
310 Kants Kritik der Urteilskraft, § 77; vgl. 1.5 (S. 54 f.). 311 Marx (1975), S. 309: „Innerhalb des ‚komplexen Systems‘ der verschiedenen Formen oder
Formungsweisen verhalten die spezifisch verschiedenen Weisen sich notwendig zueinander alsEinschränkungen des Geltungsbereiches oder Anwendungsfeldes und jede einzelne Formungsweiseerscheint im Rahmen des nicht logisch intergrierten komplexen Gesamtsystems der Formen alsbeschränkt.“
125
Mythos als G anzes , die Kunst als G anze s den allgemeinen Charaktersymbolischer Gestaltung in sich tragen.“ (BsF, 174)
Damit wird deutlicher, dass Cassirer durch den Begriff der symbolischen Form die
allgemeine Form des Begriffs, den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung
aufzustellen versucht (vgl. PsF III, 334). Er sucht andererseits aber auch die Ordnung und
Verknüpfung zwischen den einzelnen symbolischen Formungen des Geistes innerhalb der
symbolischen Formen. Der Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis unterscheiden
sich demnach bei der Betrachtung und Deutung des ‚Wirklichen‘ in ihrer Modalität, das
heißt, in ihrer Form des Raumbewusstseins und nicht durch die Qualität der Kategorien
voneinander (vgl. PsF I, 29 ff.). Daher sind die beiden nicht ‚prinzipiell‘, sondern nur
‚graduell‘ unterschieden (vgl. PsF II, 46). Auf diese Unterscheidung, die auf der
symbolischen Relation des Bewusstseins beruht, wird im nächsten Abschnitt näher
eingegangen.
Als Cassirer in seinem Vortrag Das Symbolproblem und seine Stellung im System der
Philosophie im Jahre 1927 das Symbolproblem erneut aufgreift, hat es den Anschein, als
behandele er das Problem präziser als in seinem vorherigen Vortrag, da er nun auch
erläutert, was das ‚Symbolische‘ bedeutet. Der Begriff des Symbolischen wurzelt seiner
Meinung nach in der religiösen Sphäre. Erst in der spekulativen Ästhetik entstehe das
Problem des Begriffs und des Symbolischen. Bei der spekulativen Ästhetik handele es sich
um die Bestimmung des Verhältnisses der Sinnenwelt zur intelligiblen Welt und um die
des Verhältnisses von Erscheinung und Idee. In diesem Verhältnis von Erscheinung und
Idee sieht Cassirer die ursprüngliche und grundlegende Polarität des Seins selbst, und er
verschafft damit dem Symbolischen eine ganz spezifische Funktion innerhalb seiner
Symboltheorie:
„Das Symbolische gehört niemals dem ,Diesseits‘ oder ,Jenseits‘, dem Gebietder ‚Immanenz‘ oder ,Transzendenz‘ an: sondern sein Wert besteht eben darin,daß es diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorieentstammen, überwindet. Es ist nicht das Eine oder das Andere, sondern esstellt das ,Eine im Anderen‘ und das ‚Andere im Einen‘ dar.“ (PsF III, 447)
Somit kann man festhalten, dass Cassirer in PsF auch versucht, das Problem des
metaphysischen Dualismus durch das Symbolische zu überwinden, während er in SuF
dieses Problem durch den Funktionsbegriff zu lösen versucht hatte.
Die symbolischen Formen können, wie oben angeführt, als Ausdruck der selbständigen
126
Energie des Geistes verstanden werden, wobei Cassirer von den ‚geistigen Formen‘ spricht.
Dies ermöglicht, die symbolischen Formen als geistige Formung durch die „symbolische
Funktion des Bewußtseins“ zu verstehen (PsF I, 46). Cassirer begründet hierfür die
„philosophische Systematik des Geistes“, die das rein immanente Verhältnis der Formen
zueinander voraussetzt (PsF I, 14).
Die dogmatischen Systeme der Metaphysik stehen nach Cassirer in den Konflikten
innerhalb der Philosophie meistens als Gegensätze, die, ohne selbst über diese Konflikte
hinauszugehen, die Erwartung und Forderung der Philosophie nicht erfüllen können. Er
interpretiert diese dogmatischen Systeme der Metaphysik als metaphysische ‚Hypostasen‘
des bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips: „Je mehr sie [die
dogmatischen Systeme der Metaphysik] sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips
einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen
Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab.“ (PsF I, 14) Um dieser Gefahr zu
entgehen, muss die kritisch-philosophische Betrachtung einen Standpunkt finden,
„der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen undder in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als dasrein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht dasVerhältnis, das sie zu einem äußeren, ‚transzendenten‘ Sein oder Prinzip haben.Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jedebesondere Form ihren Sinn rein durch die S t e l l e , an der sie steht, erhaltenwürde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und dieEigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchensie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.“(PsF I, 14)312
Man kann hier vermuten, dass Cassirer unter dem rein immanenten Verhältnis einerseits
das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Formprinzip und den einzelnen symbolischen
Formen versteht und andererseits das Verhältnis meint, in dem, wie oben zitiert, alle diese
symbolischen Formen zueinander stehen sollen. Er setzt dabei ‚jede Energie des Geistes‘
sowie die symbolische Funktion des Bewusstseins voraus. Das allgemeine Formprinzip
lässt sich somit zwar als die „produktive Fähigkeit des menschlichen Geistes“ verstehen313,
aber daraus ist das spezifische Prinzip der einzelnen symbolischen Formen nicht
herzuleiten.314
312 Man sieht hier, dass Cassirer sein ‚System des Geistes‘ an Hegels Phänomenologie des Geistesanknüpft, vgl. Hegel (SA), Bd. 3, Phänomenologie des Geistes, S. 15; vgl. Cassirer, PsF II, S. X; PsFIII, S. VI, 92; EP III, S. 310-328 (zu Hegels Phänomenologie des Geistes).
313 Marx (1975), S. 307.314 Marx (1975), S. 309. Marx erkennt ein Dilemma von Cassirers Symbolsystem und die Notwendigkeit
seiner Vorgehensweise: „Das Dilemma, das im Zusammenhang einer so angelegten Symboltheorie
127
Für Cassirer hat es seit Descartes, der jedoch das Bewusstsein im Ausdruck der cogitatio
letztlich auf das reine Denken reduzierte, Ansätze und Versuche zu einer derartigen
‚Systematik des Geistes‘ gegeben. Cassirer hebt auch hervor, dass Hegel in seinem Werk
Phänomenologie des Geistes die Forderung, „das Ganze des Geistes als konkr e t e s
Ganze zu denken, also nicht bei seinem einfachen Begriff stehen zu bleiben, sondern ihn in
die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln“ (PsF I, 15), mit Nachdruck gestellt
hat. In ihrem Streben danach, diese Forderung zu erfüllen, laufe die Mannigfaltigkeit der
geistigen Formen letztlich in eine höchste logische Spitze aus. Erst in ihrem Ende finde sie
ihre vollendete ‚Wahrheit‘ und Wesenheit. Jedoch untersteht sie ihrer Struktur nach dem
„Gesetz der dialektischen Methode“ (ibd.), obwohl sie ihrem Inhalt nach reich und
vielgestaltig ist:
„Der Geist beschließt alle Bewegung seines Gestaltens im absoluten Wissen,indem er hier das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewinnt. [...]Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen nur der Form desLogischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis eine echte und wahrhafteA ut onomi e zu gebühren.“ (PsF I, 15)
Als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode kann man an ein rein
empirisches Verfahren anschließen, doch damit steht man vor dem Dilemma, dass
einerseits die logische Einheit gefordert wird und andererseits die spezifische Vielfalt
betont werden muss. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma liegt nach Cassirer in
der Betrachtungsweise, „die dasjenige, was die tranzendentale Kritik für die reine
Er kenn t n i s leistet, auf die Al l he i t der geistigen Formen überträgt“ (PsF I, 17), und
dies greift auf Cohens Einheit des Bewusstseins zurück.
Cassirer betont in Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, dass
in den einzelnen Formwelten, trotz ihres verschiedenen Prinzips und ihrer Struktur, „eine
bestimmte Richtung des Aufbaus, eine Weise des Fortgangs von den elementaren Gestalten
zu den komplexeren Gestalten“ besteht (SP, 301). Dies führt zu dem Gedanken, dass er die
symbolischen Formen der Dimension der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion,
also den Mythos und die Sprache als elementare Formen gelten lässt, die wiederum dementsteht, versucht Cassirer aufzufangen, gleichsam zu neutralisieren, durch subtile Analysen derwechselseitigen Einflüsse verschiedener Symbolsysteme aufeinander. Die Einbeziehung der gesamtenKulturentwicklung in die Beschreibung der die Wissenschaften fundierenden Grundlagen ist gewißebenso wenig illegitim wie eine Analyse des Einflusses der exakten Wissenschaft und, in ihrer Folge,der Technik auf die Struktur der menschlichen Selbstverständigung in Moral, Religion oder anderenObjektivationsformen des Geistes. Ebenso gewiß aber wird man Grundlegungsfragen nichtausschließlich im Zusammenhang einer allgemeinen Kulturtheorie stellen dürfen, wenn man überhauptauf Lösungen ausgerichtet ist.“; vgl. auch PsF III, S. 18.
128
Aufbau der symbolischen Form der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen sollten. Dass die
drei symbolischen Formen nicht auf einer Ebene liegen, erläutert er in der Vorrede des
dritten Bandes der PsF:
„Der Schicht der begrifflichen, der »diskursiven« Erkenntnis werden jetzt jeneanderen geistige Schichten, die die Analyse der Sprache und des Mythosaufgedeckt hat, unterbreitet und unterbaut: und im ständigen Hinblick undRückblick auf diesen Unterbau wird die Eigenart, die Gliederung undArchitektonik des »Oberbaus« der Wissenschaft zu bestimmen gesucht. Sozieht die ,Philosophie der symbolischen Formen‘ das Weltbild der exaktenErkenntnis wiederum in ihren Problemkreis ein — aber sie nähert sich ihmjetzt auf einem anderen Wege und erblickt es demgemäß unter einerveränderten Perspektive. Statt es lediglich in seinem Bes t and zu betrachten,sucht sie es in seinen notwendigen gedanklichen Ver mi t t e l ungen zuerfassen. Von dem relativen »Ende«, das der Gedanke hier erreicht hat, fragt sienach der Mitte und den Anfängen zurück, um durch diese Rückschau ebendieses Ende selbst als das, was es ist und bedeutet, zu verstehen.“ ( PsF III, VI )
Die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis wird aus einer anderen
Perspektive, das heißt, durch ständige ‚Rückschau‘ betrachtet, womit Rückschauen auf die
Dimension der Sprache und die des Mythos gemeint sind. Die Philosophie der
symbolischen Formen sucht das Weltbild der exakten Erkenntnis in seiner notwendigen
gedanklichen Vermittlung zu erfassen, denn die ursprünglich-bildende Kraft liegt in der
selbständigen Energie des Geistes. Dies ist im Grunde als das allgemeine Formprinzip zu
bezeichnen, in dem die Welt stufenweise objektiviert wird und durch die sich die
selbständige Energie des Geistes in einer höheren oder komplexeren symbolischen Form
entfaltet.
Diesen Gedanken vom Aufbau der symbolischen Formen findet man auch in seiner
Begriffstheorie im dritten Band von PsF. In der Phänomenologie der Erkenntnis werden
Begriffe von der Sphäre der Ausdrucksfunktion aus über die der Darstellungsfunktion bis
hin zur Sphäre der Bedeutungsfunktion stufenweise ‚objektiviert‘. Die Gegenstandswelt
wird mit Hilfe der Funktionen des Symbols und Zeichens aufgebaut und dadurch gewinnt
sie auch ihre Objektivität. In der Phänomenologie der Erkenntnis wird im Bereich der
Ausdrucksfunktion das Leib-Seele-Problem behandelt und im Bereich der
Darstellungsfunktion das Problem der Repräsentation315 zum Aufbau der anschaulichen
Welt. Im Bereich der Bedeutungsfunktion geht es um den Aufbau der wissenschaftlichen
Erkenntnis und die damit verbundene Theorie des Begriffs, in der auch die Frage nach dem315 Auf das Repräsentationsproblem wird im Abschnitt 3.5 im Zusammenhang mit der symbolischen
Prägnanz näher eingegangen.
129
Wesen des Gegenstands hervortritt. Die drei Dimensionen der symbolischen Formen
dienen der Begriffsbildung als drei Objektivitätsstufen. Der Begriff haftet im Bereich des
Mythos nur dem Bild an, im Bereich der Darstellungsfunktion wird er durch die Sprache
nur ‚schematisiert‘ und wird letztlich im Bereich der Bedeutungsfunktion, der
wissenschaftlichen Erkenntnis, mittels der reinen Bedeutungszeichen zur echten
symbolischen Form.
Cassirer unterscheidet, wie bereits erwähnt, in der Theorie des Begriffs den natürlichen
Weltbegriff vom wissenschaftlichen Weltbegriff. Die Dimensionen der Ausdrucksfunktion
und der Darstellungsfunktion gehören jetzt der Sphäre des natürlichen Weltbegriffs an und
die Bedeutungsfunktion gehört der Sphäre des wissenschaftlichen Weltbegriffs an. In der
Begriffstheorie steht das allgemeine Bedeutungsproblem, also die Frage danach, wie das
Zeichen in der Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Begriffszeichen und
damit zum reinen Bedeutungszeichen werden kann, im Mittelpunkt.
In PsF ist Cassirer der Meinung, im Rahmen einer systematischen ‚Bedeutungslehre‘ ließe
sich die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständig aufbauen (vgl. 2.3.3).
Um dies deutlich zu zeigen, grenzt er den natürlichen Weltbegriff vom wissenschaftlichen
Weltbegriff ab. Dies bedeutet aber nicht, dass die beiden voneinander getrennt werden
sollen, sondern dass der wissenschaftliche Weltbegriff vielmehr auf dem Boden des
natürlichen Weltbegriffs aufgebaut wird. Dies kann man als eine Leistung der
Begriffstheorie in PsF hervorheben.
Wie sich schon bei der Bedeutung des Funktionsbegriffs in SuF gezeigt hat, so ist auch der
Gesetzesbegriff in PsF im Zusammenhang mit dem Begriff der Objektivität ein
Kernbegriff. Gesetze und ‚ideelle Zuordnung‘ scheinen für Cassirer das Leitmotiv zu sein,
das in der theoretischen Erkenntnis eine hervorgehobene Rolle spielt, und hierfür wird das
höchste Tun des Geistes oder die Aktivität des Geistes verlangt:
„Wie Platon gesagt hat, daß für den rechnenden Astronomen die Sternbildernichts an sich selbst bedeuten, sondern daß sie ihm nur als »Paradeigma«dienen, an dem er sich die rein mathematische Natur der Bewegung, an dem ersich das zeitlose ideelle Wesen des »Schnelleren« und des »Langsameren« zumBewußtsein bringt — so wird dem mathematischen Geiste der Linienzug zunichts anderem, als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmtenFunktionsverlaufs. Er erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen Ges t a l t einEtwas, was sich der Anschauung als solcher schlechthin entzieht — er sieht inihm das Bild eines Gese t ze s , einer Form der ideellen Zuo r dnung , die dasletzte Fundament für alles mathematische Denken ist. Und auch hier ist es dasGanz e der anschaulichen Gestalt, nicht etwa nur ein Teil oder Bruchstück vonihr, das unter diesen spezifischen »Gesichtspunkt« gestellt und ihm gemäß mit
130
einem bestimmten Sinngehalt durchdrungen wird.“ (SP, 300)
Dieser Gedanke geht sicherlich wiederum auf seinen Funktionsbegriff zurück. Als
charakteristische Leistung des Geistes kann man festhalten, dass die symbolische Form
geistige symbolische Formung bedeutet und diese damit dem Begriff der Funktion in SuF
gleicht, aber die Funktion in SuF bedeutet nicht nur die mathematische Funktion, sondern
im Grunde genommen die Funktion des Denkens oder des Geistes.
3.2. Wissenschaftliches und mythisches Bewusstsein
Cassirer fasst in PsF das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gegenstand als eine
symbolische Relation auf: „Der Gegenstand ist weder draußen noch drinnen, weder jenseits
noch diesseits: — denn das Verhältnis zu ihm ist keine ontisch-reale, sondern eine
s ymbo l i s che Re l a t i on . “ (PsF III, 370) Die Prinzipien der theoretischen Formen
können nach Cassirer nicht an bloß sinnlichen Gegenständen, sondern nur an einer
bestimmten Ordnung von Gegenständen, von objektiven Gebilden der Anschauung,
aufgewiesen werden. Die „Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand“ (PsF III, 380)
bedeutet für ihn letztlich ihre Einordnung „in einen übergreifenden systematischen
Gesamtzusammenhang, in welchem ihr eine eindeutig bestimmte Stelle zugewiesen wird.
Die Erfassung, die bloße Apprehension des Einzelnen, erfolgt somit, in dieser Form des
Denkens, bereits sub specie des Gesetzesbegriffs“ (PsF II, 42).
Nach Auffassung der kritischen Philosophie ist der Gegenstand dem Bewusstsein nicht als
etwas Fertiges gegeben, sondern es wird ein selbständiger spontaner Akt des Bewusstseins,
der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand vorausgesetzt. Der Gegenstand wird
durch die synthetische Einheit konstituiert und ist „das Ergebnis einer Formung, die sich
kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des
reinen Denkens vollzieht“ (PsF II, 39). Mit dem Gegenstandsbegriff, auf den im Abschnitt
3.3.3 näher eingegangen wird, beabsichtigt Cassirer das Gegenstandsbewusstsein, von
welchem Kant ausgegangen ist, zu erweitern oder neu zu definieren:
„Sie [die Philosophie der symbolischen Formen] sucht die Kategorien desGegenstandsbewußtseins nicht nur in der theoretisch-intellektuellen Sphäre auf,sondern sie geht davon aus, daß derartige Kategorien überall dort wirksam seinmüssen, wo überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein
131
charakteristisches und typisches ‚Weltbild‘ sich formt. Jedes solche Weltbildist nur möglich durch eigenartige Akte der Objektivierung, der Umprägung derbloßen ‚Eindrücke‘ zu in sich bestimmten und gestalteten ,Vorstellungen‘.“(PsF II, 39)
Hierfür werden zunächst „Qualität“ und „Modalität“ (PsF I, 29) der Formen des
Bewusstseins vorausgesetzt. Unter der ,Qualität‘ einer bestimmten Beziehung solle die
besondere Verknüpfungsart verstanden werden, kraft deren sie innerhalb des
Bewusstseinsganzen Reihen schaffe, die einem speziellen Gesetz der Zuordnung ihrer
Glieder unterstünden:
„So bildet etwa das ,Beisammen‘ gegenüber dem ,Nacheinander‘, die Form dersimultanen gegenüber der der sukzessiven Verknüpfung eine solcheselbständige Qualität. Nun kann aber andererseits ein und dieselbeBeziehungsform auch dadurch eine innere Wandlung erfahren, daß sieinnerhalb eines anderen For mzus a mmenha ngs steht. Jede einzelneBeziehung gehört — unbeschadet ihrer Besonderheit — immer zugleich einemSinnganz en an, das selbst wieder seine eigene ‚Natur‘, sein in sichgeschlossenes Formgesetz besitzt.“ (PsF I, 29)
So haben es die Modi, das Beisammen und das Nacheinander, in den verschiedenen
Dimensionen mit verschiedenem Sinn zu tun. Zeit, die Cassirer als allgemeine Relation
bezeichnet, ist genauso ein Element in der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, wie
sie ein wesentliches Moment im ästhetischen Bewusstsein ausmacht.316 Die Form des
Raumbewusstseins ist jedoch unterschiedlich, da die räumlichen Formen, wie zum Beispiel
gewisse Komplexe von Linien und Figuren, im künstlerischen Gebilde anders als in der
Geometrie als Zeichnung aufgefasst werden und dadurch auch einen ganz anderen Sinn
erhalten. Cassirer unterscheidet somit die Einheit des Raumes, die man im ästhetischen
Schauen, zum Beispiel in der Malerei aufbaut, von der Einheit der bestimmten
geometrischen Lehrsätze oder der Axiomatik. Daher ist er, wie bereits im Abschnitt 3.1
erwähnt, der Ansicht, dass sich das mythische und das wissenschaftliche Bewusstsein nur
in ihrer Modalität und damit nur ‚graduell‘ unterscheiden.
Im Mythos gibt es nicht die strenge Trennung zwischen der Welt der ‚Wahrheit‘ und der
des ‚Scheins‘, aber es herrscht auch das ‚Objektive‘ im Mythos als eine Welt der reinen
Gestalten. Im Mythos fehlt es an der „dialektischen Bewegung des Denkens“, und so ist er
letztlich nur durch „die bloße Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige
‚Präsenz‘“ gekennzeichnet (PsF II, 47). Daher gibt es im Bewusstsein des Mythos „keine
316 Über das Zeitbewusstsein vgl. Stipp (2003), besonders Teil II; vgl. auch Nuzzo (1996).
132
verschiedenen Realitätsstufen, keine gegeneinander abgegrenzten Grade objektiver
Gewißheit“ (PsF II, 47 f.), und im Bewusstsein des Mythos fehlt es auch an jener festen
„Grenzscheide zwischen dem bloß ,Vorgestellten‘ und der ‚wirklichen‘ Wahrnehmung,
zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Bild und Sache“ (PsF II, 48). Cassirer
bezeichnet daher den Raum des Mythos als „Strukturraum“ und den der reinen Mathematik
als „Funktionsraum“ (PsF II, 110).
Die Wissenschaft ist ein System von Gesetzen, und das bedeutet für Cassirer ein System
von Beziehungen oder Korrelationen und Funktionen. Die Beziehung des räumlichen
Ganzen zum räumlichen Teil wird im Raum der reinen Erkenntnis rein funktionell gedacht.
Das Ganze des Raumes baut sich aus den Elementen, als konstitutiven Bedingungen, auf,
indem das Ganze aus den Elementen genetisch, nach einer bestimmten Regel erwächst:
„Die Linie wird aus dem Punkt, die Fläche aus der Linie, der Körper aus derFläche ‚erzeugt‘, indem das Denken das eine Gebilde aus dem anderen nacheinem bestimmten Gesetz hervorgehen läßt. Die komplexen räumlichenGestalten werden begriffen in ihrer ,genetischen Definition‘, die die Art undRegel dieses Hervorgehens ausdrückt.“ (PsF II, 110)
Im Gegensatz zu diesem Funktionsraum entsteht im Raum des Mythos ein Strukturraum, in
dem das Ganze aus den Elementen nicht genetisch erwächst, sondern als „ein rein
statisches Verhältnis des Innenseins und Innewohnens“ entsteht (PsF II, 110). Man findet
trotz der Fortsetzung der Teilung in jedem Teil die Form, die Struktur des Ganzen wieder:
„Diese Form wird also nicht, wie in der mathematischen Analysis des Raumes,in homogene und somit gestaltlose Elemente zerschlagen, sondern sie beharrt,unbeschadet jeder Teilung und unberührt von ihr, in sich selbst. Die gesamteRaumwelt und mit ihr der Kosmos überhaupt, erscheint nach einembestimmten M ode l l gebaut, das sich uns bald in vergrößertem, bald inverkleinertem Maßstabe darstellen kann, das aber stets im Größten wie imKleinsten dasselbe bleibt. Aller Zusa mmenha ng im mythischen Raumberuht zuletzt auf dieser ursprünglichen Iden t i t ä t ; er geht nicht auf dieGleichartigkeit des Wirkens, auf ein dynamisches Gesetz, sondern auf eineursprüngliche Gleichheit des Wesens zurück.“ (PsF II, 110 f.)
Vergleicht man gemäß dieser Unterscheidung von Formen des Raumbewusstseins die
empirisch wissenschaftliche Erkenntnis mit dem Mythos, so zeigt sich nach Cassirer, wie
bereits erwähnt, dass der Gegensatz zwischen den beiden nicht auf den verschiedenen
Kategorien beruht, die in der Betrachtung und Deutung des Wirklichen verwendet werden,
sondern dass beide sich in ihrer Modalität unterscheiden.
133
Cassirer erkennt somit eine Analogie zwischen Wissenschaft und Mythos:
„Die Verknüpfungsweisen, die beide gebrauchen, um dem sinnlich-Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben, [...] zeigen eine durchgehendeAnalogie und Entsprechung. Es sind dieselben allgemeinsten ,Formen‘ derAnschauung und des Denkens, die die Einheit des Bewußtseins als solche, unddie somit ebensowohl die Einheit des mythischen wie die des reinenErkenntnisbewußtseins konstituieren. In dieser Hinsicht läßt sich sagen, daßjede dieser Formen, ehe sie ihre bestimmte logische Gestalt und Prägung erhält,ein mythisches Vorstadium durchlaufen haben muß.“ (PsF II, 78)
Damit wird deutlich, dass es sich hierbei um eine Art Aufbauprogramm innerhalb der PsF
handelt. Dies wiederum bedeutet, dass die wissenschaftliche ‚Objektivierung‘ nicht erst im
Bereich der Wissenschaft beginnt, sondern bereits mit dem mythischen Vorstadium des
Bewusstseins, und somit sich das mythische Bewusstsein über die verschiedenen Etappen
hinweg — von der Sphäre der Ausdrucksfunktion über die der Darstellungsfunktion bis zur
Sphäre der Bedeutungsfunktion — zum reinen Erkenntnisbewusstsein umwandelt.
Neben dieser räumlichen und zeitlichen Einheit des Bewusstseins gibt es auch die Form
der ‚gegenständlichen‘ Verknüpfung. Damit ist gemeint, dass, sofern sich ein Inbegriff
bestimmter Eigenschaften zum Ganzen mit mannigfachen und wechselnden Merkmalen
zusammenschließt, dem Zusammenschluss bereits eine Verknüpfung des räumlichen und
zeitlichen Bewusstseins vorausgegangen sein muss. Das empirische Wahrnehmungs-
bewusstsein, das sich noch nicht zum Erkenntnisbewusstsein der abstrakten Wissenschaft
entwickelt hat, enthält nach Cassirer implizit jene „Scheidungen und Trennungen“ (PsF II,
46), die in demselben Bewusstsein später in expliziter logischer Form hervortreten sollen.
Hierfür kann man als Beispiel das Raumbewusstsein anführen:
„Die Verhältnisse des Mit- und Beieinander, des Aus- und Nebeneinander imRaume sind als solche mit den ‚einfachen‘ Empfindungen, mit der sinnlichen‚Materie‘, die sich im Raume ordnet, keineswegs schlechthin mitgegeben,sondern sie sind ein höchst komplexes, durch und durch mi t t e lba re sErgebnis des Erfahrungsdenkens.“ (PsF II, 40).
Es gilt aber auch für andere Ordnungsformen, auf denen der ‚Gegenstand der Erfahrung‘
beruht und durch die er konstituiert wird, denn jede Wahrnehmung schließt eine bestimmte
Norm und einen Maßstab der Objektivität ein. Die Wahrnehmung ist somit überhaupt ein
Prozess der Auswahl und der Unterscheidung, den das Bewusstsein der Masse der
Eindrücke gegenüber vollzieht (vgl. 3.5.2.1; 4.3). Durch die Selektion des Bewusstseins
134
dem Stoff der Wahrnehmung gegenüber wird es überhaupt möglich, „ihm eine bestimmte
Form und somit einen bestimmten ‚Gegenstand‘ zu geben“ (PsF II, 46). Cassirer stellt
daher fest:
„Das Gegenstandsbewußtsein der Wahrnehmung und das der wissen-schaftlichen Erfahrung unterscheidet sich somit nicht prinzipiell, sondern nurgraduell — sofern die Geltungsunterschiede, die in jedem bereits vorhandenund wirksam sind, in diesem in die Form der E r kenn t n i s erhoben, d.h. imBegriff und Urteil fixiert sind.“ (PsF II, 46 f.)317
Während es sich in SuF bei der Funktion des Bewusstseins hauptsächlich um die
Relationen in der Begriffsbildung handelt, wird in PsF gezeigt, dass die ‚Urform‘ allen
Bewusstseins in der Wahrnehmung liegt, die zunächst als mythisches Bewusstsein auftritt
und daher das wissenschaftliche Bewusstsein ein ‚mythisches Vorstadium‘ durchlaufen
muss.318
Es gibt verschiedene Betrachtungsmethoden des Raumproblems, aber für Cassirer ist das
Ergebnis stets gleich, ganz gleich ob das Ergebnis aus der ‚transzendentalen‘ oder der
physiologisch-psychologischen Betrachtung heraus entsteht. Die räumliche Ordnung der
Wahrnehmungswelt geht nämlich auf Akte der Identifizierung, der Unterscheidung, der
Vergleichung und Zuordnung zurück, „die ihrer Grundform nach rein intellektuelle Akte
sind“ (PsF II, 41). Die Eindrücke werden kraft solcher Akte gegliedert und verschiedenen
Bedeutungsschichten zugewiesen, wodurch „als anschaulicher Reflex dieser theoretischen
Bedeutungsschichtung, die Gliederung ,im‘ Raume“ entsteht (PsF II, 41). Diese
verschiedenen ‚Schichtungen‘ der Eindrücke sind nur möglich, wenn unserer
physiologischen Wahrnehmung ein allgemeines Prinzip, ein durchgehend gebrauchter
Maßstab zugrunde liegt. Die naive Behauptung konstanter Dinge und Eigenschaften löst
sich für die kritische Betrachtung in der Gewissheit gleichbleibender Maß- und
Zahlverhältnisse auf, und das Sein der Erfahrungsobjekte konstituiert sich durch solche
Verhältnisse:
„Der Übergang von der Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks zurvermittelten Welt der anschaulichen, insbesondere der räumlichen‚Vorstellung‘ beruht darauf, daß sich in der fließend immer gleichen Reihe derEindrücke die konstanten Verhältnisse, in denen sie stehen und nach welchensie wiederkehren, allmählich als ein selbständiges herausheben und sich eben
317 Cassirer verweist hier selbst für die nähere Begründung auf das Werk SuF.318 Vgl. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [BmD]; vgl. auch die Hervorhebung des
Mythosbegriffs durch Krois (1979).
135
hierdurch von den von Moment zu Moment wechselnden, schlechthinunbeständigen Sinnesinhalten charakteristisch unterscheiden. Diese konstantenVerhältnisse bilden nun das feste Gefüge und gleichsam das feste Gerüst der‚Objektivität‘.“ (PsF II, 41; vgl. 4.3)
Der einzelne Sinneseindruck wird nicht einfach als Gegebenes hingenommen, „sondern es
wird an ihn die Frage gestellt, wieweit er sich im Ganzen der Erfahrung bewähren und
gegenüber diesem Ganzen behaupten werde“ (PsF II, 42). Wenn er dieser kritischen Probe
standhält, wird er in die Wirklichkeit der objektiven Bestimmtheit aufgenommen. Diese
Probe, diese Bewährung aber bedeutet für das Erfahrungsdenken und -wissen kein Ende,
sondern sie muss immer von neuem einsetzen.
Die Elemente oder das Besondere besitzen somit in der Einheit der Gesamterfahrung keine
absolute Bedeutung. Gerade deshalb wird bei Cassirer die Ordnung, oder anders formuliert,
die Ordnung des Allgemeinen gebraucht, die die Gesetzlichkeit der Erscheinungen
überhaupt ist. Dies bedeutet wiederum, dass „im theoretischen Aufbau des
Zusammenhangs der Erfahrungswelt, alles Besondere mittelbar oder unmittelbar auf ein
Allgemeines bezogen und an ihm gemessen“ werden muss (PsF II, 42). Das Einzelne muss
als ein Sonderfall eines allgemeinen Gesetzes oder eines Inbegriffs, eines Systems
allgemeiner Gesetze gedacht werden. Bei jedem Einzelnen muss die Form des Ganzen
mitgedacht und als ein ‚Repräsentant‘ dieser Gesamtform angesehen werden. Die objektive
Bedeutung eines Erfahrungselements hängt jetzt nicht mehr von der Sinnlichkeit ab,
„sondern von der Klarheit, mit der sich in ihm die Form, die Gesetztlichkeit des Ganzen
ausdrückt und reflektiert“ (PsF II, 45). Diese Form aber baut sich in einem stetigen
Stufengang auf, und daher entsteht eine Differenzierung und Abstufung der ,empirischen
Wahrheit‘ des Objekts selbst. Der bloße Sinnesschein sondert sich von der empirischen
Wahrheit des Objekts, das aber „erst im Fortgang der Theorie, im Fortgang des
wissenschaftlichen Gesetzesdenkens zu erringen ist“. Diese Wahrheit trägt daher keinen
absoluten, sondern einen relativen Charakter, „denn sie steht und fällt mit dem allgemeinen
Bedingungszusammenhang, in dem allein sie erreichtbar ist, und mit den Voraussetzungen,
den ‚Hypothesen‘, auf denen dieser Bedingungszusammenhang beruht“ (PsF II, 45). Das
Konstante grenzt sich gegen das Veränderliche, das Objektive gegen das Subjektive, die
Wahrheit gegen den Schein ab, „und in dieser Bewegung erst stellt sich nun für das
Denken die Gewißheit des Empirischen – stellt sich sein eigentlicher logischer Charakter
dar.“ (ibd.) So wird das positive Sein des empirischen Objekts durch eine doppelte
Negation gewonnen, das heißt, durch seine Abgrenzung gegen das ,Absolute‘ und gegen
136
den Sinnenschein: „Es ist Objekt der ‚Erscheinung‘, aber diese ist nicht ,Schein‘, sofern sie
in notwendigen Gesetzen der Erkenntnis gegr ünde t , — sofern sie ein , phaenomenon
bene fundatum ‘ ist“ (ibd.).
Die ‚naive‘ Stufe des Erfahrungsbewusstseins, in der ein Zustand reiner Unmittelbarkeit
des Gegenstandes angenommen wird, ist kein Faktum, sondern eine theoretische
Konstruktion, die im Grunde ein Grenzbegriff ist, den die erkenntniskritische Reflexion
sich geschaffen hat. Der allgemeine Begriff der Objektivität soll auf einem fortschreitenden
Akt der Sonderung der Erfahrungselemente, auf einer kritischen Arbeit des Geistes
beruhen.
Die logische Form des Erfahrungsdenkens tritt im Aufbau der Wissenschaft deutlich
heraus, wenn man das Erfahrungsdenken insbesondere in der Grundlegung einer exakten
Wissenschaft der Natur betrachtet. Für die Grundlegung der exakten Wissenschaft ist auch
die Funktion der Empfindung und Wahrnehmung unentbehrlich: Denn die „Funktion der
einfachen Empfindung und Wahrnehmung ,verbindet‘ sich hier nicht nur mit den
intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie
i s t selbst schon eine solche Grundfunktion — sie enthält implizit, was dort in bewußter
Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt.“ (PsF I, 280) Der Grundgedanke
Cassirers in SuF — die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Urteil — wird an dieser
Stelle bekräftigt und erfährt eine Erweiterung: Das, was in höchster Vollendung wie zum
Beispiel im wissenschaftlichen Gegenstandsbewusstsein geleistet wird, soll schon im
einfachen Akt des empirischen Urteils der Wahrnehmung angelegt sein. Denn die Welt der
Wahrnehmung ist kein Einfaches, selbstverständlich Gegebenes, sondern sie ist durch
gewisse theoretische Grundakte erfasst, ,apprehendiert‘ und bestimmt. Die Verhältnisse im
Raume, die des Mit- und Beieinander, des Aus- und Nebeneinander sind „mit den
‚einfachen‘ Empfindungen, mit der sinnlichen ,Materie‘, die sich im Raume ordnet,
keineswegs schlechthin mitgegeben, sondern sie sind ein höchst komplexes, durch und
durch mi t t e lba r e s Ergebnis des Erfahrungsdenkens“ (PsF II, 40). Wenn man eine
bestimmte Größe, Lage und Entfernung den Dingen im Raume zuspricht, so stellt man
damit „die sinnlichen Daten in einen Relations- und Systemzusammenhang“ (ibd.), und
dieser erweist sich zuletzt als nichts anderes als ein reiner Urteilszusammenhang.
137
3.3. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis
3.3.1. Der natürliche Weltbegriff und seine Grenze
Cassirer leitet das Kapitel Zur Theorie des Begriffs im dritten Teil des dritten Band der PsF
mit dem Satz ein: „Wenn wir das Gebiet, in dem unsere bisherige Betrachtung sich bewegt
hat, mit einem einheitlichen Gesamtnamen zu benennen suchen, so können wir es als den
Bereich des ‚na t ü r l i chen W el tbeg r i f f s ‘ bezeichnen.“ (PsF III, 329) Daraus ergibt
sich, dass die Ausdrucksfunktion, die Cassirer als ersten Teil des dritten Bandes für die
Ausdruckswelt, und die Darstellungsfunktion, die er als zweiten Teil für die anschauliche
Welt eingeführt hat, in der Begriffstheorie für den Bereich des natürlichen Weltbegriffs
stehen. Cassirer ändert im systematischen Teil des dritten Bandes die Reihenfolge der drei
Bände der PsF dergestalt, dass zunächst die Ausdrucksfunktion (Mythos) und danach die
Darstellungsfunktion (Sprache) sowie die Bedeutungsfunktion (Wissenschaft) abgehandelt
wird. Letztere gehört dabei dem Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs an.319
Der Bereich des natürlichen Weltbegriffs weist nach Cassirer zwar „eine ganz bestimmte
theoretische Struktur“ und „eine gedankliche Formung und Fügung“ auf, aber die
allgemeinen Regeln dieser Formung sind noch an inhaltliche Besonderungen gebunden.
Die Reflexion und die rekonstruktive Analyse richten sich noch nicht auf die „Funk t i on
der Form als solche“, sondern nur auf die besondere Leistung derselben in der Sphäre der
Ausdrucks- und Darstellungsfunktion (PsF III, 329). Die Prinzipien können auch „nur an
einer bestimmten Ordnung von »Gegenständen«, von objektiven Gebilden der Anschauung
aufgewiesen werden“ (ibd.), und die theoretische Form lässt sich auf dieser Stufe der
Betrachtung nur an ihrem ‚Produkt‘ sichtbar machen. Der Gedanke gestaltet hier ein
bestimmtes Bild der Objektivität, aber er bleibt eben diesem Bild, das aus seinem eigenem
Grunde stammt, verhaftet. Das ist die Welt des ‚Du‘ und die Welt des ‚Es‘: „Das Ich
ergreift in der Form des schlichten Ausdruckserlebnisses oder in der Form des
Wahrnehmumgserlebnisses das Dasein der fremden Subjekte und das Dasein von
‚Gegenständen außer uns‘ — und es ruht und verharrt in diesem Dasein und seiner
konkreten Anschauung.“ (PsF III, 330)
Man kann den Bereich des natürlichen Weltbegriffs auch dahingehend verstehen, dass in
319 Vgl. Peters (1983) S. 143, auch S. 121: „Sprache und Mythos fallen für Cassirer in die Phase des‚natürlichen Weltbegriffs‘, die von der Phase der wissenschaftlichen Begriffsbildung durch die logischeWahrheit grundsätzlich unterschieden ist. In der Welt des ,Ausdrucks‘ und der ,natürlichen Sprache‘werden durch Namen Entitäten bezeichnet, aber erst in der ,Bedeutungsfunktion‘ gibt es im engerenSinne ,Begriffe‘, die Wahrheitswerte besitzen.“
138
ihm der Begriff in Verbindung zur Außenwelt oder zum Dasein von ,Gegenständen außer
uns‘ steht. Es ist der Bereich, in dem sich die Frage auf die Wirklichkeit, aber noch nicht
nach der Wahrheit richtet. Daher sind es das Dasein von ‚Gegenständen außer uns‘ und die
‚konkrete Anschauung‘, die diese Wirklichkeit ausmachen. Der Begriff steht ‚noch‘ vor der
Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis, das heißt, er ist noch der sinnlich
anschaulichen Welt verhaftet. Das Vertrauen in die Wirklichkeit der Dinge erfährt, wie
Cassirer es ausdrückt, eine „Erschütterung“ (PsF III, 330), wenn die Wahrheitsfrage gestellt
wird. Der Begriff soll letztlich über die Grenze dieses natürlichen Weltbegriffs
hinausgehen.
Die Grenze zwischen dem natürlichen Weltbegriff und dem wissenschaftlichen Weltbegriff
ist in den erkenntnistheoretischen Betrachtungsweisen innerhalb der Philosophie zu
suchen. Nach Cassirer gibt es zwei Haupttypen der Betrachtungsweise in der
Erkenntnistheorie, der eine richtet den Anfang der theoretischen Fragestellung auf die
Wahrheit und der andere auf die Wirklichkeit (vgl. Einleitung, 3 f.). Er will, wie bereits
erwähnt, zwar die Grenze des natürlichen Weltbegriffs ziehen, aber diesen nicht vom
wissenschaftlichen Weltbegriff trennen, sondern den wissenschaftlichen Weltbegriff auf
dem Fundament des natürlichen Weltbegriffs aufbauen. Denn das Gegenstandsbewusstsein
ist zwischen Mythos und Wissenschaft nur in seinem Modus unterschieden, und trotz der
unklaren Scheidung des Subjekts und Objekts im Mythos, also in der Ausdrucksfunktion,
ist ihm doch eine eigene und eigentümliche Weise der Anschauung und Wahrnehmung von
Wirklichem gegeben, die unter anderen Bedingungen steht als in der Wissenschaft.
Cassirer hat diese Grenze des natürlichen Weltbegriffs bereits im ersten Band von PsF
ausführlich erläutert, dort heißt sie Grenze der sprachlichen Begriffsbildung oder auch
Grenze der Darstellungsfunktion. Auf die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung soll im
Abschnitt 3.4 im Zusammenhang mit der Funktion der Zeichen näher eingegangen werden.
Die Schöpfung der Sprachworte enthält die Grundform des Denkens, die Form der
Objektivierung. Bei dieser Art der Objektivierung aber geht es nur darum, den Inhalt für
die Erkenntnis zu fixeren und ihn für das Bewusstsein als „ein sich selbst Gleiches und
Wiederkehrendes“ zu kennzeichen (PsF I, 253). Das Problem der Abstraktion wird hier mit
der Grenze der sprachlichen Begriffsbildung verknüpft, denn die Abstraktion bringt nach
Cassirer die Frage nach der Begriffsform nur dadurch zur Lösung, dass sie auf die
Sprachform rekurriert, wodurch das Problem aber nur in ein anderes Gebiet
zurückgeschoben wird: „Der Prozeß der Abstraktion kann sich nur an solchen Inhalten
vollziehen, die in sich schon irgendwie bestimmt und bezeichnet, die sprachlich und
139
gedanklich gegliedert sind.“ (PsF I, 251) Die sprachliche Begriffsbildung unterscheidet
sich im Grunde genommen von der logischen Form der Begriffsbildung dadurch, dass die
bloße Form der „Reflexion“ der sprachlichen Begriffsbildung überall mit bestimmten
„dyna mi schen Motiven“ durchsetzt ist, insofern sie ihre Antriebe auch aus der Welt des
Tuns empfängt. (PsF I, 257):
„Die Logik pflegt die eigentliche Geburtsstätte des Begriffs erst dort zu finden,wo durch bestimmte intellektuelle Operationen, insbesondere durch dasVerfahren der ‚Definition‘ nach genus proximum und differentia specifica, einescharfe Abgrenzung des Bedeutungsgehalts des Wortes und eine eindeutigeFixierung desselben erreicht wird. Aber um zum letzten Ursprung des Begriffszu gelangen, muß das Denken in eine noch tiefere Schicht zurückdringen, mußes die Motive der Verknüpfung und Trennung aufsuchen, die sich im Prozeßder Wortbildung selbst wirksam erweisen, und die für die Unterordnung desgesamten Vorstellungsmaterials unter bestimmte sprachliche Klassenbegriffeentscheidend sind.“ (PsF I, 251)
Die Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl sind im Bereich der Ausdrucksfunktion, in
der mythischen Bilderwelt, aneinander gebunden, das heißt, das Vermessen von Räumen
ist auf das Messen der Zeit übertragen worden.320 Die Spezifikation des geometrischen
Raumes, wie zum Beispiel ‚Stetigkeit‘ oder ‚Gleichförmigkeit‘, fehlen dem mythischen
Raum. In diesem Raum herrscht nur das konkrete Beisammen. Und die Zahl in der
Ausdrucksfunktion muss stets als Anzahl einer konkreten Menge gedacht werden, das
heißt, sie dient nur zu ‚bildlichen‘ Mehrheitsbildungen.321 Es scheint im Mythos das
Allgemeine in Eigennamen, die die Ausdrucksfunktion kennzeichnen, gebunden zu sein.322
Im Bereich der Darstellungsfunktion, also der Sprache, kann sich nur durch die
Vermittlung der Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl „die Gestaltung der Eindrücke zu
Vorstellungen“ vollziehen:
„Der Schritt von der Welt der Empfindung zu der der ‚reinen Anschauung‘,
320 Vgl. PsF II, S. 132: „Es ist ein und dieselbe konkrete Grundanschauung, es ist der Wechsel von Lichtund Dunkel, von Tag und Nacht, worauf die primäre Anschauung des Raumes wie die primäreGliederung der Zeit beruht. Und ebenso beherrscht das gleiche Schema der Orientation, der gleiche,zunächst rein gefühlte Unterschied der Himmelsgegenden und Himmelsrichtungen, die Teilung desRaumes wie die der Zeit in bestimmte einzelne Abschnitte. Wie die einfachsten Raumverhältnisse, wielinks und rechts, vorwärts und rückwärts sich dadurch sondern, daß durch den Lauf des Tagesgestirnseine Grundlinie, die Ost-West-Linie bestimmt und diese sodann senkrecht durch eine zweite, durch dieNord-Süd-Linie geschnitten wird, so geht auch alle Auffassung zeitlicher Abschnitte auf dieseScheidung und Kreuzung zurück.“
321 Vgl. Peters (1983), S. 128: „Am Schema der Zahl gilt zu beachten, daß in der Ausdrucksfunktionniemals Zahlbegriffe, sondern ausschließlich ,bildliche‘ Mehrheitsbildungen ausgedrückt werden.“
322 Vgl. Peters (1983), S. 129.
140
den die Erkenntniskritik als ein notwendiges Moment im Aufbau derErkenntnis, als eine Bindung des reinen Ichbegriffs, wie des reinenGegenstandsbegriffs aufweist, hat daher in der Sprache sein genauesGegenbild. Es sind auch hier die ‚Formen der Anschauung‘, in deren Aufbausich die Art und Richtung der in der Sprache waltenden geistigen Synthesiszunächst bekundet, und nur durch das Medium dieser Formen hindurch, nurdurch die Vermittlung der Anschauungen von R aum , Ze i t und Zah l vermagdie Sprache ihre wesentlich logische Leistung: die Gestaltung der Eindrücke zuVorstellungen zu vollziehen.“ (PsF I, 149 f.)
Die Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl sind im Bereich der Darstellungsfunktion
Mittel der Kennzeichnung von Gegenständen, und „diese Kennzeichnungen entstehen mit
Hilfe der sprachlichen Schemata von ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und Zahlen. Daher stellen ‚Raum‘ und
‚Zeit‘ hier keine ‚Formen der Sinnlichkeit‘ und also der Gegenstände dar, sondern
ausschließlich Formen der ‚Vorstellung‘ von Gegenständen“.323
Das Kapitel ‚von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‘ in der Kritk der reinen
Vernunft handelt von der Anwendung der Kategorien auf Anschauungen. Kant fordere, so
Cassirer, um die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf die sinnlichen
Anschauungen zu ermöglichen, ein Drittes, in welchem beide, obwohl sie an sich völlig
ungleichartig sind, übereinkommen müssen und diese Vermittlung finde im
‚tanszendentalen Schema‘, das einerseits intellektuell, andererseits sinnlich ist, statt. In
dieser Hinsicht unterscheide er das ‚Schema‘ vom bloßen ‚Bild‘. Dieses Schema beruht
aber für Cassirer schlechthin auf dem ‚Sprachbewusstsein‘:
„Ein solches ‚Schema‘, auf das sie alle intellektuellen Vorstellungen beziehenmuß, um sie dadurch sinnlich faßbar und darstellbar zu machen, besitzt dieSprache in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhältnisse. Es ist,als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtseinerst dadurch faßbar, daß sie [sic! es] sie auf den Raum projiziert und in ihmanalogisch ‚abbildet‘. An den Verhältnissen des Beisammen, des Neben- undAuseinander gewinnt es erst das Mittel zur Darstellung derverschiedenartigsten qualitativen Zusammenhänge, Abhängigkeiten undGegensätze.“ (PsF I, 152)
Aus diesem Zitat ist festzuhalten, dass Cassirer das Schema oder die Schematisierung im
Kantischen Sinn zu dem Bereich der Darstellungsfunktion rechnet, in dem der Begriff noch
mit seiner sprachlichen Abbildung, also mit der Darstellung der sinnlich-empirischen
Außenwelt zu tun hat. An dieser Stelle wird nicht weiter auf die Probleme der
323 Peters (1983), S. 135.
141
Schematismuslehre Kants eingegangen, dies wird aber im Zusammenhang mit den
Ausführungen zu Cassirers symbolischer Formung, die das Problem des Schematismus
zum Ausgangspunkt besitzt, im Abschnitt 3.5 nachgeholt.
Im Vergleich zum Mythos kommt im Bereich der Sprache oder Lautsprache als weitere
Bedingung das Moment der „A b lös bar ke i t des Zeichens von den Dingen“ oder der
„E n t s t o f f l i c hung der Zeichen“ (PsF III, 388) hinzu:
„Die »Namen«, deren sich die menschliche Sprache bedient, sind kein Te i l derSache mehr, auf die sie hinweisen: sie hängen nicht als reale Eigenschaften, als»Akzidentien« an ihr, sondern gehören einem selbständigen, rein ideellenGebiet an. Beides zusammengehalten: Der Schritt von der Stoffprobe zumechten Zeichen und die prinzipielle A b lös bar ke i t des Zeichens von denDingen, für die es als Zeichen fungiert, macht erst die Besonderheit und dencharakteristischen Sinn und Wert der menschlichen Sprache aus.324 Und ebendiese beiden Momente sind es nun auch, auf denen der weitere Fortgang: derFortgang von den »Wortzeichen« der Sprache zu den reinen »Begriffszeichen«der theoretischen Wissenschaft wesentlich beruht. In dieser letzteren istvollendet, was in den ersteren begonnen und angelegt war.“ (PsF III, 388)
Die sinnlichen Zeichen und Wortzeichen im Bereich des natürlichen Weltbegriffs bilden in
weitester Ausbildung die Sprachbegriffe, die nach Cassirer keine ‚echten‘ Begriffe sind.
Hierin liegt nun auch die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung.
Die Zahl oder das Zahlzeichen wird erst im Bereich der Bedeutungsfunktion zum
Zahlbegriff, das heißt, Begriffe können im Bereich der Bedeutungsfunktion vollständig
gebildet werden. Dies besagt aber auch, dass Cassirer erst in diesem Bereich
wissenschaftliche Begriffe zulässt. Hierfür ist die Entstehung der griechischen Mathematik
das beste Beispiel, denn sie zeigt, wie sich die Zahl von der anschaulichen Wirklichkeit
absondert. Die Entstofflichung von Zeichen oder die Ablösbarkeit des Zeichens von den
Dingen sind die Schlüsselworte für die Kennzeichnung der Begriffe der reinen Bedeutung
im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis, und damit zieht Cassirer die Grenze
zwischen dem natürlichen und dem wissenschaftlichen Weltbegriff.
324 Cassirer verweist hier auf Karl Bühler, Die Krise der Psychologie. Jena 1927, S. 51 ff.; vgl. auch Peters(1983), S. 131. Peters schildert, dass Cassirer „zur Unterscheidung von Begriff und Gegenstand imallgemeinen und von ,Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ an Eigennamen eine gewisse Hilfestellung in demBegriffspaar von ,Zeichen‘ und ,Stoff‘ von Ernst [sic! Karl] Bühler gesucht “ hat.
142
3.3.2. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis
Eine definitorische Erklärung Cassirers über die Wissenschaft lautet:
„Die Wissenschaft muß, sobald sie zur kritischen Einsicht in ihr eigenesVerfahren gelangt ist, sobald sie dasselbe nicht nur übt, sondern auch begreift,jeden Versuch abwehren, eine Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen i h r enGegenständen und denen der »unmittelbaren« Wahrnehmung oder Anschauungherzustellen. Sie erkennt, daß die einen sich zwar durchgängig auf die andernbeziehen, aber daß sie sich niemals auf sie zurückführen lassen. Denn jedesolche Rückführung würde gerade die spezifische Leistung deswissenschaftlichen Denkens rückgängig machen — würde das Begreifen derWelt und des Weltzusammenhanges in eine bloße Verdoppelung desgegebenen verwandeln.“ ( PsF III, 373)
Diese Ansicht Cassirers ist eigentlich entscheidend für seine ganze Begriffstheorie. Seine
Theorie der wissenschaftliche Begriffsbildung und damit verbundene kritische Äußerungen
gegen zum Beispiel den sensualistischen Empirismus können in diesem Punkt vereinigt
werden.
Die wissenschaftliche Begriffsbildung beginnt nicht erst im Bereich der
Bedeutungsfunktion, sondern bereits im Bereich der Ausdrucks- und der
Darstellungsfunktion, wo die Anschauung, die Empfindung und die Vorstellung „Zeugen
der Wirklichkeit“ (PsF III, 330) sind. Wie oben gezeigt, ist die Begriffsbildung ein Prozess,
in dessen Verlauf das ‚Denken‘ und ‚Sein‘ beziehungsweise das Bewusstsein und der
Gegenstand zwar ständig miteinander konfrontiert werden, aber erst unter der
symbolischen Beziehung des Denkens zur Begriffsbildung gelangen.
Cassirer ist hierbei von der Auffassung der primären Aufgabe des wissenschaftlichen
Begriffs ausgegangen, die lautet, dass der Begriff „eine Regel der Bestimmung aufstellt,
die sich am Anschaulichen zu bewähren und im Kreise des Anschaulichen zu erfüllen hat“
(PsF III, 330). Er ist der Ansicht, wenn die Regel der Bestimmung für die Welt der
Anschauung gelten soll, kann die Regel nicht einfach als bloßer Bestand wie eine Kopie
der Welt der Anschauung angehören, sondern sie muss der Welt der Anschauung
gegenüber „ein Eigenartiges und Selbständiges“ bedeuten (PsF III, 331), obschon man den
Sinn des Begriffs in der Anfangsphase nur an der Materie des Anschaulichen bekunden
und bezeugen kann. Damit kann man festhalten, dass Cassirer wie in SuF weiterhin in PsF
die Abbildungstheorie strikt ablehnt.
Wie bereits erwähnt, sind Empfindung, Vorstellung und Anschauung ‚Zeugen‘ der
143
Wirklichkeit und sie werden als nächste Stufe vor ein neues ‚Forum‘, das des Begriffs und
des reinen Denkens gefordert. Dieses Forum gehört nach Cassirer den Anfängen jeder
wissenschaftlichen Weltbetrachtung an, denn der Gedanke begnügt sich nicht damit, das
Gegebene in der Wahrnehmung oder Anschauung einfach in Sprache zu übersetzen,
sondern er vollzieht hier „eine charakteristische Formveränderung, eine geistige
Umprägung“ (PsF III, 330). Die Regel der Bestimmung, die der wissenschaftliche Begriff
aufstellt, soll hier nicht einfach ‚gesetzt‘ werden, sondern sie wird in dieser Setzung als
eine ‚universelle Denkleistung‘ erfasst und als solche durchschaut, und dadurch wird eine
neue Form des Durchblicks, der geistigen Perspektive erschaffen. Die Theorie kann, so
Cassirer, nur dadurch Wirklichkeitsnähe erreichen, dass „sie eine bestimmte Distanz
zwischen sich und die Wirklichkeit setzt“:
„Die Gestalten, innerhalb deren das natürliche Weltbild verharrt und kraftderen es seine Formung gewinnt, bilden sich erst vermöge diesereigentümlichen Distanzierung zu streng theoretischen Begriffen um.“ (PsF III,332)
Die erste Leistung des Begriffs besteht folglich darin, dass er die Momente, auf denen die
anschauliche Wirklichkeit beruht, erfasst und diese zugleich in ihrer spezifischen
Bedeutung erkennt.325 In der Übergangsphase, also von der ‚Wirklichkeit‘ zur ‚Wahrheit‘,
tauchen für Cassirer Probleme auf, da hier der endgültige Bruch mit dem bloßen Dasein
und seiner Unmittelbarkeit vollzogen wird. In dieser Phase ist ein anderes kritisches
Verhältnis an die Stelle des ‚naiven‘ Verhältnisses zwischen Begriff und Anschauung
innerhalb des natürlichen Weltbegriffs getreten. Folglich werde jetzt nach einem
universellen Maßsystem gefragt:
„Die Erkenntnis löst die reinen Beziehungen aus der Verflechtung mit derkonkreten und individuell-bestimmten »Wirklichkeit« der Dinge heraus, um siesich rein als solche in der Allgemeinheit ihrer »Form«, in der Weise ihresBeziehungs-C har ak t e r s zu vergegenwärtigen. Es genügt ihr nicht mehr, dasSein selber in den verschiedenen Richtungen des beziehentlichen Denkens zudurchmessen, sondern sie fordert und sie erschafft sich für diesen Prozeß auchein universelles Maßsystem. Dieses System ist es, das im Fortgang destheoretischen Denkens immer fester gegründet und immer umfassendergestaltet wird.“ (PsF III, 332 f.)
325 Cassirer verweist hier auf Platon, PsF III, S. 332: „Die Beziehungen, die im anschaulichen Daseinimplizit, in der Form bloßer Mit-Gegebenheit, gesetzt wird [sic! werden], werden von ihm [Platon]entfaltet; sie werden losgelöst und in dem reinen An-Sich ihrer Geltung [...] hingestellt.“
144
Dieses universelle System wird dann im Fortgang der theoretischen oder
wissenschaftlichen Erkenntnis mit der Wahrheitsfrage immer enger verbunden sein. Somit
wird deutlich, dass bei Cassirer der Bereich des natürlichen Weltbegriffs, in den Sphären
der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, mit der Wirklichkeitsfrage und der Bereich des
wissenschaftlichen Weltbegriffs, in der Sphäre der Bedeutungsfunktion, mit der
Wahrheitsfrage verknüpft ist. Er meint, die Wahrheitsfrage scheine in der ersten Stufe nur
einzelne Teile der Wirklichkeit, nicht sie selbst als Ganzes betreffen zu können. Die
‚Realität‘ beginnt auch erst innerhalb dieses Ganzen sich vom Schein klar zu sondern: „Er
[der Wahrheitsbegriff] begnügt sich nicht damit, einzelne Inha l t e des ‚natürlichen
Weltbegriffs‘ in Frage zu stellen, sondern er greift seine S ubs t anz , seine Gesamtform
selbst an.“ (PsF III, 330) Denn der theoretische Begriff ist kein Spiegel, der die Welt der
Gegenstände überschaut und deren Ordnung widerspiegelt. Die Synopsis des
Mannigfaltigen muss „durch eigene und selbständige Tätigkeiten des Denkens, gemäß den
in ihm selber liegenden Normen und Kriterien, hergestellt werden“ (PsF III, 333). Die
Bestimmung der Wahrheit ist somit ein Grund- und Leitziel aller Begriffsbildung, und alle
„besonderen Setzungen, alle einzelnen Begriffsstrukturen, sollen sich zuletzt einem
einheitlichen allbefassenden Denkzusammenhang einfügen“. Diese Aufgabe ist dann
erfüllbar, wenn sich der Gedanke „ein neues Organ “ (PsF III, 333), das heißt, ein neues
Zeichen erschafft.326 Der Gedanke muss damit von den Gestaltungen der Welt der
Anschauung in ein ‚Reich der Symbole‘ übergehen, das er frei und selbständig errichtet. Er
entwirft jetzt „konstruktiv die Schemata, an denen und auf welche hin er die Gesamtheit
s e i ne r Welt orientiert“ (PsF III, 333). Nach Cassirer bedürfen diese Schemata eines
Haltes und einer Stütze, aber sie entnehmen sie nicht der empirischen Dingwelt, sondern
sie schaffen sie sich selbst:
„Dem System der Beziehungen und der begrifflichen Bedeutungen wird einInbegriff von Ze i c hen unterlegt, der so beschaffen ist, daß sich an ihm derZusammenhang der zwischen den einzelnen Elementen jenes Systemsobwaltet, übersehen und ablesen läßt.“ (PsF III, 333 f.)
Hier erscheint für Cassirer eines der idealen Ziele erreicht zu sein, denen das Denken
zustrebt, das heißt,
„daß jeder Verknüpfung, unter den Inhalten, auf die es sich richtet, eine326 Vgl. PsF I, S. 18: „Das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges
und wesentliches Organ.”
145
Verknüpfung, eine bestimmte Operation in den Zeichen entspricht. Der»Scientia generalis« tritt die Forderung der »Characteristica generalis« zurSeite.“ (PsF III, 334)
Was Cassirer mit Characteristica generalis meint, lässt sich mit Hilfe seiner Erläuterungen
besser verstehen:
„Wenn er [Leibniz] also eine Grundwissenschaft von Charakteren oder Zeichenerstrebt, so muß man von vornherein annehmen, daß ihm diese nur insoweitBedeutung haben, als sie wissenschaftliche Methoden und damitgegenständliche Beziehungen darstellen. ,Jeder Operation in den Charakterenentspricht eine bestimmte Aussage in den Gegenständen‘ [...]. Die Charakteresollen wesentlich die Ausdrücke der möglichen gedanklichen Relationenzwischen Inhalten sein – vor allem der Grundrelationen der Mathematik. DieForderung, die Begriffe nicht vorauszusetzen, sondern sie aus der allgemeinenCharakteristik abzuleiten, wird damit verständlich. Sie bezeichnet dieErkenntnis, die bereits in anderem Zusammenhange gewonnen wurde: daßnämlich der Begriff nicht etwas Absolutes für sich ist, sondern nur einAusdruck, in dem wir die Möglichkeit logischer Relationen antizipieren.Während der Begriff für die gewöhnliche Auffassung eine Art abgeschlossenerlogischer Existenz besitzt, zu dem die Relation nachträglich als etwasÄußerliches hinzutritt, ist er für Leibniz zum Inbegriff möglicher Beziehungengeworden – von Beziehungen übrigens, die nicht gegeben, sondern durch dieErkenntnis erst zu gewinnen sind. Die Grundrelationen nun, aus denen dieBegriffe erschaffen werden, zu isolieren und systematisch darzustellen: dies istdie eigentliche, sachlogische Aufgabe der allgemeinen Charakteristik.“ (LS,135 f.)327
In dieser Charakteristik setze sich die Arbeit der Sprache328 fort, aber sie trete zugleich in
327 Die Erläuterungen von Cassirer zeigen, dass sein Gedanke zum Teil unter dem Einfluss von Leibnizsteht. vgl. auch LS, S. 110: „Die Auffassung der Definition als bloß sprachlicher Konvention ist in ersterLinie durch den Gedanken nahegelegt, daß insbesondere die mathematische Erkenntnis für den exaktenAusdruck der Theoreme und Beweise auf die Entwicklung eines festen Systems von Zeichen angewiesenist. Es ist bekannt, von welcher Bedeutung dieser Gedanke in dem Entwurf der allgemeinenCharakteristik für Leibniz geworden ist. Alles Denken, in so abstrakter Reinheit es sich auch darstellenmag, bedarf zu seiner Anwendung des sinnlichen Materials bestimmter Charaktere, an das es daher auchseinem Ursprung und seiner Geltung nach gebunden zu sein scheint.“; vgl. Ferrari (1988b); vgl. auchMittelstraß (EPW 1995), scientia generalis , Bd. 3, S. 741 f.
328 In dieser Phase tritt die Sprache in eine neue logische Dimension ein, das heißt, sie ist als Ausdruck derlogischen Beziehungsformen in die vierten Phase eingetreten. Cassirer hat die Sprache auch als eineStufenfolge betrachtet: 1. Die erste Stufe der Sprache: in der Phase des sinnlichen Ausdrucks ist dieUnterscheidung zwischen Mimik, Pantomimik, Gestik, Interjektion grundlegend. 2. In der Phase desanschaulichen Ausdrucks wird sprachlich die räumliche und zeitliche Gegenstandwelt aufgebaut. 3. DieSprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens: gegen nominalistische Inanspruchnahme der Sprache.4. Die Sprache als Ausdruck der logischen Beziehungsformen. „Es ist zu erwarten, daß auch in derSprache sich dieselbe unlösliche Korrelation der geistigen Mittel, mit denen sie ihre Welt aufbaut,bewähren wird, daß auch hier jedes ihrer besonderen Motive schon die Allgemeinheit ihrer Form unddas spezifische G a n z e dieser Form in sich schließen wird. Und dies bewährt sich in der Tat darin, daßnicht das einfache Wort, sondern der S a t z das eigentliche und ursprüngliche Elemente allerSprachbildung ist.“ (PsF I, S. 280).
146
eine neue logische Dimension ein:
„Denn die Zeichen der Charakteristik haben alles bloß-Ausdrucksmäßige, allesanschaulich-Repräsentative von sich abgestreift. Sie sind zu reinen»Bedeutungszeichen« geworden. Damit stellt sich eine neue Weise des»objektiven« Sinnbezugs dar, die sich von jener Art der ,Beziehung auf denGegenstand‘, wie sie in der Wahrnehmung oder in der empirischenAnschauung besteht, spezifisch unterscheidet.“ (PsF III, 334)
Die Momente dieses Unterschieds zu erfassen muss die erste Aufgabe der Analyse der
Begriffsfunktion sein:
„In jedem Begriff, wie immer er im einzelnen beschaffen sein mag, lebt undherrscht gewissermaßen ein einheitlicher Erkenntniswille, dessen Richtung undTendenz es als solche zu ermitteln und zu verstehen gilt. Erst wenn das Wesendieser a l l ge me i ne n Form des Begriffs geklärt und wenn es von der Eigenartder wahrnehmenden und der anschauenden Erkenntnis scharf abgehoben ist,läßt sich der Fortgang zu den besonderen Aufgaben vollziehen, läßt sich vomGanzen der Begriffsfunktion zu ihren einzelnen Auswirkungen und Aus-gestaltungen übergehen.“ (PsF III, 334)
Deutlicher als an anderer Stelle wird hier, dass Cassirer die allgemeine Form des Begriffs
und den Begriff als Begriffsfunktion aufzustellen versucht.
Er zieht, wie oben gezeigt, die Grenze zwischen dem natürlichen Weltbegriff und dem
wissenschaftlichen Weltbegriff darin, dass dieser reine Bedeutung besitzt, denn er hat bloß
Ausdrucksmäßiges, alles anschaulich Repräsentative von sich abgestreift. Das heißt, dass
der wissenschaftliche Begriff vom Bereich der Ausdrucksfunktion aus über den der
Darstellungsfunktion bis in den Bereich der Bedeutungsfunktion hinein ohne Bruch
aufgebaut wird. Empfindung, Vorstellung und Anschauung sind Zeugen der Wirklichkeit
und die logischen Begriffe und das reine Denken sind Mittel des Weges zur Wahrheit. Um
den Weg zur Wahrheit erschaffen zu können, muss der Gedanke von der Gestaltung der
Welt der Anschauung in das ‚Reich der Symbole‘ übergehen. So werden die sinnlichen
Symbole zu intellektuellen Symbolen, und Wortzeichen werden zu Begriffszeichen. Die
reinen Bedeutungszeichen sind wissenschaftliche Begriffe und zugleich intellektuelle
Symbole. Der Funktionsbegriff und das intellektuelle Symbol haben an diesem Punkt
gemeinsam, dass sich beide von der sinnlich-empirischen Wirklichkeit abheben. Damit
wird auch deutlich, welche Bedeutung Cassirer an dieser Stelle der Funktion des Denkens
oder der Tätigkeit des Geistes zukommen lässt.
147
3.3.3. Gegenstand als funktionale Einheit
Die Funktion der Wahrnehmung und Anschauung, der Cassirer eine spezifische Bedeutung
verleiht, wird für den Aufbau der Theorie des Begriffs in PsF unentbehrlich, und dies ist im
Vergleich zu SuF deutlich erkennbar.329 Es werden daher in diesem Abschnitt Cassirers
Grundansicht der Anschauung und das damit verbundene Gegenstandsproblem kurz
dargestellt.
Cassirer betont in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs, was er dem Sensualismus
und was er jeder reinen Erfahrungsphilosophie unbedingt zugebe, sei der Satz, dass
„Begriffe ohne Anschauungen leer sind“.330 Bedenkt man, dass Cassirer die ‚Psychologie
der Abstraktion‘ des sensualistischen Empirismus strikt ablehnt, ist es bemerkenswert, dass
er an dieser Stelle nun die Rolle der Anschauung, in Form der ‚konkreten‘ Anschauung,
hervorhebt:
„Aus konkreten Anschauungen baut sich die Welt des Mythischen, derReligion, die Welt der Kunst und die der theoretischen Erkenntnis auf. Die‚Philosophie der symbolischen Formen‘ gibt daher zu, daß auch all das, waswir in irgend einem Sinne ‘geistig‘ nennen, seine konkrete Erfüllungschließlich in einem Sinnlichen finden muß, daß es nur an ihm und mit ihmerscheinen kann. Sie leugnet nicht, sondern sie betont vielmehr, daß es eineWelt des Gesehenen, Gehörten, Getasteten, eine Welt optischer, akustischer,haptischer Phaenomene gibt, an der und mittelst welcher aller ,Sinn‘, alles, waswir Erfassen, Verstehen, Anschauen, Begreifen nennen, sich alleinmanifestieren kann.“ (ZLS, 210)
Die Form der anschaulichen Wirklichkeit baut sich aus den einzelnen Momenten dadurch
auf, dass zwischen den Momenten ein Verhältnis der „Mitsetzung“ stattfindet (PsF III,
334). Unter Mitsetzung wird hier verstanden, dass das einzelne Moment als ein nicht
Isoliertes auf die Gesamtheit der Erfahrungsinhalte hinweist und sich mit ihnen zu
bestimmten Sinnganzheiten zusammenschließt. Die einzelnen Erfahrungen ‚weben‘ sich in
dieser Weise ‚zum Ganzen‘.331
329 Vgl. PsF III, Vorrede, S. VIII, Kap. II vom ersten Teil und Kap.VI vom zweiten Teil; auch Zur Logikder Kulturwissenschaften [ZLK], S. 63.
330 ZLS, S. 210; bei Kant (W1990), S. 98. KrV, B 75/A 51 heißt es: „Gedanken ohne Inhalt sind leer,Anschauungen ohne Begriffe sind blind“.
331 Vgl. PsF III, S. 335: „Jeder Einzelinhalt muß, um räumlich bestimmt zu werden, am Ganzen gemessen,muß auf bestimmte typische Raumgestaltungen bezogen und ihnen gemäß gedeutet werden. Man kannschon diese Deutungen, wie sie in der Zeichensprache der sinnlichen Wahrnehmung sich vollziehen, alsprimäre Leistungen des »Begriffs« ansehen. Denn in der Tat enthalten sie bereits e i n Moment, das ganzin der Richtung auf den Begriff und auf seine eigentlich-grundlegende Leistung liegt. Sie ordnen dasEinzelne und Besondere einem bestimmten »Inbegriff« ein und sie sehen in ihm die Darstellung ebendieses Inbegriffs selbst. Je weiter die anschauliche Erkenntnis auf diesem Wege fortschreitet, um so
148
Cassirer hebt im Zusammenhang mit der konkreten Anschauung die Wahrnehmungstheorie
von Helmholtz hervor. Der Helmholtzschen Auffassung zufolge liegt die Leistung des
logischen Begriffs darin, dass er die gesetzliche Ordnung, die schon in der Erscheinung
selbst liegt, fixiert. Cassirer interpretiert die bloß anschauliche ‚Vorstellung‘332 bei
Helmholtz als eine, die die Rolle eines aus sinnlichen Anschauungsbildern
zusammengefassten Begriffs spielt, der „nicht notwendig durch in Worten ausdrückbare
Definitionen, wie sie der Geometer sich konstruieren könnte, sondern nur durch die
‚lebendige Vorstellung des Gesetzes‘, nach dem die mannigfachen perspektivischen Bilder
eben dieses körperlichen Dinges einander folgen, zusammengehalten wird“ (PsF III, 336).
Die anschauliche Vorstellung ist somit als ‚lebendige Vorstellung des Gesetzes‘
anzusehen, und so muss die Vorstellung von einem individuellen Objekt schon als ein
Begriff bezeichnet werden. Dies heißt wiederum für Cassirer, dass „die Begriffsfunktion
mitten in den Wahrnehmungsprozeß selbst verlegt“ ist. Dies sei eine anderweitige
Auffassung, die „dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der traditionellen Logik nicht
entspricht“ (PsF III, 336).
Cassirer ist jedoch der Ansicht, dass der Begriff in seinem spezifisch-logischen Charakter
von den ‚anschaulichen Begriffen‘, die Anschauungsbilder sind, unterschieden werden
muss. Denn die Bedeutung des Begriffs soll nicht mehr an einem anschaulichen Substrat
haften, sondern „sie wird als solche in einem bestimmten R e la t i onsge f üge , innerhalb
eines Systems von »Urteilen« und »Wahrheiten«, gedacht“. (PsF III, 372) Die
Gegenstandsbildung fasst für Cassirer zunächst das objektive Sein als ein anschauliches
Sein, als ein solches, das die Grundordnung der Anschauung ist. Die wissenschaftliche
Erkenntnis schreitet dadurch fort, dass sie für sich das Band zwischen dem Begriff und der
Anschauung lockert, das heißt, der Begriff ist nicht mehr an die Wirklichkeit der Dinge
gebunden, sondern er wird zur freien Konstruktion des ,Möglichen‘. Die reine Theorie ist
mehr gewinnt jeder ihrer Sonderinhalte die Kraft, die Totalität der übrigen zu vertreten und sie mittelbar»sichtig« zu machen. Faßt man diese Vertretung als bestimmend und charakteristisch für dieBegriffsfunktion ü b e r h a u p t auf, so kann kein Zweifel sein, daß schon die Welt der Wahrnehmungund die der räumlich-zeitlichen Anschauung diese Funktion nirgends entbehren kann.“
332 Vgl. Schiemann (1997), S. 265. Helmholtz versteht unter Vorstellung nicht eine begrifflich verfassteErkenntnis, sondern das „Erinnerungsbild von Gesichtsobjecten, welches von keinen gegenwärtigensinnlichen Empfindungen begleitet ist“ (Schiemann zitiert hier Helmholtz, Handbuch derPhysiologischen Optik, 1856/1860/1867, S. 435); vgl. auch Schiemann (1997), S. 269. DerVerwendungszusammenhang des Vorstellungsbegriffs, „in dem von der Gesetzmässigkeit der Zeitfolgeund den ,Gesetzen unseres Denkens‘ die Rede ist“, verweist aber auch auf die wissenschaftlicheErkenntnis; vgl. Schiemann (1997), S. 273. Die wissenschaftliche Erkenntnis und alltäglicheWahrnehmung sind bei Helmholtz nicht scharf voneinander unterschieden. Man soll aber beide nichteins setzen, denn „Gesetze“ sind bei Helmholtz „mathematisch darzustellende Zeitverhältnisse, diezwischen kausalverknüpften Ereignissen bestehen, sich eindeutig erfassen lassen, keinerVersinnbildlichung bedürfen und als empirische Aussagen weiterhin deutlich von substantiellenUrsachen, den materiellen Elementen und den zwischen ihnen wirkenden Kräften, unterschieden sind.“
149
möglich, wenn das reine Denken sich von der Anschauung loslöst und „zu Gebilden
fortgeht, die prinzipiell unanschaulicher Natur sind“ (PsF III, 372). Damit wird deutlich,
dass Cassirer die Rolle der konkreten Anschauung nur im Bereich der
Darstellungsfunktion, in der er von Darstellungssinn spricht, als Unentbehrliches
hervorhebt. Denn der ‚Sinn‘ des anschaulichen Begriffs soll sich innerhalb des logisch-
wissenschaftlichen Begriffs in reine ‚Bedeutung‘ umwandeln. Dies geschieht durch die
Entstofflichung der Zeichen, und damit werden sie zu reinen Bedeutungszeichen. (vgl.
3.3.1; 3.3.2)
Das Anschauungsproblem entsteht nach Cassirer gewöhnlich, weil man die Grenze
zwischen Anschauung und Begriff in der Weise zieht, „daß man die Anschauung als
»unmittelbare« Beziehung auf den Gegenstand nimmt und von ihr das mittelbare
»diskursive« Verfahren des Begriffs unterscheidet“ (PsF III, 337 f.). Er selbst will bereits
die Anschauung als diskursiv ansehen, denn sie bleibt nicht beim Einzelnen stehen,
sondern strebt nach einer Totalität, die dadurch erreicht wird, dass sie eine
Mannigfaltigkeit von Elementen durchläuft, um sie zuletzt in einem Blick zu versammeln.
Wenn Anschauung so verstanden wird, dann stellt der Begriff „gegenüber dieser Form der
anschaulichen Synthesis eine neue und höhere Potenz des »Diskursiven« auf“ (PsF III,
338 ). Folglich behauptet Cassirer:
„Die Anschauung geh t bestimmte Wege der Verknüpfung – und hierin bestehtihre reine Form und ihr Schematismus. Der Begriff jedoch greift nicht nur indem Sinne über sie hinaus, daß er von diesen Wegen w e i ß , sondern daß erselbst sie w e i s t : e r be sch r e i t e t nicht nur einen schon angebauten, schonbekannten Weg, sondern er hilft ihn be re i t en .“ (PsF III, 338)
Somit ist der Begriff eine „Funktion der Bahnung selbst“ (ibd.), denn er folgt nicht den
festen, schon bekannten Richtlinien.
Die traditionelle formale Logik sucht für Cassirer die Allgemeinheit in den
hervorstehenden Merkmalen, und daher entspricht die Allgemeinheit nur dem von ‚vielen
Gemeinsamen‘. Diese Allgemeinheit wird aber in der traditionellen formalen Logik als die
notwendige Bedingung des Begriffs angesehen. Wenn man unter dem Begriff mit Kant die
Einheit der Regel verstehe, unter der eine Mannigfaltigkeit von Inhalten
zusammengehalten und in sich selbst verknüpft werde, dann werde deutlich, dass schon der
Aufbau der Wahrnehmungs- oder Anschauungswelt einer Einheit nicht entbehren könne.
Denn durch die Einheit der Regel tritt zum einen innerhalb der Anschauung ein bestimmtes
150
Gebilde heraus, zum anderen werden in der Anschauung feste Zugehörigkeiten geschaffen.
Entscheidend ist dabei, dass die Erscheinungen eine gemeinschaftliche Funktion erfüllen,
will heißen, dass „sie auf einen bestimmten Zielpunkt ge r i ch t e t sind und auf ihn
hinweisen“ (PsF III, 337). Die Form dieses Hinweisens ist jedoch in der sinnlich-
anschaulichen Welt von dem, wie wir es in der Welt des logischen Begriffs vorfinden,
verschieden: „Denn der Hinweis, der in der Wahrnehmung oder Anschauung nur geüb t
wird: er soll im Begriff gewuß t werden. Diese neue Art der Bewuß t he i t ist es, die den
Begriff, als Gebilde des reinen Denkens, erst wahrhaft konstituiert.“ (ibd.) Auch die Inhalte
der Wahrnehmung und die der reinen Anschauung können ohne eine charakteristische
Form der Bestimmung und einen Gesichtspunkt nicht gedacht werden. Dabei soll der Blick
der Wahrnehmung oder Anschauung auf den miteinander verglichenen oder einander
zugeordneten Elementen selbst ruhen, nicht aber auf der Art, auf dem Modus ihrer
Zuordnung. Erst der logische Begriff ist es, der diesen Modus der Zuordnung selbst
heraushebt. Damit befindet man sich im eigentlichen Bereich des Denkens, wo die
spezifische Art der Reflexion geübt wird. Diese Reflexion tritt ein, wo der logische Begriff
jene Umwendung vollzieht, „kraft deren das Ich sich von den Objekten, die in einer Sicht
stehen und vermöge ihrer erfaßt werden, der Weise des Sehens, dem Charakter der Sicht
selbst zuwendet“ (ibd.). Hieraus ergibt sich zum einen die „prägnante“ Bedeutung, „die
dem Begriff innerhalb des Problems der »symbolischen Formung« zukommt “ (ibd.), und
zum anderen, dass das Problem selbst in eine andere logische Dimension eintritt.
Cassirers Korrelationsgedanke tritt auch im Verhältnis zwischen Anschauung und Verstand
hervor. Diese sollen wie ein ineinander verwobenes Symbolnetz, logisch korrelativ333
funktionieren, wodurch die Invarianten der Wahrnehmung beziehungsweise die
perzeptorische Konstanz hervorgehoben werden können (vgl. 4.3). Cassirer erkennt, wie
bereits erwähnt, die Leistung des Begriffs schon in der Wahrnehmungs- und der
333 Vgl. SuF, S. 108 f. Cassirer unterscheidet angelehnt an Poncelet drei verschiedene Grundformen desVerfahrens der Korrelation: „Wir können eine bestimmte Figur, die wir als Ausgangspunkt wählen, ineine andere überführen, indem wir alle ihre einzelnen Teile sowie deren wechselseitige Ordnungfesthalten, so daß der Unterschied also ausschließlich in der a b s o l u t e n G r ö ß e derBestimmungsstücke besteht. In diesem Falle werden wir von einer d i r e k t e n Korrelation sprechenkönnen, während für den Fall, daß die O r d n u n g der einzelnen Teile sich in der abgeleiteten Figurvertauscht oder umkehrt, nur von einer ‚indirekten‘ Korrelation gesprochen werden soll. Schließlichaber — und dies ist methodisch der interessanteste und wichtigste Fall — kann die Umformung auch inder Weise vor sich gehen, daß gewisse Elemente, die in der anfänglichen Gestalt als reale Bestandteileaufweisbar waren, im Verlauf des Gesamtprozesses völlig verschwinden. Betrachten wir etwa einenKreis und eine Gerade, die ihn schneidet, so können wir dieses geometrische System durch stetigeVerschiebungen derart umgestalten, daß die Gerade zuletzt ganz außerhalb des Kreises fällt und somitdie Schnittpunkte, sowie die ihnen entsprechende Richtung der Radien durch imaginäre Werteauszudrücken sind. Die Zuordnung der abgeleiteten Figur zur ursprünglichen verknüpft jetzt nicht mehrtatsächlich vorhandene und für sich aufzeigbare, sondern lediglich gedachte Elemente; sie hat sich ineine rein i d e a l e K o r r e l a t i o n aufgelöst.“
151
Anschauungswelt an und macht diese zu einem Ausgangspunkt in seiner Begriffstheorie:
„Das, was wir die symbolische Formung der Wahrnehmungs- und derAnschauungswelt nannten, [setzt] keineswegs erst beim »abstrakten« Begriff,geschweige erst bei einer der höchsten Ausprägungen desselben, beim exakt-wissenschaftlichen Begriff ein [...]. Wir mußten, um die Art dieser Formungund ihre Grundrichtung zu verstehen, den Punkt der Frage weit tiefer ansetzen:wir mußten aus den Dimensionen des wissenschaftlichen Weltbegriffs in diedes ‚natürlichen Weltbegriffs‘ zurückgehen.“ (PsF III, 347 f.)
Auch an anderen Stelle (vgl. ZLK, 63) äußert er, dass man, um den Unterschied zwischen
Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft mit Schärfe bezeichnen zu können, von der
Begriffsstruktur auf die Wahrnehmungsstruktur zurückgehen muss.
In SuF bildeten Geltung und Anwendbarkeit des Begriffs die Kriterien für die traditionelle
formale Logik, wobei es um den Begriff der Objektivität innerhalb der mathematischen
Naturwissenschaft ging. In PsF will Cassirer nun, wie bereits erwähnt, das Gebiet der
‚Logik der gegenständlichen Erkenntnis‘ bis in die Kulturwissenschaft erweitern, indem er
sie stufenweise mit der Funktion des Symbols und des Zeichens verknüpft. Um zur
objektiven Gültigkeit der Gegenstände zu gelangen, geht Cassirer von Kants
Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen aus.334 Er betrachtet
jedoch diese Unterscheidung Kants nicht als die „endgültig systematische Lösung des
Objektivitätsproblems“ (EP II, 665). In PsF kritisiert er im Zusammenhang mit der
Symbolfunktion diese Unterscheidung und versucht darüber hinaus das kantische
Objektivitätsproblem der Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile zu überwinden (vgl.
3.5.2).
Der Begriff des Gegenstands in der kritischen Philosophie setzt die Geltung allgemeiner
und notwendiger Regeln voraus. Cassirer legt bei seiner Kantinterpretation auf diesen
Zusammenhang großen Wert.335 Bei Kant sind Gegenstände mit Gegenständen der
Erfahrung gleichzusetzen, weil nur sie als solche objektiv erkannt werden können. Damit
etwas als Gegenstand der Erfahrung erkannt werden kann, ist es erforderlich, dass es
apriori unter gewissen allgemeinen und notwendigen Bedingungen steht. Diese
Bedingungen wiederum bilden auch die Voraussetzungen dafür, dass empirische Urteile
über Objekte der Erfahrung überhaupt möglich sind. Sie gestalten sich aus Regeln oder
Gesetzen apriori, welche die Notwendigkeit und Allgemeinheit der Verknüpfung von
334 Vgl. EP II, S. 664: „Der neue Sinn der Gegenständlichkeit, auf den die Frage abzielt, wird in dieserUnterscheidung der Bedeutung der Urteile gegründet.“
335 Vgl. Ihmig (1997a), S. 164.
152
Wahrnehmungen oder Vorstellungen möglich machen, und diese Notwendigkeit und
Allgemeinheit der Verknüpfung stellt dann die Objektivität des Verknüpften sicher.336
Cassirer sieht es als die eigentliche Leistung des Begriffs in Kants transzendentaler Logik
an, dass der Begriff nicht bloß als Abbild der sinnlich-anschaulichen Welt zu betrachten
ist. Der Begriff ist bei Kant „zu einer Voraussetzung der Erfahrung und damit zu einer
Bedingung der Möglichkeit ihrer Objekte“ geworden (PsF III, 367). Das Problem des
Verhältnisses von Begriff und Gegenstand hat nach Cassirer durch Kants Kritik der reinen
Vernunft einen prinzipiell veränderten methodischen Sinn erhalten. Diese Wandlung sei
dadurch möglich gewesen, dass Kant an diesem Problem den Übergang von der
‚allgemeinen‘ Logik zur ,transzendentalen‘ Logik vollzogen habe. Die Gegenstandsfrage
sei für Kant eine Geltungsfrage nach dem quid juris (vgl. PsF III, 367).
Durch die Rückbeziehung des Begriffs- und Gegenstandsproblems auf das Problem der
synthetischen Einheit bei Kant ist der Begriff nicht mehr als Gattungsbegriff, als
‚conceptus communis‘ zu sehen. Denn diesem fehle das charakteristische und
entscheidende Moment: er sei ein bloßer Ausdruck der analytischen, nicht der
synthetischen Einheit des Bewusstseins. Die ältere Metaphysik nehme die Einheit des
Dings als ‚substantielle‘ Einheit, und das Ding sei ihr dasjenige Identische, das im Wechsel
der Zustände beharrt. Es steht diesen Zuständen, den ‚Akzidentien‘, als ein Selbständiges,
für sich Seiendes gegenüber. Die transzendentale Logik verwandele diese analytische
Einheit des Dings in eine synthetische:
„Das Ding ist ihr nicht mehr ein sozusagen stofflicher Faden, an dem dieveränderlichen Bestimmungen aufgereiht werden: sondern es drückt sich inihm vielmehr das Verfahren, es drückt sich in ihm die Fo r m der Reihungselbst aus.“ (PsF III, 368)
Cassirer verweist hier auf folgende Stelle in der Kritik der reinen Vernunft:
„Wenn wir untersuchen, was denn die Bez i ehung auf e inenGegens t a nd unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, undwelches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, daß sie nichtsweiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Artnotwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; daß umgekehrt nurdadurch, daß eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unsererVorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilet wird.“337
336 Vgl. Ihmig (1997b), S. 74. 337 Kant (W1990), S. 232 f., KrV, A 197/ B 242 f.
153
So bildet die objektive Bedeutung, nicht das Objekt als absolutes Objekt, das zentrale
Problem. Es wird jetzt nicht nach der ‚Beschaffenheit‘ des Gegenstandes, als eines ,Dings
an sich‘, sondern nach der ‚Möglichkeit der Beziehung auf einen Gegenstand‘ gefragt.
Diese Beziehung kommt aber nur dadurch zustande, dass die Erkenntnis die einzelne
Erscheinung in den ‚Kontext‘ der Erfahrung verwebt.
Der Begriff vereint die Einzeldaten der Erfahrung in ein Kontinuum, indem er die ,Regeln
der Zuordnung‘ zwischen ihnen schafft und so ist auch die Anschauung eine Regel der
Zugehörigkeit: „Was die Anschauung als eine besondere Gestalt mit irgendwelchen
räumlichen Kennzeichen und Eigenschaften erfaßt, das erscheint jetzt in der Analysis des
Denkens auf eine allgemeine Regel der Zugehörigkeit zurückgeführt.“ (PsF III, 354) Dies
gilt laut Cassirer nicht nur für die mathematischen Begriffe, sondern es stellt einen
‚Wesenzug‘ aller echten begrifflichen Strukturen dar. Daher interpretiert er die Fassung des
Gegenstandesgedankens Kants als „eine strenge und genaue Korrelation von »Begriff« und
»Gegenstand«“ (PsF III, 370), und meint, dass ein Begreifen des Gegenstands als
Grundbeziehung der Erkenntnis, als „ein rein ideelles Verhältnis, ein Verhältnis des
B ed i ngens“ verstanden werden muss:
„Der Begriff bezieht sich auf das Objekt, weil und sofern er die notwendigeund unerläßliche Voraussetzung der Objektivierung selbst ist: weil er jeneFunktion darstellt, für die allein es Gegenstände, für die es konstanteGrundeinheiten im Wandel der Erfahrung geben kann.“ (PsF III, 370)
Das Begriffsproblem und das Gegenstandsproblem sollen somit nicht parallel behandelt
werden, sondern sich auf einen Punkt, auf das „Grundphänomen der »Repräsentation«“
(PsF III, 371) konzentrieren.
Der Gegenstand der Erkenntnis erhält seine bestimmte Bedeutung dadurch, dass er auf eine
bestimmte Form, auf eine Funktion der Erkenntnis bezogen wird. Diese Funktion steht „im
Verhältnis der korrelativen Entsprechung und der korrelativen Ergänzung“. So gestaltet sie
den systematischen Zusammenhang und bestimmt die Zusammenfassung neu, „in der
allein die Erklärung und Begründung des »Gegenstandes« der Erkenntnis gefunden werden
kann“ (PsF III, 374). Daher herrscht im Bereich der Geltung des Gegenstandes eine andere
Komplexion und „ein anderes »Ineinander« der verschiedenen Geltungsmomente und
Geltungsmöglichkeiten, als es in der Ebene des bloßen »Seins« zu denken wäre“ (ibd.).
Das Problem des Verhältnisses zwischen Begriff und Gegenstand entsteht nach Cassirer
durch den Umstand, dass man den Versuch unternimmt, ein ,prinzipiell-unanschauliches‘
154
Verhältnis durch Analogien erklären zu wollen. Denn die ‚Beziehung der Vorstellung auf
ihren Gegenstand‘ wird durch die Eigenart und den spezifischen Sinn der „reinen
B edeu t ungskategorie“ (PsF III, 380) konstituiert und diese Beziehung zwischen
Vorstellung und Gegenstand lässt sich nicht dadurch verständlich machen, dass man ihr
irgendwelche Seinsbestimmungen, wie zum Beispiel Bestimmungen der Gleichheit oder
Ähnlichkeit zwischen Dingen, unterschiebt. Gegenstände sind in erster Linie als subjektive
Zusammenfassungen von Erscheinungen gefasst. Daher wird eine Objektivierung der
Gegenstände verlangt, was bedeutet, dass diese subjektiven Erscheinungen durch Begriffe
‚objektiviert‘ werden sollen. Der Gehalt der Wahrnehmung muss ‚transzendiert‘ werden,
was aber keineswegs mit einer ontischen Transzendenz verwechselt werden darf. Der
Übergang soll „ein Übergang im S inn , nicht im S e i n “ (PsF III, 377) sein. In dieser
symbolischen Beziehung muss man, statt „auf irgendwelche Eigenschaften gegebener
Dinge, statt auf das Bild einer schon vorhandenen Wirklichkeit“, auf die reinen
Bedingungen der ‚Setzbarkeit‘ einer Wirklichkeit zurückgehen. Der reine Begriff gehört zu
diesen Bedingungen, und daher „kann sich das Denken in ihm und kraft seiner auf Objekte
beziehen, kann es gegenständliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen“ (PsF III, 380).
Wenn der Gegenstand als ,einer‘ gedacht werden soll,338 so ist diese Einheit auch eine
„f unk t iona l e Einheit“ (PsF III, 375), die sich fortschreitend aufbaut:
„So geht z. B. die Einheit des »Dinges« niemals in einer einzelnen»Erscheinung«, etwa in einer besonderen räumlichen Ansicht von ihm, auf, —sondern sie ist erst durch die Totalität der möglichen Ansichten und durch dieRegel ihrer Verknüpfung bestimmbar. Jede einzelne Erscheinung»repräsentiert« das Ding, ohne jemals, als einzelne, mit ihm wahrhaftko inz i d i e re n zu können. In diesem Sinne gilt auch für den »kritischen«Idealismus, daß die bloße »Erscheinung« notwendig über sich selbsthinausweist, daß sie ,Erscheinung von Etwas‘ ist. Aber dieses Etwas bedeutetkein neues absolutum, kein ontisch-metaphysisches Sein.“ (PsF III, 381)
Man kann an dieser Stelle deutlich erkennen, dass diese Einsicht Cassirers wiederum auf
SuF zurückgeht. Wie schon dort, so wird auch hier weiterhin die Ordnung und die Regel
im Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen in der Begriffsbildung betont:
„Das Einzelne, Diskrete besteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang,den es in irgendeiner Form des Allgemeinen, mag darunter nun die
338 Vgl. PsF III, S. 381: „Die Funktion »gilt« für die Einzelwerte, eben weil sie kein Einzelwert »ist« — undandererseits »sind« die Einzelwerte nur, sofern sie zueinander in der durch die Funktion ausgedrücktenVerknüpfung stehen.“
155
Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes« verstanden werden,besitzt — und eben so kann das Allgemeine sich nur am Besonderenmanifestieren und sich nicht anders denn als Ordnung und Regel für dasBesondere beglaubigen und bewähren.“ (PsF III, 381)
So sieht Cassirer sich letztlich, „um die spezifische Gültigkeit des Begriffs und um den
Charakter der empirischen Gegenständlichkeit zu verstehen“, auf die Bedeutungsfunktion,
die „ohne in sich selbst irgendwie gespalten zu sein, sich doch aus prinzipiell-
verschiedenen Sinn-Momenten aufbaut“, zurückgewiesen (ibd.).
3.3.4. Die Korrelation des Allgemeinen und Besonderen
Cassirers Standpunkt gegenüber dem Begriffsrealismus in SuF bleibt auch in PsF
unverändert, wobei er in PsF zudem Kritik an der Begriffslehre des sensualistischen
Empirismus und an der Mathematisierung der Logik übt. Bei der Mathematisierung der
Logik sieht er besonders die Mengentheorie als mangelhaft an: denn sie strebt „den Inhalt
eines Begriffs von seinem Umfang her zu erfassen und ihn zuletzt durch eben diesen
Umfang zu ersetzen“ (PsF III, 341). In der mengentheoretischen Betrachtung definiere man
den Begriff im strengen Sinne als Inbegriff, „indem man ihn als eine »Klasse« von
Elementen nahm, die untereinander keine andere als eine rein ko l l e k t i ve Einheit bilden“
(PsF III, 342). Damit war nach Cassirer die ‚Homogenesierung‘ der Logik erreicht und
zugleich das wechselseitige Verhältnis und die wechselseitige Bestimmung der Begriffe
auf die Grundregeln eines allgemeinen Klassen-Kalküls zurückgeführt. Daher meint er,
dass die Theorie des Begriffs darauf zu achten hat, „daß sie die Form der Bestimmung
nicht mit den Inhalten verwechselt, die durch dasselbe erst bestimmbar werden: daß sich
ihr die beiden Sphären des Ge se t ze s und des Gese t z t e n nicht miteinander vermengen“
(PsF III, 351).
Bei seinen Einwänden gegen die Mathematisierung der Logik stützt sich Cassirer bezüglich
des Problems des Verhältnisses von Inhalt und Umfang des Begriffs auf Frege, der Ernst
Schröders Gebietekalkül339 mit folgenden Worten kritisiert: „In der Tat, halte ich dafür, daß
339 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 731: „In kritischem Anschluß an die von G. Boole begonnenealgebraische Kalkülisierung des logischen Schließens gilt Schröders Hauptbemühen der Algebra derLogik. In dieser Konzeption sollen logische Methoden durch algebraische substituiert werden. Diesgeschieht durch Ersetzung von Aussagen (›Urteilen‹) durch Gleichungen zwischen den Klassen [...] derin ihnen auftretenden Prädikatoren. Dabei werden auch die Nominatoren, d. h. Eigennamen undKennzeichnungen (›Individualbegriffe‹), als Klassen, und zwar als solche mit nur einem Elementaufgefaßt. In diesem Zusammenhang verwendet Schröder als einer der ersten die eben entstandene
156
der Begriff seinem Umfange logisch vorangeht und betrachte den Versuch als verfehlt, den
Umfang des Begriffs als Klasse nicht auf den Begriff, sondern auf die Einzeldinge zu
stützen. Auf diese Weise kommt man wohl zu einem Gebietekalkül, aber nicht zu einer
Logik.“340 Das Verhältnis von Logik und Mathematik wird bei Frege „nicht von seiten des
Klassenbegriffs, sondern von seiten des Funktionsbegriffs erfaßt und der Begriff seinem
Wesen nach selbst als Funktion verstanden und definiert“ (PsF III, 342).
In diesem Zusammenhang hebt Cassirer hervor, dass der Versuch der Mathematisierung
der Logik, also „den Inha l t des Begriffs von seinem U mfa ng aus verständlich zu
machen“ ( PsF III, 343), durch Russell nicht weiter aufrecht erhalten werden konnte. Denn
Russell unterscheidet „eine doppelte Definition der Klasse“, obschon er „den Begriff rein
als Klasse von Elementen“ bestimmt (PsF III, 343). Es gibt bei Russell zwei Wege zur
Bestimmung von Klassen. Der eine ist, dass man die Glieder einfach mit „Und“
miteinander verbindet, der andere, „indem man ein allgemeines Merkmal, eine Bedingung
angibt, der alle Glieder der Klasse genügen sollen“ (PsF III, 343). Diese letztere Erzeugung
der Klasse ist für Russell die Intension, jene die Extension.
In § 66 seiner Schrift The Principles of Mathematics schreibt Russell, dass seine ‚theory of
denoting‘ für die Überlegung der Intension unentbehrlich ist. Was er mit ‚denoting‘ meint,
erklärt er wie folgt:
„A concept denotes when, if it occurs in a proposition, the proposition is notabout the concept, but about a term connected in a certain peculiar way withthe concept. If I say ‘I met a man’, the proposition is not about a man: this is aconcept which does not walk the streets, but lives in the shadowy limbo of thelogic-books. What I met was a thing, not a concept, an actual man with a tailorand a bank-account or a public-house and a drunken wife.“341
Seine Erläuterung des Klassenbegriffs in § 67 beginnt er mit der Unterscheidung von
‚class-concept‘ und ‚concept of a class‘. Demzufolge ist man ein ‚class-concept‘, denn
‚man does not denote anything‘. Men sind ‚concept of a class‘, denn ‚men and all men do
denote‘, und „men (the object denoted by the concept men) are the class“.342 In § 68 folgt
dann die Definition der Klasse durch die Intension, für die er folgende vier Beispielsätze
Cantorsche Mengenlehre. Schröders mengentheoretische Auffassungen wurden von G. Frege einergrundlegenden Analyse und Kritik unterzogen.“
340 PsF III, S. 342; vgl. Frege, Kritische Beleuchtung einiger Punkte in E. Schröders Vorlesungen über dieAlgebra der Logik. In: Archiv für systematische Philosophie, I, 1895, S. 433-456, hier S. 455; auch inPatzig (1986b), S. 111 f.
341 Russell (1903/1996), Chap. V. Denoting, p. 53; vgl. auch Russell (1905).342 Russell (1903/1996), p. 67.
157
anführt: „Socrates is human“, „Socrates has humanity“, „Socrates is a man“, und „Socrates
is one among men“343. Davon enthält allein der letzte Satz (proposition) explizit die Klasse
als Bestand. Russell ist jedoch der Ansicht: „but every subject-predicate proposition gives
rise to the other three equivalent propositions, and thus every predicate (provided it can be
sometimes truly predicated) gives rise to a class. This is the genesis of classes from the
intensional standpoint.“344 Im Anschluss daran erklärt er die Definition der Klasse mittels
Extension, in der es letztlich heißt: ‚Brown and Jones‘ sind eine Klasse und ‚Brown‘ ist
allein eine Klasse. Cassirer interpretiert diese Erklärung von Klassen so, als habe bei
Russell die intensionale Logik den Vorrang vor der extensionalen erhalten345:
„Mehr und mehr ergibt sich in ihr [Russells Logik], daß die Definition durchdie Intension nicht nur einen subjektiven, sondern einen objektiven Wertvorzugbesitzt [...]. Denn es ist ersichtlich, daß man, ehe man daran geht, die Elementeeiner Klasse zusammenzufassen und sie extensiv durch Aufzählung anzugeben,eine Entscheidung darüber fällen muß, welche Elemente als der Klassez ugehö r ig zu betrachten sind: und diese Frage kann nicht anders als aufGrund des Klassenbegr i f f s , im »intensionalen« Sinne des Wortes,beantwortet werden.“ (PsF III, 344)
Somit erkennt Cassirer nicht nur Russells Annahme an, bei Gliedern innerhalb der Klasse
handele sich um Variablen, sondern folglich auch dessen Satzfunktion (propositional
343 Russell (1903/1996), p. 67.344 Russell (1903/1996), p. 67.345 Vgl. Burkamp (1927), S. 185: Russell hat nach Burkamp deshalb die intensionale Definition zugelassen,
„weil er allein so zu Klassen von transfiniter Individuenzahl kommen kann, wie er sie doch in der ausder Klassenlogik abgeleiteten Mathematik braucht (Principles of Mathematics, 1903, S. 66 und 69)“.Burkamp meint, dass Russell dabei in der Klasse nur die Menge sieht.
Das fundamentale Subjekt ist normalerweise das Individuum. Die Individuen sind, wenn sie existieren,zählbar. Sie bilden eine Klasse, die Russell ‚extensional‘ auffasst. Russell nutze nach Burkamp dieNötigung zur Beziehung des Begriffs auf Darunterfallendes durch die Variable für dieKlassenauffassung aus. Dadurch gewinne Russells Auffassung den Anschein der Angemessenheit an denSinn der Begriffslogik, „daß in jedem Begriff die Bestimmtheit der Funktion für Darunterfallendes liegt“(Buhrkamp, 1927, S. 186). Mit Russell könne man zur Not rechtfertigen, „daß die Aussage ,der Menschist sterblich‘ eine Aussage vom Begriffsindividuum ,Menschlichkeit‘ sei. Allerdings hat man da etwasunterschlagen, was zwar nicht für das Spezifische des einzelnen Begriffs, über den ausgesagt wird, wohlaber für den Begriff überhaupt wesentlich ist, nämlich den Bezug auf die Variable.“ (Buhrkamp, 1927,S. 187)
Um seine Interpretation zu untermauern, verweist Cassirer auf das von Russell und Whiteheadgemeinsam herausgegebene Werk Principia mathematica (Cambridge Ausgabe von 1910, II, S. 75). Ererklärt: „eine Extension sei ein unvollständiges Symbol, dessen Gebrauch erst durch die Beziehung zueiner Intension Sinn gewinne“ (PsF III, 345). Burkamp interpretiert dies ähnlich wie Cassirer: „Esscheint allerdings, als ob Whitehead-Russell später in den Principia mathematica den Klassenbegriffenger an die ‚intensionale‘ Abgrenzung binden“ (Buhrkamp, 1927, S. 187), wobei er dieselbe Stelle ausPrincipia mathematica zitiert, nur etwas vollständiger: „Unsere Klassentheorie erkennt an und versöhntdiese beiden offenbar einander entgegengesetzten Tatsachen, indem sie zeigt, daß eine Extension (diedasselbe wie eine Klasse ist) ein unvollständiges Symbol ist, dessen Gebrauch erst durch die Beziehungzu einer Intension Sinn gewinnt.“ (Buhrkamp, 1927, S. 187) Damit ist deutlich, „die Verknüpftheit mitdem Begriff soll nicht zerrissen und die Klasse nicht zu einem bloßen Aggregat, einer bloßen Menge,werden, wie es in der Auffassung der ,principles‘ bedenklich nahe lag“ (Buhrkamp, 1927, S. 187 f.).
158
function): Was die Klasse in sich selbst zusammenhält, das ist der Umstand, „daß alle in
ihr vereinigten Glieder als Variable einer bestimmten Satzfunktion [...] zu denken sind“
( PsF III, 345).346
Folglich erscheint Cassirers Ansicht nach diese Satzfunktion als der Kern des Begriffs,
„nicht aber der bloße Gedanke der Menge als eines reinen Kollektivums“ (PsF III, 345).
Eine Satzfunktion sei, nach der Definition von Russell, „eine Funktion, deren Werte
Urteile sind“ (ibd.). Die Satzfunktion interpretiert Cassirer als eine, die streng von einem
Urteil im gewöhnlichen logischen Sinne zu unterscheiden ist und ein generelles Schema
aufstellt, „das erst der Erfüllung mit bestimmten Werten bedarf, um den Charakter einer
Einzelaussage zu erhalten“ (ibd.). Er erkennt daher, dass innerhalb der Satzfunktion eine
strenge Korrelation, die Wechselbeziehung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen,
erhalten bleibt. Während Russell erklärt, „A propositional function in general will be true
for some values of the variable and false for others“,347 ist Cassirer jedoch der Meinung,
dass der Satzfunktion selbst weder Wahrheit noch Falschheit zukommt: „Eine solche
Satzfunktion intendiert zwar eine bestimmte Bedeutung, aber sie erfüllt sie noch nicht: sie
gibt keine feste und fertige Antwort, sondern stellt nur die Richtung der Frage fest.“ (PsF
III, 357). Hier spürt man auch, dass ‚Richtung‘ für Cassirer im Prozess zur höheren
Objektivitätsstufe eine wichtige Rolle spielt.
Die Irrungen in der logischen und erkenntnistheoretischen Theorie über das Wesen des
Begriffs gehen nach Cassirer darauf zurück, dass man ihn nicht als reinen Gesichtspunkt,
sondern als ein sichtbares Ding, als ein Etwas annahm. Die Nominalisten, die gegen den
Begriffsrealismus waren, behandelten die Sprache, das Wort oder den Laut, als eine
sekundäre Art des Daseins. Die Materialisten und Spiritualisten, die Realisten und
Norminalisten haben immer wieder den Fehler gemacht, in irgendeine Sphäre des Seins
zurückzugreifen, wenn sie den Sinn des Begriffs festzustellen suchten. So ist Cassirer der
346 Es scheint, dass Russell selbst die Satzfunktion nur erklärt, nicht definiert haben will, vgl. Russell(1903/1996), pp. 19 f.: „We may explain (but not define) this notion as follows: x is a propositionalfunction if, for every value of x, x is a proposition, determinate when x is given. Thus ‘x is a man’ is apropositional function. In any proposition, however complicated, which contains no real variables, wemay imagine one of the terms, not a verb or adjective, to be replaced by other terms: instead of ‘Socratesis a man’ we may put ‘Plato is a man’, ‘the number 2 is a man’ and so on. Thus we get successivepropositions all agreeing except as to the one variable term. Putting x for the variable term, ‘x is a man’expresses the type of all such propositions.“; vgl. Gross (1970), p. 72: „A propositional function is anexpression with a blank space or a variable in it, such that when the blank space is filled in with, or thevariable substituted for, with the right sort of thing, the result is a true proposition. [...] Russell usespropositional functions with variables instead of blank spaces; that is, he uses them like mathematicalfunctions. ‘x is rational’ expresses nothing until the proper expression is substituted for x. ‘Apropositional function standing all alone may be taken to be a mere schema, a mere shell, an emptyreceptacle for meaning, not something already significant.’“ (Gross zitiert Russell, Introduction toMathematical Philosophy, 1919, p. 157)
347 Russell (1903/1996), p. 20.
159
Ansicht: „Wer daher den Begriff selbst beg re i fen will – der darf ihn nicht gleich einem
Gegenstand g re i fen wollen“ (PsF III, 350). Cassirer hebt daher in PsF Platon im
Zusammenhang mit seiner Ablehnung des aristotelischen Begriffsrealismus an mehreren
Stellen hervor (vgl. PsF III, 349 f., 356, 407, 455).
„Der Inbegriff des Sichtbaren erforderte, um sich als Ganzes, als Totalität einesanschaulichen Kosmos konstituieren zu können, bestimmte Grundformen der»Sicht« — die, wenn sie sich an den sichtbaren Gegenständen auf we i s enließen, doch in keiner Weise mit ihnen ve r we chs e l t werden, die nicht selbstals sichtbare O bje k t e genommen werden durften. Ohne die Beziehungen derEinheit und Andersheit, der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, der Gleichheitoder Verschiedenheit kann die Welt der Anschauung keine feste Gestaltgewinnen: aber eben diese Beziehungen selbst gehören hierbei nur insofernzum Bestand dieser Welt, als sie die B ed i ngungen für ihn, nicht aber einenTe i l von ihm ausmachen.“ (PsF III, 350 f.)
Dieses Verhältnis finde seine Bewährung und Bestätigung, wenn man zu höheren Stufen
des Denkens und Begreifens fortschreite. Die Welt der reinen ‚Bedeutung‘ aber bringt zur
Welt der ‚Darstellung‘ nichts prinzipiell Fremdes hinzu, denn das Gegenstandsbewusstsein
im Bereich des natürlichen Weltbegriffs und das in der wissenschaftlichen Erkenntnis sind
nur graduell, nicht prinzipiell unterschieden (vgl. 3.2, 134; PsF II, 46 f.).
Durch die Analyse der verschiedenen Auffassungen der Begriffstheorie überzeugt sich
Cassirer davon, dass das Problem des Begriffs auf das von ‚Einem im Vielen‘ zurückgeht.
Das übergreifende Eine ist für ihn eine Denkform der Einheit der Beziehung. Diese
Grundform der Beziehung beherrscht nach der Überzeugung Cassirers die Gesamtheit des
Erkennens und errichtet in Gedanken das ‚Mögliche‘, in dem der Begriff begründet werden
muss. So sollen sich ‚Begreifen‘ und ‚Beziehen‘ als Korrelata, als echte Wechselbegriffe
erweisen, und diese Korrelation soll als die reine Form des Gedankens, was auch immer
der Inhalt des Gedachten sein wird, unberührt bleiben.
Die Analyse der Wahrnehmung und die der anschaulichen Erkenntnis im Bereich der
Darstellungsfunktion zeigen, dass der Übergang von der ‚Präsenz‘ zur ‚Repräsentation‘
gefordert und innerhalb bestimmter Grenzen vollzogen ist. Aber die Begriffsfunktion soll
keinen Bruch in das Ganze der Erkenntnis bringen:
„sie führt nur eine Grundtendenz weiter, die sich schon in den ersten Stufen dersinnlichen Erkenntnis, des wahrnehmenden Wissens wirksam erwies. Und ineben dieser Weiterführung vollzieht sich nun erst die eigentliche Beglaubigungund Rechtfertigung dieser Tendenz.“ (PsF III, 359)
160
Die Funktion der Repräsentation bedeutet auch für Cassirer im Grunde genommen das
Meinen eines Allgemeinen im Einzelnen: „Der geistige Grundakt der »Repräsentation«,
des Meinens eines »Allgemeinen« im Einzelnen, kann niemals dadurch verstanden werden,
daß man ihn in Teile zerlegt und ihn gewissermaßen in diese zerbricht.“ (PsF III, 366) Das
Problem der Repräsentation wird im Abschnitt 3.5 im Zusammenhang mit der
symbolischen Prägnanz eingehender behandelt.
Der Begriff soll zuerst die gestaltenden Momente für sich herausstellen und diese Momente
für die Gedanken fixieren. Er stellt eine bestimmte Richtung und eine bestimmte Norm des
discursus auf, er gibt den ‚Gesichtspunkt‘ an, unter dem eine Mannigfaltigkeit von
Inhalten, gleich ob sie der Wahrnehmung, der Anschauung oder dem reinen Denken
angehören, gefasst und somit zusammengesehen wird. Wenn die Erkenntniskritik die
Einheit des Bewusstseins für das Erkennen überhaupt voraussetzt, so sieht Cassirer es als
eine Aufgabe der kritischen Philosophie an, darin die Einheit oder die konkrete
Allgemeinheit des Begriffs zu suchen, die durch Korrelation des Allgemeinen und des
Besonderen zu gewinnen ist. Der Begriff bedeutet für ihn, dass er „nicht sowohl ein
gebahnter Weg ist, in dem das Denken fortschreitet, als er vielmehr eine Methode, ein
Verfahren der B ahnung s e lb s t bildet“ ( PsF III, 356).
3.3.5. Das erste und zweite Allgemeine bei Lotze
Cassirer unterscheidet in Anlehnung an Hegel „abstrakte Allgemeinheit“ und „konkrete
Allgemeinheit“.348 Die Allgemeinheit des Gattungsbegriffs wird als abstrakte
Allgemeinheit bezeichnet: „Abstrakte Allgemeinheit kommt der Gattung zu, sofern sie, an
und für sich gedacht, alle Artunterschiede fallen läßt; konkrete Allgemeinheit dagegen dem
Gesamtbegriff, der das Besondere aller Arten in sich aufnimmt und es nach einer Regel
entwickelt.“ (SuF, 26) Er sieht in diesem Zusammenhang, wie schon im Kapitel 2 erwähnt,
die Zahlbegriffe und die mathematische Formel als beste Beispiele an. Dass der
Funktionsbegriff in SuF die konkrete Allgemeinheit darstellt, erklärt Cassirer mit
folgenden Worten: „Denn der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das allgemeine
Schema und das Vorbild, nach welchen der moderne Naturbegriff in seiner
348 Vgl. Hegel (SA), Bd. 6, Wissenschaft der Logik II, S. 295: „Der Begriff ist das Konkrete und Reichste“,Bd. 8, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, § 164, S. 313: „Der Begriff ist dasschlechthin Konkrete“, Bd. 9, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, § 376, S. 537: „diekonkrete Allgemeinheit“.
161
fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat“ (SuF, 27). Diese
Erklärung kann man auch für die Rechtfertigung seines Funktionsbegriffs als
Allgemeinbegriff halten.349 Sein Gedanke der Allgemeinheit ist, wie bereits im Abschnitt
1.3 erwähnt, an Lotze angelehnt.350 Cassirer bezieht sich sowohl in SuF als auch in PsF auf
Lotzes Kritik an der Abstraktionstheorie und zitiert dessen Beispiele zum aristotelischen
Gattungsbegriffs, wobei Lotze das traditionelle Verfahren der Subsumption kritisiert und
das erste und zweite Allgemeine darstellt (vgl. SuF, 8, 27 f.; PsF I, 252-255; PsF III, 135).
In PsF hebt Cassirer im Rahmen seiner Kritik an der Rolle der allgemeinen Vorstellung in
der traditionellen Logik besonders Lotze hervor, da dieser unter den moderen Logikern das
Verhältnis der Formung der Eindrücke zu Vorstellungen am schärfsten erfaßt habe. Denn
die entscheidende Leistung des Begriffs ist nicht „die Vergleichung der Vorstellungen und
ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen, sondern die Formung der Eindrücke zu
Vorstellungen“ (PsF I, 252).351
Im Folgenden soll das erste und zweite Allgemeine bei Lotze skizziert werden, um ihre
Bedeutung für die Cassirersche Theorie der Allgemeinheit zu verdeutlichen.
Für Lotze erfüllt die Allgemeinheit des Gattungsbegriffs eine notwendige aber keine
hinreichende Bedingung für Begriffe.352 Die gewöhnliche Abstraktionstheorie der
Weglassung der Merkmale ist nach Lotze im wirklichen Denken anders; Merkmale werden
nicht einfach weggelassen, sondern sie werden durch allgemeine Merkmale ersetzt:
„Man nennt Abstraction das Verfahren, nach welchem das Allgemeinegefunden wird, und zwar, wie man angibt, durch Weglassung dessen, was inden verglichenen Sonderbeispielen verschieden ist, und durch Summirungdessen, was ihnen gemeinsam zukommt. Ein Blick auf die wirkliche Praxis desDenkens bestätigt diese Angabe nicht. Gold Silber Kupfer und Blei sind anFarbe Glanz Gewicht und Dichtigkeit verschieden; aber ihr Allgemeines, daswir Metall nennen, finden wir nicht dadurch, daß wir bei ihrer Vergleichungdiese verschiedenen Merkmale ohne einen Ersatz einfach weglassen. [...] Inallen diesen Fällen entsteht mithin das Allgemeine nicht durch einfacheHinweglassung der verschiedenen Merkmale p1 und p2, q1 und q2, die in denverglichenen Einzelfällen vorkommen, sondern dadurch, daß an die Stelle derWeggelassenen die allgemeinen Merkmale P und Q eingesetzt werden, deren
349 Vgl. Ihmig (1997a), S. 258: Ihmig hat schon das Verhältnis vom Allgemeinen und Besonderen desBegriffs als Problemstellung in der Begriffstheorie Cassirers hervorgehoben. Er ist der Ansicht, dass dasVerhältnis von Allgemeinem und Besonderem das Bindeglied in sachlicher Hinsicht zwischen CassirersTheorie des Begriffs und seiner Theorie des Symbols sein kann vgl. Ihmig (1993d), S. 180.
350 Lotze (1843/1989).351 Vgl. auch PsF I, S. 252: „Seine [Lotzes] Lehre vom Begriff geht davon aus, daß die ursprünglichste
Denkhandlung nicht in der Verknüpfung zweier gegebener Vorstellungen bestehen könne, sondern daßdie logische Theorie hier noch einen Schritt weiter zurückzugehen habe.“
352 Vgl. Ihmig (1993d), S. 184.
162
Einzelarten p1, p2 und q1, q2 sind.“ 353
Die allgemeinen Merkmale P und Q sind nach Lotze das erste Allgemeine und diese
Merkmale fallen uns „ohne logische Arbeit lediglich als beobachtbare Erzeugnisse unseres
Vorstellungslebens“ zu, und „deswegen können sie nun als Bausteine für die Bildung des
zweiten Allgemeinen verwendet werden“, welches durch eine logische Arbeit erzeugt
wird.354 Die Vorstellung heißt bei Lotze das Vergegenständlichen der Empfindung. Lotze
will in Übereinstimmung mit „dem gewöhnlichen Sprachgefühl und nebenbei mit den alten
Bestimmungen des Aristoteles“ dasjenige Allgemeine, das noch ein Bild gewährt, eine Art
nennen, und die Allgemeinen, die eine Formel möglich machen, eine Gattung.355 Die
gewöhnliche Erklärung mit dem gewöhnlichen Sprachgefühl von Inhalt und Umfang lautet:
Inhalt des Begriffs S ist „die Summe der Einzelvorstellungen oder Merkmale a, b, c, d ...,
durch welche S vollständig gedacht und von jedem anderen Begriffe Σ unterschieden
wird“. Umfang ist „die Anzahl der Einzelbegriffe s1, s2, s3 ..., in deren jedem der Inhalt von
S, also die Merkmalgruppe a, b, c, d..., in irgendeiner ihrer möglichen Modificationen
enthalten ist“.356
In der Bildung des Allgemeinen des Begriffs aber kommt das Verhältnis von Inhalt und
Umfang in der traditionellen Abstraktion nur reziprok vor. Daher meint Lotze, von dem
wahren Allgemeinbegriff ließe sich behaupten, „daß sein Inhalt allemal ebenso reich, die
Summe seiner Merkmale ebenso groß ist, als die der Arten selbst“.357 Er will daher die
Gattung G, die allgemeine Merkmale A B C ... darstellt, durch F [A B C] ersetzen, und
nimmt an, jedes der Merkmale lasse Einzelformen, a1 a2 a3 ..., b1 b2 b3 ..., c1 c2 c3 ... zu. Die
Verbindungsform F soll sich dann in einem Spielraum veränderlicher Gestaltungen
bewegen.
Die Gliederungsweise F des Ganzen ändert sich von einem ihrer Einzelfälle zu einem
anderen. Die Gesamtzahl der Arten von G kann wie folgt formuliert werden: G = f (a1 B
C ) + φ (a2 B C ) ...+ ζ (A b1 C) + λ (A b2 C) ..... und die a1 a2, b1 b2 sind in diesem Falle die
artbildenden Unterschiede, differentiae specificae.358 Diese Merkmale des Begriffs sind
nicht gleichwertig miteinander koordniert, sondern sie beziehen sich aufeinander, schreiben
einander verschiedenartige Anlagerungen vor und determinieren sich wechselseitig so.
353 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 40; vgl. SuF, S. 28.354 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 41. 355 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 49 f. 356 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 43.357 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 51.358 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 52.
163
Lotze ist der Ansicht, dass das natürliche Denken nur in der Vergleichung von Einzelfällen
das Allgemeine findet. Dies erläutert er wie folgt: „Die Natur des Allgemeinen S, des
Metalls beherrscht die Natur seiner Arten, des Goldes und Kupfers, vollständig, und keine
Eigenschaft der letzteren entzieht sich ihrem bestimmenden Einfluss.“359 Gelb oder Rot
sind die Farben von Vielen, aber das Gelb und Rot des Goldes und Kupfers kommt
Metallen allein zu:
„dehnbar ist vieles, aber Größe und sonstige Eigenthümlichkeit derDehnbarkeit, wie sie Gold und Kupfer zeigen, ist nur bei Metallen erhört; nurdie Metallität endlich erklärt die Höhe des specifischen Gewichts. Ebensobestimmt das Allgemeine Thier jede Eigenschaft und jede Regung dessen, wasseine Art ist: das Thier bewegt sich anders wächst anders und ruht anders alsdie Pflanze und das Leblose. Versinnlichen wir das Allgemeine Metall durcheinen Kreis S, so liegt der kleinere Kreis s1 des Goldes völlig in Seingeschlossen; neben ihm, getrennt von ihm, aber ebenso ganz innerhalb desS, die Kreise s2 Kupfer, s3 Silber.“360
Er will dieses Verhältnis einer Unterordnung unter das maßgebende Allgemeine als
Subordination unter die Gattung bezeichnen und dagegen die Unterordnung des Goldes
unter das Gelb oder das Dehnbare als die Subsumption unter das Merkmal.361
Obschon Lotze behauptet, dass das zweite Allgemeine durch logische Arbeit erzeugt wird,
zweifelt er jedoch an der logischen Arbeit selbst. Denn die logische Arbeit kann auch nicht
deutlich machen, ob die Eindrücke Arten des Allgemeinen sind, oder „was eigentlich ein
Allgemeines und die Beziehung seines Besonderen zu ihm sagen will.“362 Daher betont er
bei der Bildung des zweiten Allgemeinen die Beziehungen von Denktätigkeiten. Er hebt
ausdrücklich hervor,
„daß auf der unmittelbaren Anschauung eines ersten Allgemeinen und auf derAnwendung irgend welcher Größenvorstellungen die Bildung dieses zweitenAllgemeinen in allen Fällen beruht, nicht blos da, wo die Merkmale, wie diedes Metalls, Farbe Glanz und Härte, sich ungezwungen als ruhendeEigenschaften des Bezeichneten fassen lassen, sondern auch da, wo sie, wieFortpflanzungs- und Bewegungsfähigkeit des Thieres, nur kurze adjectivischeBezeichnungen von Verhaltungsweisen sind, die wir vollständig nur durchvielfache Beziehungen zwischen mancherlei Beziehungspunkten denkenkönnen.“363
359 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47; Ihmig (1993d), S. 184. 360 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47 f.361 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 48.362 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 42.363 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 42.
164
Zwei Beziehungspunkte werden nur durch die verschiedenen Größen oder Grade, wie zum
Beispiel der Farbe, des Dehnbaren etc., also durch die verschiedenen Modifikationen
verglichen, aber die Beziehung ist ein und dieselbe allgemeine Beziehung. So erzeugt für
Lotze der Vergleich der einzelnen Menschen ein allgemeines Bild, aber im Sinne der
naturgeschichtlichen Abbildungen; „oder in dem Sinne der Geometrie, die durch ein
gezeichnetes Dreieck, obgleich es immer nur ein einzelnes sein kann, neben dem es andere
gibt, doch alle diese andern, und zwar gleichfalls in anschaulicher Weise, mit vertritt.“364
So beinhaltet das Allgemeine S Metall die Verknüpfung gewisser Ordnungsschemata, die
ebenso in den besonderen Arten, s1 Gold oder s2 Kupfer erhalten bleiben. Somit kann das
Allgemeine einerseits als Erkenntnisgrund des Besonderen angesehen werden und
andererseits vertritt oder repräsentiert das Besondere das Allgemeine.365
Die Kritik an der traditionellen Abstraktionstheorie führt Lotze zu dem Ergebnis, dass er
statt der Subsumption die Subordination vorschlägt. Die Begriffspyramide des
Allgemeinbegriffs in der Abstraktion schließe mit einer einzigen Spitze, dem alles
umfassenden Begriff des Denkbaren.
Lotze ist der Ansicht, dass die Abstraktion auf der ‚geistlosen Subsumption‘ unter ein
Merkmal beruht, deren logischen Wert man kaum anerkennen kann. Unter das Merkmal
des Denkbaren fällt alles auf einmal und man kann sich daher die Mühe ersparen, zu
diesem Ergebnis durch eine pyramidale Stufenleiter empor zu steigen, zumal der Inhalt und
die Eigentümlichkeit des Gedachten in diesem Endglied völlig außer Betracht gelassen
werden:
„Folgen wir dagegen dem Verfahren der Subordination unter die Gattung undordnen wir das Mannigfache nur solchen Allgemeinheiten unter, welche denGedanken der allgemeinsten Regeln für die Eigenarten seiner Formung nochaufbewahren, so kommen wir nicht zu einem, sondern zu mehreren aufeinander nicht zurückführbaren Endbegriffen, in denen wir ohneUeberraschung dieselben Bedeutungen der Redetheile wiedererkennen“.366
Der logische Begriff ist nach Lotze eine Denkform, in der ihr Inhalt von irgendeinem
Standpunkt aus so aufgefasst wird, dass aus dieser Auffassung Folgerungen zu ziehen sind,
die an bestimmten Punkten wieder mit dem zusammentreffen, was aus diesem Inhalt selbst
fließt.367 Er will daher die gewöhnliche Erklärung des Begriffs von ‚Inhalt s‘, bei dem es
364 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 49.365 Vgl. Ihmig (1993d), S. 185.366 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 53 f.367 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 45.
165
sich eigentlich um die singularen Begriffe handelt, anders formulieren: „Ich nenne jeden
zusammengesetzten Inhalt s dann begrifflich gefasst oder Begriff, wenn zu ihm ein
Allgemeines S mitgedacht wird, welches den bedingenden Grund für das Zusammensein
aller seiner Merkmale und für die Form ihrer Verknüpfung enthält“.368 ,Ein Allgemeines S
mitgedacht wird‘ bedeutet somit die Vorstellung von Inhalt s, „die durch Mitdenken des
allgemeinen S zum Begriff erhoben wird“.369
Es stellt sich hier die Frage, ob sich diese Theorie von Lotze rechtfertigen lässt; deren
Beantwortung soll aber nicht Bestandteil dieser Arbeit sein. Entscheidend ist, dass dieser
Allgemeinbegriff oder das zweite Allgemeine bei Lotze als konkrete Allgemeinheit
bezeichnet werden kann, die Cassirer sucht.
Cassirer ist der Ansicht, dass die primäre Aufgabe der Begriffsbildung nicht auf die
Aufgabe der traditionellen Logik, wie man gewöhnlich annimmt, auf „die Vorstellung zu
immer größerer A l lge me inhe i t “, sondern auf die wachsende Bestimmtheit gerichtet
sein muss: „Sofern vom Begriff ‚Allgemeinheit‘ verlangt wird, so ist sie doch nicht
Selbstzweck, sondern sie dient nur als Vehikel, um zum eigentlichen Ziel des Begriffs,
zum Ziel der Bestimmtheit zu gelangen.“ (PsF I, 252) So interpretiert er das erste
Allgemeine bei Lotze als „Schlüssel für das Verständnis der ursprünglichen Form der
Begriffsbildung“, die in der Sprache waltet (PsF I, 254). An anderer Stelle heißt es:
„Das ,erste Allgemeine ‘ gewinnt seine eigentliche Sicherung erst dadurch, daßes in der Sprache seinen Halt und seinen festen Niederschlag findet. Es istgleichsam eine neue Potenz und eine neue Dimension der Besinnung, zu dersich das Bewußtsein hier, unter Leitung der Sprache, erhebt. Das mannigfaltig-Verstreute sammelt sich nicht nur, sondern es tritt zu selbständigen undeigentümlichen Gebilden, zu Gebilden höherer Ordnung, zusammen.“ (PsF III,135)
Damit wird deutlich, dass das erste Allgemeine im Bereich des natürlichen Weltbegriffs,
nämlich in der sprachlichen Begriffsbildung dargestellt werden kann.370
368 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 44; vgl. Ihmig (1993d), S. 184.369 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 44; vgl. Funktionsbegriff bei Lotze, Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47.370 Vgl. Peters (1983), S. 109-115. In Peters’ Schrift Cassirer, Kant und Sprache dient als Ausgangspunkt
eine ‚neuartige‘ Bestimmung (die von Kuno Lorenz angedeutet worden ist) des Verhältnisses vonPsychologie und Sprache, und dabei ist der Terminus ‚Vorstellung‘ ein Schlüsselbegriff. Er schließt anCassirers Problemstellung der Aphasie (PsF III, Zweiter Teil, Kap.VI) an und betont, dass Cassirer dasProblem bei der Aphasie als eine ‚Symbolpathologie‘ erkennt: „Cassirer deutet die Symbolpathologieals ‚Verlust‘ der Schemata von Raum, Zeit und Zahl, so daß anläßlich der Aphasie als einer Sprach-Störung die Schemata stillschweigend nicht mehr ‚vermögenspsychologisch‘ sondern sprach-logischgedeutet werden.“ (Peters, 1983, S. 28). Damit meint Peters, dass Cassirer den Boden der Sprache alsMedium des ‚Vorstellens‘ betreten habe. Von diesem Gesichtspunkt aus interpretiert Peters Cassirers‚Erstes‘ und ‚Zweites‘ Allgemeine als Gegenstandsschema und Sprachschema. Seiner Ansicht nach wirdein Gegenstandsschema durch ‚Einzelinhalte‘ als Prae-Handlungen das ‚Erste‘ Allgemeine erfüllen, und
166
Von Cassirers Standpunkt aus gesehen, hat Lotzes Auffassung die Konsequenz, dass es
anstelle der zwei Leistungen des Begriffs nun zwei Formen des Allgemeinen gibt:
„statt die Forderung der Bestimmung, die der Begriff stellt, scharf undprinzipiell von der Forderung der Allgemeinheit abzutrennen, werden ihm[Lotze] die primären Bestimmtheiten, zu denen der Begriff hinführt, selbstwieder zu primären Allgemeinheiten, so daß es nun für ihn, statt zweicharakteristische Leistungen des Begriffs, vielmehr zwei Formen desAllgemeinen: ein ,erstes‘ und ein ,zweites‘ Allgemeine gibt.“ (PsF I, 255)
Cassirer betont aber dennoch, dass das erste und das zweite Allgemeine bei Lotze nur den
Namen miteinander gemein haben, sich jedoch in ihrer eigentümlichen logischen Struktur
deutlich voneinander unterscheiden. Denn das Verhältnis der Subsumption, das die
traditionelle Logik als konstitutive Beziehung ansehe, durch die das Allgemeine mit dem
Besonderen, die Gattung mit den Arten und Individuen zusammenhänge, sei auf die
Begriffe, die Lotze als das ‚erste Allgemeine‘ bezeichne, nicht anwendbar.
Wie bereits erwähnt, wird das zweite oder das charakteristische Allgemeine, jedoch im
Unterschied zu Lotze als Forderung des Begriffs, im Bereich des wissenschaftlichen
Weltbegriffs dargestellt. Diese Ansicht Cassirers hängt damit zusammen, dass das Zeichen
im Bereich des natürlichen Weltbegriffs, anders formuliert, im Bereich der
Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion, nur ,Sprachbegriffe‘ bilden kann. Wie
die Erörterung der Funktion des Zeichens zeigen wird, hat die sprachliche Begriffsbildung
in diesem Bereich ihre Grenze (vgl. 3.4.2) Die reinen Bedeutungszeichen im Bereich der
Bedeutungsfunktion oder die Begriffszeichen stehen im Cassirerschen Sinne für ‚Begriffe‘,
die wiederum intellektuelle Symbole sind, und in diesem Bereich kann das zweite oder
charakteristische Allgemeine dargestellt werden. Damit wird auch deutlicher, dass die
‚Entstofflichung‘ des Zeichens für die Begriffstheorie eine entscheidende Rolle spielt.
„‚anschauliche Vorstellungen‘ – als Zeichen – erfüllen ein Sprachschema oder einen ‚Begriff‘ als‚Zweites Allgemeines‘“ (Peters, 1983, S. 113). Hier stellt Peters das Sprachschema und den Begriff aufeine Ebene. In diesem Fall kann der Begriff, mit Cassirer gesprochen, ein Sprachbegriff oderWortzeichen in der Dimension der Darstellungsfunktion bedeuten (vgl. 3.5.1).
167
3.4. Zeichen als Bedeutungsträger
3.4.1. Zeichen im natürlichen Weltbegriff
Cassirer versucht, wie bereits erwähnt, in PsF durch die Funktion des Symbols und die des
Zeichens die Objektivität der Gegenstandswelt zu gewinnen. In seiner Begriffstheorie
wandelt sich das Zeichen vom Bereich der Ausdrucksfunktion aus über den Bereich der
Darstellungsfunktion bis hin zum Bereich der Bedeutungsfunktion, in dem es zum reinen
Bedeutungszeichen und zugleich Begriffszeichen wird. Diese Einsicht Cassirers bezüglich
der Zeichen kann man auch schon in SuF erkennen: „Innerhalb der metaphysischen Lehren
ist es die ‚Vorstellung‘, die auf den Gegenstand, der hinter ihr steht, hinweist. Das
‚Zeichen‘ ist somit hier von gänzlich anderer Natur, als das Bezeichnete und gehört einem
anderen Bereich des Seins an.“ (SuF, 373). An einer anderen Stelle heißt es:
„Um die Operation des Ausdrucks rein hervortreten zu lassen, muß der Inhalt,der als Zeichen dient, mehr und mehr seines Dingcharakters entkleidet werden;damit aber scheint zugleich die objektivirende Bede u tung , die ihmzugesprochen wird, ihren Halt und ihre beste Stütze zu verlieren. So droht dieTheorie der Repräsentation immer von neuem der Skepsis zu verfallen: dennwelche Gewißheit besteht dafür, daß das Symbo l des Seins, das wir inunseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälschtwiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen?“ (SuF,376)
Man kann durchaus vorweg konstatieren, dass Cassirer bewusst versucht hat, in PsF die
Funktion des Zeichens als einen der Hauptpunkte seiner Begriffstheorie darzustellen. In der
folgenden Problembeschreibung wird deutlich, dass das Bedeutungsproblem mit der
Funktion des Zeichens eng verknüpft ist: „Denn unsere Frage sollte nicht auf das logische
Bedeutungsproblem, noch auf das erkenntniskritische Problem als solches gerichtet sein,
sondern beide nur in ihrer Beziehung zu einem Dritten, zum Problem des Zeichens und der
Bezeichnung, erfassen.“ (PsF III, 383) So bleibt zu klären, was das Zeichen im Bereich des
natürlichen Weltbegriffs und was das reine Bedeutungzeichen im Bereich des
wissenschaftlichen Weltbegriffs ausmacht.
Cassirer hat, wie bereits erwähnt, in PsF im Zusammenhang mit Zeichen mehrere
Ausdrücke verwendet, so zum Beispiel reine ‚Bedeutungszeichen‘, ‚Zeichensprache‘,
‚Wortzeichen‘, ‚Begriffszeichen‘, ‚sinnliche Zeichen‘ ‚symbolische Zeichen‘ und
‚Zahlzeichen‘. Damit ist zum einen unverkennbar, dass es sich hier um mehrere
168
verschiedene Zeichen handelt, zum anderen ist die Notwendigkeit gegeben, sich mit seiner
Zeichentheorie zu beschäfigen, um diese Benennungen des Zeichens genauer verstehen zu
können.
Cassirer erklärt die Konzeption seiner Zeichentheorie wie folgt:
„Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelleForm wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, derensie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischenÜberblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zugewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie derenbesondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damitdas Ideal der ‚allgemeinen Charakteristik‘, wie Leibniz es für die Erkenntnisaufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt.“ (PsF I, 18 f.)
Damit wird deutlich, dass er versucht, das Ideal der ‚allgemeinen Charakteristik‘ Leibniz’
zu erweitern, das heißt, dass er sie nicht erst im Bereich der wissenschaftlichen
Begriffsbildung, sondern bereits im Bereich des natürlichen Weltbegriffs einsetzen will.
„Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich [...] eine neue Form der
Wechselbeziehung und der Korrelation.“ (PsF I, 19) Die ‚reine Funktion‘ des Geistigen
muss aber selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen und allein hier diese finden.
Damit kann auch der metaphysische Dualismus zwischen dem ‚Sinnlichen‘ und ‚Geistigen‘
überbrückt werden.
Es scheint für Cassirer bei seiner Zeichentheorie auch die Grundansicht Hilberts wichtig zu
sein,371 nach der die sinnlich-anschaulichen Zeichen den mathematischen Gegenstand
bilden und nicht die Zahlen oder Größen. So werden bei Hilbert die Zeichen selbst
Gegenstand der Zahlentheorie.372 Die sinnlich-anschaulichen Zeichen sollte man aber nach
Cassirer nicht vom Standpunkt des ‚Intuitionismus‘ aus betrachten, denn wenn man die
Voraussetzung von Hilberts System verstehe, schwinde die Annahme, Hilbert für einen
Intuitionisten zu halten. Cassirer interpretiert die Anschauung bei Hilbert auch als eine, die
eine aktive Rolle spielt, das heißt, dass sie eine Art des ‚Gebens‘, nicht eine Art der
371 Vgl. PsF III, Dritter Teil, Kap. IV, 3. Die Stellung des Zeichens in der Theorie der Mathematik; vgl.auch PsF III, S. 378. Cassirer hebt auch die Zeichentheorie Helmholtz’ hervor.
372 Cassirer zitiert Hilberts Neubegründung der Mathematik (Abh. aus dem Math. Seminar derHamburgischen Universität I, 1922, S. 162), hier PsF III, S. 443: „Indem ich diesen Standpunkteinnehme [...] sind mir, im genauen Gegensatz zu Frege und Dedekind, die Gegenstände derZahlentheorie die Zeichen selbst, deren Gestalt unabhängig von Ort und Zeit und von den besonderenBedingungen der Herstellung des Zeichens sowie von geringfügigen Unterschieden in der Ausführungsich von uns allgemein und sicher wiedererkennen läßt. Hierin liegt die feste philosophische Einstellung,die ich zur Begründung der reinen Mathematik, wie überhaupt zu allem wissenschaftlichen Denken,Verstehen und Mitteilen, für erforderlich halte: a m A n f a n g [...] i s t d a s Z e i c h e n . “ Diese Stellezitiert Cassirer auch in SP, S. 297.
169
‚Gegebenheit‘ ist. So kann man nach Cassirer die Zeichen bei Hilbert wie folgt verstehen:
„Zwar können auch die Zeichen in Hilberts symbolischer Mathematik nichtschlechthin als singuläre Dinge verstanden werden, die lediglich durch eineneinfachen Akt des Hinweisens, als ein »Dies« und »Das« [...] aufzeigbar sind.Denn sie können in gewissen Bestimmungen — z. B. nach dem Material, ausdem sie gebildet sind, nach ihrer Farbe, ihrer Größe usf. — in weitem Maßevariieren, ohne darum aufzuhören, »dieselben« Zeichen zu sein. An sichverschiedene sinnliche Inhalte können also als das »gleiche« Zeichenfungieren“. (PsF III, 444)
Dabei ist das mathematische Denken nicht darauf angewiesen, „den Zeichen irgendeine
abstrakte »Bedeutung« zu substituieren, sondern darauf, daß es sich an ihnen, als konkret-
anschaulichen Gebilden, festhält und sich vermittelst dieser Gebilde auf seinem Wege
orientiert“ (PsF III, 444 f.).
Vor diesem Hintergrund sollte man nun auf die Funktion der Zeichen in der Philosophie
der symbolischen Formen näher eingehen.
Die Zeichen bei Cassirer unterscheiden sich zunächst durch ihren Gebrauch. So steht das
Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion für den Ausdruckssinn der Eigennamen oder
Gegenstände in der Art des sinnlichen Zeichens und im Bereich der Darstellungsfunktion
für den Darstellungssinn der Repräsentanten in einer Art von Sprachform oder
Wortzeichen. Im Bereich der Bedeutungsfunktion steht das Zeichen für das reine
Bedeutungszeichen, wie zum Beispiel das mathematische Zeichen. Es stellt sich hier die
Frage, wie das sinnliche Zeichen für den sinnlichen Einzelinhalt der Wahrnehmung zu
einem Bedeutungszeichen in der wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht werden kann.
Die ursprüngliche und entscheidende Leistung des Begriffs ist nach Cassirer nicht „die
Vergleichung der Vorstellungen und ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen“,
sondern „die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen“ (PsF I, 252).373 Im Prozess der
Formung der Eindrücke zu Vorstellungen wird im Bereich des natürlichen Weltbegriffs
Wortzeichen oder ‚Sprache‘ gebraucht. Cassirer definiert das Zeichen im Bereich des
natürlichen Weltbegriffs als das, was „für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten
Beleg der Objektivität“ bildet, und dies geschieht, „weil durch dasselbe zuerst dem stetigen
Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und
herausgehoben wird“ (PsF I, 22). In diesem Wechsel der inhaltlichen Qualitäten behauptet
das Bewusstsein die Einheit seiner selbst, und durch einen logischen Akt der Setzung und
373 Cassirer verweist auf Lotze, vgl. 3.3.5.
170
Unterscheidung können die Sinneseindrücke im Fluss des Bewusstseins angehalten
werden.
Auch der Inhalt, der mit dem Zeichen verknüpft wird, gewinnt in sich selbst einen neuen
Bestand und eine neue Dauer: „Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen
Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle B edeu t ung zu, die
als solche beharrt.“ (PsF I, 22) Und dadurch stellt das Zeichen das erste Allgemeine dar:
„Es [das Zeichen] ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell
Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen
Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes ‚Allgemeines‘
darstellt.“ (ibd.)
An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass das Zeichen bei Cassirer im Bereich des
natürlichen Weltbegriffs oder in der sprachlichen Begriffsbildung nur das erste Allgemeine
darstellen kann. Dies ist, wie bereits im vorherigen Abschnitt gezeigt, an Lotzes Logik
angelehnt.374 Cassirer greift Lotzes Unterteilung auf und verwendet gemäß der Stufen der
Objektivität das erste Allgemeine und das charakteristische Allgemeine (vgl. 3.3.5). Das
charakteristische Allgemeine, in Aufnahme von Leibniz Characteristica generalis, das bei
Lotze noch das zweite Allgemeine genannt wird, tritt bei Cassirer in der wissenschaftlichen
Erkenntnis, im Bereich der Bedeutungsfunktion, auf.
Die Form der anschaulichen Wirklichkeit baut sich durch ein Verhältnis der ‚Mitsetzung‘
zwischen den Momenten auf. Wenn ein Moment bei der Setzung von Merkmalen als
Repräsentant des Ganzen genommen wird, verliert der Inhalt nicht seine Einzelheit und
nicht seine Besonderheit, sondern erhält damit eine neue allgemeine Form aufgeprägt.
Cassirer expliziert das soeben Gesagte wie folgt:
„Jetzt erst fungiert er [der Inhalt] als ,Merkmal‘ im eigentlichen Sinne: er istzum Zeichen geworden, das uns in den Stand setzt, ihn, wenn er erneut vor unshintritt, w iede r zue r kennen . Dieser Akt der ,Rekognition‘ ist notwendig andie Funktion der ,Repräsentation‘ gebunden und setzt sie voraus. Nur dort, woes gelingt, eine Totalerscheinung in eines ihrer Momente gleichsamzusammenzudrängen, sie symbolisch zu konzentrieren, sie im Einzelmomentund an ihm prägnant zu ,haben‘[...] ― nur dort haben wir sie aus dem Stromedes zeitlichen Werdens heraus. [...] Alles was wir die ,Identität‘ von Begriffenund Bedeutungen, oder was wir die ,Konstanz‘ von Dingen und Eigenschaftennennen, wurzelt in diesem Grundakte des Wiederfindens. So ist es einegemeinsame Funktion, die auf der einen Seite die Sprache, auf der anderenSeite die spezifische Gliederung der anschaulichen Welt erst ermöglicht.“ (PsFIII, 133)
374 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 41 f.
171
Anhand dieser Erläuterung kann man zunächst festhalten, dass die Funktion des Zeichens
in erster Linie darin besteht, Merkmale wiedererkennen zu können. Das Zeichen ist dem
Inhalt, auf den es sich bezieht, nicht hinzuzufügen, sondern es soll den Inhalt seinem reinen
Bestand nach festhalten und diesen wiederholen.
Das sinnliche Zeichen, das innerhalb der Definition der symbolischen Form verwendet
wird — ein geistiger Bedeutungsgehalt wird an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft
―, tritt allein in den Dimensionen der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion,
nämlich im Bereich des natürlichen Weltbegriffs auf.375 Detlev Pätzold nennt unter den
„einzelnen konkreten sinnlichen Zeichen“ als Beispiele „eine Geste, ein Lautzeichen oder
ein artifizielles, theoretisches Begriffszeichen“.376 Man sollte aber tunlichst vermeiden,
Begriffszeichen wie in Pätzolds Beispiel zu verstehen, denn ein Begriffszeichen gehört
dem Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs an und kann daher nicht unter die
sinnlichen Zeichen eingeordnet werden. Cassirer betont auch, dass „der Akt der
begrifflichen Bestimmung eines Inhalts [...] mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem
charakteristischen Zeichen Hand in Hand“ geht (PsF I, 18). Wenn Cassirer es gewollt hätte,
hätte er es schon als Begriffszeichen oder reines Bedeutungszeichen bezeichnen können:
Der „Schritt von der Stoffprobe zum echten Zeichen und die prinzipielleA bl ösba rke i t des Zeichens von den Dingen, für die es als Zeichen fungiert,macht erst die Besonderheit und den charakteristischen Sinn und Wert dermenschlichen Sprache aus. Und eben diese beiden Momente sind es nun auch,auf denen der weitere Fortgang: der Fortgang von den »Wortzeichen« derSprache zu den reinen »Begriffszeichen« der theoretischen Wissenschaftwesentlich beruht. In dieser letzteren ist vollendet, was in den ersterenbegonnen und angelegt war.“ (PsF III, 388)
Gelingt es einem zu verstehen, was Cassirer mit den reinen Bedeutungszeichen meint, —
sie haben „alles bloß-Ausdrucksmäßige, alles anschaulich-Repräsentative von sich
abgestreift“ (PsF III, 334) — wird die Funktion des sinnlichen Zeichens im Bereich der
Ausdrucks- und Darstellungsfunktion deutlicher. Die sinnlichen Zeichen sind, mag sein,
dass sie Lautsprache sind, anschauliche Repräsentanten, das heißt, ihr Bedeutungsgehalt
steht noch in Verbindung zur anschaulich-sinnlichen Welt, und sie werden im Bereich der
wissenschaftlichen Erkenntnis zu reinen Begriffszeichen.
375 Cassirer unterscheidet angelehnt an Edmund Husserl zwischen ‚anzeigenden‘ und ‚signifikativen‘Zeichen, vgl. PsF III, S. 377; vgl. 3.6.1.1 (S. 207).
376 Sandkühler/Pätzold (2003), S. 62.
172
3.4.2. Das Zeichen und die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung
Den Verlauf der Zeichenfunktion oder der Sprache schildert Cassirer im Aufsatz Das
Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie wie folgt:
So „geht die Sprache vom Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fort —und sie strebt von diesem beständig dem »dritten Reich«, dem Reich der reinenBedeutung zu. Sie bleibt nicht im Kreise des Anschaulich-Faßbaren stehen,sondern sie wagt es, nach dem Letzten und Höchsten im Reiche des Gedankenszu greifen.“ (SP, 305)
Wenn man dieses Zitat mit dem Verlauf der Zeichenfunktion vom Bereich der
Ausdrucksfunktion bis zur Bedeutungsfunktion vergleicht, so merkt man deutlich, dass
Cassirer Zeichen und Sprache einer Ebene zuordnet, denn er schildert hier den gleichen
Inhalt und wechselt dabei lediglich die Ausdrücke. Man stellt sich die Frage, warum
Cassirer überhaupt die Zeichen statt der Sprache oder Lautsprache in seiner Philosophie der
symbolischen Formen eingeführt hat. Der Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden
nachgegangen werden.
Die erste Leistung des Begriffs liegt nach Cassirer schon im Wahrnehmungsakt. Die
Bedeutung des Begriffs kann nicht zum Schluss der Begriffsbildung zugefügt werden,
sondern sie muss von Anfang an am Prozess der Begriffsbildung mitwirken und ihn
mitgestalten. Der Sinn des ersten Allgemeinen soll dabei nicht verloren gehen und mit dem
zweiten oder charakteristischen Allgemeinen zur reinen Bedeutung werden. Wie bereits
erwähnt, ist er der Ansicht, dass das logische Bedeutungsproblem und das
erkenntniskritische Problem „in ihrer Beziehung zu einem Dritten, zum Problem des
Zeichens und der Bezeichnung“ erfasst werden müssen (PsF III, 383). Somit wird das
Problem des Zeichens und der Bezeichnung zum systematischen Bestandteil der
Bedeutungsfunktion innerhalb seiner Begriffstheorie.
Cassirer hält es für unmöglich, das Bedeutungsproblem einfach als das Problem der
Bezeichnung zu betrachten und es aus ihm abzuleiten, denn die Bedeutung bleibt seiner
Meinung nach als ein ‚logisch-Wesenhaftes‘ erhalten und sie erweist sich als Kernpunkt
und Mittelpunkt, während die Bezeichnung ihr gegenüber an eine periphere Stelle gedrängt
wird. Das heißt aber auch, die Bedeutung wird doch vom Problem des Zeichens und der
Bezeichnung abgesondert, da der Gehalt des Begriffs in der modernen Logik als der eines
reinen Relationsgefüges betrachtet wird, und dadurch bleibt der sprachliche ‚Name‘
173
gegenüber dem ideellen ‚Sinn‘ dieses Gefüges ein Sekundäres, nämlich ein ‚Äußerliches‘
(vgl. PsF III, 383). Das Denken muss aus den anschaulichen Begriffen die sprachlichen
Begriffe hervorgehen lassen, und diese letzteren sollen in die Form des wissenschaftlichen
Begriffs umgeprägt werden (vgl. PsF I, 18 f.).
Cassirer kritisiert daher an einer Stelle, dass die Sprache den Ausdruck der logischen
Bestimmungen und Relationen nur in Bilder zu fassen sucht. Er nennt als Beispiel die
‚Kopula‘ des prädikativen Satzes und meint, dass in diesem Satz die Geltung der Relation
durch eine Existenzaussage ersetzt wird: „So wird die Sprache, wie durch einen inneren
Zwang, immer wieder dazu geführt, die Grenze zwischen »Essenz« und »Existenz«
zwischen dem begrifflichen »Wesen« und der anschaulichen »Wirklichkeit« zu
verwischen.“ (PsF III, 389) Obschon Cassirer das ‚Ist‘ der Kopula als „die reinste und
prägnanteste Ausprägung“ der Darstellungsfunktion bezeichnet377, erklärt er sie für die
‚reine Bedeutung‘ eher zum Hindernis.
Dies ist auch ein Grund dafür, warum Cassirer eine Grenze zwischen der sprachlichen
Begriffsbildung und der Begriffsbildung durch Begriffszeichen oder reine
Bedeutungszeichen zieht. Denn der Begriff soll von der anschaulichen Wirklichkeit sich
abheben und nicht den sprachlichen Bildern anhaften.378 Der Gebrauch des Zeichens soll
wie in der wissenschaftlichen ‚Terminologie‘ von allen einschränkenden sinnlichen
Bedingungen befreit werden (vgl. PsF III, 389). Dafür soll der Gedanke einerseits die
Zeichen als Zeichensprache oder Wortzeichen nutzen, die sich als ‚fertig-geprägte‘
darstellen, andererseits soll er sich selbst ,ein neues Organ‘ nämlich ein neues Zeichen
erschaffen, wenn er in eine neue Form eingetreten ist, wie es zum Beispiel im Übergang
vom Bereich der Darstellungsfunktion zu dem der Bedeutungsfunktion, besonders in der
mathematischen Naturwissenschaft, geschieht.
Durch die Funktion der Repräsentation kann sich die Welt der Sinne zu einer Welt der
Anschauung und der Vorstellung formen. Der Formungsprozess ist aber zunächst der
377 Vgl. Bermes (1997), S. 159. Bermes stützt sich bei der Erklärung der symbolischen Form der Spracheauf Cassirer, PsF III, S. 526 f.: Der „S a t z ist das eigentliche sprachliche Grundgebilde, ist das, worinsich die Form der sprachlichen »Aussage« vollendet. Und jeder reine Aussage-Satz schließt einebestimmte S e t z u n g in sich: er geht auf einen »objektiven« Sachverhalt, den er beschreiben undfesthalten will. Das »Ist« der Kopula ist die reinste und prägnanteste Ausprägung für diese neueDinmension der Sprache, für ihre reine »Darstellungsfunktion«“.
378 Vgl. PsF III, S. 527: „Alle sprachliche Darstellung bleibt an die Welt der A n s c h a u u n g gebunden undkehrt immer wieder zu ihr zurück. Anschauliche »Merkmale« sind es, die der Prozeß der sprachlichenBenennung herauslöst und die er festhält. Auch dort, wo die Sprache zu ihren höchsten, spezifisch-gedanklichen Leistungen fortschreitet, wo sie, statt Dinge oder Eigenschaften, Vorgänge oderHandlungen zu benennen, vielmehr reine Beziehungen und Verhältnisse bezeichnet, geht dieser reinsignifikative Akt über bestimmte Schranken der konkret-anschaulichen Darstellung zunächst nichthinaus. Immer wieder schiebt sich der logischen Bestimmung ein Bild, ein Schema der Anschauungunter.“
174
Materie des Sinnlichen verhaftet. Die Vorstellung, in der die Materie als reines Mittel der
Darstellung gebraucht wird, besteht noch aus demselben Stoff wie dem der Sinnenwelt.
Hieraus ergibt sich das Problem, dass sich der Blick des Geistes noch in den Einzelheiten
des Anschauungsbildes verfängt, anstatt „er dasselbe nur als Ausgangs- und
Durchgangspunkt, als Medium der »Bedeutung« nähme“ (PsF III, 385). Hier bringt die
Sprache eine Wendung, die sich von den unmittelbar-sinnlichen Inhalten, von den
anschaulichen ‚Allgemeinvorstellungen‘ zu den sprachlichen ‚Begriffen‘ vollzieht. Die
Sprache wird somit zum unentbehrlichen ‚Vehikel‘ des Gedankens. Das Wort allein schafft
im Cassirerschen Sinne nicht den Begriff, aber es bildet eines der wichtigsten Mittel für die
Ablösung des Begriffs vom unmittelbar Wahrgenommenen und Angeschauten. Dies
bezeichnet Cassirer als „Aktualisierung“ des Begriffs, das heißt, es ist der Beginn der
„Arbeit“ des Geistes, in der er sich seine Welt erst erringt und gestaltet (PsF III, 386). In
dieser Wende, im Bereich des natürlichen Weltbegriffs, setzt Cassirer Termini wie das
Wortzeichen oder den Sprachbegriff, anstelle des gewöhnlichen Sprachwortes, ein.
Die reinen Begriffszeichen im Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs unterscheiden
sich somit von den Worten der Sprache oder Wortzeichen dadurch, dass ihnen kein
anschaulicher Nebensinn anhaftet. Sie tragen an sich „keine sinnliche Farbe, kein
individuelles »Kolorit« mehr“. „Sie sind aus Mitteln des »Ausdrucks« und aus Mitteln der
anschaulichen »Darstellung« zu reinen Bede u tungsträgern geworden.“ (PsF III, 395)
Die Aufgabe der ‚Sprache‘ ist es, Bestimmungen und Unterschiede in der Vorstellung nicht
zu wiederholen, sondern die Bestimmungen und Unterschiede als solche erst zu setzen und
kenntlich zu machen. Daher spricht Cassirer wiederholt von der Setzung oder Mitsetzung
des Zeichens, in der die Grundfunktion des Bedeutens nur fixiert wird:
„Daß ein sinnlich-Einzelnes, wie es z.B. der physische Sprachlaut ist, zumTräger einer rein geistigen Bedeutung werden kann — dies wird zuletzt nurdadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vorder Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie indieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einenEinzelfall angewandt wird.“ (PsF I, 42)
Er erklärt auch, warum das Zeichen nur fixieren kann:
„Weil jeder Sonderinhalt des Bewußtseins in einem Netzwerk mannigfacherBeziehungen steht, kraft deren er in seinem einfachen Sein und seinerSelbstdarstellung, zugleich den H inwe i s auf andere und wieder andereInhalte in sich schließt, kann und muß es auch bestimmte Gebilde desBewußtseins geben, in denen diese reine Form des Hinweisens sich gleichsam
175
sinnlich verkörpert.“ (PsF I, 42)
Die Setzung des Zeichens kann aber nur durch die ‚Freiheit des geistigen Tuns‘ geschehen,
und dadurch wird es erst möglich, das ‚Chaos‘ der sinnlichen Eindrücke zu lichten. Durch
diese Setzung des Zeichens beginnt erst die Gestaltung dieser sinnlichen Eindrücke:
„Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in derSprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nachverschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daßdasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinemZuge mehr dem bloßen M a te r i a l gleicht, von dem sie anfänglichausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion derZeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaftdas geistige vom sinnlichen Bewußtsein.“ (PsF I, 43)
Darum meint Cassirer, die Auffassung der Repräsentation und der ,Bedingung ihrer
Möglichkeit‘ beherrsche und bestimme die Auffassung des Begriffs (PsF III, 362). Man
kann an dieser Stelle festhalten, dass das Zeichen eine zweigliedrige Funktion besitzt, die
einerseits für die sprachliche Semiotik steht, die mit der Bedeutungsfunktion des Zeichens
verbunden ist, und andererseits für die Symbolik, für die Fixierung des geistigen
Bedeutungsgehalts.
Wenn Cassirer der Ansicht ist, im Rahmen einer systematischen Bedeutungslehre lasse
sich die Begriffslehre zureichend begründen und vollständig aufbauen, so wird hier
deutlich, dass er im Grunde genommen mit der Funktion des Zeichens seine
Begriffstheorie zu begründen und aufzubauen versucht. Dies wiederum heißt, das Zeichen
trägt den Bedeutungsgehalt des Geistes, nämlich das Symbol. So kann man
zusammenfassen, dass in der Begriffstheorie Cassirers die Frage nach der Bedeutung des
Begriffs mit dem Zeichen oder der Zeichenfunktion verknüpft ist und die Frage nach der
Form des Begriffs mit dem Symbol oder der Symbolfunktion. So gesehen, ist die Form des
Begriffs eine symbolische Form. Dies lässt sich auch so interpretieren, dass Cassirer das
alte Problem von ‚Form und Materie‘ durch Symbol und Zeichen zu lösen versucht.
Ein weiterer Grund für die Einführung des Zeichens durch Cassirer lässt sich in der
Naturwissenschaft ausmachen, in der die Natur für das Denken als Gesetz mit einer
‚Formel‘ aufgenommen wird und in der sich jede Formel durch die Verknüpfung
„allgemeiner und spezifischer Zeichen“ (PsF I, 18) darstellen lässt:
„Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra
176
darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderesNaturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig dasGrundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immernur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf dasAllgemeine denken läßt.“ (ibd.)
Daher fordert Cassirer, dass diese Funktion des Zeichens nicht nur in der Wissenschaft,
sondern auch in allen anderen „Grundformen geistigen Schaffens“ (ibd.) ihre Anwendung
finden muss. Diese universellen Zeichen gehen einen doppelten Weg, das heißt, einerseits
fixiert das Zeichen den geistigen Bedeutungsgehalt und andererseits fügt es die Bedeutung
des Symbols in den weiteren Verlauf der Begriffsbildung ein. Das Denken schafft dabei ein
neues Zeichen für die neue Bedeutung, und so weiter. Wie diese Symbole und Zeichen
parallel die drei Bereiche durchlaufen sollen, hat Cassirer nicht deutlich geklärt. Nicht
zuletzt deshalb wird an diesem Punkt Kritik geübt, wie zum Beispiel von van Heusden, der
diesen Zwiespalt, also den zwischen Symbolfunktion und Zeichenfunktion, vom
Standpunkt der Semiotik aus kritisiert. Angelehnt an Umberto Eco ist er der Meinung, dass
das Symbolische und das Semiotische bei Cassirer zusammenfallen.379 Er stellt fest, dass
Cassirers Semiotik vom Symbolischen „heimgesucht“ wird und „hinter dem
Symbolischen“ sich das Sprachliche verbirgt.380 Mit drastischen Worten führt er aus, dass
„das Ganze der Kultur in das Procrustes-Bett der sprachlichen Form gepresst wird, womit
eine partielle Amputation des Vor-Sprachlichen (des Bildes) und das jenseits des
Sprachlichen Liegenden (der Logik) verbunden ist.“381
Diesen Behauptungen von van Heusden kann man nur bedingt zustimmen, da er bei seiner
Kritik im Cassirerschen Sinne nur von der Zeichenfunktion oder Symbolfunktion im
Bereich der Darstellungsfunktion ausgeht und von dort aus versucht, die Funktion der
Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion und der Bedeutungsfunktion zu kritisieren. Von
diesem Standpunkt aus wird er daher einer ‚Amputation‘ gewahr, er übersieht aber
gleichzeitig, dass die Zeichenfunktion in jeder der drei Dimensionen eine andere Leistung
erbringt (vgl. 3.5.1, 184 f.). Das Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion ist das
sinnliche Zeichen, das die Bilderwelt ausdrückt und das Zeichen im Bereich der
379 Heusden (2003) S. 139 f. van Heusden zitiert U. Eco, On Symbols. In: Deely, J. et al., Frontiers inSemiotics. 1986, S. 157: „[Cassirer] deals with the Kantian theory of knowledge as if it were a semiotictheory (even though Cassirer’s a prioi is more similar to a cultural product than to a transcendentalstructure of the human mind). The symbolic activity does not ‚name‘ an already known world, butestablishes the very conditions for knowing it. Symbols are not translations of our thought, they are itsorgans.“ Die Frage ist nur, ob diese Feststellung Ecos ― Symbols are not translations of our thought ―berechtigt ist.
380 Heusden (2003), S. 147.381 Heusden (2003), S. 147.
177
Bedeutungsfunktion ist das Begriffszeichen, das reine Bedeutung besitzt und somit ‚echter‘
Begriff ist. Das Zeichen im Bereich der Darstellungsfunktion ist das Sprachzeichen oder
Wortzeichen, also gewöhnlich die Sprache, wodurch sich van Heusdens Behauptung, dass
das Sprachliche sich hinter dem Symbolischen verbergen soll, zumindest für diesen
Bereich nicht mehr halten lässt.
Man kann an dieser Stelle bei Cassirer eines komplexen Prozesses beim Erkennen des
Gegenstandes gewahr werden, der auch notwendigerweise mit der Funktion der
Repräsentation verbunden ist. Das Zeichen, das durch die Repräsentation bei der Setzung
von Merkmalen der Erscheinung als Repräsentant des Ganzen gesetzt wird, soll im Akt der
Rekognition wieder erkannt werden. Zugleich soll der Inhalt der Anschauung seine
einzelne Besonderheit bewahren. Das Zeichen kann dann im ‚Reich der Symbole‘ zum
reinen Bedeutungszeichen werden, das nur in der gedanklichen Beziehung erfassbar ist.
Diese Zeichen sind es, die Cassirer als idelle Zeichensprache für die wissenschaftliche
Erkenntnis ansieht.
3.4.3. Ordnungszeichen im wissenschaftlichen Begriff
Warum Cassirer in der Philosophie der symbolischen Form und seiner Begriffstheorie statt
der Sprache das Zeichen eingeführt hat, wurde bereits geklärt (vgl. oben 173). Die Sprache
sucht seiner Ansicht nach unter anderem den Ausdruck der logischen Bestimmungen und
Relationen in Bilder zu fassen. Da der Begriff sich aber von der anschaulichen
Wirklichkeit abheben und nicht den sprachlichen Bildern anhaften soll, wurde das Zeichen
eingeführt.
Die Zeichentheorie bei Cassirer taucht aber schon früher in SuF auf, wo es heißt:
„Der Begriff und Terminus der R ep r ä s en t a t i on , der trotz aller Angriffe, diegegen ihn gerichtet wurden, in der Geschichte der Erkenntnislehre dauernd einezentrale Stellung behauptet hat, empfängt hier einen neuen Sinn. Innerhalb dermetaphysischen Lehren ist es die ‚Vorstellung‘, die auf den Gegenstand, derhinter ihr steht, hinweist. Das ‚Zeichen‘ ist somit hier von gänzlich andererNatur, als das Bezeichnete und gehört einem anderen Bereich des Seins an.“(SuF, 373)
Damit wird erkennbar, dass das Zeichen mit der Repräsentation in engem Zusammenhang
steht und Cassirer für die Erkenntnisobjektivität das Zeichen als Vertreter bei der Setzung
178
von Merkmalen einsetzt. Dies wird aber in PsF nur im Bereich der Darstellungsfunktion
expliziert. An einer anderen Stelle in SuF erklärt er die Funktion des Bedeutungszeichens
mit folgenden Worten:
„Das E inz e l mome n t , das als Zeichen dient, ist dem Inbe gr i f f , derbezeichnet wird, zwar nicht materiell ähnlich ― denn die Bez i ehungen , dieden Inbegriff ausmachen, lassen sich nicht durch irgendeine Einzelgestaltungvollständig ausdrücken und ,abbilden‘ ― wohl aber besteht zwischen ihneneine durchgehende logische Gemeinsamkeit, sofern beide prinzipiell demselbenZusamm enhang der Beg ründung angehören. Die sachliche Ähnlichkeitwandelt sich in begriffliche Korrelation.“ (SuF, 377 f.)
So lässt sich auch in SuF schon ein unterschiedlicher Gebrauch des Zeichens erkennen.
Die Entwicklung der exakten Naturwissenschaft zeige, wie jeder Fortschritt ihrer
Problemstellung und ihrer Begriffsmittel Hand in Hand mit einer zunehmenden
Verfeinerung ihres Zeichensystems ginge. Cassirer definiert das Zeichen in der
wissenschaftlichen Erkenntnis als „notwendiges und wesentliches Organ“ des Gedankens
(PsF I, 18). „Es [Zeichen] dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen
Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich
herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.“ (PsF I, 18)382
Darum führte er bereits in SuF an anderer Stelle aus:
„Sobald wir die, wenn auch nur allgemeine Gewi ßhe i t von transzendentenDingen jenseits aller Erkenntnis besitzen, mögen wir daher im unmittelbarenErfahrungsinhalt nach Zeichen für diese, wenigstens dem Begriff nachgegebene Realität suchen; wie dagegen dieser Begriff selbst entsteht und wasihn notwendig macht, wird durch die Theorie der Zeichen nicht erklärt.“ (SuF,374)
Das bedeutet, dass das Zeichen nur der Träger der Bedeutung sein darf, wie Cassirer dies
auch in PsF darzustellen versucht. Durch die Funktion des Zeichens als Bedeutungsträger
soll der Zusammenhang innerhalb der ‚Sprache‘ vom Bereich der Ausdrucksfunktion bis
hin zu dem der Bedeutungsfunktion nicht abreißen (vgl. PsF III, 128).
Was das reine Bedeutungszeichen im Bereich der Wissenschaft bedeutet, erklärt er wie
382 Cassirer ist der Meinung, dass das Zeichen in der Objektivierung der Erkennntis ein wichtiges‚Instrument‘ ist. Vgl. ET II, S. 81: „In der Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist dieentscheidende Wichtigkeit, die dem Begriff des »Zeichens« zukommt, durch Helmholtz, durch HeinrichHertz und durch Duhem seit langem festgestellt. Duhem hat den Sinn und die Aufgabe derphysikalischen Theorie geradezu dahin bestimmt, daß sie nicht sinnliche Bilder oder Modelle, von denErscheinungen entwerfen, wohl aber intellektuelle Symbole schaffen wolle, durch die der gesetzlicheZusammenhang der Phänomene in einfacher und eindeutiger Weise dargestellt wird.“
179
folgt:
„Sie [die Sphäre der reinen Bedeutung] ist von der Sphäre der Darstellungdadurch getrennt, daß sie sich von dem Grunde der a nschau l i che nGestaltung, in welchem die Darstellung wurzelt und aus dem sie fort und fortihre beste Kraft zieht, gelöst hat – daß sie sozusagen im freien Äther des reinenGedankens schwebt. Das Zeichen im Sinne des reinen Bedeutungszeichensdrückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloßabstrakten Zuor dnung . “ (SP, 303)383
Aus diesem Grund stellt Cassirer in PsF das reine Bedeutungszeichen als Ordnungszeichen
dar:
„Der Prozeß der »Entstofflichung«, wie der der »Ablösung« schreitet fort: dasZeichen entreißt sich gleichsam der Sphäre der D i nge , um zum reinenBeziehungs- und Or dnungs z e i che n zu werden. Jetzt geht es auf keineinzelnes G eb i l de mehr, das es unmittelbar »vorstellig« machen, das es inseinem anschaulichen Umriß gleichsam vor das Auge des Geistes hinstellenwill.“ (PsF III, 389)
Cassirer gebraucht an dieser Stelle das Ordnungszeichen für den Bereich des
wissenschaftlichen Weltbegriffs und das ‚Dingzeichen‘ für den Bereich des natürlichen
Weltbegriffs (vgl. PsF III, 383). Er erklärt nochmals, dass der „Akt der Lösung von der
Sprache“ in der Wissenschaft unumgänglich ist, und dass er sich „als durch die Sprache
selbst bedingt und als durch sie vermittelt“ erweist:
„Denn der Fortgang vom Sprachbegriff zum wissenschaftlichen Begriff bestehtnicht in einer Negation, in einer einfachen U mkehr der geistigen Prozesse,auf denen die Bildung der Sprache beruht, sondern in einer Fortsetzung undeiner ideellen S t e ige r ung derselben. Dieselbe geistige Grundkraft, die ausden »anschaulichen« Begriffen die sprachlichen Begriffe hervorgehen ließ,prägt zuletzt diese letzteren in die Form des »wissenschaftlichen« Begriffs um.“(PsF III, 385)
Das Zeichen bei Cassirer besitzt jetzt eine weitere entscheidende Funktion, es muss „auf
die Herausstellung eines Allgemeinen, einer Form- und Strukturbestimmung“ gerichtet
sein (PsF III, 389). Um dieses Allgemeine zu erfassen, muss es systematisch fortschreiten,
oder anders formuliert, der besondere Inhalt der Wahrnehmung muss mit einem
sprachlichen ‚Merkzeichen‘ versehen werden. Das heißt, ‚Gruppen‘ von Erscheinungen
383 Vgl. auch SP, S. 306: „Hier ist daher der letzte radikale Schnitt getan: das Reich der reinen Beziehungenund Bedeutungen hat sich rein auf sich selbst gestellt und sich von jeder Bindung im anschaulichenDasein gelöst.“
180
müssen im Sinne der klassifizierenden sprachlichen Begriffsbildung zu Einheiten
zusammengefasst werden, und dann kann der Prozess der ‚Entstofflichung‘ wie der der
‚Ablösung‘ folgen. Cassirer hebt in diesem Zusammenhang die „Wesensart des Geistes“
(PsF III, 392) hervor:
„Es liegt in der Wesensart des Geistes selbst beschlossen, daß seine ‚Rückkehrzu sich selbst‘ nicht in einem einzelnen isolierten Höhepunkt seinerEntwicklung erfolgt, sondern daß sie das Ganze dieser Entwicklungbeherrscht und bestimmt. Immer wieder setzt hier, gleichsam in verschiedenerHöhenlage, derselbe charakteristische Prozeß ein — und er ist es, derebensowohl die Trennung zwischen der Welt der »unmittelbaren« Anschauungund der der sprachlichen Begriffe, wie andererseits die Ablösung der logisch-wissenschaftlichen Begriffe von den Sprachbegriffen herbeiführt.“ (ibd.)
Der Begriff verlangt, so Cassirer, im Grunde genommen Festigkeit und Eindeutigkeit.
Obschon der Begriff die Darstellung in einem symbolischen Zeichen braucht, nimmt er
nicht beliebige Zeichen, sondern stellt bestimmte Forderungen auf. Die erste Forderung ist
das Postulat der Identität, das heißt, für denselben Inhalt soll stets dasselbe Zeichen
gewählt werden, und damit wird zwischen Zeichen und Bedeutung eine strenge eindeutige
Zuordnung gebildet (vgl. PsF III, 393). Cassirer erkennt, dass in diesem Postulat zugleich
auch eine andere Forderung an den Begriff enthalten ist:
„Jeder neue Begriff, der im wissenschaftlichen Denken aufgestellt wird, ist vonvornherein auf das Ganze dieses Denkens, auf das Ganze der mög l i c henBegriffsbildung bezogen. Was er bedeutet und ist, ― das hängt von seinerGeltung in diesem Ganzen ab. Alle »Wahrheit«, die ihm zugesprochen werdenkann, ist an diese ständige und durchgängige Bewähr ung gegenüber derGesamtheit der Denkinhalte und Denksetzungen gebunden.“ (PsF III, 393)
Als weitere Anforderung an die Begriffszeichen wird angesehen, dass diese ein in sich
geschlossenes System bilden müssen:
„Es genügt nicht, daß den einzelnen Denkinhalten beliebige einzelne Zeichenzugeordnet werden: sondern sie alle müssen in einer festen Ordnung stehen,derart, daß der gesammte Inbegriff der Zeichen sich nach einer Regel gliedert.Wie ein Denkinhalt durch den andern bedingt erscheint, wie er in ihm ‚sichgründet‘, so muß auch ein Zeichen im andern gegründet, d. h. nach einembestimmten Gesetz des Aufbaus aus ihm ab l e i t ba r sein.“ (PsF III, 393 f.)
Diese Forderung ist aber nur dann erfüllbar, wenn „der Begriff selbst allen Anforderungen
181
der »Exaktheit« genügt, und er einer »Definition« fähig ist, die ihn nach allen Seiten hin
umgrenzt und bestimmt“ (PsF III, 394). Wenn ein neuer Begriff auf das Ganze der
‚möglichen‘ Begriffsbildung bezogen ist und das, was er ist, von seiner Geltung in diesem
Ganzen abhängt, so sagt Cassirer damit aus, dass das, worauf es dem Begriff ankommt,
seine Geltung ist. Damit wird auch deutlich, warum Cassirer das Bedeutungszeichen für
die Zuordnung in der Systembildung des Begriffs gebraucht.
3.5. Wissenschaftlicher Begriff als intellektuelles Symbol
3.5.1. Sinnliches Symbol und intellektuelles Symbol
Die wissenschaftlichen Begriffe werden, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, in drei Stufen
gebildet, nämlich ausgehend von den anschaulichen Begriffen über die Sprachbegriffe hin
zu den wissenschaftlichen Begriffen. Diese sind innerhalb der Begriffstheorie in PsF
intellektuelle Symbole und reine Bedeutungszeichen, die in rein gedanklicher Beziehung
zueinander stehen. Cassirer unterscheidet in PsF zwei Symbole, nämlich sinnliche und
intellektuelle Symbole, und der Symbolbegriff selbst soll einen einheitlichen Gehalt und
eine allumfassende geistige Funktion besitzen (vgl. SP, 298). Wenn das intellektuelle
Symbol in der theoretischen Erkenntnis als Begriff bezeichnet wird, so gilt es
herauszufinden, was mit dem sinnlichen Symbol gemeint ist.
Cassirer verwendet in PsF den Ausdruck ,Symbol‘ mehr im allgemeinen Sinne, wie dies
die von ihm verwendeten Ausdrücke ‚symbolische Formen‘, das ‚Symbolische‘ oder
einfach nur ‚Symbol‘ belegen. Auch wird Symbol manchmal mit Zeichen gleichgestellt,
denn man kann aus Cassirers Verwendung von intellektuellen Symbolen und
Begriffszeichen schließen, dass die beiden den selben Inhalt enthalten müssen (vgl. PsF III,
56). Daher gestaltet es sich als recht schwierig, eine genauere Bestimmung des
Symbolbegriffs vorzunehmen. Man muss ‚Symbol‘ je nach Kontext unterscheiden und
feststellen, ob es sich um ein sinnliches oder intellektuelles Symbol handelt. Das ‚Symbol‘
steht zum Beispiel in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs im Allgemeinen für die
verschiedenen symbolischen Formen.
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung oder Funktion sinnliche
und intellektuelle Symbole besitzen und was der Begriff ‚Symbol‘ für die Begriffstheorie
Cassirers bedeutet. Dabei geht es um den Sinn des Begriffs und des Ausdrucks ‚Symbol‘,
182
wobei die Symbolfunktion, wie Cassirer selbst betont, als symbolische Relationsfunktion
betrachtet wird.
Cassirer versucht in PsF den Begriff ,Sein‘ durch die Bedeutungsfunktion zu bestimmen,
während er in SuF ihn durch den Funktionsbegriff, statt des ontischen Substanzbegriffs, zu
bestimmen versucht:
„Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in derKunst entgegentreten, ‚sind‘ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, nocheine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Seinerst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion desBedeutens auf.“ (PsF I, 42)
Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, ist deutlich geworden, dass die Funktion des Bedeutens
nicht im Zeichen selbst liegt, weil das Zeichen das Symbolisierte nur fixiert. Die
Bedeutung muss folglich im Symbol selbst oder im Symbolisierten liegen.
Die sinnlichen Symbole treten nach Cassirer mit einem bestimmten Objektivitäts- und
Wertanspruch auf:
„Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in derSchaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drücktsich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einembestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten.“ (PsF I, 21)
Die sinnlichen Symbole beanspruchen, den individuellen Bewusstseinserscheinungen ein
Allgemeingültiges gegenüberzustellen, das auch später gegenüber dem ‚Wahrheitsbegriff‘
im Bereich der Bedeutungsfunktion, dem wissenschaftlichen Weltbegriff als hinfällig
betrachtet werden könnte: „aber daß er [der Anspruch] überhaupt erhoben wird, gehört zum
Wesen und Charakter der einzelnen Grundformen selbst. Sie selbst sehen ihre Gebilde
nicht nur überhaupt als objektiv-gültig, sondern zumeist geradezu als den eigentlichen
Kern des Objektiven, des ‘Wirklichen‘ an“ (PsF I, 21). Damit wird deutlich, dass bei
Cassirer die sinnlichen Symbole für Wirklichkeit und die intellektuellen Symbole für
Wahrheit stehen.
An einer anderen Stelle erklärt er bezüglich des Symbols:
„Das Schöne ist wesentlich und notwendig Symbol, weil und sofern es in sichselbst gespalten, weil es immer und überall eins und doppelt ist. In dieser seinerSpaltung, in diesem Haften am Sinnlichen und in diesem Hinausgehen über dasSinnliche, drückt es nicht nur die Spannung aus, die durch die Welt unseres
183
Bewuß t se in s hindurchgeht, — sondern es offenbart sich darin dieursprüngliche und grundlegende Polarität des S e in s selbst.“ (SP, 296)
Das Symbol muss gemäß diesem Zitat ‚in sich selbst gespalten‘ und ‚immer und überall
eins und doppelt‘ sein. Es bleibt nicht am Sinnlichen haften sondern geht über das
Sinnliche hinaus. Dies bedeutet, das sinnliche Symbol soll sich in einem theoretischen
System zum intellektuellen Symbol umwandeln. Das Schöne ist zum einen eine
Empfindung und kann als sinnliches Erlebnis bezeichnet werden, zum anderen aber ist das
Schöne auch ein Begriff in der theoretischen Ästhetik, der über alles Sinnliche
hinausschreitet.
Die sinnlichen Symbole können in Bezug auf die Wahrheitsfrage zu intellektuellen
Symbolen, also zu wissenschaftlichen Begriffen werden. Aus diesem Grund ist Cassirer der
Ansicht, dass die Symbole die einheitliche Symbolfunktion umschließen und die
Symbolfunktion schon in der Anschauung und der Wahrnehmung stattfinden sollte, was
wiederum nichts anderes bedeutet, als dass die Symbolfunktion schon in der Sphäre der
Ausdrucksfunktion stattfindet. Er baut die wissenschaftlichen Begriffe auf dem Boden des
natürlichen Weltbegriffs auf und betrachtet dabei den Verlauf der Begriffsbildung von der
Sphäre der Ausdrucksfunktion über die der Darstellungsfunktion und bis hin zur Sphäre
der Bedeutungsfunktion. Die Zeichen und Symbole müssen hierbei parallel verlaufen, das
heißt, die sinnlichen Zeichen gemeinsam mit den sinnlichen Symbolen; erstere werden in
der Sphäre der Bedeutungsfunktion zu reinen Bedeutungszeichen, letztere zu
intellektuellen Symbolen. Hierin liegt die grundlegende Systematik der Begriffstheorie
Cassirers in PsF.
Der Begriff in der Wissenschaft, der die Regel der Bestimmung aufstellt und auch als
Regel für die Welt der Anschauungen gelten soll, ist nicht einfach als bloßer Bestand, als
eine Kopie der Welt der Anschauungen anzusehen, sondern er soll der Welt der
Anschauungen gegenüber ein Eigenartiges und Selbständiges bedeuten, obschon der Sinn
des Begriffs in der Anfangsphase nur an der Materie des Anschaulichen sich bekundet und
bezeugt werden kann. Daher betont Cassirer, dass die Regel der Bestimmung nicht einfach
„gesetzt“ werden soll, „sondern sie wird in eben dieser Setzung zugleich als eine
universelle Denkleistung erfaßt und als solche durchschaut“ (PsF III, 331). Dabei ist seiner
Ansicht nach wichtig, dass das Symbol und die Symbolfunktion die Gegenstandserkenntnis
ermöglichen und dadurch ihre Objektivität erreicht werden kann.384
384 Vgl. Seidengart (1995a), S. 197: „Cassirer [hat] bereits im Symbol das objektive Medium entdeckt, mitdessen Hilfe die wirkliche Beziehung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ermöglicht wird. Es ist allein
184
Die Begriffe als intellektuelle Symbole in der wissenschaftlichen Erkenntnis —
mathematische Begriffe oder chemische Formeln stehen zum Beispiel nur in gedanklichen
Beziehungen — haben sich von den ‚anschaulichen Repräsentativen‘ abgehoben. Die
Wissenschaft als symbolische Form gehört der logischen Dimension an, und die Begriffe,
die intellektuellen Symbole besitzen reine Bedeutung. Betrachtet man den Mythos als
symbolische Form, so bedeutet dies, dass diese sich auf das sinnliche Zeichen bezieht, das
nur Ausdrucksfunktion besitzt, und dass der geistige Bedeutungsgehalt noch dem sinnlich-
Anschaulichen also dem sinnlichen Symbol anhaftet. Somit besitzt der geistige
Bedeutungsgehalt als ‚anschaulicher Begriff‘ nur Ausdruckssinn. Die Sprache als
symbolische Form bedeutet dann, dass diese sich auf das Wortzeichen oder Sprachzeichen
bezieht, das Darstellungsfunktion besitzt, und dass der geistige Bedeutungsgehalt noch
dem sinnlichen Symbol mit dem Darstellungssinn anhaftet. Folglich streben die sinnlichen
Symbole im Bereich der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion nach den
intellektuellen Symbolen im Bereich der Bedeutungsfunktion.
Wenn man den bis jetzt betrachteten Vorgang des Aufbaus der Begriffstheorie Cassirers als
Objektivierung des Inhalts sowie als Trennung oder ‚Entstofflichung‘ des Inhalts von der
anschaulichen Welt versteht, so kann man diesen der Architektonik nach, wie er die
symbolischen Formen aufbaut, wie folgt systematisieren.385
Weltbegriff natürlicher Weltbegriff wissenschaftlicherWeltbegriff
symbolische Formen Mythos Sprache WissenschaftlicheErkenntnis
Weltauffassung Bilderwelt ‚Welt als Selbstwelt und Dingwelt‘
‚Welt als Ordnungs-gefüge‘
Raum und Zeit Beide fallen zusam-men
Mittel zur Vorstel-lung von Gegen-ständen
Wert des Begriffs Regel der Zugehö-rigkeit
Zahl bildlicheMehrheitsbildung
Mittel zur Vorstel-lung von Gegen-ständen (noch nichtselbständig)
Zahlbegriff
diese Symbolfunktion, die einen reflexiven Abstand, die Zurückweisung des unmittelbaren Eindrucksund die Rekognition des Sinnes der empirischen Inhalte mit Hilfe des Symbols möglich macht, das wieein Vertreter der Realität fungiert.“
385 Vgl. Bermes (1997), S. 161; auch Peters (1983).
185
symbolische Formen Mythos Sprache WissenschaftlicheErkenntnis
Symbol sinnliche Symbole sinnliche Symboleund möglicherweiseintellektuelleSymbole
intellektuelleSymbole
Zeichen sinnliche Zeichen sinnliche Zeichen Wortzeichen
BedeutungszeichenBegriffszeichen
Sprache (Ausdruck)/ Sinn und Bedeutung
mimischAusdruckssinnanschaulicherBegriff
analogischDarstellungssinnSprachbegriff
rein symbolischreine BedeutungwissenschaftlicherBegriff
Zeichenfunktion Ausdrucksfunktion Darstellungsfunktion Bedeutungsfunktion
3.5.2. Symbolfunktion und symbolische Prägnanz
Wie im Abschnitt 3.4.2 gezeigt, ist Cassirer der Ansicht, dass die sprachliche
Begriffsbildung den Bereich der Darstellungsfunktion nicht überschreiten kann, das heißt,
man sucht den Gegenstand des Begriffs, des Sprachbegriffs immer wieder in der
anschaulich-empirischen Welt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet er Kants
Schematismus als einen, der auch noch dem Bereich der Darstellungsfunktion angehört.
Das Kapitel ‚Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‘ in der Kritik der
reinen Vernunft ist eines der unstrittensten Kapitel, und es geht im Wesentlichen um das
Problem der Anwendbarkeit der Kategorien auf Anschauungen. Das Schematismuskapitel
in Kants ‚Analytik der Grundsätze‘ beginnt mit dem Absatz:
„In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß dieVorstellung des ersteren mit der letztern g le i char t i g sein, d.i. der Begriffmuß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstandvorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand seiunter einem Begriffe enthalten.“386
Kant führt als Beispiel den empirischen Begriff Teller und den rein geometrischen Zirkel
an, deren Gleichartigkeit sich in der Rundung ausdrückt. Die reinen Verstandesbegriffe
seien aber in Vergleichung mit sinnlichen Anschauungen ganz ungleichartig und können
386 Kant (W1990), S. 187. KrV, A 137/ B 176.
186
niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie die Anwendung der Kategorie
auf die Erscheinung möglich ist führt Kant wie folgt aus:
„Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie,andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und dieAnwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelndeVorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseitsi n t e l l e k t ue l l , andererseits s i nn l i c h sein. Eine solche ist dast r a nsze nden t a l e S che ma .“387
Eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen soll nun nach Kant möglich sein,
„vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der
Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt“.388 Die Zeit
enthalte ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Eine transzendentale
Zeitbestimmung ist mit der Kategorie sofern gleichartig, „als sie a l l geme i n ist und auf
einer Regel a priori beruht“,389 und sie ist mit der Erscheinung sofern gleichartig, „als die
Ze i t in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist“.390 Kant führt aber
im Vergleich zu seinen zwölf Kategorien neun transzendentale Schemata aus.391
Er unterscheidet das Schema vom Bild und führt als Beispiel für das Schema eines
empirischen Begriffs die Gestalt eines Hundes an:
„Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meineEinbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnenkann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrungdarbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellenkann, eingeschränkt zu sein. [...] das B i ld ist ein Produkt des empirischenVermögens der produktiven Einbildungskraft, das S che ma sinnlicher Begriffe(als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm derreinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererstmöglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema,welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselbennicht völlig kongruieren.“392
387 Kant (W1990), S. 187 f. KrV, A 138/ B 177.388 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 139/ B 178.389 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 138/ B 177 f.390 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 139/ B 178.391 Vgl. Kant, KrV, A 142 ff./ B 182 ff.; vgl. Curtius (1914), S. 361. Quantität (die Zahl) (Quantität ist nur
der gemeinsame Titel für die drei ersten Kategorien), Realität (das Sein in der Zeit), Negation (dasNichtsein in der Zeit), Substanz (die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit), Kausalität, Gemeinschaft(das Zugleichsein der Bestimmungen einer Substanz, mit denen einer andern, nach einer allgemeinenRegel), Möglichkeit (die Zusammenstimmung der Synthesis verschiedener Vorstellungen mit denBedingungen der Zeit überhaupt), Wirklichkeit (das Dasein in einer bestimmten Zeit) undNotwendigkeit (das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit).
392 Kant (W1990), S. 190. KrV, A 141 f./ B 180 f.
187
Das Schema eines reinen Verstandesbegriffs kann dagegen nicht als Bild gebraucht werden
und ist die reine Synthesis.
Cassirer ist der Auffassung, wenn die wissenschaftlichen Begriffe oder reinen
Verstandesbegriffe durch Anschauung (Wahrnehmung) und Verstand einmal gewonnen
sind, dann kann es nicht möglich sein, dass diese Begriffe bei ihrer Anwendung wieder zu
der sinnlich-empirischen Anschauung oder zu den anfänglichen Sinnesdaten zurückgeführt
werden, wovon man eigentlich ausgegangen war. Das heißt aber nicht, dass Cassirer diese
Rückführung auf die Anschauung ablehnt:
„Der Sinn des Prinzips [Prinzip der Naturerklärung] muß sich zuletzt empirischund somit anschaulich erfüllen; aber diese Erfüllung ist niemals direkt möglich,sondern kann nur in der Weise geschehen, daß aus der Annahme seinerGültigkeit durch eine hypothetische Deduktion andere Sätze hergeleitetwerden. Keiner dieser Sätze, keines der einzelnen Stadien in diesem logischenFortgang, braucht hierbei einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zusein. Nur als logische Gesa mt he i t läßt sich die Reihe der Folgerung auf dieAnschauung beziehen und an ihr bewähren und rechtfertigen.“ (PsF III, 540)
Daher kritisiert Cassirer Kants Schematismus in zwei Punkten, nämlich erstens, dass dieser
die Anwendung der Kategorien auf die sinnlichen Anschauungen durch Schemata zu
ermöglichen versuchte.393 Zweitens muss das Schema von Cassirers Symbolfunktion aus
gesehen auf den Bereich der Darstellungsfunktion beschränkt sein. Denn das Schema ist es,
auf das die Sprache „alle intellektuellen Vorstellungen beziehen muss, um sie dadurch
sinnlich fassbar und darstellbar zu machen“, und die Sprache besitzt ein solches Schema
„in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhältnisse“. Dies erweckt den
Eindruck, „als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtsein
erst dadurch faßbar, daß sie [die Sprache] sie auf den Raum projiziert und in ihm
analogisch ‚abbildet‘“ (PsF I, 152).
Dieses Problem des Schemas soll durch die symbolische Formung des Begriffs und die
symbolische Form überwunden werden. Um dies zu ermöglichen, muss zuerst das Gebiet
der transzendentalen Einheit der Apperzeption erweitert werden, das heißt, dass die Einheit
der Apperzeption von Beginn an auf das Gebiet des natürlichen Weltbegriffs und nicht erst
später auf das Gebiet des wissenschaftlichen Weltbegriffs bezogen sein muss. Darauf wird
im nun folgenden Abschnitt eingegangen.
393 Zur Problemstellung und unterschiedlichen Interpretationen der Schematismuslehre vgl. Detel (1978), S.18 ff.; Dahlstrom (1984), S. 38; vgl. auch Lohmar (1991).
188
3.5.2.1. Die symbolische Formung und das Wahrnehmungsurteil
Wenn die Begriffe in PsF in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und
Bedeutungsfunktion, gebildet werden und diese zugleich als Objektivitätsstufen des
Begriffs dienen sollen und die intellektuellen Symbole im Bereich der Bedeutungsfunktion
zu wissenschaftlichen Begriffen mit reiner Bedeutung werden sollen, so können die
Symbole, die Energie des Geistes, die den geistigen Bedeutungsgehalt besitzt, gegenüber
dem Wahrnehmungsurteil nicht völlig allein stehen. Die beiden bilden eng miteinander
zusammen durch die drei Stufen hindurch den geistigen Bedeutungsgehalt, das heißt, den
Inhalt des Begriffs. Cassirer meint, dass die symbolische Formung der Wahrnehmungs-
und Anschauungswelt nicht erst beim exakt-wissenschaftlichen Begriff einsetzt, wie dies
bei Kant geschehen ist (vgl. PsF III, 347 f.). Denn die symbolische Formung tritt schon im
Bereich der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion ein, in dem die mythische
Bilderwelt und sinnlich-anschauliche Welt verstanden werden sollten.
Seinen Versuch, dies zu verdeutlichen, beginnt Cassirer bei Kants transzendentaler Einheit
der Apperzeption, die dieser als eine Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung
erkannte. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist mit Kategorie und Urteil
verbunden und möchte, wie Cassirer sie versteht, sich nicht schlechthin auf die Logik des
wissenschaftlichen Denkens beziehen und auf sie eingeschränkt sein, denn die Entwicklung
der Symbolfunktion muss von der Sphäre der Ausdrucksfunktion bis zu der der
Bedeutungsfunktion ohne Bruch verlaufen.
Der Unterschied zwischen Cassirer und Kant liegt darin, dass Kant in der
Schematismuslehre das transzendentale Schema erklärt, indem er konstatiert, die
vermittelnde Vorstellung müsse rein sein und dennoch einerseits intellektuell und
andererseits sinnlich394; bei Cassirer haben Zeichen die Eigenschaft, dass die reinen
Bedeutungszeichen ‚alles anschaulich-Repräsentative von sich abgestreift‘ haben und die
Begriffszeichen die intellektuellen Symbole sind, und nur die sinnlichen Symbole haben
noch mit der sinnlich-anschaulichen Außenwelt zu tun. Cassirer nimmt an, dass darin die
Probleme der Schematismuslehre Kants liegen:
„Sie [die transzendentale Einheit der Apperzeption] ist nicht nur die Bedingungfür dieses Denken und für die Setzung und Bestimmung seines Gegenstandes,sondern die Bedingung ‚auch jeder möglichen Wahrnehmung‘. So wahr dieletztere selbst irgend etwas ,bedeuten‘, so wahr sie Wahrnehmung f ü r ein Ich
394 Vgl. Kant (W1990), S. 188. KrV, B 177/ A 138.
189
und Wahrnehmung von etwas sein will: so wahr muß sie an bestimmtentheoretischen Geltungscharakteren Teil haben. Und es erscheint nunmehr alseine besondere Aufgabe der Erkenntniskritik, eben diese Charaktere, die dieForm des Wahrnehmungsbewußtseins als s o l chen ausmachen, aufzuzeigenund bloßzulegen. Der schematische Gegensatz zwischen ‚Wahrnehmungs-urteil‘ und ,Erfahrungsurteil‘, wie ihn noch die Prolegomena ― freilich mehraus Gründen der Darstellung, als aus solchen der Systematik ― festhalten, istdamit im Prinzip überwunden. Denn die Vereinigung sinnlicherWahrnehmungen oder Vorstellungen in E ine m Bewußtsein, sowie ihreBeziehung auf e i ne n Gegenstand ist niemals Sache der bloßen sinnlichenRezeptivität, sondern es liegt ihr jederzeit ein ‚Aktus der Spontaneität‘zugrunde.“ (PsF III, 12)
Kant unterteilt in Prolegomena (§18) die empirischen Urteile in Wahrnehmungsurteile395
und Erfahrungsurteile, analysiert sie (§19) und zieht die Schlussfolgerung (§20), dass sich
die Wahrnehmungsurteile durch die Kategorien in Erfahrungsurteile verwandeln. Er
erklärt:
„Empi r i sche Ur t e i l e , so f e rn s i e ob j ek t i ve Gü l t i gke i t haben ,s ind E r fah rungsu r t e i l e ; die aber, so nur sub j e k t i v gü l t i g sind,nenne ich bloße Wahr nehmungs u r t e i l e . Die letzteren bedürfen keinesreinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung derWahrnehmung in einem denkenden Subjekt.“396
Die Wahrnehmungsurteile haben also nur subjektive Gültigkeit und sind „bloß
Verknüpfung[en] der Wahrnehmungen in meinem Gemütszustande, ohne Beziehung auf
den Gegenstand“.397 Die Erfahrungsurteile haben dagegen objektive Gültigkeit, die auch
notwendige Allgemeingültigkeit genannt wird. Beide Begriffe, objektive Gültigkeit und
notwendige Allgemeingültigkeit, sind Wechselbegriffe. Kant erklärt das Erfahrungsurteil
wie folgt:
„Wir erkennen durch dieses Urteil das Objekt, (wenn es auch sonst, wie es ansich selbst sein möchte, unbekannt bliebe), durch die allgemeingültige undnotwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen, und da dieses derFall von allen Gegenständen der Sinne ist, so werden Erfahrungsurteile ihreobjektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes(denn diese ist unmöglich), sondern bloß von der Bedingung derAllgemeingültigkeit der empirischen Urteile entlehnen, die, wie gesagt, niemalsauf den empirischen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern auf einemreinen Verstandesbegriffe beruht. Das Objekt bleibt an sich selbst immer
395 Vgl. Prauss (1971), S. 139 f. Prauss verweist auf die Problematik in Kants Wahrnehmungsurteil. 396 Kant (W1993), S. 163. Prolegomena § 18, A 78.397 Kant (W1993), S. 166. Prolegomena § 20, A 82.
190
unbekannt; wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung derVorstellungen, die unsrer Sinnlichkeit von ihm gegeben sind, alsallgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnisbestimmt, und das Urteil ist objektiv.“ 398
Es kommt aber im Wahrnehmungsurteil auch die logische Verknüpfung vor, die nicht
objektiv ist und somit die Übereinstimmung im Urteil zufällig erscheinen lässt. Die
Übereinstimmung, sofern sie nicht das Apriori von Begriff und Anschauung betrifft, ist
also bei Kant etwas Zufälliges.399 Kant musste aber das Wahrnehmungsurteil sich in ein
Erfahrungsurteil verwandeln lassen, denn das Erfahrungsurteil ist ein empirisches Urteil,
das notwendig allgemeingültig für alle Subjekte ist. Wenn dies aber so ist, dann muss das
Wahrnehmungsurteil, das nur für das Subjekt gültig sein kann, als notwendig gedacht
werden, was aber wiederum bedingt, dass die Wahrnehmung zuerst unter einer Kategorie
subsumiert werden muss.400 Hierfür führt Kant folgendes Beispiel an:
„Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urteil ist einbloßes Wahrnehmungsurteil, und enthält keine Notwendigkeit, ich mag diesesnoch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; dieWahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: dieSonne e rwä rmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch derVerstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheinsden der Wärme no twend ig verknüpft und das synthetische Urteil wirdnotwendig allgemeingültig, folglich objektiv und aus einer Wahrnehmung inErfahrung verwandelt.“401
Kant weist auch darauf hin, dass es ‚reine Wahrnehmungsurteile‘ gibt, die nicht in
Erfahrungsurteile überführt werden können. Er nennt hierfür als Beispiele, dass „das
Zimmer warm, der Zucker süß, der Wermut widrig sei“,402 und begründet dies damit, dass
sich die Beispiele „bloß aufs Gefühl, welches jedermann als bloß subjektiv erkennt und
welches also niemals dem Objekt beigelegt werden darf, beziehen, und also auch niemals
objekiv werden können [...]“.403 Cassirer fragt sich, ob es ein reines Wahrnehmungsurteil,
wie Kant annimmt, überhaupt geben kann.
Das Wahrnehmungsurteil, das in das Erfahrungsurteil überführt werden kann, muss durch
398 Kant (W1993), S. 164. Prolegomena § 19, A 79 f.399 Vgl. Bröcker (1970), S. 51. 400 Kant (W1993), S. 167. Prolegomena § 20, A 83: „Nun wird, ehe aus einem Wahrnehmungsurteil ein
Urteil der Erfahrung werden kann, zuerst erfordert: daß die Wahrnehmung unter einem dergleichenVerstandesbegriffe subsumiert werde.
401 Kant (W1993), S. 167. Prolegomena, § 20, A 83. Fußnote.402 Kant (W1993), S. 165. Prolegomena, § 19, A 80. 403 Kant (W1993), S. 165. Prolegomena, § 19, A 80. Fußnote.
191
die Kategorie der Kausalität verwandelt werden, wenn es um die Objektivierung der
Vorstellung geht. Zu der Definiton des Wahrnehmungsurteils Kants ― dieses ist bloß eine
Verknüpfung der Wahrnehmungen im Gemütszustande, ohne Beziehung auf den
Gegenstand ― meint Cassirer, dass, wenn dem so wäre, die Kraft des
Wahrnehmungsurteils „auf die bloße Beschreibung des Gegebenen und Gegenwärtigen“
beschränkt sei und „über den gerade vorliegenden Moment des individuellen
Vorstellungsablaufs nirgends“ hinausreiche (EP II, 664). Zur Kantischen Unterscheidung
von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil merkt Cassirer auch in Kants Leben und Lehre
kritisch an:
„Kant selbst hat in seiner Unterscheidung von Wahrnehmungs- undErfahrungsurteilen und in seiner Betonung des rein ,subjektiven‘ Charaktersder ersteren von dieser Konstruktion Gebrauch gemacht (s. Prolegomena §18).An sich aber gibt es nach ihm kein ,Einzelurteil‘, das nicht bereits auf irgendeine Form der ,Allgemeinheit‘ Anspruch erhöbe; keinen ,empirischen‘ Satz, dernicht irgend eine ,apriorische‘ Behauptung in sich schlösse: denn schon dieForm des Urteils selbst schließt diese Forderung ‚objektiver All-gemeingültigkeit‘ ein.“ (KLL, 170, Fußnote)
Denn Cassirer ist der Ansicht, dass die Vereinigung sinnlicher Wahrnehmungen oder
Vorstellungen in einem Bewusstsein, sowie ihre Beziehung auf einen Gegenstand niemals
Sache der bloßen sinnlichen Rezeptivität sei, sondern es liege ihr jederzeit ein ‚Aktus der
Spontaneität‘ zugrunde. So nimmt er auch an, dass die Einbildungskraft nicht lediglich
reproduktiv, sondern ursprünglich-produktiv ist. Sinnlichkeit, Anschauung und Verstand
bilden für ihn nicht bloß sukzessive Phasen der Erkenntnis, sondern „sie stellen sich als ein
strenges In-Einander, als ihre konstitutiven Momen t e , dar“ (PsF III, 12). Somit steht er
dem von Kant als ‚objektiv gültig‘ bezeichneten Tatbestand des Erfahrungsurteils kritisch
gegenüber, da dieses bei Kant, im Gegensatz zum Wahrnehmungsurteil, bereits einem
völlig anderen Typus angehört. Das Erfahrungsurteil bei Kant soll nicht nur für dieses und
jenes psychologische Einzelsubjekt gelten, sondern auch unabhängig vom psychologischen
Einzelsubjekt bestehen und beruht auf den Gründen, „die für jedes Subjekt in gleicher
Weise notwendig und verbindlich sind“ (EP II, 664).
Cassirer bemerkt kritisch, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Gesamtheit der
möglichen Regeln, auf denen der Aufbau und die Gliederung der Wahrnehmungswelt
beruht, im Begriff des ‚Verstandes‘ zusammenfasst: „Der Verstand ist der schlichte
transzendentale Ausdruck für das Grundphänomen, daß alle Wahrnehmung, als bew uß te
Wahrnehmung, immer und notwendig gef o r mte Wahrnehmung sein muß“ (PsF III, 225).
192
Die Analysis (Auflösung), „kraft deren die sensualistische Psychologie zur Bestimmung
von Bewußtseinse l eme n ten gelangte“ (ibd.), setzt immer die Synthesis voraus: „denn
wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur
dur ch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können“.404 So erklärt
Kant, dass die analytische Einheit der Apperzeption, die Zerlegung einer
Gesamtwahrnehmung in einzelne Elemente, nur unter der Voraussetzung irgendeiner
synthetischen möglich ist (vgl. 1.5, 55 f.).405 Die Wahrnehmung bei Kant wird dadurch,
dass die Einheit der Apperzeption „in jenen charakteristischen S innve r bänden steht, die
durch die einzelnen Kategorien ausgesagt werden [...] zur be s t i m mte n Wahrnehmung,
zum Ausdruck eines Ich wie zur »Erscheinung« eines Objekts, eines Gegenstands der
Erfahrung“ (PsF III, 226). Hierin besteht für Cassirer die Schwierigkeit und
Zweideutigkeit, die Kant selbst in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht ganz aufzuhellen
und zu beseitigen vermochte.
Cassirer ist der Ansicht, dass sich die Kantische Deduktion methodisch auf der gleichen
Ebene wie die als ontisch zu bewertenden sensualistischen Erklärungsversuche bewegt. Die
objektive Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe, die Kant in den ‚Bedingungen ihrer
Möglichkeit‘ zu erfassen sucht, ist dadurch gerechtfertigt, dass „man sie aus einem an sich
bestehenden »transzendentalen Subjekt«, als dem »Urheber« dieser Gültigkeit, hervor-
gehen“ lässt. (PsF III, 227). Ein Grundproblem bei Kant liegt seiner Meinung nach darin
begründet, dass dieser selbst die Sprache der Psychologie verwendet, die er kritisert, also
die Begriffe der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts.
„Und so kann es scheinen, als würden ,Rezeptivität‘ und ,Spontaneität‘, alswürden ‚Sinnlichkeit‘ und ,Verstand‘ hier doch wieder als seelische‚Grundkräfte‘ gedacht, deren jede für sich als psychische Wirklichkeit bestehtund die sodann in ihrem rea le n Zus am menwi r ken , in ihrem ursächlichenIneinandergreifen, die Erfahrung als »Produkt« hervorbringen.“ ( PsF III, 226)
Damit meint Cassirer, dass bei Kant das substantielle Problem der rein funktionalen
Betrachtung untergeschoben ist, dass alle Erklärungen Kants nicht gerechtfertigt sind, die
„Analytik des Verstandes vor der Auslegung zu schützen, als ob es sich in ihr nur um eine
neue Art psychologischer ‚Formgebungsmanufaktur‘ des Denkens handele.“ (PsF III, 226)
Die gleiche Kritik findet man auch in Kants Leben und Lehre:
404 Kant (W1990), S. 135. KrV, B 130.405 Vgl. Kant (W1990), S. 137. KrV, B 133.
193
„Denn während Kant in der »objektiven Deduktion« der Kategorien, ― in demNachweis, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleichBedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind ― nicht nurdie Begriffe selbst, sondern auch ihren logischen Ausdruck selbständig zuschaffen hatte, knüpft er in der »subjektiven Deduktion« überall an diegeläufigen Bezeichnungen der Psychologie seiner Zeit an.“ (KLL, 208)
Man kann Cassirers Kritikpunkte an Kant wie folgt zusammenfassen:
1. Kants Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsurteil und Erfahrungsurteil ist für
Cassirer nicht plausibel, denn diese Unterscheidung bedeutet für ihn, dass Kant für diesen
Zweck seinerseits nur das Erfahrungsurteil für die Wissenschaft als objektiv gültig erklärt.
Für Cassirer ist die Wahrnehmung selbst ein ,Aktus der Spontaneität‘ und ein
intellektueller Akt.
2. Das ,transzendentale Subjekt‘ wird in Kants ,subjektiver Deduktion‘ als ein
psychologisches Subjekt geführt.
3. Die Methode der Kantischen Deduktion bewegt sich in ontischen, wie in
sensualistischen Erklärungsversuchen. Dagegen soll die objektive Gültigkeit der reinen
Verstandesbegriffe durch das transzendentale Subjekt als ,Urheber‘ der Gültigkeit
gerechtfertigt werden.
Man kann somit festhalten, dass Cassirer aus den oben genannten Gründen Kants Einheit
der Apperzeption durch seine Symbolfunktion, die schon in der Anschauung und der
Wahrnehmung mit dem ‚Tun des Geistes‘ auftritt, zu überwinden versucht.
Im Hinblick auf die angeführte Kritik Cassirers an Kant wird nun nachfolgend die
symbolische Prägnanz eingehender betrachtet.
3.5.2.2. Symbolische Prägnanz und wissenschaftliche Erkenntnis
Das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gegenstand bildet eine symbolische Relation.
Daher ist Cassirer der Ansicht, dass man das Begriffsproblem und das
Gegenstandsproblem nicht parallel, getrennt von einander behandeln sollte, sondern beide
gemeinsam, indem man sich dabei auf das ‚Grundphänomen der Repräsentation‘
konzentriert. An dieser Stelle ist es zunächst nötig, etwas näher auf die Funktion der
Repräsentation, die auch mit der ‚symbolischen Prägnanz‘ im Bereich der
Darstellungsfunktion zusammenhängt, einzugehen.
Cassirer konstatiert schon in SuF, dass man die Repräsentation „als Ausdruck einer
194
ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit
ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt“ verstehen soll (SuF, 377). Wenn dies
geschieht,
„so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern miteiner konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diesescheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ‚präsenten‘, keinen unmittelbargegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern ereinbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche undzeitliche, wie seine begriffliche Bestimmtheit geben.“ (SuF, 377)
In PsF wird dann erklärt, dass die Repräsentation niemals als Abbildung sondern als
„Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes“ (PsF I,
35) oder als „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als
eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst“ verstanden
werden und „als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden“ (PsF I, 41) soll.
An einer anderen Stelle heißt es: Die Funktion der Darstellung als solche tritt vor, „wo es
gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner Gegenwart, in seiner einfachen
‚Präsenz‘ aufzugehen, als Darstellung, als ‚Repräsentanten‘ eines anderen zu nehmen,
damit gewissermaßen eine ganz neue Höhenlage des Bewußtseins erreicht wird“ (PsF III,
131).
Cassirer führt die symbolische Prägnanz im zweiten Teil des dritten Bandes der PsF aus.
Im zweiten Teil Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt
geht es um die Dimension der Darstellungsfunktion, wodurch deutlich wird, dass die
symbolische Prägnanz mit der Repräsentation, die in der Dingwahrnehmung hervortritt, im
Zusammenhang steht.
Dubach analysiert in seinem Aufsatz die symbolische Prägnanz Cassirers, indem er die
Auffassung Krois’ in Frage stellt.406 Dieser hatte die symbolische Prägnanz „als das
tragende Fundament des Cassirerschen Systems“407 herausgestellt und dies in weiteren
Beiträgen bestätigt.408 Dies hatte zur Folge, dass auch andere Autoren sich des Themas
annahmen und zur Vielfalt an Auffassungen diesbezüglich beitrugen.409
406 Dubach (1995).407 Dubach (1995), S. 47. Dubach verweist hier auf Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History. New
Haven/ London 1987, S. 52-57.408 Vgl. Dubach (1995), S. 47. Dubach verweist hierfür auf Krois(1988), S. 22-26 und Krois, Cassirer,
Neo-Kantianism and Metaphysics. In: Revue de Métaphysique et de Morale 97 (1992) S. 437-453,hierfür S. 448-450.
409 Vgl. Dubach (1995), S. 47 f.; auch Stipp (2003), S. 51: „Während Krois die symbolische Prägnanzbeispielsweise einerseits als eine ‚phänomenologische Idee‘ verstanden wissen will, sei sie gleichzeitig
195
Dubach erhebt zwei Einwände gegen Krois: erstens, dass die Aussagen Cassirers zur
symbolischen Prägnanz widersprüchlich seien. Das Verhältnis der symbolischen Prägnanz
zu den Modi der Ausdrucks- und der Dingwahrnehmung werde nicht deutlich und stehe
einer präzisen Einordnung des Begriffs in das System der Philosophie der symbolischen
Formen im Wege.
Der eigentliche Ausgangspunkt seiner Kritik ist die Feststellung Cassirers, dass „es keine
Wahrnehmung von so etwas wie einer bloßen Empfindung gibt“,410 sofern der Begriff der
symbolischen Prägnanz für das Phänomen der Wahrnehmung stehen sollte, wie Cassirer im
dritten Band von PsF sowie in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs betont. Das
Problem bestehe darin, dass „die These vom System der Philosophie der symbolischen
Formen ausgehend unterschiedlich begründet werden kann (und wird). Denn Cassirer
unterscheidet zwei Arten von Sinn, die ein Wahrnehmungserlebnis vermitteln können:
Darstellungssinn und Ausdruckssinn“.411 Diese beiden Sinnarten entsprechen einer
Doppelheit der Wahrnehmungsmodi, nämlich Ausdrucks- und Dingwahrnehmung. Dubach
umreißt das Problem der symbolischen Prägnanz mit folgenden Worten: „die
Unterscheidung von Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung bzw. Ausdruckssinn
und Darstellungssinn bietet Probleme für das Verständnis von symbolischer Prägnanz. Es
ist unklar auf welchen Wahrnehmungsmodus sich der Begriff der symbolischen Prägnanz
bezieht.“412 Die Möglichkeiten stehen offen, dass Cassirer ausschließlich die Sinnhaftigkeit
des Sinnlichen in ‚einem‘ Wahrnehmungsmodus meine oder aber, dass er sich zu dieser
Differenzierung neutral verhalte und das Phänomen in einer allgemeinen Weise bezeichne.
Zweitens werde die These Krois’, dass die symbolische Prägnanz das ‚Transzendentale‘
und damit den fundamentalsten Begriff413 der Philosophie Cassirers darstelle, einer
auch ‚das Transzendentale in Cassirers Philosophie‘. [Krois (1988), S. 23] Paetzold interpretiert inähnlicher Weise die symbolische Prägnanz als Modifikation der ‚transzendentalen Synthesis derApperzeption‘. [Paetzold (1994), S. XI] Knoppe sieht in ihr den ‚Inbegriff von Prinzipien undStrukturen, kraft deren Erfahrung überhaupt als geordnet gedacht wird‘ [Knoppe (1992), S. 175]; undwährend Graeser lediglich eine gewisse Undurchsichtigkeit konstatiert, [Graeser (1994), S. 145]offenbart sich für Kaegi im Prägnanzkonzept der maßgebliche Hiatus zu Kant. [Kaegi (1992)]Schwemmer wiederum kommt zu dem Ergebnis, Cassirer übertrage mit dem Prägnanzkonzept ‚dieallgemeine gestalttheoretische Auffassung von Prägnanz auf seine kontexttheoretische Konzeption vonIdentität‘ [Schwemmer (1997), S. 115 f.] und erkläre die symbolische Prägnanz damit zum ‚Movenseiner neuen Sicht und Gestaltungsmöglichkeit für unsere Wirklichkeit [Schwemmer (1997), S. 122].“
410 Dubach (1995), S. 54. Er verweist auf PsF III, S. 18 ; ZLS, S. 212, 214. 411 Dubach (1995), S. 54. Dubach zitiert auch die Stellen, in denen Cassirer Ausdrucksinn und
Darstellungssinn erklärt: „So hält Cassirer im ersten Teil von PsF III fest, daß die konkreteWahrnehmung »niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kaltoder warm – auf[geht], sondern [...] je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt[ist]«.“ (PsF III, S. 78); „Demgegenüber heißt es im zweiten Teil, daß die »einzelnen Momente derWahrnehmung rein repräsentativen Charakter erhalten, kraft dessen sie sich mit einem Bestimmten‚Darstellungssinn‘ erfüllen«.“ (PsF III, S. 268)
412 Dubach (1995), S. 55.413 Vgl. Krois (1988), S. 22, 23.
196
Untersuchung nicht standhalten, da die Unterscheidung zwischen natürlicher und
künstlicher Symbolik, auf die sich Krois bei seiner These hauptsächlich stützt, in der
Philosophie der symbolischen Formen keine tragende Rolle spielt.
Cassirer führt die zwei Formen der Wahrnehmungen auch in seinen Studien Zur Logik der
Kulturwissenschaft aus. In diesen will er die Wahrnehmung selbst als Phänomen verstehen
und geht von einer ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ aus. In der Wahrnehmung bestehe
immer eine Auseinanderhaltung des Ich-Poles vom Gegenstands-Pol, in der das eine Mal
eine Welt des ‚Es‘, eine Ding-Welt, und das andere Mal eine des ‚Du‘, eine Welt von
Personen, betrachtet wird. Es sei unverkennbar, dass, je nachdem man sich in die eine oder
andere Richtung bewege, die Wahrnehmung einen anderen Sinn und gewissermaßen eine
besondere Färbung und Tönung gewinne. Es sei auch unverkennbar und unbestritten, dass
der Mensch in dieser doppelten Weise die Wirklichkeit erlebe. Daher will Cassirer dieses
Phänomen der Wahrnehmung als einfaches Faktum, „an dem keine Theorie rütteln und das
sie nicht aus der Welt schaffen kann“ anerkennen (ZLK, 45). Bezüglich der
Ausdruckswahrnehmung merkt er an:
„Der Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung ist das,was die mythische Weltansicht charakterisiert. Für sie gibt es noch keine strengbestimmte und gesonderte »Sachwelt«. Denn es fehlt noch an jenen konstantenEinheiten, deren Gewinnung des [sic! das] erste Ziel aller theoretischenErkenntnis ist.“ (ZLK, 45)
Laut Cassirer stellt sich uns im reinen Phänomen des Ausdrucks „die Art, wie das
Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst
und unmittelbar“ in der Tatsache dar, dass „eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen
‚Gegebenheit‘ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich-Beseeltes zu erkennen gibt“
(PsF III, 108).
In seiner Analyse der Ausdrucks- und Dingwahrnehmung bezieht sich Dubach auf oben
zitierte Stelle (ZLK, 45) und gelangt zu dem Schluss, dass die Ausdruckswahrnehmung
von der gegenständlichen Wahrnehmung unabhängig sei. Anders als die
Dingwahrnehmung sei die Ausdruckswahrnehmung nicht dadurch gekennzeichnet, dass die
präsente Erscheinung auf andere potentielle Bewusstseinsinhalte als Teile eines
gegenständlichen Ganzen verweise. Das äußerlich Wahrgenommene besitze keine in der
Weise darstellende oder repräsentierende Funktion, sondern ein sinnlicher Inhalt sei
sinnhaft insofern, als er in seiner reinen Präsenz von ‚innerem Leben‘ durchdrungen
197
scheine und ein ‚innerliches Sein‘ ausdrücke.414 Er betont hingegen für die
Dingwahrnehmung bezüglich der symbolischen Prägnanz, dass „der ‚gegenständliche
Sinn‘ in der sinnlichen Anschauung [im Unterschied zu Ausdruckswahrnehmung]
unmittelbar enthalten ist“.415
Dubach macht deutlich, dass die Ausdruckswahrnehmung nur im Bereich der
Ausdrucksfunktion stattfindet und die Dingwahrnehmung im Bereich der
Darstellungsfunktion. Er weist auf die Stelle hin, in der Cassirer präzisiert welche Rolle die
Darstellungsfunktion in seinem Aufbau der anschaulichen Welt besitzt:
„Welchen Komplex man immer aus dieser Gesamtheit der »Erfahrung«herauslösen mag ― ob man das Beisammen der Phänomene im Raume oder ihrNacheinander in der Zeit, ob man die Ding-Eigenschaftsordnung oder dieOrdnung von »Ursachen« und »Wirkungen« betrachten mag ― immer zeigendiese Ordnungen eine bestimmte »Fügung« und einen gemeinsamen formalenGrundcharakter. Sie sind so geartet, daß von jedem ihrer Momente einÜbergang zum Ganzen möglich ist, weil die Verfassung dieses Ganzen injedem Moment darstellbar und dargestellt ist. Kraft des Ineinandergreifensdieser Darstellungsfunktionen gewinnt das Bewußtsein die Fähigkeit,‚Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können‘.“416
Dubach ist deshalb der Ansicht, dass Cassirers Erläuterung der symbolischen Prägnanz im
zweiten Teil des dritten Bandes von PsF nur die Dingwahrnehmung, will heißen, den
Darstellungssinn der Repräsentation betrifft. Man kann dieser Meinung Dubachs durchaus
zustimmen, da, wie dieser anführt, im Bereich der Ausdruckswahrnehmung die
symbolische Prägnanz noch nicht auftreten kann. So zieht Dubach den Schluss, dass das
Gewicht der symbolischen Prägnanz in PsF, anders als von Krois behauptet wird, lediglich
auf der Funktion der Repräsentation und der Wahrnehmung liegt. Ohne weiter im Detail
auf die einzelnen Argumente Dubachs gegenüber Krois’ These, die symbolische Prägnanz
sei das transzendentale Element in Cassirers Philosophie, eingehen zu wollen, soll nun
weiter das Augenmerk auf Dubachs ersten Einwand, Cassirers Aussagen zur symbolischen
414 Dubach (1995), S. 60.415 Dubach (1995), S. 59. Dubach verweist hierfür auf PsF III, S. 144: „Wo immer der Fall echter
Repräsentation vorliegt, da haben wir es nicht mit einem bloßen Empfindungs-M a t e r i a l zu tun, daserst nachträglich durch bestimmte Akte, die sich an ihm vollziehen, zur Darstellung einesGegenständlichen g e m a c h t und als solche g e d e u t e t wird. Immer ist es vielmehr eine geformteGesamt-Anschauung, die als objektiv-bedeutsames Ganzes, als erfüllt mit gegenständlichem ‚Sinn‘, voruns steht.“
416 PsF III, S. 222; Dubach (1995), S. 62. Cassirers Zitat ‚Erscheinungen zu buchstabieren, um sie alsErfahrungen lesen zu können‘ (Kant, Prolegomena, § 30, A 101) lautet in der Kritik der reinen Vernunft:„Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloßErscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, [...]“ –Kant (W1990), S. 322. KrV, A 314/ B 370 f.
198
Prägnanz seien widersprüchlich, gerichtet werden.
Seiner Analyse zur Folge muss sich die symbolische Prägnanz auf die Dingwahrnehmung
beziehen; er weist aber auch darauf hin, Cassirer habe nicht deutlich erwähnt, „daß die
Ausdruckswahrnehmung nicht symbolisch prägnant ist oder daß symbolische Prägnanz auf
die Dingwahrnehmung beschränkt ist“.417 Die Widersprüche in Cassirers Aussagen findet
Dubach im Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs, in dem Cassirer seiner Ansicht nach den
Begriff der symbolischen Prägnanz explizit auf die Ausdruckswahrnehmung anwende.
Cassirer versuche in diesem Aufsatz zu zeigen, dass die These, wonach in der
Ausdruckswahrnehmung ‚Leibliches‘ und ‚Seelisches‘ untrennbar miteinander verbunden
seien, nicht jegliche Unterscheidung der beiden Momente im Wahrnehmungserlebnis selbst
verunmöglichen müsse. Cassirer erklärt die Ausdruckswahrnehmung wie folgt:
„Das Erlebnis der ‚Schamröte‘ läßt sich freilich nicht, im Sinne einer bloßenElementarpsychologie, aus einem gesehenen ‚Rot‘ und einer erschlossenenoder hinzuphantasierten ‚Scham‘ zusammensetzen. Hier herrscht nicht bloßesBeieinander, sondern jenes Verhältnis, das ich mit dem Ausdruck der‚symbolischen Praegnanz‘ zu bezeichnen versucht habe.“ (ZLS, 222 f.)
Nach Dubach zeigt sich an dieser Stelle ganz deutlich, dass auch in der
Ausdruckswahrnehmung die symbolische Prägnanz die Verbindung von Sinnlichem und
Sinnhaften bezeichnet; eine Feststellung, die wiederum den Schluss zulasse, der Begriff der
symbolischen Prägnanz finde Cassirers Intention nach sowohl auf die Dingwahrnehmung
als auch auf die Ausdruckswahrnehmung Anwendung.
Dubach sieht sich aber in seiner eigenen Interpretation der symbolischen Prägnanz mit
einem Dilemma konfrontiert: Wenn sich symbolische Prägnanz auf die Dingwahrnehmung
beschränke, so entstehe ein Widerspruch zu Cassirers Ausführungen in Zur Logik des
Symbolbegriffs. „Wird der Begriff dagegen in einem weiten Sinn verwendet, so darf er
erstens nicht mehr mit der These der Korrelation von Form und Stoff in Verbindung
gebracht werden“.418 Hiermit ist Cassirers Standpunkt gemeint, nach dem „Stoff und Form
im Wahrnehmungserlebnis stets korrelativ aufeinander bezogen sind“.419 Bei Cassirer gibt
es weder eine Wahrnehmung „Form an sich“ noch eine Wahrnehmung „Stoff an sich“, es
gibt immer nur Gesamterlebnisse (PsF III, 231). ‚Form‘ und ‚Materie‘ oder ‚Sachwelt‘
kann nur bedingt auf die Ausdruckswahrnehmung angewendet werden.
417 Dubach (1995), S. 63.418 Dubach (1995), S. 66.419 Dubach (1995), S. 50.
199
Zweitens ergeben sich für Dubach somit auch Probleme mit der von Cassirer vertretenen
„gegenstandskonstitutiven Funktion der symbolischen Prägnanz“,420 denn die
Ausdruckswahrnehmung kann noch keine gegenstandskonstitutive Funktion haben.
Man kann im Allgemeinen den Argumenten Dubachs zustimmen, jedoch bietet die Stelle,
die dieser als Beweis dafür, dass die symbolische Prägnanz auch die
Ausdruckswahrnehmung einschließt (ZLS, 222 f.), heranzieht, durchaus Spielraum für
andere Interpretationen. Man kann diese Stelle auch alleinig als Cassirers besondere
Betonung dieses ‚Verhältnisses‘ interpretieren, „jenes Verhältnis, das ich [...] versucht
habe“. Wenn dem nämlich so wäre, dann gelänge es, die Behauptung Dubachs bezüglich
des Widerspruches zurückzuweisen. Denn Cassirers Beschreibung der symbolischen
Prägnanz zeigt deutlich, dass sie zur Dingwahrnehmung gehört421:
„Unter ,symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der einWahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmtennicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkretenDarstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß »perzeptive«Gegebenheiten, denen später irgendwelche »apperzeptive« Akte aufgepfroftwären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist esdie Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eineArt von geistiger ,Artikulation‘ gewinnt ― die, als in sich gefügte, auch einerbestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheitund Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ,im‘ Sinn. Sie wird nicht erstnachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheintgewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, dieseBezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahr-nehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll derAusdruck der »Prägnanz« bezeichnen.“ (PsF III, 235)
Man erinnere sich auch an Cassirers Äußerung über das mythische und empirisch
wissenschaftliche Bewusstsein (vgl. 3.2). Die empirisch wissenschaftliche Erkennntis und
der Mythos unterscheiden sich in ihrer Modalität des Raumbewusstseins. Die
Verknüpfungsweisen in der Betrachtung und Deutung des ‚Wirklichen‘ seien dieselben
allgemeinsten ,Formen‘ der Anschauung und des Denkens, die die Einheit des Bewußtseins
als solche und somit ebensowohl die Einheit des mythischen wie die des reinen
Erkenntnisbewußtseins konstituieren (PsF II, 78). Gestützt auf diese Ansicht Cassirers,
wird deutlich, dass die im Mythos herrschende Ausdruckswahrnehmung auch ‚Form‘
enthalten muss. Damit erscheint es recht gewagt, festzustellen, die beiden
420 Dubach (1995), S. 66.421 Cassirer führt die symbolische Prägnanz im zweiten Teil des dritten Bandes der PsF aus, in dem es um
den Bereich der Darstellungsfunktion und damit um den Bereich der natürlichen Weltbegriffe geht.
200
Wahrnehmungsmodi, also Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung seien
voneinander unabhängig, wie das bei Dubach der Fall ist, denn nach Cassirer muss jede
Form, „ehe sie ihre bestimmte logische Gestalt und Prägung erhält, ein mythisches
Vorstadium durchlaufen haben“ (PsF II, 78).
Dubach weist aber auch darauf hin, dass Orth auf die Ambivalenzen des Formbegriffs
ausdrücklich aufmerksam mache und darauf hinweise, dass „der Formbegriff bei Cassirer
in dem Sinne doppeldeutig ist, dass er nicht nur den »bloß abstrakten Funktionsbegriff«,
sondern auch die »ausdruckshafte Gestalt« bezeichnet.“422 Diese Ambivalenzen schreibe
aber Orth der bei Cassirer verbreiteten operativen Begriffsverwendung zu.423 Dubach
kritisiert Orths Auffassung, dass „der Begriff der symbolischen Prägnanz für die
»eigentümliche, korrelative Verbindung von Form und Stoff« steht“, denn damit werden
seiner Meinung nach „auf begrifflicher Ebene die zentralen Unterschiede, die zwischen der
Ausdrucks- und der Dingwahrnehmung liegen, verwischt. Die Formel, daß symbolische
Prägnanz die Korrelation von Form und Stoff bezeichnet, ist nur vordergründig griffig,
denn sie baut auf einem bewußt unscharf belassenen Formbegriff auf.“424 Man fragt sich,
ob man, wie Dubach dies möchte, den Formbegriff bei Cassirer schon in der Phase der
Wahrnehmung, gleichgültig ob es sich dabei um Ausdruckswahrnehmung oder um
Dingwahrnehmung handelt, so deutlich unterscheiden kann. Wie schon erwähnt, gehören
die Ausdrucks- und die Dingwahrnehmung in der Begriffstheorie Cassirers dem Bereich
des natürlichen Weltbegriffs an. So gesehen ist es ebenfalls fraglich, ob die ‚zentralen
Unterschiede‘ der beiden eine so wichtige Rolle spielen wie Dubach annimmt. Denn der
echte Begriff bei Cassirer kann erst im Bereich der Bedeutungsfunktion, des
wissenschaftlichen Weltbegriffs, auftreten.
Man kann hier in Bezug auf die Kritik Dubachs nur darauf hinweisen, dass bei Cassirer die
symbolische Form als die Energie des Geistes bezeichnet wird und die Wahrnehmung
selbst als ‚Phänomen‘, als einfaches Faktum, ‚an dem keine Theorie rütteln und das sie
nicht aus der Welt schaffen kann‘ hingenommen werden sollte.
Die symbolische Prägnanz kann, wie die bisherige Untersuchung zeigt, im Wesentlichen in
der anschaulichen Welt der Darstellungsfunktion wirksam sein. Sie kann aber der
Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis als ,das tragende Fundament‘ dienen.
422 Dubach (1995), S. 68; Dubach verweist auf Orth (1985), S. 183.423 Dubach (1995), S. 68; bei Orth (1985), S. 190, Dubach verweist auch auf Orth (1988).424 Dubach (1995), S. 68; vgl. Krois (1988), S. 24 f. Krois hebt hervor, dass Cassirer sich bei der
Verbindung von Form und Stoff in der Wahrnehmung an die ‚Gestalt-Theorie‘ anschließt und von dieserdie Grundidee der symbolischen Prägnanz übernimmt; vgl. Prägnanz in Ritter et al. (HWP), Bd. 7, S.1249 f.; vgl. Metzger (1975/1986), S. 146 f.; vgl. auch Gehlen (2009), S. 158 f.
201
Denn die wissenschaftliche Begriffsbildung beginnt im Bereich der Ausdrucks- und
Darstellungsfunktion und die Symbole formen sich besonders in der Sphäre der
Dingwahrnehmung und der Darstellungsfunktion zu Sprachbegriffen. Der ‚natürliche
Weltbegriff‘ oder Sprachbegriff beginnt sich dann zum wissenschaftlichen Begriff zu
formen und hierfür ist die symbolische Prägnanz entscheidend, denn der wissenschaftliche
Begriff wird auf diesem Fundament der symbolischen Prägnanz weiter aufgebaut425:
„Die Wissenschaft baut eine Welt auf, in der zunächst an die Stelle derAusdrucksqualitäten, der »Charaktere« des Vertrauten oder Fruchtbaren, desFreundlichen oder Schrecklichen, die reinen S innes qua l i t ä t en der Farbe,des Tones u.s.f. getreten sind. Und auch diese letzteren müssen immer weiterreduziert werden. Sie sind nur »sekundäre« Eigenschaften, denen die primären,die rein-quantitativen Bestimmungen zu Grunde liegen. Diese letzteren bildenall das, was für die Erkenntnis als objektive Wirklichkeit zurückbleibt.“ (ZLK,46)
Auffällig ist auch an der Beschreibung der symbolischen Prägnanz, dass ein bestimmter
nicht-anschaulicher Sinn, die immanente Gliederung der Wahrnehmung und die geistige
Artikulation hervorgehoben werden. Die Definition der Prägnanz — „diese ideelle
Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen
Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes“ (PsF III, 235) —
erinnert daran, dass Cassirer das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem des
Begriffs als Korrelation bezeichnet. Die Bezogenheit des Einzelnen, also des Besonderen,
auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, auf das Allgemeine, soll hier dann Prägnanz
heißen. Diese Bedeutung der Prägnanz hat auch schon Volker Schürmann erkannt, der
versucht, mit dem Begriff der Prägnanz die Korrelativität von Allgemeinem und
Besonderem in Verbindung zu bringen.426 Das Besondere bekommt durch diese
Korrelativität einen Sinn im Sinn-Ganzen und damit wird ihm eine Stelle zugewiesen oder
zugeordnet, was wiederum eine Zuordnung des Erfahrungssystems ermöglicht.
Cassirer ist der Ansicht, der Symbolbegriff solle trotz der verschiedenen symbolischen
Formen einen einheitlichen Gehalt und eine allumfassende geistige Funktion besitzen.
Diese geistige Funktion soll in ihren Grundzügen gleich bleiben, „wenngleich sie in jeder
ihrer Auswirkungen eine neue, spezifisch-eigentümliche Gestalt annimmt“ (SP, 298).
425 Vgl. Bermes (1997), S. 165. Bermes gebraucht die ‚Bedeutungsprägnanz‘ synonym mit symbolischerPrägnanz (Verweis auf Cassirer ET II, S. 146, Fußnote 28). Wenn man unter symbolischer Prägnanz wieBermes Bedeutungsprägnanz versteht, wird noch deutlicher, dass die symbolische Prägnanz für diewissenschaftliche Begriffsbildung unentbehrlich ist.
426 Schürmann (1993), S. 168; vgl. Ihmig (1993c), S. 172.
202
Somit kann man festhalten, dass der Begriff der symbolischen Form nicht nur für die
einzelnen besonderen Formen, sondern auch für das Allgemeine des Begriffs der
symbolischen Form steht. Wenn Cassirer die theoretische oder wissenschaftliche
Erkenntnis als symbolische Form bezeichnet, sollte man sie doch anders als bei Sprache
und Mythos verstehen. Man kann den Begriff der symbolischen Form wie bei Orth als
„operativen Begriff“427 auffassen und seine Bedeutung aus dem Kontext heraus verstehen.
Nur so hat man die Möglichkeit, die Begriffe ,Symbol‘ und ,symbolische Form‘ zu
verstehen, die das Allgemeine und zugleich das Besondere sind und die Einheit des
Begriffs aufbauen sollen.
Man verliere, so Cassirer, den Blick für das Ganze, wenn man die Symbolfunktion nur „auf
die Ebene des begrifflichen, des ,abstrakten‘ Wissens einschränkt“:
„Es ergibt sich [...], daß das Symbolische rein als solches, sofern man es inseiner ganzen Weite und Universalität versteht, keineswegs auf jene Systemeder reinen Begr i f f s ze i chen eingeschränkt ist, wie sie die exakteWissenschaft, insbesondere die Mathematik und die mathematischenNaturerkenntnis, ausbildet. Der Welt dieser Begriffszeichen stehen die Gebildeder Sprache und die des Mythos zunächst als etwas durchaus Unvergleichlichesgegenüber: und doch tritt in ihnen allen insofern eine gemeinsame Bestimmunghervor, als sie sämtlich in den Kreis der ,Darstellung‘ gehören. [...] DieBildwelt des Mythos, die Lautgebilde der Sprache und die Zeichen, deren sichdie exakte Erkenntnis bedient, bestimmen je eine eigene D imens i on derDarstellung — und erst in ihrer Gesamtheit genommen konstituieren alle dieseDimensionen das Ganze des geistigen Sehraums. Man verliert den Blick fürdieses Ganze, wenn man die Symbolfunktion von vornherein auf die Ebene desbegrifflichen, des ,abstrakten‘ Wissens einschränkt. Es gilt vielmehr zuerkennen, daß diese Funktion nicht einem einzelnen Stadium des theoretischenWeltbildes angehört, sondern daß sie dieses in seiner Totalität bedingt undträgt. Nicht erst das Reich des Begriffs, sondern bereits das der Anschauungund das der Wahrnehmung hat an dieser Bedingtheit teil [...].“ (PsF III, 56 f.)
Damit ist die symbolische Prägnanz Cassirers als Alternative und Anschluss an die
Vermögenspsychologie Kants anzusehen.428 Dass die Symbolfunktion von Anfang an die
Erkenntnis oder ihren Prozess begleiten soll, ist an dieser Stelle verdeutlicht worden. Man
lebt nicht nur in einer physikalischen Welt, sondern auch in einer symbolischen Welt, da
das Symbol das ist, was dem Menschen eigentümlich ist, und die symbolische Natur die
formende Funktion des Geistes ist.429
Deutlich erkennt man auch an dieser Stelle Cassirers Versuch, in PsF durch ‚Symbol‘ die
427 Vgl. Orth (1988). 428 Krois’ Interpretation (s.o. S. 195) scheint sich an dieser Stelle zu bestätigen.429 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 283.
203
Allgemeinheit des Begriffs und ‚Symbol‘ als allgemeine Begriffsform darzustellen; ein
Versuch der dem in SuF gleicht, als er mit dem Funktionsbegriff die allgemeine Form des
Begriffs aufzustellen versuchte (vgl. 2.2; 3.3.5), jedoch selbst erkannte, dass der
Funktionsbegriff die Forderung der allgemeinen Form des Begriffs nicht vollständig
erfüllen kann (vgl. 2.3.3). Der Symbolbegriff, die erweiterte Begriffsform, ist umfassender
als der Funktionsbegriff, der nur für die Bedeutungsfunktion Geltung hat. In der
symbolischen Prägnanz wird die Verwandtschaft zwischen Symbolbegriff und
Funktionsbegriff deutlich, denn in der symbolischen Prägnanz geht es um Invarianz oder
Konstanten in der Funktion und Variation oder Transponierbarkeit.430
Cassirer ist der Ansicht, dass alle theoretische Welterklärung bei ihrem ersten Auftreten
einer geistigen Macht des Mythos gegenübergestellt wird. Philosophie und Wissenschaft
müssen den Mythos ‚in seiner Wurzel angreifen‘ und diese Wurzel ist die
Ausdruckswahrnehmung. Dabei dürfen sie diese Ausdruckswahrnehmung nicht zum
entgegengesetzten Extrem drängen, denn die Wissenschaft baut eine Welt auf den
Ausdrucksqualitäten auf, an deren Stelle die reinen Sinnesqualitäten getreten sind, und
letztere sind es, die immer weiter für die Erkenntnis als ‚objektive Wirklichkeit‘ reduziert
werden müssen. Wenn Cassirer feststellt, es gäbe nur graduelle, nicht aber prinzipielle
Unterschiede in der symbolischen Funktion des Bewusstseins, zum Beispiel zwischen
Kunst und Mythos, Mythos und Wissenschaft, so ist dies nun verständlich geworden.
Cassirer bringt so die Sprache, den Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis in der PsF
unter einem Dach, unter dem Begriff der symbolischen Form zusammen.
Das Seiende dient, wie bisher gesehen, als Ausgangspunkt für die Erkenntnistheorie
Cassirers und so ist es auch im Falle der Philosophie der symbolischen Formen. Die Frage
nach dem Seienden muss aber auf seinen Begriff und auf die Bedeutung dieses Begriffs
gerichtet sein, sie soll nicht auf die Glieder, sondern auf die Verfassung und die Struktur
des Seins gerichtet sein. Das Denken soll als Wechselbegriff des Seins eine neue
Bedeutung gewinnen. Es ist jetzt kein bloßes Reflektieren über das Sein, „sondern seine
eigene innere Form [...], die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt“ (PsF I, 4).
Daher sieht Cassirer die Grundbegriffe der Wissenschaften als selbstgeschaffene
intellektuelle Symbole an (vgl. PsF III, 385).
In der Philosophie der symbolischen Formen steht die Begriffsbildung, wie sie vom
Sprachbegriff zum wissenschaftlichen Begriff fortgeht und wie sie durch die Funktion des
Symbols und Zeichens aufgebaut wird, im Mittelpunkt. Man gewinnt die Invarianz oder
430 Vgl. Metzger (1982/1986), S. 184; vgl. auch Ehrenfels (1890/1988).
204
Konstanz durch die Wahrnehmung, die bei Cassirer eine Grundfunktion und zugleich ein
intellektueller Akt ist. Die Invarianz oder Wahrnehmungskonstanz wird durch das Zeichen
fixiert und dieses trägt den Inhalt weiter, so dass das Zeichen an die Stelle des Abbildens
eine Zuordnung im System der Begriffsbildung treten lässt. Die wissenschaftlichen
Begriffe, die in der Begriffsbildung Cassirers letzte Produkte sind, entsprechen der
symbolischen Dimension der reinen Bedeutung. Sie ist eine logische Dimension und soll
eine neue Weise des objektiven Sinnbezugs darstellen.
3.6. Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer
3.6.1. Marc-Wogaus Kritik an Cassirers Symbolbegriff
Obgleich seit den 1980er Jahren zahlreiche Interpretationen von Cassirers PsF erschienen
sind und viele Kritiker von jeweils unterschiedlichen Standpunkten aus Bemerkungen über
die Philosophie Cassirers machten,431 scheint die zu seinen Lebzeiten geführte
Auseinandersetzung mit Marc-Wogau432 von besonderer Bedeutung für die vorliegende
Arbeit zu sein, da sie die Fragestellung der vorliegenden Arbeit unmittelbar betrifft.
Deshalb soll nun in diesem Abschnitt das Augenmerk auf die unterschiedlichen Meinungen
der beiden bezüglich des Symbolbegriffs gerichtet werden. Ausgangspunkt hierbei ist der
1936 von Marc-Wogau in Theoria veröffentlichte Aufsatz Der Symbolbegriff in der
Philosophie Ernst Cassirers, welchem eine Replik seitens Cassirers 1938 in der
gleichnamigen Zeitschrift unter dem Titel Zur Logik des Symbolbegriffs folgte.
431 Vgl. Stipp (2003), S. 18 f. Stipp schildert die gegenwärtige Forschung zu Cassirer und ihreverschiedenen Standpunkte.
432 Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer dauerte ca. 4 Jahre an. Konrad Marc-Wogau war Mitherausgeber der schwedischen Zeitschrift ‚Theoria‘, die 1935 gegündet wurde. 1936veröffentlichte Cassirer in dieser Zeitschrift die Rezension von Marc-Wogaus Schrift Inhalt undUmfang des Begriffs. Darauf folgte Marc-Wogaus Replik im selben Jahr im dritten Heft der TheoriaDiskussionsinlägg. Inhalt und Umfang des Begriffs. K. Marc-Wogaus Bemerkungen zu derBesprechung Ernst Cassirers (S. 335-342). Im gleichen Heft veröffentlichte er auch eine Kritik überCassirers Symbolbegriff, der dieser dann 1938 in Theoria 4 entgegnete. 1940 nahm Marc-WogauStellung zu Cassirers Aufsatz (Was ist ›Subjektivismus‹? Theoria 5, 1939), Was ist ›Subjektivismus‹?Bemerkungen zum gleichnamigen Vortrag E. Cassirers, in Theoria 6 (1940, S. 66-74). Cassirerbeschäftigte sich noch einmal 1940 mit einer Kant-Interpretation Marc-Wogaus (vgl. Bermes 1997, S.170) mit dem Titel Neuere Kant-Literatur, in Theoria, 6 (1940, S. 87-100).
205
3.6.1.1. Kritik Marc-Wogaus
Marc-Wogau äußert zunächst, dass er in seinem Aufsatz nur die leitenden Gesichtspunkte
der Philosophie Cassirers berücksichtigen konnte und dabei die vielfältige Anwendung des
Grundgedankens beinahe außer Acht lassen mussste.433 So richtet sich seine Kritik
hauptsächlich auf die Deutung des Symbolbegriffs und die einzelnen symbolischen
Funktionen, nämlich die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion.
Bezüglich des Symbolbegriffs führt er zwei Kritikpunkte an, von denen sich der erste auf
das Verhältnis in Cassirers Darstellung richtet, das sich seiner Meinung nach als ein
Verhältnis der Gegensätzlichkeit darstellt. Interessanterweise führt er als Beleg seiner
Kritik eine Stelle aus Cassirers Schriften an, in der dieser seinen Symbolbegriff eher
allgemein fasst: „Wir versuchten mit ihm [Symbolbegriff] das Ganze jener Phänomene zu
umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich
darstellt; — in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich
als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes
darstellt.“ (PsF III, 109) In dieser Erklärung stelle Cassirer, so Marc-Wogau, den Gedanken
des Verhältnisses der Gegensätzlichkeit zwischen dem sinnlich Gegebenen und der
Sinnerfüllung sowie zwischen Form und Materie und zwischen Zeichen und Bezeichnetem
dar, obschon diese Gegensätzlichkeit im Bereich des ‚Ausdrucksphänomens‘ nicht
vorhanden sei. Es herrsche bei Cassirer eine Art ‚Polarität‘434, „ohne welche das
433 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 279. Er fasst dabei zunächst drei charakteristische Hauptpunkte derGedankenwelt Cassirers zusammen, S. 282-283: 1) Er betont die Relativierung des Objekts- und desWirklichkeitsbegriffs bei Cassirer und dass durch sie die dualistische „absolute“ Entgegensetzung vonSubjekt und Objekt, von Form und Materie überwunden sein sollte. Die Differenzierung des Gegebenenist für Cassirer ein unabschließbarer Prozess und der Gegensatz von Subjekt und Objekt ist nichtstatischer sondern dynamischer Natur. „Jede neue Erkenntnis, jede neue wissenschaftliche Theoriebedeute die Hervorhebung neuer Konstanten, die dann als das Objektive betrachtet würden, währenddasjenige, was vorher als objektiv gegolten habe, zu etwas Subjektivem degradiert werde. Aber dieseEntwicklung bedeutet [...] nicht, dass die neue Erkenntnis das Ergebnis der früheren vernichtet.Vielmehr bilden sämtliche Stufen dieser Entwicklung einen systematischen Zusammenhang undbegründen erst in diesem die echte Einheit der Erkenntnis.“ 2) Die „Gestaltung zur Welt“ ist nicht nurauf die reine Erkenntnisfunktion angewiesen, sondern „sie wird auch durch die Funktion dessprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens oder die Funktion derkünstlerischen Anschauung vollzogen“. Alle diese Funktionen sind voneinander unterschieden und diegeistige Gestaltung bewegt sich bei ihnen in verschiedenen Dimensionen. 3) Der Grundgedanke derPhilosophie der symbolischen Formen ist die formende Funktion des Geistes, die symbolischer Naturist: „Jede Formung oder Gestaltung bedeutet für Cassirer [...] eine Differenzierung des unmittelbarGegebenen, d. h. das Festhalten eines Elementes, das sich dann von anderen abhebt und dennoch zuihnen in eine bestimmte Beziehung gesetzt wird. Diese Beziehung ist nun für Cassirer die Beziehung derRepräsentation. Die Repräsentation, die Darstellung eines Inhaltes durch einen anderen ist nach ihm dieGrundfunktion des Bewusstseins. Sie konstituiert die »Formeinheit« des Bewusstseins.“
434 Marc-Wogau (1936b) S. 289. Er bezieht sich auf PsF III, S. 382: „[...] kein echter Sinn ist als solcherschlechthin einfach, sondern er ist eins und doppelt“.
206
symbolische Verhältnis seine Bedeutung verlieren würde“.435 Daher meint er, dass das, was
für den Symbolbegriff wesentlich ist, nicht nur die Gegensätzlichkeit von sinnlich
Gegebenem und Symbolisiertem, „sondern auch der Gedanke einer ganz bestimmten
Relation zwischen den beiden Momenten“ ist.436
Sein zweiter Kritikpunkt richtet sich auf die symbolische Relation in Bezug auf die Frage,
wie „das Verhältnis von Stoff und Form in dem sinnerfüllten Ganzen zu fassen“ ist und
wie „die Beziehung zwischen dem sinnlichen Symbol und dem Symbolisierten, d.h. die
Funktion der Sinnerfüllung selbst zu deuten“ ist.437 Suche man eine Antwort auf diese
Fragen, so stoße man auf die von Cassirer oft wiederholte Anweisung, in welchem Sinne
die symbolische Beziehung nicht gedeutet werden dürfe: „Keine ontische Kategorie (wie
etwa die Kategorie der Kausalität oder der Substantialität) dürfe hierzu verwendet werden.
Die symbolische Relation lasse sich »weder in eine Dingbeziehung noch in eine
Kausalbeziehung umdenken« [...]. Sie und ihre Unterarten: Ausdrucks-, und Darstellungs-
und Bedeutungsfunktion, seien Beziehungen sui generis.“438 Als Beleg hierfür weist Marc-
Wogau auf eine Stelle in PsF hin,439 in der es heißt:
„Das Verhältnis der »Erscheinung« zu dem seelischen Gehalt, der sich in ihrausdrückt; das Verhältnis des Wortes zu dem Sinn, der durch dasselbedargestellt wird, und schließlich das Verhältnis, in dem ein beliebigesabstraktes »Zeichen« zu dem Bedeutungsgehalt steht, auf den es hinweist: diesalles hat in der Art, wie Dinge im Raume ne beneinander stehen, wieEreignisse in der Zeit au fe i na nde r fo lgen oder wie reale Veränderungenaus e i nande r hervorgehen, nicht seinesgleichen; sein spezifischer Sinn kannnur ihm selber entnommen, nicht aber durch Analogien aus der Welt, die durchdiesen Sinn selbst erst »ermöglicht« wird, verdeutlicht werden.“ (PsF III, 118)
Daraus ergibt sich für ihn, dass Cassirer den „positiven Sinn festzustellen“ versucht, „den
er mit der seiner Ansicht nach spezifischen symbolischen Relation verbindet.“440 So zieht
Marc-Wogau aus seiner Untersuchung den Schluss, dass die ‚positive Deutung‘ der
symbolischen Relation bei Cassirer ‚dialektisch‘ sei; eine Dialektik, die sich daraus ergebe,
dass die symbolische Relation bei Cassirer sowohl den Gedanken der Identität zwischen
sinnlich Gegebenem und Sinnerfüllung sowie zwischen Zeichen und Bezeichnetem in sich
zu enthalten scheine, als auch den Gedanken der Gegesätzlichkeit von diesen. Dies ergibt
435 Marc-Wogau (1936b), S. 289.436 Marc-Wogau (1936b), S. 290.437 Marc-Wogau (1936b), S. 290.438 Marc-Wogau (1936b), S. 290. Marc-Wogau zitert hier PsF III, S. 117.439 Marc-Wogau (1936b), S. 290. Marc-Wogau zitert hier PsF III, S. 118.440 Marc-Wogau (1936b), S. 290.
207
sich, so Marc-Wogau weiter, als „eine Konsequenz aus gewissen Begriffsbestimmungen
und Ausführungen bei Cassirer“.441 Durch entsprechende Nachweise versucht er dies im
weiteren Verlauf seines Aufsatzes zu belegen.
Marc-Wogau führt zunächst in seinem Beweisgang an, wenn Cassirer „das Verhältnis
zwischen sinnlich Gegebenem und Sinnerfüllung, zwischen Materie und Form als ein
Verhältnis strenger Korrelation“ charakterisiert, so bedeutet dies, dass „dieser Gedanke die
Annahme der Identität der korrelativ verbundenen Glieder zur Konsequenz hat.“442 Um dies
deutlich zu machen, geht er näher auf die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem bei
Cassirer ein. Zeichen und Bezeichnetes seien nicht zwei ‚realiter‘ trennbare Momente, sie
sollten aber nach Cassirer gedanklich unterschieden werden können. Cassirer meine, dass
die Beziehung zwischen ihnen das Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit sein solle. Diese
Bedingtheit bei Cassirer besage, dass die Glieder der in Rede stehenden Relation ihrer
Bestimmtheit nach durch einander bedingt seien. Diese Bedingtheit bedeutet für Marc-
Wogau, dass das eine Glied nur in Bezug auf das andere einen Sinn hat und umgekehrt.
Dies setzt jedoch voraus, dass der Gedanke an das eine Glied bereits den Gedanken an das
andere in sich trägt.443 Es ist dann für ihn unmöglich, zwischen A und B zu unterscheiden,
wenn das eine Glied A seine Bestimmtheit nur in Bezug auf das andere B erhält, und B
seine Bestimmtheit nur in Bezug auf A erhält. Das führt ihn zu dem Ergebnis, dass bei
Cassirer auch die Identität zwischen A und B gesetzt worden ist.
Auch die ‚eigentlich-signifikativen Zeichen‘ bei Cassirer werden von Marc-Wogau unter
diesem Gesichtspunkt analysiert. Cassirer unterscheidet angelehnt an Edmund Husserl
zwischen „anzeigenden“ und „signifikativen“ Zeichen (PsF III, 377). Nach Husserl ist
jedes Zeichen „Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine ‚B ede u tung‘, einen ‚Sinn‘,
der mit dem Zeichen ‚ausged r üc k t ‘ ist. [...] Nämlich Zeichen im Sinne von
A nze i che n (Kennzeichen, Merkzeichen u. dgl.) d r üc ken n i ch t s au s , es sei denn,
daß sie ne be n der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen.“444
Eingedenk dieser Erklärung Husserls, meint Cassirer, dass ein Ding oder ein Ereignis in
der empirischen Welt zum Zeichen für ein anderes werden kann, sobald es mit dem Ding
besonders durch die Beziehung der Kausalität verbunden ist. Der Rauch zum Beispiel kann
das Feuer, der Donner den Blitz ‚bezeichnen‘, aber diese Art der Zeichen drücken nichts
aus, denn sie sind nur auf die konstante Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem
441 Marc-Wogau (1936b), S. 291.442 Marc-Wogau (1936b), S. 291.443 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 291 f.444 Husserl (1980), Bd. II/1, S. 23.
208
zurückzuführen (vgl. PsF III, 377). Sie sind also keine eigentlich-signifikativen Zeichen:
„Die reale Beziehung [...] enthält als solche noch keinerlei hinreichendenGrund für die r ep rä se n t a t i ve Beziehung, die durch sie erklärt werden soll.Die Empfindung müßte, um auf den Gegenstand hindeuten und um ihndarstellen zu können, nicht nur eine Wirkung von ihm sein, sondern sie müßtesich auch als dessen Wirkung wissen — und eben die Möglichkeit einesderartigen Wissens bleibt unverständlich, solange wir nicht den Kreis der bloß»anzeigenden« Zeichen verlassen und in den Kreis der echten, der eigentlich-und ursprünglich- »signifikativen« Zeichen eintreten.“ (PsF III, 379 f.)445
Cassirer betont hier, dass man den Kreis der ‚anzeigenden‘ Zeichen verlassen und in den
Kreis der ‚signifikativen‘ Zeichen eintreten soll. Damit wird auch deutlicher, dass seine
Symbol- und Zeichentheorie stufenweise, also durch die drei Dimensionen hindurch
betrachtet werden muss; ähnliche Formulierungen wie diese findet man an verschiedenen
Stellen in seinen Schriften (vgl. IUB, 220; BmD, 52 f.; PsF III, 395, 539 f.).
Zu dem eigentlich-signifikativen Zeichen Husserls und Cassirers meint Marc-Wogau, dass
eine echte signifikative Zeichenrelation dadurch charakterisiert ist, dass „bei ihr die
Auffassung des Zeichens zugleich auch Auffassung des Bezeichneten ist“.446 Trotz einer
Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem folgt dieses Ergebnis aus der Deutung der
symbolischen Relation, denn diese enthält auch den Gedanken an die Identität von Zeichen
und Bezeichnetem. Mit der Behauptung, dass sich sein Ergebnis noch bestätigen werde,
wenn man sich der Behandlung der symbolischen Funktion bei Cassirer zuwende, schickt
sich Marc-Wogau an, in diesem Zusammenhang die Ausdrucks-, Darstellungs- und
Bedeutungsfunktion zu analysieren.
Es wird im Folgenden aber nicht auf alle Bereiche der symbolischen Funktionen
eingegangen, sondern nur auf den Bereich der Bedeutungsfunktion, in dem Marc-Wogau
Cassirers Begriffslehre kritisiert.
Um die Kritik Marc-Wogaus besser verstehen zu können, soll zunächst festgehalten
werden, dass dieser die Philosophie der symbolischen Formen streng genommen als nichts
anderes „als eine Erweiterung und Vertiefung des Grundgedankens der Begriffslehre
Cassirers“ ansieht.447 Darüber hinaus ist er der Meinung, dass Cassirer in PsF weiterhin
seinen Grundgedanken der Begriffslehre von SuF bewahrt. Somit stehe die Begriffslehre
sowohl genetisch als auch systematisch im Zentrum der Cassirerschen Philosophie.
445 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 294. 446 Marc-Wogau (1936b), S. 295.447 Marc-Wogau (1936b), S. 324.
209
Marc-Wogaus leitender kritischer Gesichtspunkt bleibt bei seiner Kritik an der
Bedeutungsfunktion Cassirers unverändert. Er bemerkt weiter, dass „der Cassirerschen
Lehre von der Bedeutungsfunktion ein Doppelgedanke zugrunde liegt“448 und dieser
Doppelgedanke sich aus dem Gedanken an die Identität ergibt. Dies beruht Marc-Wogaus
Meinung nach wiederum auf zwei wesentlichen Gedanken Cassirers, nämlich dem
Gedanken der Korrelation und dem der Zeichenfunktion. Der Begriff bei Cassirer sei das
‚Eine im Vielen‘ und er suche „die Lehre vom Begriff als Ga t tung durch die Lehre vom
Begriff als Re la t i on zu ersetzen“.449 Um dies zu beweisen, führt Marc-Wogau seine
Argumentation wie folgt aus.
Die Relation zwischen Form und Materie in PsF, die Beziehung des Begriffsinhalts zum
Begriffsumfang, sei eine symbolische Relation und heiße ‚Bedeutungsrelation‘. Die Frage
nach dem Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs liege für Cassirer auf derselben
Linie wie die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Gegenstand, es handele sich
dabei ebenfalls um die symbolische Relation der Bedeutung:
„Es ist ein Grundgedanke der Cassirerschen Begriffslehre, dass dem Begriff dieKraft einer geistigen Formung und damit auch die Kraft der Objektsetzungzukommt. Der Begriff sei nicht etwa bloss ein Abstraktionsprodukt, sondernselbst produktiv. Er sei nicht aus gegebenen Inhalten abgezogen, sondern erverleihe dem unter ihn fallenden Besonderen erst dessen Bestimmtheit. Stetskomme in ihm eine Aktivität zum Ausdruck. Hierdurch ist das Verhältnis desBegriffs zum Objekt, wie auch des Allgemeinen zum Besonderen angegeben.Cassirer charakterisiert dieses Verhältnis als »ein rein ideelles Verhältnis: einVerhältnis des Bed i ngens «.“450
Hierzu meint Marc-Wogau weiter, dass die Deutung der Bedeutungsrelation bei Cassirer,
wenn man sie konsequent zu Ende denkt, Gefahr läuft, „mit der klar ausgesprochenen
Behauptung der »Polarität« von Form und Stoff und von Allgemeinem und Einzelnem in
Widerspruch zu geraten“.451 Bedenke man das von Cassirer angenommene Verhältnis des
Bedingens zwischen Form und Materie beziehungsweise zwischen Funktion und
Einzelwerten, so ergäbe sich daraus, dass die Einzelwerte (die Materie) ihre Bestimmtheit
und Objektivität durch die Form erhalten452:
448 Marc-Wogau (1936b), S. 328.449 Marc-Wogau (1936b), S. 325.450 Marc-Wogau (1936b), S. 326. Marc-Wogau verweist auf PsF III, S. 370.451 Marc-Wogau (1936b), S. 326.452 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 327; vgl. auch PsF III, S. 381. Die Einzelwerte werden bei Cassirer als
solche bezeichnet „sofern sie zueinander in der durch die Funktion ausgedrückten Verknüpfung stehen.Das Einzelne, Diskrete besteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang, den es in irgendeinerForm des Allgemeinen, mag darunter nun die Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes«
210
„Bei den wissenschaftlichen Begriffen überhaupt und vor allem bei denmathematischen löst sich nach Cassirer das reine Denken vom Mutterboden derAnschauung los und setzt als Träger des »objektiven Seins« Gebilde vonprinzipiell unanschaulicher Natur. Die Gegenstände der mathematischenWissenschaft sind ihr nicht gegeben, sondern werden erst durch sie selbsterschaffen. Je »reiner« diese Gegenstände sind, desto klarer ist es, dass ihreBestimmtheit mit ihrem Bestimmtsein durch die Begriffe gleichzusetzen ist:ihre Bestimmtheit geht darin auf, dass sie Glieder des im Begriff ausgedrücktenRelationsgefüges sind.“453
Dieser Gedanke Cassirers trete in der Deutung seines Zahlbegriffs klar zutage. Die einzelne
Zahl bedeute nach der von Cassirer verfochtenen ordinalen Theorie niemals etwas für sich
allein, sondern ihr komme ein fester Wert nur als Stelle im Gesamtsystem zu.454 Marc-
Wogau bezeichnet daher die Formulierung Cassirers — „Die Essenz der Zahlen geht in
ihrem Stellenwert auf.“ (SuF, 51) — als „schärfste Formulierung für das Bedingstsein des
Einzelnen durch die Funktion“.455 Wenn dies der Sinn des Bedingtseins ist, so Marc-
Wogau, dann sei es unmöglich, den Stoff von der Form, das Einzelne von der Funktion in
irgendeinem Sinne zu trennen. Denn mit dem Einzelnen ist seiner Meinung nach schon das
Relationsgefüge, dem es angehört, mitgedacht. Wenn das so ist, dann „kann es aber auch
nicht gedanklich, durch eine distinctio rationis, von diesem Relationsgefüge unterschieden
werden“. Daher meint er weiter, „[i]n bezug auf die Funktion oder ‚Form‘ folgt aus der
Annahme der Korrelation von Form und Stoff, dass die Beziehung zu den Einzelwerten als
zu ihr gehörend gedacht werden muss“.456 Cassirer betone, die Beziehung zum Umfang
muss in den Inhalt des Begriffs selbst hineingelegt werden.457 Der Begriff bei Cassirer sei
nicht Etwas, was forme, sondern die Formung selbst, und so falle letztlich der Inhalt eines
Begriffs mit seiner Beziehung zu den Einzelwerten zusammen. Auch die Annahme
Cassirers, „dass die Beziehung zum Umfang im Inhalte des Begriffs selbst liegen soll“
trifft nach Marc-Wogau nicht zu, da sie in ihrer Konsequenz bedeute, dass Inhalt und
Umfang nicht gedanklich unterschieden werden können. „Denn mit dem Inhalt ist dann ja
der Umfang schon gedacht. Eine distinctio rationis ist unter solchen Umständen nicht
möglich. Sie wird aber anderseits von Cassirer angenommen und gefordert.“458 Dieser
kurze Einblick in das Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs soll zunächst
verstanden werden, besitzt“. 453 Marc-Wogau (1936b), S. 327.454 Marc-Wogau verweist hier auf SuF, S. 62.455 Marc-Wogau (1936b), S. 327.456 Marc-Wogau (1936b), S. 327.457 Marc-Wogau (1936b), S. 327 f.458 Marc-Wogau (1936b), S. 328.
211
genügen, da dieses Thema im Abschnitt 3.6.2 vertieft wird.
Der der Cassirerschen Lehre von der Bedeutungsfunktion zugrunde liegende
Doppelgedanke ist nach Marc-Wogau auch in dessen Begriffszeichen zu finden. Bei der
Analyse desselbigen bezieht sich Marc-Wogau hauptsächlich auf Stellen bei Cassirer, in
denen dieser von ‚Ordnungszeichen‘ beziehungsweise Begriffszeichen spricht.459 An einer
Stelle merkt Cassirer an: „Sie [die reinen Begriffszeichen] sind aus Mitteln des
»Ausdrucks« und aus Mitteln der anschaulichen »Darstellung« zu reinen
B edeu t ungs trägern geworden. Was in ihnen »gemeint« und intendiert ist, das steht
außerhalb des Kreises der wirklichen, ja der möglichen Wahrnehmnung.“ (PsF III, 395)
Diese Erklärung Cassirers wirft bei Marc-Wogau die Frage auf, was mit einem
Begriffszeichen ‚intendiert‘ wird, wenn nach Cassirer zwischen Zeichen und Bedeutung
eine eindeutige und feste Zuordnung besteht. Daraus ergibt sich für Marc-Wogau, dass bei
Cassirer mit einem Zeichen ein Begriffsinhalt, die Bedeutung, gemeint ist:
„Ein wissenschaftliches Zeichen wäre dann für Cassirer ein Ausdruck für eineideelle Beziehung, für eine Funktion. Und wie eine physikalische Formel eineinzelnes Gesetz oder eine einzelne »Form« zum Ausdruck bringt, so würdeder Inbegriff der Zeichen die allgemeine ideelle Form der wissenschaftlichenTätigkeit des Geistes ausdrücken [...].“460
Betrachtet man aber Cassirers Zeichen näher, so Marc-Wogau weiter, stellt sich heraus,
dass das Verhältnis des Zeichens zum Bedeutungsgehalt ein völlig eigenartiges, durch die
Bedeutungsfunktion selbst konstituiertes sein soll. Das heißt, dass das Zeichen, sofern ein
Begriffszeichen ‚Bedeutungträger‘ genannt wird, nicht in irgendeiner ‚äußeren‘ Beziehung
zu einem Gesetzesbegriff steht und diesem ‚äußerlich‘ zugeordnet ist. Es müsse vielmehr
die Bedeutung selbst mit dem sinnlichen Zeichen zu einer inneren Sinneinheit
verschmolzen sein:
„Das sinnerfüllte Begriffszeichen z. B. die Formel eines Gesetzes, »intendiert«dann nicht den selbständigen Begriffsinhalt, d. h. hier das Gesetz, sondern ebenalles das, was durch diesen Begriff oder durch dieses Gesetzzusammengehalten und zusammengefasst wird. Der Begriff oder das Gesetz,das dem sinnlichen Zeichen eine Bedeutung verleihen und zusammen mit ihmein sinnerfülltes Ganzes bilden soll, scheint hier dann nur die Beziehung aufden Umfang, auf das durch das Gesetz Beherrschte bedeuten zu können.Unabhängig von dieser Beziehung kommt ihm kein selbständiger Sinn zu.“461
459 Marc-Wogau bezieht sich auf PsF III, S. 333, S. 388 f., S. 393, S. 395. 460 Marc-Wogau (1936b), S. 330. 461 Marc-Wogau (1936b), S. 331.
212
An der Formulierung Marc-Wogaus, dass der Begriff oder das Gesetz dem sinnlichen
Zeichen eine Bedeutung verleihen soll, kann man schon erkennen, dass er Cassirer
missverstanden hat. Denn die Zeichentheorie bei Cassirer muss gemäß der
Objektivierungsstufen der drei Dimensionen betrachtet werden, das heißt, dass das
sinnliche Zeichen selbst mit Hilfe der ‚Tätigkeit des Geistes‘ zum Bedeutungszeichen,
also zum Begriff werden soll, und nicht wie Marc-Wogau meint, dass der Begriff dem
sinnlichen Zeichen eine Bedeutung ‚verleiht‘. Cassirer spricht von einer Theorie der
Begriffsbildung, wie man von der Wahrnehmung (Phänomenologie der Wahrnehmung) aus
zu einem wissenschaftlichen Begriff gelangen kann.
In einer Art Zusammenfassung seiner Kritik konstatiert Marc-Wogau, dass das
Symbolische nach Cassirer „Immanenz und Transzendenz in Einem [ist]: sofern in ihm ein
prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äussert.“462 In dieser
Begriffsbestimmung würden im Symbolischen zwei Momente unterschieden und auf eine
spezifische Art aufeinander bezogen. Wenn Cassirer nun diese Beziehung dadurch
charakterisiere, dass er sage, das Symbolische sei nicht das Eine oder das Andere, sondern
es stelle das ‚Eine im Anderen‘ und das ‚Andere im Einen‘ dar,463 so scheint für Marc-
Wogau die Frage aufzukommen, ob „denn unter solchen Umständen eine Unterscheidung
zwischen diesem »Einen« und diesem »Anderen« überhaupt möglich“ sei. „Ist nicht
hierdurch die Identität der beiden Momente des Symbolischen gesetzt, die dann mit der
Behauptung ihrer »Polarität« in Widerspruch geräht?“464 Wenn Cassirer feststelle, “jede
Funktion der »Darstellung« schließt einen Akt der Identifizierung und einen solchen der
Unterscheidung in sich — und zwar muß beides nicht als ein bloßes Nacheinander, sondern
als echtes Ineinander gedacht, muß die Identitätssetzung in der Unterscheidung, die
Unterscheidung in der Identitätssetzung vollzogen werden“465, so stellt sich für Marc-
Wogau die Frage, inwiefern es überhaupt möglich sei, diese Forderung Cassirers aufrecht
zu erhalten, ohne sich in Widersprüche zu verfangen.
Man merkt hier, dass Marc-Wogau Cassirer als Hegelianer interpretiert. Cassirers
Gedankengang ist aber nicht im Hegelschen Sinne dialektisch. Dies macht Orth in einem
Aufsatz466 deutlich. Cassirer arbeitete in seiner Hegel-Darstellung von 1920 aus dem dritten
Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft positiv heraus, dass
Hegel den Kantischen Begriff der ‚Synthesis‘ und der ‚synthetischen Einheit‘ als Tat des
462 PsF III, S. 450; vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 331. 463 Vgl. PsF III, S. 447; vgl. auch Marc-Wogau (1936b), S. 331.464 Marc-Wogau (1936b), S. 331 f.465 PsF III, S. 366; vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 332. 466 Orth (2002).
213
Geistes bewährte und das geistige Leben in seinem Zusammenhang aufzuweisen versuchte.
Cassirer halte aber am ‚kritischen Idealismus‘ gegen den ‚absoluten Idealismus‘ fest, weil
Hegels dialektische Methode „das Ideelle an das Faktische“ und „das Faktische an das
Ideelle verloren“ habe (EP III, 377).467
„Die Synthesis, die Cassirer vorschwebt, ist die originäre und korrelativeVernüpfung von Sinnlichkeit und Sinn als ‚Urphänomen‘, wie er sie in seinemTheorem von der ‚symbolischen Prägnanz‘ konstatiert.[...] Dieses Theorem istin dieser Form nicht Hegelscher, sondern eher Goethischer und vor allemphänomenologischer Abkunft im Sinne der Husserlschen Phänomenologie undder Gestaltpsychologie. Wohl aber ist das Motiv der Konkretion derWelterfahrung und deren Charakterisierung als eines nicht bloß dinglich-kausalen, sondern sinnhaften Ganzen Hegelscher Provenienz. Auch hier gilt:Die Methode, wie diesem Sinnhaften (der konkreten Synthesis) beizukommenist, kann sicherlich nicht die spekulativ-dialektische sein; sie muß eher sinn-analytisch im Sinne von intentional-analytisch sein.“ 468
Man muss an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass Marc-Wogau, wenn er Cassirer
zitiert, nicht zwischen dem Bereich der Bedeutungsfunktion, also dem des
wissenschaftlichen Weltbegriffs, und dem Bereich des natürlichen Weltbegriffs, dem der
Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, klar zu trennen versteht. Dies wird besonders bei
seiner Erklärung der symbolischen Relation deutlich. Marc-Wogau zitiert zum Beispiel,
um die symbolische Relation Cassirers zu definieren, die Stelle (PsF III, 117), an der
Cassirer äußert, dass „das Verhältnis von Seele und Leib [...] das erste Vorbild und
Musterbild für eine rein s ymbo l i s che Relation dar[stellt], die sich weder in eine
Dingbeziehung noch eine Kausalbeziehung umdenken läßt.“ Hier erklärt Cassirer lediglich
die symbolische Relation im Bereich der Ausdrucksfunktion. Im Bereich der
Darstellungsfunktion aber stellt sich die symbolische Relation als ein Verhältnis von
‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘ dar, das heißt, dass die symbolische Relation sich in eine
‚Dingbeziehung‘ und eine ‚Kausalbeziehung‘ umdenken lässt. Man kann eine von Marc-
Wogau selbst angeführte Stelle heranziehen, in der es heißt, das Bewusstsein ließe sich im
Bereich der Darstellungsfunktion nicht aus isolierten, irgendwie äußerlich, etwa assoziativ,
verbundenen Elementen aufbauen, sondern es bringe ursprünglich und notwendig eine
Einheit von Präsenz und Repräsentation, von den sinnlichen ‘Gegebenheitsmomenten‘ und
den reinen ‚Ordnungsmomenten‘, von ,Materie‘ und ,Form‘ zum Ausdruck.469 Diese
467 Vgl. Orth (2002), S. 126.468 Orth (2002), S. 126.469 Marc-Wogau (1936b), S. 284.
214
Einheit der Beziehung der Repräsentation kann man als symbolische Relation im Bereich
der Darstellungsfunktion bei Cassirer bezeichnen.
Man könnte meinen, dass Marc-Wogaus Kritik berechtigt sei, denn er geht von dem
allgemeinen Symbolbegriff aus und übt unter diesem Gesichtspunkt Kritik an Cassirer.
Marc-Wogau geht auf den Bereich der Bedeutungsfunktion (Begriffszeichen) ein, sein
Standpunkt bleibt aber nur im Bereich der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, ohne
diese Bereiche voneinander zu unterscheiden. Dieses Verwischen führt dazu, dass er
Cassirer vorwirft, nicht einmal eine distinctio rationis zwischen Form und Materie
vorzunehmen. Cassirer setzt aber für eine solche distinctio rationis voraus, dass eine
Unterscheidung zwischen dem Gegebenen und der Deutung dieses Gegebenen möglich ist.
Man soll von der spezifischen Bedeutung, die für jeden Bereich der symbolischen Formen
charakteristisch ist, nicht abweichen. Cassirer selbst erklärt allgemein:
„Wir versuchten mit ihm [Symbolbegriff] das Ganze jener Phänomene zuumfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« desSinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseinsund So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, alsManifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt. Hierzu bedarf es nicht,daß beide Momente als solche schon scharf auseinandergetreten sind, daß sie inihrer Andersheit und Gegensätzlichkeit gew uß t werden. Diese Form desWissens bezeichnet nicht den Anfang, sondern erst das Ende der Entwicklung.“(PsF III, 109)
Dies besagt, dass man die drei Dimensionen in der Folge der einzelnen Stufen betrachten
muss.
So unterläuft Marc-Wogau bei der Betrachtung der Bedeutungsfunktion der Fehler, eine
Erklärung Cassirers, die sich auf eine bestimmte Dimension, zum Beispiel die Dimension
der Darstellungsfunktion richtet, ohne Einschränkungen für die Dimension der
Bedeutungsfunktion zu übernehmen und daraus Schlüsse zu ziehen. Man muss jedoch
genau beachten, in welchem Bereich sich Cassirer gedanklich befindet, wenn er etwas
erklärt. Das Zeichen zum Beispiel wird je nach dem Bereich der Zeichenfunktion von
Cassirer anders erklärt, nämlich in der Ausdrucksfunktion als sinnliches Zeichen, in der
Bedeutungsfunktion als reines Bedeutungszeichen, und sie tragen jeweils ihre spezifischen
Funktionen.
215
3.6.1.2. Cassirers Replik: Identitätslogik vs. Relationslogik
Cassirer antwortet in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs auf die kritischen
Betrachtungen Marc-Wogaus, meint aber, er müsse sich in erster Linie mit dem Prinzip,
das Marc-Wogau in all seinen kritischen Erwägungen als Kriterium benutzt,
auseinandersetzen.470
Er fasst zunächst die von Marc-Wogau vorgebrachten Beweisgründe gegen die Gültigkeit
des Symbolbegriffs in einem einzigen Argument zusammen471:
„Es besteht darin, daß der Symbolbegriff überhaupt kein ,einfacher‘ Begriff ist,der einen scharf-bestimmten, eindeutigen Sachverhalt darstellt und beschreibt.Bei näherer Analyse stellt es sich viel mehr heraus, daß wir es hier mit einemBegriff zu tun haben, der sich aus zwei verschiedenen Momenten aufbaut, vondenen nichtsdestoweniger behauptet werde, daß sie mit einander unlöslichverbunden seien, daß sie nur in Korrelation zu einander gedacht werdenkönnten. Gegen die Zulässigkeit derartiger Begriffsformen hat Marc-Wogauoffenbar die schwersten Bedenken. Der stärkste Einwand, den er z. B. gegenmeine Lehre von der Bedeutungsfunktion erhebt, besteht darin, daß dieseLehre, wenn man sie bis in ihre letzten Konsequenz verfolge, notwendig zueinem ,Doppelgedanken‘ führe.“ (ZLS, 207)
Diesen Einwand, so Cassirer, müsse er unterstreichen und verschärfen, denn er habe diese
Doppelheit im Aufbau seiner Begriffstheorie immer wieder betont und sie in den
Mittelpunkt der Erörterung gerückt. Jeder Relationsbegriff sei freilich ‚eins und vieles‘,
sei ,einfach‘ und ,doppelt‘. Er sei eine eigentümliche Sinn-Einheit und Sinn-Ganzheit, die
sich in relativ selbständige, deutlich voneinander unterscheidbare Teile gliedere. Wenn
man in diesem Doppelgedanken nur einen „logischen Fehler“ (ZLS, 207) sehe, so falle
man damit auf den Standpunkt der ‚Identitäts-Logik‘472 zurück, die er ausdrücklich
ablehne. Cassirer versteht die Logik bei Marc-Wogau als eine absolutistische ‚Identitäts-
Logik‘, die seiner Meinung nach nicht nur die Auffassung von der Struktur und Bedeutung
der reinen Relationsbegriffe erschwert, sondern sie unmöglich macht. Wenn man die
470 ZLS, S. 203: „Ich muß gewissermaßen ab ovo beginnen: statt mich in die konkreten Einzelphaenomenezu versetzen, mit deren Aufhellung und Auslegung es die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ zu tunhat, muß ich mich mit logisch-prinzipiellen Vorfragen: mit der Frage nach der Struktur des Begriffsselbst und nach der ‚Möglichkeit‘ dieser Struktur beschäftigen.“
471 Cassirer bezieht sich auf Marc-Wogaus Feststellung in Theoria, 2 (1936), S. 328 f., dass „derCassirerschen Lehre von der Bedeutungsfunktion ein Doppelgedanke zugrunde liegt“.
472 Vgl. ZLS, S. 204: „‚Denken‘ und ‚Sein‘ werden [beim Eleatischen Begriff des Seins] so gefaßt, daß siesich nicht nur auf einander beziehen oder daß sie, in einem vagen Sinne, einander entsprechen sollen.Sie fallen vielmehr mit einander zusammen; sie stehen in einem strengen Identitätsverhältnis, da das,was das Sein ‚ist‘, was es seinem reinen Wesen nach bedeutet, lediglich durch das Denken faßbar undnur in ihm feststellbar ist, und da es umgekehrt kein Denken gibt, das sich nicht auf ein bestimmtes,eindeutiges Seiende als sein Objekt bezieht.“
216
Anschauung Marc-Wogaus verfolge, so würde man durch sie wieder auf den reinen
Eleatismus zurückgeführt (ZLS, 221). Cassirer verteidigt somit seine Auffassung, dass man
den Doppelgedanken vom Standpunkt der Relationslogik aus verstehen muss.
Er betont bereits im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik diese
Doppelheit. Führt man die Auffassung der Begriffsbildung der Erkenntniskritik weiter
durch, kann nach Cassirer der Sinn der objektiven Urteile auf ein letztes Urverhältnis
zurückgeführt werden. Dieses Urverhältnis kann in verschiedenen Formulierungen als das
Verhältnis der Form zum Inhalt, als das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, als
das Verhältnis des Geltens zum Sein angesprochen werden. Entscheidend dabei ist, dass
die Grundbeziehung als eine streng einheitliche festzuhalten ist, die durch die beiden
gegensätzlichen Momente, die in sie eingehen, nur bezeichnet, nicht aber aus ihnen, als für
sich vorhandene Bestandstücke, aufgebaut werden kann (vgl. ET I, 19). Das Urverhältnis
von Allgemeinem und Besonderem oder Form und Inhalt soll gegenseitig bestimmt
werden. Die Einheit der gegenseitigen Bestimmung bildet das schlechthin erste Datum, das
sich erst für die künstlich isolierende Abstraktion in die Doppelheit zweier
‚Gesichtspunkte‘ (also unter Korrelation) zerlegt. Das eine Glied kann nicht für sich
Element sein, „da es immer erst durch sein korrelativ »Anderes« zu einem in sich
vollständigen und faßbaren Sinn gelangt“, wie die Reihenglieder durch die Reihenordnung
(ET I, 19). Es sei ein Grundmangel der metaphysischen Erkenntnistheorien, dass sie
versuchen, „diese Doppelheit von »Momenten« in eine Doppelheit von »Elementen«“
umzudeuten. Demgegenüber steht die Relation, die nicht nachträglich ist:
„Sind indessen die echten, wissenschaftlich fruchtbaren Begriffe als Ausdruckvon Relationen erkannt, so schwindet die eigentliche Schwierigkeit: denn die»Relation« ist nichts Vermitteltes und Nachträgliches, was zu demanschaulichen »Bestand« hinzutritt, sondern sie bildet eine konstitutiveBedingung dieses Bestandes selbst. Zur Anschauung selbst, auch wenn sie alsreine Mannigfaltigkeit gefaßt wird, gehört die Verbundenheit undwechselseitige Bezogenheit der Elemente dieses Mannigfaltigen; derGesichtspunkt, nach welchem diese Beziehung erfolgt, ist aber anderseits ebendasjenige, was wir in seiner bewußten Vervollkommnung und Durchbildungals logischen »Begriff« bezeichnen.“ (ET I, 20)
Unter dem zweifachen Gesichtspunkt oder der ‚Doppelheit von Momenten‘ wird für
Cassirer die Differenz, zum Beispiel zwischen Form und Materie, als eine solche des
Urteils selbst angesehen. Die Differenz steht damit unter dem einheitlichen Zweck der
Erkenntnis und fügt sich dem Urteil als Mittel ein (vgl. ET I, 21). Cassirer hebt daher
217
hervor, dass diese Differenzierung zur Charakteristik des Logischen selbst gehört:
„Echtes »Denken« ist nicht analytisches, in der bloßen Identität beharrendesDenken, sondern entfaltet sich synthetisch, in eine Reihe verschiedener,einander bedingender Formmomente. Diese wechselseitige Bedingtheitzwischen den einzelnen Momenten aufweisen heißt nicht, das eine in demSinne aus dem anderen »ableiten«, daß beide damit in eine einzigeunterschiedslose Gattungseinheit aufgingen. Gegenüber dieser Reduktion aufdie abstrakte und insofern leere Gattungeinheit betont gerade die funktionaleAuffassung die »konkrete« Mannigfaltigkeit der Denkmethoden: eineMannigfaltigkeit, die nicht in dem Sinne rational ist, daß sie nur eine verhüllteIdentität, im Grunde also eine bloße Tautologie wäre, sondern in dem Sinne,daß das Verschiedene als Verschiedenes eine bestimmte prinzipielle Strukturaufweist, kraft deren es uns in seinem Zusammenhang verständlich wird.“ (ETI, 22)
In PsF will Cassirer, wie bereits erwähnt, das Wort Erkenntnis im weitesten und
umfassendsten Sinne und darunter jede geistige Tätigkeit verstehen. In Zur Logik des
Symbolbegriffs erklärt er diese geistige Tätigkeit als diejenige, in der man sich „eine ‚Welt‘
in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ‚So-Sein‘“ aufbaut.
So will die Philosophie der symbolischen Formen „keine Metaphysik der Erkenntnis,
sondern eine Phaenomenologie der Erkenntnis sein“ (ZLS, 208).473 Sie wolle die
Voraussetzungen untersuchen, auf denen die Trennung zwischen der Welt und dem Ich
beruhe, und die Bedingungen derselben feststellen. Diese Bedingungen seien aber nicht
gleichartig: Es gebe verschiedene ‚Dimensionen‘ des Erfassens, des Verstehens, des
Denkens der Phänomene, und gemäß dieser Verschiedenheit sei auch das Verhältnis von
Ich und Welt zu einer mehrfachen Fassung und Gestaltung fähig.
Wie die Dimensionen des Erfassens, des Verstehens und des Denkens verschieden sind, so
sind es die Mittel, die in dem Prozess angewandt werden, und so ist es auch das Ziel, das
hierdurch erreicht wird. Cassirer verdeutlicht an dieser Stelle nochmals seinen Standpunkt,
indem er sich zur Anschauung und zum Gegenstand äußert: „Auf gegenständliche
Anschauung zielen alle Formen des Weltbegreifens und Weltverstehens hin; aber mit der
Art und Richtung der Vergegenständlichung wandelt sich auch der angeschaute
Gegenstand selbst.“ (ZLS, 209). Demgemäß, so Cassirer, will die Philosophie der
symbolischen Formen keine „bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und
ihren Grundeigenschaften aufstellen“, sondern stattdessen, „die Arten der Objektivierung
473 Vgl. Orth (1995), S. 51: Cassirer knüpft nach Orth, wenn er sich auf die Phänomenologie bezieht, „anzwei ganz unterschiedliche Gestalten derselben an: nämlich an Hegel und Husserl“. Näheres vgl. Orth(1976); vgl. 3.1, S. 126, Fußnote 312.
218
erfassen und beschreiben“ (ibd.). Daher widerlegt er die im vorigen Abschnitt angeführte
Auffassung Marc-Wogaus mit folgendem Argument:
„Auf die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Methodik der implizitenDefinition habe ich schon in meinen ersten Arbeiten zum Begriffsproblemhingewiesen.474 Seither ist diese Bedeutung immer wieder bestätigt undallgemein anerkannt worden. [...] Aber was bedeutet nun dieses Verfahren,wenn wir es mit Rücksicht auf unser gegenwärtiges Problem betrachten ? Mansieht sofort: hier ist ein Ganzes von Begriffen gegeben, die in strengerKorrelation zu einander stehen und die außerhalb dieser Korrelation gar keinenselbständigen Inhalt besitzen. Keiner von ihnen besagt etwas ‚für sich‘, ―jeder ist nur im Hinblick auf den andern oder, besser gesagt, im Hinblick aufdas Gesamtsystem definiert. Und doch besagt eben diese Wechselseitigkeitnicht den geringsten Mangel, sondern sie begründet einen ganz bestimmten,höchst charakteristischen logischen Vorzug. Es kann nicht die Rede davon sein,daß dadurch, daß keiner der im System enthaltenen Grundbegriffe sich für sicherklären und sinnvoll gebrauchen läßt, auch der Sinn verschwindet oderzweideutig wird, den sie im System zu erfüllen haben. Jedem ist vielmehr seinganz bestimmter Platz im System zugewiesen ― und kraft desselbenunterscheidet er sich von jedem anderen, dem System zugehörigen Begriff.“(ZLS, 226 )
Um auf Marc-Wogaus Kritik am Verhältnis strenger Korrelation und seine
Schlussfolgerung — dieser Gedanke hat die Annahme der Identität der korrelativ
verbundenen Glieder zur Konzequenz — zu erwidern, sollte man eher auf Russells
Relationslogik, auf die sich auch Cassirer stützt, hinweisen. Auf Russells Relationslogik
wird im Abschnitt 3.6.2 im Zusammenhang mit dem Problem von Intension und Extension
etwas näher eingegangen (vgl. 2.2.2; SuF, 48; KmM, 4).
Kommt man nun auf die Fragen Marc-Wogaus zurück, so kann man folgende Antworten
geben. Wenn Marc-Wogau feststellt, dass Cassirers Doppelgedanke ‚das Eine im Anderen,
und das Andere im Einen‘ immer in Widerspruch gerät, und wenn er fragt, ob unter
solchen Umständen eine Unterscheidung zwischen diesem ‚Einen‘ und diesem ‚Anderen‘
überhaupt möglich ist, dann ergibt sich aus seiner Behauptung aber, dass er in letzter
Konsequenz bei der ‚Identifizierung‘ sinnlich-anschauliche Gegenstände voraussetzt und
nicht vom Symbolbegriff ausgeht. Wenn das Eine A vom Anderen B unterschieden werden
soll, so stellt sich Marc-Wogau physische Gegenstände vor, ‚A und B sind unterschieden‘.
Bei der Identifizierung jedoch geht er dann davon aus, dass ‚A und B nicht identisch sind‘.
Daher meint er, dass A und B in Widerspruch geraten. Das, was Cassirer hier aber meint,
ist der Prozess der Identifizierung und der Unterscheidung zwischen zwei Termini A und
474 Cassirer verweist hier auf sein Werk SuF, Kap. 3. 121 ff.
219
B, deren Relation ein Begriff ist (vgl. 3.6.2.2). Darüber hinaus muss man bei der
Feststellung ‚A und B sind identisch‘ ständig A mit B vergleichen, identifizieren und
unterscheiden, wobei bei der Identifizierung ihre Unterschiede gedanklich im Vordergrund
stehen und bei der Unterscheidung ihre Identitäten. Deshalb heißt es bei Cassirer, dass man
das Eine und das Andere unter der Korrelation, unter einem Doppelgedanken, betrachten
muss, und dies ist, was er als die ‚Arbeit des Geistes‘ oder das ‚Tun des Geistes‘
bezeichnet.
Wenn man das Argument Marc-Wogaus dem Cassirers gegenüberstellt, dann wird
deutlich, dass es sich eigentlich um unterschiedliche Standpunkte der Logik der
Begriffslehre handelt. Das Argument von Marc-Wogau und die Methode, mit der er
Cassirers Symbolbegriff analysiert, gehen von einem ungelösten erkenntnistheoretischen
Problem (Zuordnung von Materie und Form der Erkenntnis) aus, das in einem allgemein
logischen Problem der Begriffstheorie zum Ausdruck kommt, das Cassirer eigentlich zu
beseitigen versucht. Wie Cassirer in seinem Aufsatz betont, steht die Relationslogik, nicht
die ‚Identitätslogik‘ im Vordergrund seiner Begriffslehre (vgl. ZLS, 170; SuF, 121 ff.).
3.6.2. Intension und Extension
In SuF problematisiert Cassirer das Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs in der
traditionellen formalen Logik und versucht dieses Problem mittels der Logik des
mathematischen Begriffs, also durch den Funktionsbegriff zu lösen. Das Verhältnis
zwischen der Abnahme der Größe des Inhalts und der Zunahme der Größe des Umfangs
bildet in der aristotelischen traditionellen Logik eine Begriffspyramide; die Einteilung in
Gattungen und Arten führt zu immer allgemeineren und inhaltsärmeren Begriffen. Cassirer
ist der Ansicht, dass der Funktionsbegriff das inhaltsreichere Allgemeine darstellt. Auch in
PsF steht das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im Mittelpunkt seiner
Begriffstheorie. Dort stößt man besonders in Cassirers Kritik an der Mathematisierung der
Logik auf diese Problemstellung. Die Untersuchung des Symbolbegriffs in PsF zeigt, dass
Cassirer mit dessen Hilfe eine Allgemeinheit des Begriffs darzustellen versucht, die er in
SuF mittels des Funktionsbegriffs zu explizieren sucht (vgl. 2.2.3). Diese Allgemeinheit
bezeichnet er als die konkrete Allgemeinheit und das Besondere versteht er als den Grund
der Einheit des Begriffs. Sein Korrelationsgedanke bezüglich des Verhältnisses von
Allgemeinem und Besonderem wird, wie im vorigen Anschnitt gezeigt, von Marc-Wogau
220
kritisiert, der dem Cassirerschen Korrelationsgedanken einen widersprüchlichen
Doppelgedanken zugrunde liegen sieht.
Wann die zweifache Betrachtungsweise eines Begriffs — Inhalt und Umfang oder die
heutigen Ausdrücke Intension und Extension — zum ersten Mal in der Philosophie- und
Logikgeschichte Eingang gefunden hat, ist unklar. Man vermutet aber, dass ihre Anfänge
bis zu Aristoteles zurückgeführt werden können.475
Heute unterscheidet man explizit zwischen einer Inhalts- und Umfangslogik. Man versteht
die Beziehungen der Begriffe innerhalb der Inhaltslogik als Beziehungen zwischen deren
Inhalten und innerhalb der Umfangslogik als Beziehungen zwischen deren Umfängen.476 In
der traditionellen Logik ist die zweifache Betrachtungsweise in einem nicht weiter
spezifizierten Sinne zu verstehen, und eine Präzisierung in Form einer Definition des
Inhalts und Umfangs eines Begriffs gibt es im Wandel der Jahrhunderte nicht. „Die
geläufigste Auffassung ist die, daß der Inhalt eines Begriffs aus den Merkmalen des
Begriffs besteht und der Umfang von den untergeordneten Begriffen (Arten) oder den unter
den Begriff fallenden Individuen gebildet wird.“477
Die Logik des 17. und 18. Jahrhunderts ist für das Verständnis der Unterscheidung von
Extension und Intension eines Begriffs entscheidend. Eine erste verbale Unterscheidung
zwischen Inhalt und Umfang eines Begriffs wurde den Verfassern der Logik von Port-
Royal,478 die 1662 zunächst anonym erschienen ist, zugeschrieben. Bei den Vorläufern der
Logik von Port-Royal findet man zwar entsprechende Unterscheidungen zwischen Inhalt
und Umfang eines Begriffs, die Untersuchungen nahmen aber alle nur Bezug auf Gattungs-
und Artbegriffe. Erst von Leibniz wurde der Umfang in Bezug auf Individuen
beziehungsweise Einzelgegenstände eingebracht.479 Ihm kommt in der Geschichte der
Logik deshalb Bedeutung zu, weil er als erster Logikkalküle geschaffen und auch den
Versuch unternommen hat, eine intensionale Logik zu begründen, obwohl dieser Versuch
475 Hamacher-Hermes (1994), S. 14; vgl. auch Walther-Klaus (1987). Während Walther-Klaus einegeschichtliche Betrachtung des Themas von der Antike bis zur Zeit nach Kant unternahm, konzentiertesich die Untersuchung von Hamacher-Hermes im Wesentlichen auf die moderne Zeit.
476 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 14; auch Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 2, S. 256: „der Begriffsinhalt[wird] durch die Klasse seiner Merkmale erklärt, also derjenigen Oberbegriffe P1, P2, ..., die in einervollständigen konjunktiven Definition von P auftreten, der Begriffsumfang dagegen durch die Klasseseiner Unterbegriffe P1, P2, ..., darunter alle Individualbegriffe der unter P fallenden Gegenstände. EineAnalyse der ersten Art (G.W. Leibniz: ›secundum ideas‹) führt zur Inhaltslogik, eine Analyse derzweiten Art (Leibniz: ›secundum individua‹) zur Umfangslogik.“
477 Hamacher-Hermes (1994), S. 14.478 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 298 f. Die »Logique de Port-Royal« stellt die bedeutendste
philosophisch-wissenschaftliche Leistung der Schule von Port-Royal dar. Die Verfasser, A. Arnauld undP. Nicole, versuchten die Aristotelische Schullogik mit der Cartesischen und der PascalschenMethodenlehre zu verbinden.
479 Vgl. Walther-Klaus (1987), S. VII.
221
heute als misslungen beurteilt wird.480 Er gilt daher heute als Begründer der formalen Logik
im modernen Sinne. Darüber hinaus ist auch Johann Heinrich Lambert (1728-1777) mit
seinen Entwürfen intensionaler Begriffskalküle zu nennen, die ihn zum Vorläufer der
Algebra der Logik werden ließen.481 Im 19. Jahrhundert gab es dann einen Streit um die
Priorität von Inhaltslogik oder von Umfangslogik in Bezug auf die Entwicklung der
symbolischen Logik oder der Algebra der Logik. Es soll hier aber nicht weiter auf die
geschichtliche Entwicklung der Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang eines
Begriffs eingegangen werden. Anzumerken ist jedoch, dass diese Betrachtungsweise durch
Frege eine entscheidende Wendung erfährt482:
„In der Frege folgenden modernen logischen Semantik wird dieUnterscheidung von ‚intensional‘ und ‚extensional‘ jedoch nicht nur aufBegriffswörter, sondern von dort ausgehend auf sämtliche Ausdrücke einerformalen Sprache angewandt. Die Intension eines Begriffswortes ist die vonihm ausgedrückte Eigenschaft (der Begriff) und die Extension ist die Klasse derdiese Eigenschaft aufweisenden Gegenstände. Die Extension eines Nominatorsist der Gegenstand, seine Intension (so z. B. bei Carnap) derIndividualbegriff.“483
Nach diesem kurzen historischen Exkurs soll nun das Augenmerk darauf gerichtet werden,
was Cassirer unter dem Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang eines Begriffs versteht. In
der traditionellen Logik nennt man, wie oben erwähnt, die Anzahl der Merkmale eines
Begriffs die Größe seines Inhalts. Die Größe der Anzahl der Arten, die man dem Begriff
untergeordnet denkt, das sogenannte Gattung-Arten Verhältnis, bezeichnet den Umfang
(vgl. SuF, 7).
Das, was Cassirer in SuF durch den Funktionsbegriff versucht, ist den allgemeineren als
zugleich inhaltsreicheren Begriff zu gewinnen. Das Verhältnis des Allgemeinen und
Besonderen, des Inhalts und Umfangs, soll als strenge Korrelation angesehen werden, und
diese zweifache Beziehung soll die Einheit des Begriffssinnes nicht zerstören. Wenn sich
der Sinn des Begriffs aus zwei grundverschiedenen Momenten aufbaut, die sich nicht
aufeinander zurückführen lassen und die niemals schlechthin miteinander zusammenfallen
können, besteht stets die Gefahr, dass diese methodische Zweiheit in eine metaphysische
Zweiheit, das heißt, in den metaphysischen Dualismus umschlägt.
480 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), 48.481 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 43.482 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 14: „Sie [die Betrachtungsweise] hat bis zu ihrer Ablösung durch die
Rede von der Extension und der Intension von Begriffswörtern bzw. Aussageformen seit Frege einewechselvolle Geschichte erfahren.“
483 Hamacher-Hermes (1994), S. 14.
222
Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs in der Theorie des
Funktions- oder Reihenbegriffs bei Cassirer wird eine Unterscheidung des Gesetzes der
Zuordnung oder Reihenordnung von den Elementen dieser Zuordnung oder den
Reihengliedern.484 Es wurde im Abschnitt 2.2 gezeigt, dass Cassirer seinen
Funktionsbegriff oder Reihenbegriff mit der Gesetzmäßigkeit oder der Zuordnung
verbindet. Das Gesetz der Zuordnung in der Reihenbildung nennt Cassirer das
Reihenprinzip (vgl. SuF, 33).
Das Gesetz der Zuordnung oder die Reihenordnung wird bei Cassirer, wie oben erwähnt,
als Inhalt und die Elemente dieser Zuordnung oder die Reihenglieder werden als Umfang
gefasst. Die Reihenordnung, welche die Reihenglieder zu einer Einheit verknüpft, soll
einer anderen Dimension als die der Reihenglieder selbst angehören. Das Reihenprinzip
soll dem Reihenglied gegenüber etwas Eigenes und Selbständiges bedeuten, und dies
bezeichnet Cassirer „als eines der wesentlichen Fundamente der gesamten Begriffstheorie“
(IUB, 217). Er ist sich aber auch der Tatsache bewusst, dass selbst „wenn Form und Inhalt,
Reihenprinzip und Reihenglied auch in aller Schärfe gedanklich zu unterscheiden sind“,
dies keineswegs besagt, „dass sie im Sinne einer naiv-dinglichen Auffassung von einander
trennbar sind“ (IUB, 217). Das Allgemeine und das Besondere, also das Reihenprinzip und
das Reihenglied, stehen in der Reihenbildung in korrelativer Beziehung, das heißt, in
einem „Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit“ (ibd.). Es stellt sich nun die Frage, wie
sich Cassirers Ansicht zum korrelativen Verhältnis rechtfertigen lässt.485
Zur Verdeutlichung der Thematik soll in diesem Abschnitt die Auseinandersetzung
zwischen Marc-Wogau und Cassirer über das Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang des
Begriffs näher betrachtet werden, wobei zunächst die Kritik Marc-Wogaus an Cassirer
dargestellt wird. Die daraus sich ergebenden Problemstellungen werden im Rahmen von
484 Vgl. Ihmig (1997a), S. 269.485 Vgl. PsF III, S. 442 f. Das Verhältnis zwischen Intension und Extension hat für Cassirer durch Hilberts
‚Beweistheorie‘ eine entscheidende Wandlung in der Methodik erfahren, mit der das Verhältniserforscht werden konnte, da auch jeder Schritt nachgeprüft werden konnte. „Das abstrakte Operieren mitallgemeinen Begriffsumfängen und -Inhalte hat, wie Hilbert betont, das mathematische Denken immerwieder auf Irrwege verlockt: es gilt, mit dieser Methode entschlossen zu brechen und einen Weg zufinden, auf dem das Denken nicht nur nach einem bestimmt-vorgezeichneten Plane fortschreiten,sondern auf dem es auch jeden seiner Schritte gleichzeitig einer Nachprüfung unterwerfen kann. Einesolche kritische Instanz ist es, die Hilbert in seiner »Beweistheorie« zu schaffen versucht.“ DieseBeweistheorie interpretiert Cassirer als eine Theorie, in der „der Grundgedanke von Leibniz’‚allgemeiner Charakteristik‘ von neuem aufgenommen und auf einen prägnanten und zugespitztenAusdruck gebracht [ist]“ (PsF III, S. 443).; vgl. auch Mittelstraß (EPW 1995), Bd.1, S. 305-306.Beweistheorie: „diejenige (zur Metamathematik gehörige, meistens mit ihr identifizierte) Theorie, mitder das sogenannte Hilbertprogramm eingelöst werden soll: der Widerspruchsfreiheitsbeweis der alsaxiomatische Theorie formulierten klassischen Arithmetik und Analysis. Je nach Art der in den bereitsvorliegenden Widerspruchsfreiheitsbeweisen für axiomatisierte Teile der klassischen Mathematikverwendeten Beweismittel ergeben sich fein differenzierte Abgrenzungskriterien zwischen elementarenund höheren Teilen der Mathematik .“
223
Cassirers Entgegnung näher behandelt.
1936 veröffentlichte Marc-Wogau seine Schrift Inhalt und Umfang des Begriffs, in welcher
er die verschiedenen Begriffstheorien prüfte, in denen die Logik das Verhältnis zwischen
Inhalt und Umfang des Begriffs aufgestellt hat. Im Kapitel Begriff als Funktion
problematisierte er die Begriffstheorie Cassirers sowie der Vertreter des Funktionsbegriffs,
Frege und Russell. Cassirer verfasste seinerseits im selben Jahr unter dem Titel Inhalt und
Umfang des Begriffs, Bemerkungen zu Konrad Marc-Wogaus gleichnamiger Schrift, die
Rezension des Werkes, in der er auch der Kritik Marc-Wogaus entgegnete. Auf diese
Bemerkungen Cassirers antwortet Marc-Wogau in seinem Aufsatz Inhalt und Umfang des
Begriffs, K. Marc-Wogaus Bemerkungen zu der Besprechung Ernst Cassirers,486 in
welchem er seine Begriffstheorie zu verteidigen versucht. Vier Jahre später greift Cassirer
in einer Rezension von Marc-Wogaus Schrift Vier Studien zu Kants Kritik der
Urteilskraft487 erneut die Problemstellung aus der Auseinandersetzung mit diesem auf (vgl.
NKL, 99 f.).
3.6.2.1. Bestimmungskomplexe und Relationsbestimmung bei Marc-Wogau
Marc-Wogau äußert sich im Kapitel Begriff als Funktion seiner Schrift Inhalt und Umfang
des Begriffs, indem er sich auf eine Stelle des dritten Bandes von PsF bezieht, in der
Cassirer erläutert, dass sich das Allgemeine nur am Besonderen manifestieren und sich
nicht anders als Ordnung und Regel für das Besondere beglaubigen und bewähren kann,
folgendermaßen:
„Dieses intime Aufeinanderbezogensein von Allgemeinem und Einzelnem, vonBegriff und dem, was unter ihn fällt, ist der Grundgedanke der CassirerschenBegriffslehre, wie sie in der Jugendarbeit »Substanzbegriff und Funk-tionsbegriff« eingeführt und dann im dritten Band der »Philosophie dersymbolischen Formen« in einem weiteren Zusammenhang entwickelt wird.“488
486 Marc-Wogau (1936c).487 Marc-Wogau: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala 1938.488 Marc-Wogau (1936a), S. 192; Marc-Wogau bezieht sich auf PsF III, S. 381: „Die Funktion »gilt« für die
Einzelwerte, eben weil sie kein Einzelwert »ist« — und andererseits »sind« die Einzelwerte nur, sofernsie zueinander in der durch die Funktion ausgedrückten Verknüpfung stehen. Das Einzelne, Diskretebesteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang, den es in irgendeiner Form des Allgemeinen, magdarunter nun die Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes« verstanden werden, besitzt— und eben so kann das Allgemeine sich nur am Besonderen manifestieren und sich nicht anders dennals Ordnung und Regel für das Besondere beglaubigen und bewähren.“
224
Seine Kritik richtet sich daher besonders auf den Fortgang der Begriffsbildung vom Gebiet
des Seins hin zu dem des Sinns. Dieser Fortgang besteht seiner Meinung nach darin, „dass
der Begriff nicht mehr als etwas Bestimmtes betrachtet wird, das mit den besonderen
Inhalten durch eine gewisse Relation verbunden wäre, oder als etwas, dem eine
Bedeutungsfunktion zukäme, sondern gerade in dieser Relation bzw. in der
Bedeutungsfunktion selbst gesucht wird.“489 Wenn es sich wirklich so verhalten würde, so
Marc-Wogau, dann müsse das Allgemeine mit dem Einzelnen und dann auch die einzelnen
Inhalte miteinander zusammenfallen. Dies begründet er wie folgt: Wenn das Allgemeine,
die Regel oder das Reihenprinzip, nur in Bezug auf die Reihe selbst Sinn hat, und das
Einzelne, also das Reihenglied nur ‚in Hinsicht auf den Zusammenhang‘ besteht, „so ist bei
dem Gesetz der Reihe das Ganze der Reihenglieder und bei jedem Reihenglied auch schon
die ganz Reihe gedacht“.490 In beiden Fällen sei dasselbe gedacht, das heißt, Prinzip und
Einzelglied fielen dann zusammen. Dies sei eine notwendige Konsequenz des korrelativen
Verhältnisses, das Cassirer zwischen Begriff und Einzelinhalten sehe. Daraus zieht Marc-
Wogau, wie bereits erwähnt, den Schluss, „Sollen A und B derart verbunden sein, dass A
seine Bestimmtheit nur in bezug auf B, B seine Bestimmtheit nur in bezug auf A erhält, so
ist es unmöglich, zwischen A und B zu unterscheiden. Es ist dann überhaupt nichts
Bestimmtes gedacht.“491 Diese Behauptung Marc-Wogaus verdeutlicht das grundlegende
logische Problem, das die beiden Philosophen trennt und zu unterschiedlichen Standpunkte
führt.
Marc-Wogau versteht das Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs wie folgt:
„Der Begriff hat einen bestimmten Sinn unabhängig von dem Gedanken an dengefassten Umfang. — Die Beziehung zu dem, was unter den Begriff fällt, kannnicht zu dem Begriff selbst gehören. Deswegen verwickelt sich jede logischeLehre, die ein notwendiges Verhältnis zwischen Begriffsinhalt undBegriffsumfang annimmt, in eine verführerische Dialektik. Diese Dialektik, diewir in ganz verschiedenen Begriffslehren vorfanden, besteht eben in demZusammendenken der beiden Gedanken: (1) Der Begriff ist eine Bestimmung,bei der das unter sie Fallende nicht gedacht ist, und (2) Der Begriff ist eineBestimmung, sofern sie sich auf das unter sie Fallende bezieht“.492
Man muss den Begriff seiner Meinung nach im Sinne des ersten Gedankens verstehen. Auf
die bisherige Form der Problemstellung, das heißt, Inhalt und Umfang eines Begriffs
489 Marc-Wogau (1936a), S. 193.490 Marc-Wogau (1936a), S. 193.491 Marc-Wogau (1936a), S. 193; vgl. 3.6.1.1 (S. 207).492 Marc-Wogau (1936a), S. 196.
225
wahrhaft zusammendenken und zu einer objektiv-gültigen Einheit zusammenfassen zu
wollen, müsse man jedoch verzichten. Denn der Umfang des Begriffs ist für ihn nur ein
dialektisches Gedankengebilde und der Inhalt, der die vom Begriffswort ausgedrückte
Bestimmung ist, ist für das Wesen des Begriffs bestimmend.
Unter dieser Voraussetzung konzentriert sich Marc-Wogau hauptsächlich auf zwei
Probleme, die er in der Logik des Begriffs für wichtig hält, nämlich auf das Problem des
Bestimmungskomplexes und das der Relationsbestimmung. Seiner Ansicht nach bringt
jeder Begriff eine Bestimmung oder einen Komplex von Bestimmungen zum Ausdruck. So
könnte zum Beispiel der Begriff, ‚Dreieck‘ als ein Komplex von Bestimmungen ‚Figur‘
(A), ‚Geradlinigkeit‘ (B) und ‚Dreiseitigkeit‘ (C) betrachtet werden. Daraus ergibt sich für
ihn die Frage nach dem Sinn eines solchen Komplexes: „Die Bestimmungen A, B und C
gehen zusammen, und der Komplex ABC ist eine Einheit von ihnen. Aber wie ist diese
Einheit zu deuten? Und was ist mit dem Eingehen von A in ABC zu verstehen?“493 Für
Marc-Wogau heißt ‚AB ist gedacht‘, wenn „A und B und nichts mehr in einem Gedanken
gedacht ist“.494 Diese Ausdrucksweise ist für ihn treffend, weil durch sie hervorgehoben
wird, dass „das Zusammensein der beiden einzelnen Bestimmungen nicht etwa ihr
Verbundensein durch etwas Drittes, durch einen hinzukommenden (objektiven oder
subjektiven) Relationsgrund bedeutet“.495 Jedoch kommt er nicht umhin, die gebrauchte
Ausdrucksweise zu verdeutlichen.
Die Aussage ‚in der Auffassung von AB sei auch A aufgefasst‘ darf nicht so verstanden
werden, dass „das Bewusstsein von A ein Moment des Bewusstseins von AB ist“, sondern
dass „A als Moment in das eingeht, was in der Auffassung von AB aufgefasst ist“.496 Für
Marc-Wogau ist die Auffassung von AB nicht aus zwei Auffassungen zusammengesetzt.
Er erläutert, dass in dem Abstraktionsprozess „das Bewusstsein des Eingehens der
‚abstrakten‘ Bestimmung A (d. h. des Inhaltes der Auffassung, zu der die Abstraktion
führt) in die Bestimmung AB (d. h. in den Inhalt der Auffassung, von der ausgegangen
wurde)“497 als ein Moment vorzufinden ist. Man soll aber daraus nicht schließen, dass „A
als ein ‚Abstraktum‘ die Beziehung zu AB in sich enthalte“. Um dies deutlich zu machen,
führt er eine Stelle von Theodor Lipps Leitfaden der Psychologie an, die er für
problematisch hält: Die Abstraktion „schliesst ein, dass ich in das Apperzipierte die
493 Marc-Wogau (1936a), S. 197.494 Marc-Wogau (1936a), S. 197.495 Marc-Wogau (1936a), S. 197.496 Marc-Wogau (1936a), S. 198. Marc-Wogau nimmt als Beispiel: „Die Wahrnehmung des blühenden
Fliederstrauches ist eine einheitliche Auffassung von etwas, bei dem verschiedene Farben, verschiedeneFormen usw. als Momente eingehen. [...]“
497 Marc-Wogau (1936a), S. 199.
226
Beziehung der Zugehörigkeit zu dem, wovon ich abstrahiere, mit hineinnehme“.498
Demzufolge sei die Beziehung zu dem Umfang in das Abstraktum hineingedacht, was dann
notwendigerweise zu Schwierigkeiten führe. Daher behauptet er, der Gedanke an AB
enthalte nicht den Gedanken an A und setze ihn dann auch nicht voraus; wenn dies paradox
klänge, so Marc-Wogau weiter, läge dies an der Mehrdeutigkeit der gewöhnlichen
Ausdrucksweise.499
Auf die Frage nach dem Verhältnis der Auffassungsinhalte AB und A eingehend sieht er
hierfür zwei Ausdrucksmöglichkeiten: ‚AB fällt unter A‘ und ‚A geht in AB ein‘. Die
beiden Sätze sind für ihn nur zwei Ausdrücke für denselben Sachverhalt. So heißt ‚A geht
in AB ein‘ für Marc-Wogau, dass A zusammen mit dem anderen B ‚AB‘ bildet und dies
dasselbe wie AB ist. Die Erklärung des Sinnes des Eingehens von A in AB kann nicht
dadurch geschehen, dass man konstatiert, „das Eingehen von A in AB bedeute, dass ich im
Bewußtsein von AB auch A auffasse“.500 Denn diese Ausdrücke besagen, dass ein
Bewusstsein von AB vorliegt, in dessen Inhalt A als Moment eingeht. Die Auffassung von
‚A und B‘ (‚Dreieck‘ und ‚Gleichseitigkeit‘), ist etwas anders als die Auffassung von ‚AB‘
(gleichseitiges Dreieck), also ist die Auffassung von AB nicht aus der Auffassung von A
und der Auffassung von B zusammengesetzt.
Wenn bei einem Bestimmungskomplex (AB) das eine Merkmal (A) das andere Merkmal
(B) ‚durchdringen‘501 oder ‚beherrschen‘ sollte, kann dies nach Marc-Wogaus Meinung nur
so verstanden werden, dass der Komplex AB mit A gleichzusetzen ist. Folglich wäre es
dann unmöglich, „zwischen den verschiedenen Inhalten AB, AC, AD usw., für die A das
»Allgemeine« ist, zu unterscheiden“.502 AB sei kein Aggregat sondern eine ‚logische
Einheit‘. Damit ist gemeint, „dass AB ein widerspruchsloser, eindeutiger Inhalt ist. Durch
diese Widerspruchslosigkeit des AB ist das ‚Zusammen von A und B‘ von anderen
498 Marc-Wogau (1936a), S. 199. Marc-Wogau zitert Lipps Werk Leitfaden der Psychologie, 1903, S. 115499 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 199. Er fragt sich daher, wie man einen Körper A denken können sollte,
ohne Körperlichkeit zu denken. Wenn man sagt, dass „bei dem Gedanken an einen Köper A auchKörperlichkeit gedacht ist, so bedeutet dies nur, dass Köperlichkeit als ein Moment in den Körper Aeingeht, also zusammen mit anderen Bestimmungen aufgefasst ist, nicht aber, dass der Gedanke an denKörper A auch den Gedanken an die Bestimmtheit ‚Köperlichkeit‘ »für sich« als ein Moment in sichenthält.“
500 Marc-Wogau (1936a), S. 200.501 Der Ausdruck ‚durchdringen‘ ist eine Anspielung auf Cassirer, vgl. SP, besonders S. 300 (vgl. 3.1):
Cassirer ist der Ansicht, dass das Sinnliche zum Träger vom Sinnhaften werden soll. „Er [dermathematische Geist] erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen G e s t a l t ein Etwas, was sich derAnschauung als solcher schlechthin entzieht — er sieht in ihm das Bild eines G e s e t z e s , einer Formder ideellen Z u o r d n u n g , die das letzte Fundament für alles mathematische Denken ist. Und auch hierist es das G a n z e der anschaulichen Gestalt, nicht etwa nur ein Teil oder Bruchstück von ihr, das unterdiesen spezifischen »Gesichtspunkt« gestellt und ihm gemäß mit einem bestimmten Sinngehaltdurchdrungen wird.“
502 Marc-Wogau (1936a), S. 201.
227
Gebilden abgegrenzt, z. B. von dem Zusammen der Bestandteile eines dialektischen
»Begriffs«.“503 Marc-Wogau zieht damit den Schluss, dass der Einwand, der gegen die
Ansicht, „die Auffassung von AB [sei] aus der Auffassung von A und der Auffassung von
B zusammengesetzt“, erhoben werde, nicht in Bezug auf ‚das Zusammen von A und B in
AB‘ wiederholt werden könne: „AB ist mit dem Zusammen von A und B gleichzusetzen,
nicht aber auch mit A für sich und B für sich.“504
Auch bezüglich der Relationsbestimmung erhebt Marc-Wogau Einwände gegen den
Gedanken der Cassirerschen Korrelation.505 Wenn dieser Begriff so verstanden wird, wie
Cassirer ihn sieht, birgt er seiner Meinung nach in sich selbst einen latenten Widerspruch.
Form und Inhalt, der Begriff und seine Besonderungen, sollten nach Marc-Wogau trotz
strenger logischer Korrelation, einander entgegengesetzt werden können. Er geht daher der
Frage nach, „ob Begriffe, die eine Relationsbestimmung bezeichnen, in demselben Sinn
gedeutet werden können wie Begriffe, die eine Eigenschaft zum Ausdruck bringen“.506
Schnell wird man gewahr, das hierbei das Augenmerk auf der Deutung des Begriffs
‚Relation‘ selbst liegt. Marc-Wogau will die Relation ARB als Inhalt eines Gedankens, als
‚logische Einheit‘ im oben erwähnten Sinne verstehen und behauptet, die Relation ARB
„kann auch als ein widerspruchloser Inhalt ganz ebenso wie AB verstanden werden“.507 Er
sieht auch keinen Grund dafür, diese Einheit als nicht analysierbar anzusehen oder sie,
anders als Russell dies tut, als etwas Spezifisches zu betrachten, das durch eine Analyse
völlig zerstört wird.508 Marc-Wogau fragt sich daher, „ob man nicht im demselben Sinne
sagen könne, dass die beiden Relationen ,A grösser als B‘ und ,C grösser als D‘ etwas
Gemeinsames besitzen, wie man von AB und AC sagt, dass sie ein Moment gemein
haben“.509 Gleichwohl ist für ihn die Relation ARB als Inhalt eines Gedankens eine
logische Einheit.
Russell erklärt die Unanalysierbarkeit des Relationssatzes: Wenn man den Satz
(proposition) „A differs from B“ analysiert, so sind die Konstituenten dieses Satzes, „A,
503 Marc-Wogau (1936a), S. 201.504 Marc-Wogau (1936a), S. 201.505 Vgl. Cassirer, IUB, S. 216. Cassirer sagt explizit: “Wir haben das Verhältnis des ›Allgemeinen‹ und
›Besonderen‹ als ein streng-korrelatives Verhältnis aufzufassen gesucht.“506 Marc-Wogau (1936a), S. 201.507 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 204; Marc-Wogau schließt an Bradleys Appearance and Reality an, vgl.
Marc-Wogau (1936a), S. 202 ff.; vgl. Russell (1903/1996), pp. 99 f. Russell geht auf selbige SchriftBradleys ein und erhebt gegen die Behauptung Bradleys bezüglich ‚endless regress‘ Einwände; zu denverschiedenen Ansichten bezüglich des Relationssatzes, vgl. auch Russell (1903/1996), pp. 221-225.Nach Russell gibt es zwei verschiedene Weisen, das Problem des Relationssatzes zu behandeln. Die einenennt er ‚monadistic‘, als deren Repräsentanten man Leibniz und Lotze anführen kann, und die andere‚monistic‘, deren Vertreter Spinoza und Bradley sind.
508 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 205. Er bezieht sich hier auf Russell (1903/1996), pp. 49 f.509 Marc-Wogau (1936a), S. 205.
228
difference, B“. Diese konstituieren aber den Satz nicht wieder. Ein Satz ist für Russell
„essentially a unity, and when analysis has destroyed the unity, no enumeration of
constituents will restore the proposition“.510 Überdies führt Russell an, „the difference
which occurs in the proposition actually relates A and B, whereas the difference after
analysis is a notion which has no connection with A and B.“511
Marc-Wogau ist der Ansicht, dass man bei einem Ganzen der Relation, ARB, außer den
Relata A und B auch ein drittes Moment R, die Relationsbestimmung, unterscheiden kann,
wenn man mit den Relationsbestimmungen zum Beispiel ‚grösser-kleiner‘ einen
bestimmten Sinn verbindet. „Diese drei Momente gehen in die Relation in demselben
Sinne ein, wie A und B in AB eingehen. Sie sind in einem Gedanken gedacht, wenn ARB
gedacht ist.“512 Somit meint er weiterhin, dass der Gedanke an die Relation ARB als solche
einheitlich sei. „Aber ARB kann als Komplex von den Bestimmungen (Begriffen) A, R,
und B betrachtet werden; diese Bestimmungen können aus ARB durch Analyse gewonnen
werden. Auch die Relationsbestimmung hat dann den Charakter des »Begriffs«“.513 Dieser
Ansicht Marc-Wogaus zur Unanalysierbarkeit des Relationssatzes bei Russell entgegnet
Cassirer selbst, worauf im nächsten Abschnitt eingegangen wird.
In Bezug auf das Problem der Unanalysierbarkeit der Relation als Relationsganzes versucht
Marc-Wogau der Eindeutigkeit der Russellschen asymmetrischen Relationen auf den
Grund zu gehen, indem er sich die Frage stellt, wie das Zusammendenken der Elemente A,
B und R ein eindeutiges Ganzes ergeben könne, und ob dieses Ganze doch noch eine
spezifische Bestimmtheit enthalte, die aber durch die Analyse verloren gehe. Er ist dabei
der Ansicht,
„bei der Relation ,A grösser als B‘ ist ausser A und B nicht nur die allgemeineRelationsbestimmung ,grösser-kleiner‘, sondern auch das ganz bestimmteVerhältnis, dass A grösser als B ist, und nicht etwa, dass B grösser als A ist,gedacht. Durch die Zerlegung der asymmetrischen Relation ARB in dieMomente A, B und R scheint man dieser Eindeutigkeit der Relation nichtgerecht zu werden“.514
510 Russell (1903/1996), p. 50.511 Russell (1903/1996), p. 49; vgl. auch p. 50: „If the quality be not a relation, it can have no special
connection with the difference of A and B, which it was to render distinguishable from bare difference,and if it fails in this it becomes irrelevant. On the other hand, if it be a new relation between A and B,over and above difference, we shall have to hold that any two terms have two relations, difference andspecific difference, the latter not holding between any other pair of terms. This view is a combination oftwo others, of which the first holds that the abstract general relation of difference itself holds between Aand B, while the second holds that when two terms differ they have, corresponding to this fact, a specificrelation of difference, unique and unanalyzable and not shared by any other pair of terms.“
512 Marc-Wogau (1936a), S. 206.513 Marc-Wogau (1936a), S. 206.514 Marc-Wogau (1936a), S. 206.
229
Die asymmetrische Relation sei eine logische Einheit, daher könne man auch sagen, dass
sie in dem selben Sinne eine Einheit von den Bestimmungen A, B und R sei, wie der
Begriff Dreieck eine Einheit von den Bestimmungen Figur, Dreiseitigkeit und
Geradlinigkeit ausmache. Der Grund der Eindeutigkeit des Relationsganzen ist nach Marc-
Wogau aber in den Relatis selbst zu suchen:
„Gewisse Bestimmtheiten bei A und B lassen hier die Umkehrung der Relationnicht zu. Die Relationsbestimmung gibt eine bestimmte »Richtung« zwischenden Relationsgliedern an. Aber die Irreversibilität dieser »Richtung« hat ihrenGrund in den Gliedern selbst. Die Eindeutigkeit der asymmetrischen Relationscheint dann mit dem »Zusammen« der Elemente A, B und R gegeben zusein.“515
Man kann hier vorwegnehmen, dass Marc-Wogaus Gedanke, die Eindeutigkeit des
Relationsganzen in den Relatis selbst zu suchen, nicht bestehen kann. Denn allein ‚größer
als‘ sagt uns nichts aus, nur in der Relation zwischen A und B oder C und D kann ‚größer
als‘ eine Bedeutung besitzen. Man kann auch mit ‚größer als‘ beliebig immer andere
mindestens zwei Glieder verbinden. Man kann zum Beispiel den Satz ‚x ist größer als y‘
bilden, in dem x und y Variablen sind und somit eine beliebige Anzahl unterschiedlicher
Sätze bilden. ‚Größer als‘ kann nur in einem Satz wie zum Beispiel ‚A ist größer als B‘ ein
Urteil fällen, das es dann auf den Wahrheitsgehalt zu prüfen gilt. Wenn der Satz ‚A ist
größer als B‘ wahr ist und der Satz ‚C ist größer als D‘ nicht wahr ist, wie können die
beiden Relationen, wie Marc-Wogau behauptet, etwas Gemeinsames besitzen? Darüber
hinaus fragt man sich, wie die Bestimmungen des Begriffs aus ARB durch Analyse
gewonnen werden können, wenn nur A, R und B nebeneinander stehen und ihnen keine
Relationsbestimmung mehr gegeben ist. ‚Größer als‘ kann nicht den Charakter eines
Begriffs haben, wie Marc-Wogau behauptet. Nach Russell kann man den Satz ‚A ist größer
als B‘ als Satz mit zwei Subjekten verstehen.
Auch die Eindeutigkeit der Russellschen asymmetrischen Relationen ist nach Marc-Wogau
in den Relatis selbst zu suchen. Betrachtet man dies anhand eines Russellschen Beispiels
näher, so bedeutet dies, dass eine Relation zwischen Vater (a) und Sohn (b), nämlich aRb
eine asymmetrische Relation ist. Diese Beziehung ist aber anders als die zwischen Bruder
und Schwester, die nach Russell eine symmetrische Relation bildet.516 Wenn aRb, wie
Marc-Wogau meint, eine Einheit von den Bestimmungen (a), (b) und R ist, dann hat man
515 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 206 f.516 Vgl. Russell (1903/1996), p. 218 f.; auch 2.2.2.
230
als Bestimmungen Vater, Sohn und R. Sucht man dann die Eindeutigkeit dieser Relation
oder das Relationsganze in den Relatis, dann sieht man nur die nebeneinander stehenden
Termini oder Begriffe. Marc-Wogau behauptet ja, dass die Bestimmtheit der Relation
durch Analyse nicht verloren geht. Man fragt sich, ob diese nebeneinander stehenden
Begriffe eine Eindeutigkeit der asymmetrische Relation aRb ausmachen, wie dies Marc-
Wogau mit dem Begriff Dreieck zeigt, der eine Einheit der Bestimmungen Figur,
Dreiseitigkeit und Geradlinigkeit ausmacht. Vater und Sohn können dann und nur dann
einen Sinn oder ihre spezifischen Bestimmungen haben, wenn sie in Beziehung stehen, das
heißt, wenn Vater (a) der Vater seines Sohnes (b) ist und vice versa.
3.6.2.2. Der Korrelationsgedanke von Inhalt und Umfang bei Cassirer
In diesem Zusammenhang hebt Cassirer zunächst wieder die große Bedeutung Platons
hervor (vgl. 1.4), indem er einerseits auf den Chorismos zwischen Sinnenwelt und Ideen
eingeht und andererseits auf die Teilhabe des Sinnlichen an den Ideen (vgl. IUB, 211 f.).
Im Anschluss daran stellt er die Methodik Marc-Wogaus in Frage, da dieser mit einem
radikalen Schnitt die bisherigen Begriffslehren analysiert und zu dem Ergebnis gelangt,
dass keine Theorie seinem Kriterium standhalten kann. Cassirer bezweifelt, dass der
radikale Schnitt, den seiner Meinung nach Marc-Wogau in seiner Schrift vollzog, an der
rechten Stelle geführt worden ist: „Was hilft die Operation, wenn sich zeigt, daß der Patient
sie nicht überleben kann, daß er an ihr zu Grunde gehen muß?“ (IUB, 214). Die Lösung für
das Problem des Verhältnisses zwischen Inhalt und Umfang durch Marc-Wogau birgt für
ihn eine solche Gefahr in sich, denn wenn man sich dem Problem stellt, muss man zu
einem konstruktiven Aufbau fortschreiten können.
Die von Marc-Wogau gestellte Forderung, „den Inhalt des Begriffs rein für sich zu
definieren, und jede Beziehung auf den Umfang aus dieser Definition fernzuhalten“
bedeutet für Cassirer im gewissen Sinne das „Ende des Begriffs“ (IUB, 215):
„Jeder Begriff stellt eine bestimmte »Einheit der Bedeutung« auf und erverlangt, daß diese Einheit streng festgehalten wird. Aber er enthält zugleicheine Beziehung auf ein Mannigfaltiges und Besonderes, in welchem dieseBedeutungseinheit erst ihre Anwendung und Erfüllung finden kann. Ohne dieseBeziehung würde der Begriff vielleicht noch in irgend einem Sinn logisch-verständlich bleiben; aber er könnte keine objektive Erkenntnis mehrvermitteln; er bliebe, vom Standpunkt dieser Erkenntnis aus, »leer«.“ (IUB,
231
215)
Diese Worte Cassirers lassen erkennen, was er unter dem Wesen des Begriffs versteht. Die
positive Leistung des Begriffs besteht darin, dass etwas durch den Begriff erkannt, nicht
aber der Begriff überhaupt gedacht wird:
Der „Gegenstandsbezug läßt sich aus dem echten Begriff nicht eliminieren.Und durch ihn dringt notwendig und unvermeidlich die Rücksicht auf den»Umfang« in die Betrachtung des Begriffs ein. Der reine Erkenntnis-Sinn derBegriffe — mag es sich nun um naturwissenschaftliche oder etwa umjuristische Begriffe handeln — besteht ja eben darin, daß sie uns in den Standsetzen sollen, das empirisch-Besondere unter Regeln zu fassen und es kraftderselben zu bestimmen. Aber jede Regel ist unvollkommen, solange sie nichteine bestimmte Anweisung auf einen Bereich besonderer Gegenstände enthält,innerhalb dessen sie angewandt werden soll, und solange sie nicht etwas überdie Art dieser Anwendung aussagt.“ (IUB, 215)
Wird das Band zwischen ‚Inhalt‘ und ‚Umfang‘ zerschnitten, so Cassirer, kann man dem
Problem, das sich aus dem Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang ergibt, oder dem
Widerspruch und Irrtum in der Auseinandersetzung entgehen, aber nur mit der Vermeidung
des Irrtums erreicht man „noch keinerlei »Wahrheit«, noch keine empirisch-gültige und
empirisch-brauchbare Erkenntnis“ (ibd.). Er ist der Ansicht, dass sich das Allgemeine am
Besonderen bewähren soll, und dass das Allgemeine nicht nur mit dem Besonderen
übereinstimmen, sondern es zum Schlüssel werden soll, der zu immer neuen
Besonderheiten hinführt.517
Cassirer betont auch, dass der Sinn des Reihenprinzips von dem des Reihenglieds
unabhängig ist, insofern das Prinzip gegenüber dem Reihenglied etwas Eigenes und
Selbständiges bedeutet. Diese Unabhängigkeit sei eines der wesentlichen Fundamente der
gesamten Begriffstheorie:
517 Cassirer weist an dieser Stelle auf Kant hin, dass der Satz des Widerspruchs oberster Grundsatz alleranalytischen Urteile ist, dass man durch den Satz des Widerspruchs zwar Falschheit und Irrtumvermeiden, aber nicht die Wahrheit als solche aufdecken und zulänglich begründen kann. vgl. Kant,KrV, B 190. Kant (W1990), S. 196 f.: „Der Satz nun: Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welchesihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives,Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, [...]. Man kann aber doch vondemselben auch einen positiven Gebrauch machen, d.i. nicht bloß, um Falschheit und Irrtum [...] zuverbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urteil a n a l y t i s c h ist, es mag nunverneinend oder bejahend sein, [...]. Daher müssen wir auch den S a t z d e s W i d e r s p r u c h s als dasallgemeine und völlig hinreichende P r i n c i p i u m a l l e r a n a l y t i s c h e n E r k e n n t n i s geltenlassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Kriteriumder Wahrheit.“; vgl. auch Anmerkung von Bast (1993), S. 289.
232
Wenn „Form und Inhalt, Reihenprinzip und Reihenglied auch in aller Schärfegedanklich zu unterscheiden sind, so besagt doch dies keineswegs, daß sie imSinne einer naiv-dinglichen Auffassung, von einander trennbar sind. [...] Abereine solche Zwischenschicht läßt sich zwischen »Form« und »Inhalt« nichteinschieben, denn für beide gibt es kein Auseinander, sondern nur einMiteinander — ein Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit.“ (IUB, 217)
Cassirer lehnt Marc-Wogaus Behauptung ab, in der dieser gegen Russells
Relationsbestimmung Einwände erhebt (vgl. 3.6.2.1), dass aRb als Komplex von den
Bestimmungen (Begriffen) a, R, und b betrachtet werden könne und diese Bestimmungen
aus aRb durch Analyse gewonnen werden könnten. Diese muss man Cassirers Meinung
nach fallen lassen. Denn die Beziehung aRb sei kein Aggregat, das aus einzelnen Teilen
bestehe; sie lasse sich nicht in der Form (a+R+b) denken, weil der mit R bezeichnete
Ausdruck einer völlig anderen Dimension angehöre, weil er etwas durchaus anderes
bedeute, als das, was durch die Glieder a und b bezeichnet werde (IUB, 219). Cassirer
verteidigt, wie an dieser Stelle deutlich wird, Russells Logik der Relationsbegriffe, die
gezeigt hat, dass es unmöglich ist, eine Relation in Stücke zu zerbrechen und sie aus ihnen
wieder zusammenzusetzen (3.6.2.1; 2.2.2). Russell habe gegen Bradley treffend
hervorgehoben, dass das Zerbrechen der Relationen „nicht sowohl einem inneren Mangel
oder Widerspruch der reinen Relationsbegriffe, als vielmehr einem Mangel der
absolutistischen Gegenstandstheorie zuzuschreiben“ sei (IUB, 218). So hebt Cassirer an
dieser Stelle mit Russell hervor, dass es widerspruchsvoll ist, wenn man die Relation den
beiden Gliedern, die sie miteinander verknüpfen will, als ein neues Glied hinzufügt, wie
dies bei Marc-Wogau der Fall ist.518 Denn die Relation soll die Glieder mit einander
verknüpfen und man soll sie auch nicht wie ein ‚solides Ding‘ (a solid thing) nehmen (vgl.
IUB, 218).519
Russell merkt an, dass eine Relation zwischen zwei Termini ein Begriff520 ist und diese in
einem Satz auftritt, in dem zwei Termini nicht als Begriffe vorkommen und in dem der
Austausch der zwei Termini einen anderen Satz ergibt.521 Ein Relationssatz (a relational
518 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 203519 Cassirer kennt auch eine Analyse im Sinne der Heraushebung des Verbindungsgrundes R im
synthetischen Urteil vgl. PsF II, S. 80.520 Russell (1903/1996), p. 212. Russell definiert ‚concept‘: „There are among terms two radically different
kinds, whose difference constitutes the truth underlying the doctrine of substance and attribute. Thereare terms which can never occur except as terms ; such are points, instants, colours, sounds, bits ofmatter, and generally terms of the kind of which existents consist. There are, on the other hand, termswhich can occur otherwise than as terms ; such are being, adjectives generally and relations. Such termswe agreed to call concepts.“
521 Russell (1903/1996), p. 95: „A relation between two terms is a concept which occurs in a proposition inwhich there are two terms not occurring as concepts, and in which the interchange of the two terms givesa different proposition.“
233
proposition) ist unterschieden von einem solchen Satz wie „a and b are two“, welcher mit
„b and a are two“ identisch ist. Er erklärt daher den Kernpunkt des Relationssatzes
zwischen zwei Termini wie folgt:
„A relational proposition may be symbolized by aRb, where R is the relationand a and b are the terms; and aRb will then always, provided a and b are notidentical, denote a different proposition from bRa. That is to say, it ischaracteristic of a relation of two terms that it proceeds, so to speak, from oneto the other. This is what may be called the sense of the relation, and is, as weshall find, the source of order and series.“522
Nach Marc-Wogau sollte man den Umfang nicht in den Inhalt hineindenken. Seine
Begründung beruht auf der Feststellung, dass das „blosse Voraussetzen des
Vorhandenseins einer bestimmen Menge [...] uns nicht die Möglichkeit [gibt], diese Menge
mit anderen zu vergleichen bzw. die Grösse des Umfangs zu bestimmen.“523 Daher merkt
er auch an, der Umstand, dass der Umfang des Begriffs unbekannt sei, verhindere nicht die
bestimmte Erfassung des Begriffs. Auch dass man in der Logik dennoch bei Begriffen von
einem Umfang rede, habe seinen Grund in der gewöhnlichen, dialektischen Voraussetzung,
„dass die Umgrenzung einer Mehrheit von Elementen schon durch die durch den
Begriffsinhalt ausgedrückte Bestimmung gegeben sein könne“. Marc-Wogau versteht die
Ansicht, dass das, was als Begriffsumfang anzusehen ist, vom faktischen Stand der
Erkenntnis abhängig ist, als eine ‚Relativierung des Umfangs‘, und so ergibt sich für ihn
hieraus, dass das Wesentliche für den Begriff im Inhalt, nicht aber im Umfang gesucht
werden muss.524
Cassirer widerlegt dies mit dem Beispiel vom ‚Begriff des Planeten‘. Die Entdeckungen
der Planeten zeigen, dass der Umfang des Begriffs durch die jeweiligen Entdeckungen, wie
zum Beispiel die Entdeckung des Uranus (1781), erweitert wurde und dadurch auch der
Inhalt des Begriffs eine Erweiterung erfuhr. Dies sei ein gutes Beispiel gegen Marc-
Wogaus Meinung, dass „der Umfang eines empirischen Begriffs gegen seinen Inhalt völlig
gleichgültig und von ihm aus niemals wirklich bestimmtbar ist“ (IUB, 224).525 Cassirer522 Russell (1903/1996), p. 95; vgl. auch p. 97. Russell fasst dann die Fälle der Relation von zwei Termini
in drei Punkten zusammen: „(1) they [two terms] all have sense, so that, provided a and b are notidentical, we can distinguish aRb from bRa; (2) they all have a converse, i.e. a relation Ř such that aRbimplies and is implied by bŘa whatever a and b may be; (3) some relations hold between a term anditself, and such relations are not necessarily symmetrical, i.e. there may be two different relations, whichare each other’s converses, and which both hold between a term and itself.“ Beispiel für jenen Fall wäredie Relation zwischen Vater und Vater und für diesen Fall wäre die Relation zwischen Schwester undSchwester; vgl. Russells ausführliche Erklärung in Chapter IX. Relations. § 94-99, pp. 95-100.
523 Marc-Wogau (1936a), S. 182.524 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 183.525 Um dies zu verdeutlichen führt Cassirer anschließend Hegels Logik an. Hegel wählte, als er im Jahre
234
hebt an dieser Stelle hervor:
„Die Herstellung einer festen Beziehung zwischen dem Inhalt und Umfangeines Begriffs erscheint vom kritischen Standpunkt aus als eine Aufgabe, derenallmähliche Lösung wir der Erfahrung oder der ständig-fortschreitendenAnalyse der Grundbegriffe anheim stellen müssen; während die metaphysischeLogik diese Aufgabe als vollendet und abgeschlossen ansieht.“ (IUB, 223)
Gegen Hegel gewendet (vgl. Fußnote, 525) betont Cassirer, dass die Entscheidung über Art
und Richtung der Logik nicht durch die im ideellen verharrende Betrachtungsweise
erfolgen kann, sondern die wahrhaften Seinsbegriffe, die Aussagen über die Dinge und ihre
wirklichen Beschaffenheiten, den eigentlichen Maßstab zu bilden haben. Die
naturwissenschaftlichen Begriffe sollen nicht als Aggregate von Wahrnehmungstatsachen
betrachtet werden. Denn die naturwissenschaftliche Theorie bezieht sich nicht unmittelbar
auf die Tatsachen, sondern auf die ideellen Grenzen, die man gedanklich an ihre Stelle
setzt. Das Verhältnis zwischen den theoretischen und den faktischen Grundelementen ist
eine komplexere Beziehung, die im Aufbau der Wissenschaft obwaltet und daher logisch
einen schärferen Ausdruck für das Verhältnis zwischen Prinzip und Tatsache verlangt. (vgl.
IUB, 219; 2.3.3)
Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Theorie haben die Gegenstände der Mathematik
und in deren Natur nur ein ideales Sein und alle Aussagen von ihnen beziehen sich auf das
Gesetz ihrer ursprünglichen Konstruktion. Cassirer ist daher der Ansicht, dass obschon die
mathematischen Konstruktionsbegriffe in ihrem Bereich fruchtbar und unentbehrlich sind
und die naturwissenschaftlichen Begriffe mit der Logik der Mathematik zusammenhängen,
es zum methodischen Fehler werden würde, wenn man von der mathematischen Logik aus
das Ganze der logischen Probleme zu bestimmen versucht (vgl. SuF, 148). Denn Erfahrung
und Denken sollen das Gleichgewicht halten und sich ständig wechselseitig ergänzen:
„Die Theorie gestaltet, an der Hand der Beobachtung und unter ihrer stetigenLeitung, den Inhalt der Begriffe um, indem sie immer neue Bestimmungen undBeziehungen in sie aufnimmt; und eben durch diese Umgestaltung wird siefähig, die einzelnen Anwendungsfälle der Begriffe immer vollständiger zuübersehen und immer genauer zu ordnen. Der Umfang hört durch dieseOrdnung auf, ein bloßes Aggregat zu sein — er wird zum System.“ (IUB, 228)
1801 sein Lehramt in Jena antrat, als Thema seiner Dissertation das Problem der Planetenabstände undder Planetenbahnen (vgl. IUB, S. 224). Nach Cassirers Ansicht habe Hegel in seiner Dissertationversucht, „den Umfang eines Begriffs vollständig aus dem Inhalt herzuleiten“, und dies habe er in allseiner Deduktion stillschweigend vorausgesetzt. Cassirer interpretiert daher Hegels Logik als „Logik des»intuitiven Verstandes«“, die „keine Logik des empirisch-diskursiven Denkens“ ist (IUB, S. 225).
235
3.6.2.3. Marc-Wogaus Replik auf Cassirers Bemerkungen
Ähnlich wie in seinem Werk Inhalt und Umfang des Begriffs, so erhebt Marc-Wogau in
seiner Replik526 wieder Einwände gegen die Cassirersche Deutung der strengen Korrelation
zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen.
Cassirers Behauptung, dass das Allgemeine etwas ‚Eigenes und Selbständiges‘ bedeutet, ist
für ihn unverträglich. „Denn die Korrelation von Form und Materie, von Reihengesetz und
Reihenglied, wie Cassirer sie auffasst, scheint bei näherer Analyse nicht nur die reale
Verschiedenheit, sondern auch die gedankliche Unterscheidung beider Momente
unmöglich zu machen — obgleich eine solche Unterscheidung von Cassirer selbst
angenommen wird“.527 Gegenüber dieser Behauptung Marc-Wogaus soll der Begriff der
Korrelation Cassirers verdeutlicht werden. Man kann unter der Korrelation verstehen, dass
ein Geometer eine gegebene Figur betrachtet, indem er sowohl auf die Eigenschaft dieser
Figur achtet, als auch das Netz von Korrelationen dieser Figur mitdenkt, in welchem die
Figur mit anderen verwandten Bildungen steht.
Marc-Wogau behauptet nach wie vor, dass eine distinctio rationis zwischen Form und
Materie bei Cassirer unmöglich ist; dieser dagegen ist der Ansicht, Form und Materie
sollen ihrer Existenz und ihrer Bestimmtheit nach einander bedürfen oder voneinander
abhängig sein. Dieser Cassirersche Gedanke liegt nach Marc-Wogau den in überlieferten
Begriffslehren gebräuchlichen Metaphern zugrunde. So will Marc-Wogau auch den
Cassirerschen Ausdruck ‚Durchdringung‘ von Form und Stoff als das ‚Durch-einander-
Bedingtsein‘ derselben verstehen. Was wiederum seiner Ansicht nach die Frage aufwirft,
wie zwei Glieder einer Relation, die eigentlich einen selbständigen Sinn haben sollten,
trotzdem ihrer Bestimmtheit nach durch einander bedingt sein können.528
Er meint, Cassirer setze in seiner Formulierung die gewöhnliche Deutung der Relation als
Verbindung zweier Glieder durch einen Verbindungsgrund, durch ein verbindendes Drittes
also, voraus. Dem entspringt, wie Marc-Wogau es ausdückt, das Problem: „A muss, wenn
es seiner Bestimmtheit nach durch R bedingt sein soll, R ,in sich enthalten‘; es soll aber
dennoch [nach Cassirer] von R unterschieden sein“.529 Dass Relation und Glieder ‚einander
bedingen‘ und ‚fordern‘ könne nicht ohne Widerspruch zusammengedacht werden.
Sich dem Thema Erkenntnis zuwendend ist Marc-Wogau der Meinung, dass diese im
526 Marc-Wogau (1936c)527 Marc-Wogau (1936c), S. 337.528 Vgl. Marc-Wogau (1936c), S. 337 f.529 Marc-Wogau (1936c), S. 338.
236
Urteil vorliegen soll und nicht in einem Moment desselben, dem Begriff. Er stimmt zwar
mit Cassirer darin überein, dass „die Wissenschaft das Ziel verfolgt, das Einzelne, unter
einen Begriff Fallende, etwa die einzelnen chemischen Elemente, systematisch zu ordnen
und nach einem Prinzip abzuleiten“, aber nicht darin, dass ein solches Prinzip schon im
Begriff des chemischen Elements selbst liegt.530 Ihm scheint es vielmehr, dass bei der
Klassifikation der Elemente ein bestimmter Sinn im Begriff des chemischen Elements
vorausgesetzt wird.
Wenn es sich um Voraussagen in der Naturwissenschaft handelt, geht für Marc-Wogau die
Erkenntnis über den bloßen Begriff oder das Gesetz hinaus. Das Gesetz bildet, so Marc-
Wogau, immer nur die eine Prämisse, den Obersatz desjenigen Schlusses, in dem die
Voraussage besteht: „Aus dem Gesetz allein kann der besondere, vorauszubestimmende
Fall nicht hergeleitet werden; der Übergang zu diesem Fall erfordert, dass das Gesetz
transzendiert wird. Die einzelnen Fälle liegen nicht analytisch in dem Begriff selbst. Die
Beziehung auf das unter den Begriff Fallende liegt nicht im Begriffsinhalt als solchem.“531
Marc-Wogau führt hierfür als Beispiel die ‚Triangularität‘ an. Wenn man findet, so
argumentiert er, dass eine gegebene Figur die Bestimmtheit ‚Triangularität‘ besitzt, so kann
man immer behaupten, dass man es mit Etwas das ‚Dreieck‘ ist, zu tun habe. Weiß man,
was für eine Bestimmtheit ein Begriff ausdrückt, so kann man einen beliebigen
aufgefassten Inhalt daraufhin prüfen, ob er diese Bestimmtheit besitzt oder nicht, ob er als
Beispiel für den in Rede stehenden Begriff genommen werden kann oder nicht. Daraus,
dass eine Bestimmtheit in verschiedene einzelne Inhalte eingehe, so Marc-Wogau weiter,
folge nicht, dass die Beziehung zu diesen Inhalten schon in der Bestimmtheit selbst
gedacht sein müsse. Man könne natürlich sagen, dass die Menge von Inhalten, die als
Umfang des Begriffs A bezeichnet werde, in gewissem Sinne von A abhängig sei, nämlich
insofern, als A den Elementen dieser Menge anhaften müsse.532
Das Gesetz gibt nach Marc-Wogau selbst an, dass man nur in einzelnen Fällen, für die das
Gesetz gilt, suchen kann, während Cassirer äußert, dass der Gesetzesbegriff seinen
konkreten Sinn dadurch erhält, dass er „aus dem Ganzen der physikalischen ,Wirklichkeit‘
einen gewissen Kreis herauslöst – daß er ein besonderes Sein und Geschehen bezeichnet,
innerhalb dessen eine gewisse Ordnung aufweisbar sein soll“ (IUB, 220).533 Er behauptet
530 Marc-Wogau (1936c), S. 339.531 Marc-Wogau (1936c), S. 339.532 Marc-Wogau (1936c), S. 339 f.; vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 180 f.533 Man kann ‚einen gewissen Kreis‘ als eine Dimension der Symbolfunktion verstehen, also der
Gesetzesbegriff soll die Dimension der physikalischen ‚Wirklichkeit‘ herauslösen (Darstellungs-funktion) und zur Dimension der ‚Ordnung‘ (Bedeutungsfunktion) übergehen. Man denkt bei ‚Kreisherauslösen‘ unweigerlich an Cassirers ‚Stufen der Objektivierung‘ vgl. 1.5; 3.4.3; auch SP, S. 306. Das
237
daher schließlich, dass „ein Begriff oder ein »Gesetz« in diesem Sinne auf ein bestimmtes
Gebiet hinweist, sehe ich nicht, wie Cassirer zu meinen scheint [...], als »zweifelhaft und
gefährlich« an. [...] Ich reduziere den überlierferten Begriffslehren gegenüber die
Bedeutung dieser Beziehung“.534
Man kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Cassirer die Entwicklung der
Wissenschaften als ‚Werdegang‘, als ‚Prozess‘ betrachtet und von einer wissenschaftlichen
Erfahrung ausgeht. Er spricht daher von einer Bestimmbarkeit, während Marc-Wogau von
der Bestimmtheit spricht. Der Gegenstand der Erfahrung ist nicht ein Gegebenes sondern
ein ‚Aufgegebenes‘. Man kann ihn nicht von der Erfahrung ablösen, sondern kann nur
zeigen, „wie er sich in der Erfahrung und unter deren Bedingungen aufbaut“. Er erscheint
„nicht als ein Abgeschlossenes, zu Ende Bestimmtes, sondern als ein fort und fort
Bestimmbares, und in diesem Begriff der Bestimmbarkeit im Fortschritt der Erfahrung ist
der scheinbare Widerspruch zwischen »Bestimmtsein« und »Nicht Bestimmtsein«
aufgehoben.“ (NKL, 99)535
oben angeführte Zitat kann man auch so interpretieren, dass hier hinter Cassirers Gedanke der Bezug auf‚Bestimmbarkeit‘ im Fortschritt der wissenschaftlichen Erfahrung steht, vgl. NKL, S. 99.
534 Marc-Wogau (1936c), S. 340. Marc-Wogau bezieht sich hier auf Cassirer, IUB, S. 219: „das läßt sicham besten an den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen deutlich machen. Sie alle zeigenunverkennbar jenen Zug, den Marc-Wogau als zweifelhaft und gefährlich ansieht, und den er daher ausder vollkommenen logischen Theorie ausscheiden möchte. Es gibt keine Gesetzes-Aussage, die nichtschon in ihrer Formulierung den Hinweis auf ein ganz bestimmtes Gebiet empirischer Objekte enthielte,und die nicht an die konkreten, für dieses Gebiet gültigen Bestimmungen anknüpfte.“
535 Vgl. Bermes (1997), S. 170-174. Bermes behandelt Marc-Wogaus Kritik an Cassirer bezüglich desBedeutungsproblems.
238
4. Cassirers symbolische Form der Begriffsbildung
In diesem Kapitel werden zunächst die aus der Untersuchung der Begriffstheorie Cassirers
in SuF und PsF gewonnenen Erkenntnisse vergleichend zusammengefasst. Im Anschluss
daran wird der Versuch unternommen, die weitere Entwicklung der sich aus diesem
Vergleich ergebenden Erweiterung seiner Begriffstheorie in PsF darzustellen.
4.1. Ergebnis der Untersuchung: Funktionsbegriff und Symbolbegriff
Die bisherige Untersuchung der Begriffstheorie Cassirers in SuF und in PsF zeigt, dass sein
erkenntnistheoretischer Standpunkt in SuF und in PsF unverändert bleibt und sich wie ein
roter Faden vom Funktionsbegriff bis zum Symbolbegriff durch sein Werk zieht. Die aus
der Untersuchung der Theorie des Begriffs gewonnenen Erkenntnisse lassen sich wie folgt
zusammenfassen.
Erstens lehnt er in PsF, wie es sich schon in seiner Kritik an der Abstraktionstheorie in SuF
abzeichnet, den Begriffsrealismus noch entschiedener ab und betont dagegen die ‚Aktivität
des Geistes‘. Wie bereits im Kapitel 2 gezeigt, übt Cassirer in SuF Kritik am
Begriffsrealismus der traditionellen Abstraktionstheorie. Der substantielle Gattungsbegriff
wird durch ein reziprokes Verhältnis von Inhalt und Umfang in der Einteilung in Gattungen
und Arten zu einem immer inhaltsärmeren Allgemeinbegriff geführt. Demgegenüber stellt
die Logik des Funktionsbegriffs das inhaltsreichere ‚konkrete‘ Allgemeine dar. Der
Gattungsbegriff in der traditionellen Abstraktionstheorie ist für Cassirer ein ‚Dingbegriff‘,
der seinen begrifflichen Gegenstand in der empirisch-sensualistischen Welt sucht. Der
Begriff, der durch wissenschaftliche ‚Erfahrung‘ gewonnen wird, kann nicht wieder als ein
Gegenstand in der Außenwelt gesucht werden, denn der Begriff ist kein Abbild der Welt.
Cassirer lehnt daher die Abbildtheorie strikt ab.
Wie seine Untersuchung in SuF zeigt, ist seine Kritik auf den Begriffsrealismus innerhalb
der aristotelischen traditionellen Logik gerichtet. Hierbei stellt Cassirer die Anwendbarkeit
und Geltung des Begriffs als Kriterium auf und versucht mit Hilfe des Funktionsbegriffs
die konkrete wissenschaftliche Begriffsbildung darzustellen. Es geht nicht nur um die Form
des Begriffs, sondern auch um die objektive Begründung des Begriffs, um seinen
objektiven Sinn und seine gegenständliche Geltung.536 Darüber hinaus geht es um die Frage536 Vgl. ZTB, S. 132: „Denn nicht auf die bloßen, von jedem gegenständlichen Gehalt und Sinn entleerte
‚Form‘ des Begriffs, sondern auf seinen ,objektiven‘ Sinn und Wert, auf das, worin dieser Sinn besteht
239
nach dem objektiven Wert des Begriffs und dem daraus entstehenden Erkenntniswert. Die
traditionelle formale Logik kann jedoch keinen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen
leisten, solange sie den Allgemeinbegriff durch das Sieb der Abstraktion zu gewinnen
versucht.
Der Funktionsbegriff aber ist ein mathematischer Begriff, der nur in der mathematischen
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die konkrete Allgemeinheit darstellen kann. Daher
korrigiert er seine in SuF gewonnene Ansicht zur Begriffstheorie, insofern er nun der
Meinung ist, dass sich die Objektivität der Erkenntnis nicht auf ein bestimmtes Gebiet, das
heißt, auf die idealen mathematischen Gegenstände oder auf die physischen Dinge
einschränken lässt. Man soll nicht weiter von der besonderen Form der mathematischen
naturwissenschaftlichen Begriffe einen „Rückschluß auf die allgemeine Form des ,Begriffs
überhaupt‘“ versuchen, wie das in SuF der Fall war (ZTB, 130). Er selbst hat eingesehen,
dass sein mathematischer Funktionsbegriff das Kriterium der Anwendung des Begriffs, das
er selbst aufgestellt hat, und die Bedingungen für die allgemeine Form des Begriffs
überhaupt nicht erfüllen kann. Somit wird die Begriffstheorie in PsF eine ‚kritische
Revision‘ der in SuF.
In PsF versucht er eine Lösung in den ‚Phänomenen‘ der Erkenntnis zu finden. So wird
zunächst unter ‚Erkenntnis‘ nicht nur der Akt „des wissenschaftlichen Begreifens und des
theoretischen Erklärens, sondern jede geistige Tätigkeit“ (ZLS, 208), in der man sich eine
Welt der Ordnung aufbaut, verstanden. Davon ausgehend, dass der Mensch ein ‚animal
symbolicum‘ ist, versucht Cassirer durch das symbolische Denken und die damit
verbundenen Zeichenfunktionen, die Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion,
die Welt der symbolischen Formen zu erfassen. Die in PsF ausgeführten Welten der
symbolischen Formen sind für ihn jeweils spezifische Formwelten, die die Phänomene der
Erkenntnis als Ganzes darstellen. So erläutert er, dass die Theorie des Begriffs in PsF die
Mannigfaltigkeit in ihrem Ganzen sichtbar machen und die ‚immanente Bedeutung‘, die
innere Gliederung der Differenzen, der Gegenstandsstruktur aufweisen will. Seine
systematische Grundfrage der Begriffstheorie ist darauf gerichtet, herauszufinden, was der
Begriff für den Aufbau der Erkenntnis bedeutet und leistet. Das logische Problem des
Begriffs ist daher mit dem allgemeinen Bedeutungsproblem verknüpft. Cassirer ist der
Auffassung, die Lehre vom Begriff ließe sich im Rahmen einer systematischen
und worin er sich begründet, war meine Analyse von Anfang an gerichtet. Und was ich zu zeigen suchte,war nicht, daß die Theorie der Abstraktion ‚falsch‘, d. h. daß sie formal-unrichtig sei, sondern daß siefür die eigentliche objektive Begründung des Begriffs, für die Erklärung seines Erkenntniswertes nichtausreicht.“
240
‚Bedeutungslehre‘ zureichend begründen und vollständig aufbauen (vgl. 2.3.3). Dies legt
den Schluss nahe, dass mit der Bedeutungslehre die Funktion des Zeichens und des
Symbols im Bereich der Bedeutungsfunktion, also der wissenschaftlichen Erkenntnis
gemeint ist, denn der Begriff wird in seiner reinen Bedeutungsfunktion zum ‚echten‘
Begriff. Auf das ‚Bedeutungsproblem‘ wird in Abschnitt 4.2 noch näher eingegangen.
Zweitens, die alten Probleme der Metaphysik, wie zum Beispiel das Problem des
Dualismus zwischen Form und Materie, Denken und Sinnlichkeit und Subjekt und Objekt,
sollen nach Cassirer unter dem Gesichtspunkt der Beziehung, des Korrelationsverhältnis
betrachtet werden. Hierfür muss man auch die Einheit des Bewusstseins voraussetzen (vgl.
1.3). Dieses Bewusstsein wird in PsF als symbolisch funktionierendes Bewusstsein
erweitert, so dass es für die verschiedenen Symbolfunktionen, Ausdrucks-, Darstellungs-
und Bedeutungsfunktion, bei der symbolischen Formung vorausgesetzt werden kann.
Cassirer ist der Ansicht, man könne die durch den Dualismus der alten Metaphysik
entstandene Kluft, zum Beispiel zwischen Form und Materie, Sein und Denken, verringern,
sofern man die Begriffe als Symbole und ihre Funktionen und Bedeutungen erkennt.
Diesem Grundgedanken Cassirers sollte man nachgehen, wenn die Frage aufkommt, auf
was die Begriffstheorie in seiner Erkenntnistheorie abzielt.
Wie im Abschnitt 3.3.2 gezeigt, ist bei der Dimension der Bedeutungsfunktion, also der
wissenschaftlichen Erkenntnis, von der reinen Bedeutung und den intellektuellen
Symbolen die Rede. ‚Symbol‘ ist der Bedeutungsgehalt des Geistes und die
wissenschaftlichen Begriffe werden als intellektuelle Symbole mit reiner Bedeutung
bezeichnet. Dies besagt, dass in der Begriffstheorie Cassirers im Bereich der Wissenschaft
‚reines Denken‘ hervorgehoben wird, ein Gedanke, der bereits im Aufsatz Die
Begriffsform im mythischen Denken (1922) deutlich formuliert wird. Auch hier spürt man,
dass der kritische Standpunkt Cassirers gegenüber der traditionellen Logik seit SuF
unverändert bleibt. Er betont weiterhin, das eigentliche „fundamentum divisionis“ liege
nicht in den Dingen, sondern im Geiste: „die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr
gibt“ (BmD, 53):
„Die traditionelle logische Theorie weist uns an, den Begriff dadurch zu bilden,daß wir die feststehenden Eigenschaften der Dinge ins Auge fassen, siemiteinander vergleichen und das Gemeinsame aus ihnen herauslösen. DieseVorschrift erweist sich schon unter rein logischen Gesichtspunkten als völligunzureichend — und sie wird es um so mehr, je mehr man den Blick über denengeren Kreis des wissenschaftlichen, des spezifisch-logischen Denkens aufandere Denkgebiete und Denkrichtungen hinlenkt. Denn dann tritt deutlichhervor, daß wir die Begriffe niemals unmittelbar aus den Eigenschaften der
241
Dinge ablesen können, weil vielmehr umgekehrt das, was wir ‚Eigenschaft‘nennen, erst durch die Form des Begriffs bestimmt wird. Alle Setzung vonMerkmalen, von objektiven E igensc ha f t e n geht auf eine bestimmteE igenhe i t des Denkens zurück — und je nach der Orientierung diesesDenkens, je nach seinem beherrschenden Gesichtspunkt wechseln für uns dieBestimmtheiten wie die Beziehungen, die wir im ‚Seienden‘ annehmen.“(BmD, 52 f.)
Auf diesem Gedanken, der den ‚Logos‘ im Denken betont und wiederum auf die
‚Ideenlehre‘ Platons (vgl. 1.4) zurückgreift, gründet sich eigentlich Cassirers Theorie des
Symbolbegriffs, die eine Revision der Theorie des Funktionsbegriffs in SuF beinhaltet.537
Das heißt, Cassirer will in PsF eine Begriffstheorie aufstellen, die die Bedingungen für die
mathematische Naturwissenschaft und auch für die Kulturwissenschaft erfüllen kann. Vom
Bereich des natürlichen Weltbegriffs bis zu dem des wissenschaftlichen Weltbegriffs, also
von der Ausdrucksfunktion über die Darstellungsfunktion bis hin zur Bedeutungsfunktion,
soll das Symbol, die Energie des Geistes, die Bedeutung des Begriffs durch Zeichen
übertragen. Nachdem die Bedeutung des Begriffs, also der Inhalt des Begriffs, die
Wahrheitsprobe erfolgreich bestanden hat, wird der ‚reine‘ Begriff gebildet. Der gesamte
Prozess soll ohne Unterbrechung ablaufen, das heißt, wissenschaftliche Begriffe sollen von
Anfang an mit der Funktion der Wahrnehmung und Anschauung zusammen gebildet
werden.
Drittens werden die wissenschaftlichen Begriffe als intellektuelle Symbole erkannt, das
heißt, sie besitzen durch die reinen Bedeutungszeichen reine Bedeutungen. Es ist deutlich
geworden, dass sowohl in SuF (vgl. 2.2.1) als auch in PsF der Zahlbegriff Cassirer als
Vorbild für seine Begriffstheorie dient. Die reine Form des Zahlbegriffs ist für seine
Begriffstherorie in Bezug auf das Problem der Beziehung zwischen Anschauung und
Gegenstand entscheidend. In diesem Zusammenhang kann man mindestens zwei
charakteristische Merkmale des Zahlbegriffs anführen, die für Cassirer von entscheidender
Bedeutung sind. Zum einen zeigt die Entwicklung der Zahl zum Zahlbegriff den Prozess
der ‚Entstofflichung‘ von Zeichen beziehungsweise der ‚Ablösung‘ der Dinge. Die
Entstehung der griechischen Mathematik, die er immer als Beispiel heranzieht,
verdeutlicht, wie sich die Zahl von der anschaulichen Wirklichkeit absondert. Zum anderen
lässt sich die Logik des Funktionsbegriffs, also die Logik der Relation, am besten durch
den Zahlbegriff erklären. In ihr wird das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in
537 Im Hintergrund steht Cassirers Gedanke der historischen wissenschaftlichen Entwicklungen und dieBedenkung der Renaissance-Philosophie für ihn. vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos in derPhilosophie der Renaissance [IKPR]; vgl. auch EP I, Erstes Buch.
242
ihrer Korrelation erkennbar. Betrachtet man diese zwei Punkte bei Cassirer, so wird
deutlich, dass seine Bedeutungslehre mit dem reinen Bedeutungszeichen im Bereich der
wissenschaftlichen Erkenntnis verknüpft ist.
Cassirers Einsicht innerhalb der Begriffstheorie mit ihrem Problem der ‚reinen Bedeutung‘
und somit der reinen Anschauung beruht auf Kants Auffassung der Mathematik. Dieser ist
der Auffassung, dass die Mathematik synthetische Sätze a priori enthält, und dass die
mathematische Erkenntnis durch die ‚Konstruktion der Begriffe‘ in der reinen Anschauung
hervorgeht (vgl. 1.1). Cassirer hält, anders als die zeitgenössischen Logizisten, die
versuchten, die Grundbegriffe der Mathematik rein logisch zu definieren und aus den
logischen Prinzipien die reine Mathematik zu deduzieren, an der ‚Synthetizität der
Mathematik‘ fest und hebt besonders Poincaré und dessen „Prinzip der ‚vollständigen
Induktion‘“ hervor (PsF III, 440).538
Die Schlussweise der Mathematik, sei sie induktiv oder sei sie deduktiv, enthält für
Poincaré ein Dilemma. Wenn die Vorgehensweise der Mathematik induktiv ist, dann kann
diese der Mathematik ‚Wahrheit‘ nicht gewährleisten. Wenn sie dagegen deduktiv ist, dann
kann der logische Schluss nicht Neues enthalten und damit ist kein Fortschritt der
Erkenntnis gegeben. Denn die mathematische Ableitung geschieht aufgrund logischer
Schlüsse und des logischen Prinzips des Widerspruchs oder der Identität: „Die
syllogistische Beweisführung bleibt unfähig, den gegebenen Voraussetzungen irgend etwas
hinzuzufügen: diese Voraussetzungen reduzieren sich auf einige Axiome, und man könnte
in den Folgerungen nichts anderes wiederfinden.“539 Poincaré betont daher, dass „die
mathematische Überlegung an sich eine Art schöpferischer Kraft enthält und sich dadurch
von der syllogistischen Schlußweise unterscheidet“.540 Das Prinzip der vollständigen
Induktion, das von Poincaré auch als „rekurrierende Schlußweise“541 bezeichnet wird, ist
das beste Beispiel für die menschlichen geistigen Fähigkeiten. Poincaré führt zunächst den
Beweisgang durch die ‚rekurrierende Schlussweise‘ aus und fasst zusammen: „Man stellt
zuerst den Lehrsatz für n =1 auf; man beweist darauf, daß er für n richtig ist, wenn er für n
−1 stimmt, und man schlußfolgert daraus, daß er für alle ganzen Zahlen gilt.“542 Man kann
538 Vgl. Ihmig (2003), S. 242 f.539 Poincaré (1902/1914), S. 2.540 Poincaré (1902/1914), S. 3; vgl. Ihmig (2003), S. 243: „Es besteht für Poincaré darin, daß der
menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, gewisse Operationen auszuführen und diese beliebig oft zuwiederholen und miteinander zu kombinieren, ohne daß sich deren Eigenschaften verändern.“ Ihmigmerkt aber auch an, dass Poincaré nicht behauptet habe, mathematische Ableitungen könnten nicht inlogische Schlüsse übersetzt werden. Er sei nur der Ansicht gewesen, dass bei einer solchen Übersetzungetwas verloren gehe, was für mathematische Ableitungen inhaltlich charakteristisch sei.
541 Poincaré (1902/1914), S. 9.542 Poincaré (1902/1914), S. 9.
243
eine unendliche Anzahl von ‚hypothetischen‘ Syllogismen aufstellen und daraus ergibt sich
eine Formel: wenn der Lehrsatz für die Zahl n gilt, so gilt er auch für n + 1. Dieses
rekurrierende Verfahren ist, so betont Poincaré, „ein Werkzeug [...], welches uns gestattet,
vom Endlichen zum Unendlichen fortzuschreiten“.543 Er zieht aus seiner Beweisführung
durch das rekurrierende Verfahren die Schlussfolgerung, dass das Gesetz des
rekurrierenden Verfahrens weder auf das Prinzip des Widerspruchs noch auf die
analytische Schlussweise zurückführbar ist. Dieses Gesetz gibt also „den eigentlichen
Typus des synthetischen Urteils a priori“.544
Viertens wird der Bereich der Begriffsfunktion erweitert. Cassirer erkennt die Funktion des
Begriffs im Prozess der Erkenntnis nun nicht allein im Bereich des wissenschaftlichen
Weltbegriffs sondern bereits im Bereich des natürlichen Weltbegriffs. Die Begriffsfunktion
wird schon als in die Wahrnehmung und in die räumlich-zeitliche Anschauung selbst
verlegt angesehen, das heißt, die Symbolfunktion ist, wie im Abschnitt 3.3.3 und 3.5.2
gezeigt, in der Phase der Wahrnehmung und Anschauung bereits aktiv.
Cassirer sucht, wie bereits erwähnt, in seiner Begriffstheorie in PsF eine allgemeine Form
des Begriffs, die sowohl die Kulturwissenschaft als auch die Naturwissenschaft umfassen
soll. Zu diesem Zwecke muss man, wie er in PsF erklärt, „aus den Dimensionen des
wissenschaftlichen Weltbegriffs in die des ‚natürlichen Weltbegriffs‘ zurückgehen“, um
„ein komplexes und differenziertes Ganzes von Denk- und Erkenntnisformen statt eines
einzigen und einheitlichen Typus des ,Begriffs überhaupt‘“ zu finden (PsF III, 347). Wie
im Kapitel 3 gezeigt, beginnt die wissenschaftliche Begriffsbildung bereits im Bereich des
natürlichen Weltbegriffs. Ebenfalls wurde erläutert, wie sich das Symbol und das Zeichen
von der Dimension der Ausdrucksfunktion aus über die der Darstellungsfunktion bis hin zu
der der Bedeutungsfunktion ohne Bruch umwandeln. Dabei wurde deutlich, welche
besondere Rolle die Wahrnehmung und die Anschauung bei dieser Umwandlung
einnehmen. Diese besondere Rolle wird von Cassirer auch in seinem späteren Aufsatz Zur
Logik der Kulturwissenschaften bestätigt, in dem er erläutert, der Unterschied zwischen der
Kulturwissenschaft und der Naturwissenschaft läge in den verschiedenen
Wahrnehmungsformen, die auch als Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung
bezeichnet werden können545:
„Schon die Wahrnehmung enthält, [...] im Keime jenen Gegensatz, der in
543 Poincaré (1902/1914), S. 12.544 Poincaré (1902/1914), S. 13.545 Vgl. ZLK, Kap. II. Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung.
244
expliziter Form in der gegensätzlichen Methodik hervortritt, deren sichNaturwissenschaft und Kulturwissenschaft bedienen. Daß alle Begriffe, sofernsie den Anspruch erheben, uns irgend eine Art von Wirklichkeitserkenntnis zugeben, sich letzten Endes in der Anschauung »erfüllen« müssen, pflegt heutevon keiner erkenntnistheoretischen Richtung mehr bestritten zu werden. Aberdieser Satz gilt nicht nur für jeden Einzelbegriff; er gilt auch für dieverschiedenen Begr i f f s typen , denen wir im Aufbau der Wissenschaftbegegnen. [...] Es muß möglich sein, sie bis zu ihrer letzten Erkenntnisquellezurückzuverfolgen; es muß sich zeigen lassen, daß die Differenz zwischenihnen sich in einer ursprünglichen Doppelrichtung des Anschauens undWahrnehmens gründet.“ (ZLK, 63)
Man erkennt an dieser Stelle recht deutlich, dass Cassirer in dieser Schrift, die 13 Jahre
nach dem dritten Band von PsF erschien, seinen Gedanken zum Gegensatzproblem
zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft überzeugender als in PsF erläutert. Er
betont ausdrücklich, dass der Unterschied zwischen den beiden durch die Analyse der
Begriffe nicht vollständig sichtbar gemacht werden kann und man den Unterschied als
bereits in der ‚Doppelrichtung des Anschauens und Wahrnehmens‘ verankert ansehen
muss: „Schon in der Wahr nehmung s e lb s t läßt sich ein Moment aufweisen, das in
seiner konsequenten Weiterentwicklung auf eben diesen Unterschied hinführt.“ (ZLK,
44)546 Wie bereits erwähnt, nimmt die Rolle der Wahrnehmung in der Erkenntnis bis in
Cassirers spätere Philosophie hinein einen wichtigen Platz ein. Seine Aufsätze The
Concept of Group and the Theory of Perception und Reflections on the Concept of Group
and the Theory of Perception bestätigen seine Hervorhebung der Funktion der
Wahrnehmung in PsF. Auch findet man seine ‚Wahrnehmungstheorie‘ im dritten Kapitel
Die Invarianten der Wahrnehmung und des Begriffs der Schrift Ziele und Wege der
Wirklichkeitserkenntnis aus den ‚Nachgelassenen Manuskripten und Texten‘. Auf Cassirers
Invariantengedanken und seine Theorie der Wahrnehmung wird im Abschnitt 4.3 näher
eingegangen.
Fünftens erfahren die ‚Stufen der Objektivierung‘ in der Erkenntnis, die in Cassirers
philosophischer Systematik bereits in SuF hervortreten, in PsF eine inhaltliche
Bereicherung, indem sie nun als drei Objektivitätsstufen festgelegt werden, wobei jeweils
eine Stufe mit einer der drei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung
verbunden ist. Er versucht auch mit diesen drei Objektivitätsstufen die geschichtliche
Entwicklung der Naturwissenschaft phasenweise zu analysieren. Die drei Phasen der
Entwicklung werden jeweils als die Phase von ‚Bild‘, ‚Schema‘ und ‚Symbol‘ erklärt. So
546 Vgl. ZLK, S. 41-43. Cassirer analysiert die Theorie von Windelband, Rickert und Hermann Paul zudiesem Problem.
245
dienen diese drei ‚Stufen der Objektivierung‘, könnte man sagen, als Mittel, als Gerüst für
die ‚Welterklärung‘ Cassirers.547 Auf diese Erweiterung von Cassirers erkenntniskritischer
Systematik wird noch im Abschnitt 4.4 eingegangen.
Anhand der oben angeführten Ergebnisse wird deutlich, mit welcher Antwort man der
Frage, die in der Einleitung gestellt wurde ― ob Cassirers Philosophie der symbolischen
Formen einen ‚Bruch‘ mit seiner früheren Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie
darstellt oder eine ‚Erweiterung‘ dieser ist — entgegnen kann: Es handelt sich bei der
Philosophie der symbolischen Formen um eine Erweiterung von Cassirers
Erkenntnistheorie und der damit verbundenen Begriffstheorie.
4.2. Cassirers Zeichentheorie und das ‚Bedeutungsproblem‘
Wie bereits in Abschnitt 3.4 ausgeführt, ist zum einen Cassirer der Ansicht, dass das
Bedeutungsproblem mit der Funktion des Zeichens verknüpft ist, und zum anderen
versucht er mit seiner Zeichentheorie eine ‚Überwindung der Abbildtheorie‘ aufzuzeigen.
Er betont daher immer wieder die ‚Entstofflichung‘ von Zeichen und bezeichnet das
Zeichen im ‚Reich des Gedankens‘, nämlich in den exakten Wissenschaften wie der
Mathematik oder der mathematischen Naturwissenschaft, als reines Bedeutungszeichen.
Obschon Cassirer betont, dass das logische Problem des Begriffs mit dem ‚allgemeinen
Bedeutungsproblem‘ verknüpft ist und nur im Rahmen einer systematischen
‚Bedeutungslehre‘ sich die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständig
aufbauen lässt (ZTB, 130), führt er jedoch im dritten Band der PsF keine ‚Theorie der
Bedeutung‘, im Sinne der sprachanalytischen Philosophie an. Er betont lediglich, dass
seine Frage nach dem Zusammenhang von Begriffsproblem und Gegenstandsproblem
weder auf „das logische Bedeutungsproblem, noch auf das erkenntniskritische Problem als
solches“ gerichtet ist, sondern beide nur in ihrer Beziehung „zum Problem des Zeichens
und der Bezeichnung“ erfassen soll (PsF III, 383). Auch in seinem Aufsatz
Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie betont er, dass
das Zeichen anderes als etwa der Laut der Sprache ist, den man nur nach seinem dinglichen
547 Vgl. auch Schwemmer (1997), S. 202. Schwemmers Interpretation von Cassirers nachgelassenemManuskript Metaphysik der Philosophie der symbolischen Formen, von dem man vermutet, das es dervierte Band der PsF werden sollte, geht vom nachgelassenen Manuskript Über Basisphänomene aus.Die Basisphänomene ergeben sich aus einer Dreiteilung der Phänomene: das Ich, sein Wirken und seineWerke. Schwemmer interpretiert die Basisphänomene als ‚Das Ich-Phänomen: Gegeben- undGesetztsein‘, ‚Zwischen Wirken und Wollen‘ und ‚Das Werk-Phänomen‘ vgl. Schwemmer (1997), S.203-207.
246
Dasein betrachtet. Das Zeichen werde erst dadurch zum Zeichen, dass „wir ihm einen
»Sinn« beilegen, auf den es sich richtet und durch den es »bedeutsam« wird“. Damit wird
für Cassirer der Vollzug dieser Beilegung zu einem der schwierigsten Probleme der
Erkenntniskritik, wenn nicht gar zu dem Problem der Erkenntniskritik überhaupt. „Die
Frage nach der Objektivität der »Dinge«“ ist, bei näherer Betrachtung, „nichts anderes als
ein Korollar zu der systematisch weit umfassenderen Frage nach der Objektivität der
»Bedeutung«.“ (ET II, 136)
Wie im Abschnitt 3.3.2 gezeigt, dienen die drei symbolischen Formen als drei Stufen der
Objektivierung der Begriffsbildung. Die Begriffsbildung durchläuft diese drei Stufen vom
anschaulichen Begriff aus, über den Sprachbegriff (Darstellbarkeit) bis hin zum
wissenschaftlichen Begriff (die reine Form des Begriffs). Das Verhältnis zwischen Zeichen
und Bezeichnetem wird in der ersten Stufe durch die Ausdrucksfunktion charakterisiert.
Der Mythos als die Welt der Bilder ist für diese Stufe eine typische symbolische Form. In
der zweiten Stufe wird das Zeichen als Wortzeichen für die symbolische Form der Sprache
durch die Darstellungsfunktion charakterisiert. Die Sprache ist eine Welt der Schemata mit
Raum, Zeit und Zahl, die dem ‚Aufbau der anschaulichen Welt‘ dienen sollen. Dies macht
die Darstellungsfunktion mit der ‚inneren Form‘ der Sprache, mit der Funktion der
Repräsentation, möglich.
Das Zeichen in der dritten Stufe, also in der wissenschaftlichen Erkenntnis, wird zum
Ordnungszeichen und zugleich zum reinen Bedeutungszeichen. Die Funktion des Zeichens
in der Mathematik oder die Funktion des mathematischen Symbols hängt mit ihren
‚ideellen Bedeutungen‘ und somit mit ihren ‚ideellen Beziehungen‘ zusammen. Cassirer
betont angelehnt an Leibniz Characteristica generalis, dass die Zeichen oder Begriffe in
der wissenschaftlichen Erkenntnis ‚Inbegriff möglicher Beziehungen‘ sind, die ‚durch die
Erkenntnis erst zu gewinnen sind‘. Die Begriffe als intellektuelle Symbole in der
wissenschaftlichen Erkenntnis, wie die mathematischen Begriffe oder die chemischen
Formeln, stehen nur in gedanklichen Beziehungen zueinander und diese rein gedankliche
Beziehung kann schließlich der reinen Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis
zugeschrieben werden.548
Cassirers Sprachgebrauch in PsF zeigt, dass er im Bereich der Ausdrucks- und
Darstellungsfunktion von ‚Sinn‘ spricht und im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis,
also der Bedeutungsfunktion, von ‚Bedeutung‘. In seinem Aufsatz Das Symbolproblem
548 Vgl. Bermes (1997), S. 160. Bermes erklärt, dass die reine Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis„als eine Beziehung auf die Beziehung, als eine Fokusierung auf das Sich-Beziehen auf die Welt“ zudeuten ist.
247
und seine Stellung im System der Philosophie schildert er deutlich, dass die Sprache vom
Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fortgeht und von diesem aus beständig dem
Reich der reinen Bedeutung zustrebt (vgl. 3.4.2). Cassirer beruft sich nicht explizit auf
Freges ‚Sinn und Bedeutung‘, obwohl sein Sprachgebrauch von Sinn und Bedeutung an
diesen angelehnt ist.549
Es ist unbestreitbar, dass Frege sowohl auf dem Gebiet der modernen Logik als auch auf
dem der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert, besonders in der analytischen Philosophie,
großen Einfluss ausgeübt hat. Seit Peter Geach und Max Black 1952 einige Schriften
Freges ins Englische übersetzt und diese unter dem Titel Translations from the
Philosophical Writings of Gottlob Frege550 veröffentlicht haben, erfuhr innerhalb der
sprachanalytischen Philosophie die Forschung über Frege eine deutliche Belebung. Die
lebhafte Diskussion über Freges Theorie von Sinn und Bedeutung mündete innerhalb der
angelsächsischen Philosophie gar in die Entwicklung einer ‚theory of meaning‘.551
Die Übersetzung von Freges ‚Bedeutung‘ ins Englische lässt erahnen, welchen
unterschiedlichen Interpretationen Freges Theorie zugänglich ist. Hatte Black zunächst
Freges Aufsatz ‚Über Sinn und Bedeutung‘552 unter dem Titel ‚On Sense and Reference‘
ins Englische übersetzt, so wurde später ‚Bedeutung‘ von anderen Philosophen mit
„nominatum“, „significance“ oder „meaning“ übersetzt.553 Auf die Probleme dieser
Diskussionen, deren Darstellung ein umfangreicheres Unternehmen wäre, soll jedoch nicht
eingegangen werden. Stattdessen soll im Folgenden das Augenmerk auf einige wichtige
Stellen in Freges Aufsatz gerichtet werden, um zu zeigen, dass, trotz aller Anlehnung an
Frege, bei Cassirer ‚Bedeutung‘ sich von Freges ‚Bedeutung‘ unterscheidet.
Frege führt in seinem Aufsatz die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung in Bezug
auf ‚Eigennamen‘ und ‚Satz‘ aus. Im Bezug auf den Eigennamen konstatiert er, dass die
Bedeutung eines Eigennamens der Gegenstand selbst ist, den man damit bezeichnet,554 und
dass der Sinn eines Eigennamens von jedem erfasst wird, „der die Sprache oder das Ganze
549 Vgl. Frege (1892/1986), Über Sinn und Bedeutung.550 Geach/ Black (1952/1970).551 Vgl. Wienpahl (1968), Searle (1968), Carl (1982), (1994), Tugendhat (1970), Jackson (1968); Über die
‚theory of meaning‘ vgl. Dummett (1973/1992) und Dummett (1993). Michael Dummett, einer derrenomiertesten Fregeforscher, verfasste im Jahr 1973 eine Monographie mit dem Titel Frege,Philosophy of Language und gab zudem später den Sammelband The Seas of Language heraus, derseine Aufsätze zur ‚theory of meaning‘ beinhaltete; vgl. auch Bermes (1997), S. 1 f. Darüber hinauswerden weitere bekannte Namen wie P. F. Strawson, Gilbert Ryle, J. L. Austin, John R. Searle mit der‚theory of meaning‘ verbunden; Aufsätze von unterschiedlichen Autoren in der analytischen Philosophiefindet man in Rorty (1967/1992) und zur ‚theory of meaning‘ in Caton (1963).
552 Frege (1892/1986).553 Carl (1994), S. 115.554 Frege (1892/1986), S. 44.
248
von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört“.555 So würde „die Bedeutung von
‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.“556 Unter einem
Eigennamen versteht er ein Wort, ein Zeichen, eine Zeichenverbindung oder einen
Ausdruck. Ein Eigenname drückt seinen Sinn aus und „bedeutet oder bezeichnet seine
Bedeutung“: „Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm
dessen Bedeutung“.557 In Bezug auf den Satz merkt Frege an, dass man „den Wahrheitswert
eines Satzes als seine Bedeutung“ anerkennen sollte.558 Der Sinn eines Satzes ist der
Gedanke, der in diesem enthalten ist. Der Gedanke wiederum kann aber nur „zusammen
mit seiner Bedeutung, d.h. mit seinem Wahrheitswert“ uns Erkenntnis geben.559 Unter dem
Wahrheitswert eines Satzes versteht Frege „den Umstand, daß er wahr oder daß er falsch
ist“. Weitere Wahrheitswerte gibt es für ihn nicht: „Ich nenne der Kürze halber den einen
das Wahre, den anderen das Falsche. Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung
der Wörter ankommt, ist also als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung,
falls sie vorhanden ist, entweder das Wahre oder das Falsche.“560 Freges Kritiker bemerken,
dass er in seinem Aufsatz die Unterscheidung oder Beziehung zwischen Sinn und
Bedeutung nicht deutlich erklärt und auch keine Erklärung dafür gibt, „weshalb der
Wahrheitswert eines Satzes dessen Bedeutung sein soll“.561 Bermes betont dagegen, dass
Frege selbst gestehe, dass „man nie in der Lage sein wird, einen gegebenen Sinn einer
Bedeutung eindeutig zuzuordnen“.562
Vergleicht man Freges ‚Bedeutung‘ mit der bei Cassirer, so wird deutlich, dass der ‚Sinn‘
der ‚Bedeutung‘ verschieden ist. Während Cassirer reine Bedeutung im Gedanken oder im
Tun des Geistes sucht, spricht Frege davon, dass die Bedeutung (des Eigennamens) der
Gegenstand ist und der Wahrheitswert (eines Satzes) als Bedeutung anerkannt werden soll.
Es handelt sich somit beim Bedeutungsproblem Cassirers nicht nur um ein semantisches
555 Frege (1892/1986), S. 42. Frege erklärt in einer Fußnote (S. 42) dies mit dem Beispiel: „Bei einemeigentlichen Eigennamen wie ‚Aristoteles‘ können freilich die Meinungen über den Sinnauseinandergehen. Man könnte z.B. als solchen annehmen: der Schüler Platos und Lehrer Alexandersdes Großen. Wer dies tut, wird mit dem Satze ‚Aristoteles war aus Stagira gebürtig‘ einen anderen Sinnverbinden als einer, der als Sinn dieses Namens annähme: der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexandersdes Großen. Solange nur die Bedeutung dieselbe bleibt, lassen sich diese Schwankungen des Sinnesertragen, wiewohl auch sie in dem Lehrgebäude einer beweisenden Wissenschaft zu vermeiden sind undin einer vollkommenen Sprache nicht vorkommen dürfen.“
556 Frege (1892/1986), S. 41.557 Frege (1892/1986), S. 46.558 Frege (1892/1986), S. 48.559 Frege (1892/1986), S. 50.560 Frege (1892/1986), S. 48.561 Schulte (1984), S. 66.562 Bermes (1997), S. 66; vgl. Frege (1892/1986), S. 42. „Zu einer allseitigen Erkenntnis der Bedeutung
würde gehören, daß wir von jedem gegebenen Sinn sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre.Dahin gelangen wir nie.“
249
Problem wie dies bei Frege der Fall ist ― obschon die Bedeutungen der Eigennamen bei
Frege, wie Bermes auf Tugendhat verweisend anmerkt, „als Beitrag zur Bedeutung des
Satzes, also des Wahrheitswertes“ angesehen werden können.563
Nach Cassirer wird man der Funktion des Begriffs schon in der Wahrnehmung und der
räumlich-zeitlichen Anschauung gewahr, durch die man zunächst die anschauliche Welt
einzuordnen beginnt. Die erste Leistung des Begriffs besteht darin, dass er die Momente in
der anschaulichen Wirklichkeit erfasst und diese in ihrer spezifischen Bedeutung erkennt.
In der wissenschaftlichen Weltbetrachtung begnüge sich aber der Gedanke nicht damit,
„das in der Wahrnehmung oder Anschauung Gegebene einfach in seine Sprache zu
übersetzen, sondern er vollzieht an ihm eine charakteristische Formveränderung, eine
geistige Umprägung“ (PsF III, 330). Somit ist die primäre Aufgabe des wissenschaftlichen
Begriffs ‚eine Regel der Bestimmung‘ aufzustellen und diese Bestimmung der Wahrheit ist
letztlich ein Grund- und Leitziel aller Begriffsbildung.
Cassirer betont, dass der theoretische Begriff kein Spiegel der Welt der Gegenstände ist.
Die Synopsis des Mannigfaltigen muss durch eigene und selbständige Tätigkeiten des
Denkens hergestellt werden. Das Zeichen, der sprachliche Ausdruck, fasst bei geistigen
Funktionen und Formbildungen „einen bestimmten selbständigen Charakter der
‚Sinngebung‘“ in sich (PsF I, 44). Mit der Funktion des Bedeutungszeichens innerhalb der
wissenschaftlichen Erkenntnis stellt sich „eine neue Weise des »objektiven« Sinnbezugs“
dar, „die sich von jener Art der ‚Beziehung auf den Gegenstand‘, wie sie in der
Wahrnehmung oder in der empirischen Anschauung besteht, spezifisch unterscheidet.“
(PsF III, 334) Der Ausdruckssinn und der Darstellungssinn in den ersten zwei Stufen haben
eine Beziehung auf den sinnlich-physischen Gegenstand, und sie werden in der dritten
Stufe zur Bedeutung, die sich auf den ideellen Gegenstand bezieht. Das Zeichen kann erst
im wissenschaftlichen Begriff die reine Bedeutung, die ideelle Bedeutung, ausdrücken. Die
intellektuellen Symbole, also die Begriffe in der wissenschaftlichen Erkenntnis, besitzen
dadurch reine Bedeutungen und das Zeichen wird in diesem Bereich zu einem Zeichen des
Bedeutungsträgers. Der wissenschaftliche Begriff stellt die Regel der Bestimmung durch
seine Bedeutung auf, und dies soll letztlich der Bestimmung der Wahrheit dienen. Cassirer
spricht daher dem natürlichen Weltbegriff nur ‚Sinn‘ — und zwar sprachlichen Sinn —
zu.564
563 Bermes (1997), S. 67; vgl. Bermes (1997) 67 ff. Bermes führt die Voraussetzungsthese der Bedeutungund des Sinnes bei Frege und deren formale Unterscheidungen an.
564 Vgl. Bermes (1997), S. 163. Bermes weist darauf hin, dass Cassirer Sinn und Bedeutung meist synonymbenutzt. Wenn man berücksichtigt, dass Cassirer ‚Symbol‘ allgemein als Bedeutungsgehalt im Gedankenbezeichnet, dann trifft dies zu. Dieser unterscheidet aber das sinnliche Symbol vom intellektuellen
250
Versteht man dies in Anlehnung an Bermes, dann kann diese Bedeutung bei Cassirer ‚als
Bestimmung‘ verstanden werden.565 Bermes will die Philosophie der symbolischen Formen
bei Cassirer als eine ‚Philosophie der Bedeutungsformen‘ und damit „das
Bedeutungsphänomen als Bedeutung der Bestimmung“566 verstehen. Er weist darauf hin,
dass zwischen ‚Bedeutung der Bestimmung‘ und ‚Bedeutung der Bestimmtheit‘ in
philosophischen Diskussionen nicht unterschieden wird. So werden Inhalt und Referenz,
Bezug und Gehalt oder Intention und Intension zu Synonymen. Er verwendet daher den
Ausdruck ‚Bedeutung der Bestimmung‘ in dem Sinne, dass dieser „sowohl seine
intensional propositionale als auch seine intentional referierende Komponente“ umfasst.567
Daher wird auch die symbolische Prägnanz als ‚Bedeutungsprägnanz‘ verstanden.568 Der
Bedeutungsbegriff bei Cassirer dient nach Bermes „in seinen unterschiedlichen
Ausformungen als Unterscheidungskriterium für die verschiedenen symbolischen
Formen“.569 Für ihn sind bei Cassirer zwei Bedeutungsbegriffe zu unterscheiden: nämlich
der „des Kriteriums zur Differenzierung symbolischer Formen“ und der „der Konstitution
der symbolischen Formen selbst“.570 Er merkt auch kritisch an, dass Cassirer die
Unterschiede zwischen symbolischer Prägnanz und Bedeutungsprägnanz und zwischen
Bedeutung und Symbol nicht deutlich macht:
„Symbolbegriff und Bedeutungsbegriff werden zum einen analog im Aufbaudes Systems benutzt und zum anderen jeweils zwei-deutig ausgelegt.
Symbol. Jenes steht nur für die sinnlich-anschauliche Außenwelt, also entweder für den Ausdrucksinnoder den Darstellungssinn und dieses für die Bedeutung.
565 Vgl. Bermes (1997), S. 7. Bermes unterscheidet jedoch im engeren Sinne zwischen demBedeutungsbegriff der Bestimmung und dem Bedeutungsbegriff der Bestimmtheit; „sie stehen für zweiFunktionen der Bedeutung überhaupt. Zum einen zeigt der Bedeutungsbegriff der Bestimmtheit an, daßdie Bedeutung immer schon, wenngleich auch zuweilen nur vage, als eine nicht inhaltsleere Bedeutungzu denken ist; zum anderen zeigt der Bedeutungsbegriff der Bestimmung an, daß der Gegenstand, dessenBedeutung er ist, als Referenzobjekt der Bedeutung philosophisch relevant wird. Unter denBedeutungsbegriff der Bestimmung und den der Bestimmtheit fallen demnach Analysen zu dem Problemdes Bedeutungsinhaltes, der Intension oder des propositionalen Inhaltes, zu der Frage nach dem Wissenund zu der Regelhaftigkeit des Sprachverkehrs auf der einen Seite und der Referenz- oderIntentionalproblematik auf der anderen Seite.“
566 Bermes (1997), S. 162.567 Bermes (1997), S. 7.568 Vgl. Bermes (1997), S. 165. Bermes übernimmt den Ausdruck Bedeutungsprägnanz aus Cassirers ET II,
S. 146 in Fußnote 28: „sie [die theoretische Erkenntnnis] muß vielmehr mit anderenBedeutungsstrukturen — wie etwa mit der Form der ästhetischen, der mythischen, der religiösen»Sinngebung« — verglichen werden, um erst darin in ihrer Besonderheit und in ihrer eigentümlichenBedeutungsprägnanz erkannt zu werden.“
569 Bermes (1997), S. 162. Bermes weist auch darauf hin, dass bei Cassirer neben den Bedeutungsbegriffder Bestimmung ein zweiter Begriff, nämlich derjenige der Bestimmbarkeit tritt (sein Hinweis aufCassirers Aufsatz WiS, S. 205); vgl. auch Bermes (1997), S. 161: Cassirer stelle eine systematischeGliederung vor, die sich mit unterschiedlichen Formen des Weltzugangs auseinandersetze. Diesesymbolischen Formen würden durch verschiedene Bedeutungsfunktionen spezifiziert, welche dieWeltauffassungen auf unterschiedliche Art und Weise bestimmen.
570 Bermes (1997), S. 158.
251
Allerdings wird zu belegen sein, daß der Bedeutungsbegriff und seineGliederung Vorteile gegenüber dem Symbolbegriff besitzt und derSymbolbegriff zu Interpretationen verleitet, die zumindest schwierig sind.“571
Man kann dieser Bemerkung Bermes teilweise zustimmen, wobei er richtig sieht, dass
Cassirer den Unterschied zwischen den zwei Begriffen, Symbol und Bedeutung, nicht
deutlich macht. Bedenkt man aber, dass Bermes ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ bei Cassirer für
synonym hält, dann kann man der zweiten Hälfte seiner Bemerkung nicht zustimmen.
Cassirer versteht das Symbol allgemein als Bedeutungsgehalt im Gedanken, aber
unterscheidet zwischen ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘, wie er von Ausdruckssinn und
Darstellungssinn und Bedeutung spricht. Er sucht, wie oben bereits erwähnt, die reine
Bedeutung im ‚Reich des Gedankens‘.
Ähnlich wie Bermes interpretiert auch Plümacher572 die symbolischen Formen bei Cassirer
als ‚Bedeutungswelten‘. Allerdings sieht sie einen deutlichen Zusammenhang mit der
Begriffstheorie Lotzes. Sie weist darauf hin, dass sich Cassirer bei seiner Ausarbeitung der
Begriffs- und Zeichentheorie auf Lotze gestützt hat.573 So hebt sie bei der Skizzierung des
Kapitels ‚Die Lehre vom Begriffe‘ aus dem ersten Buch der Logik Lotzes die
„Transformation sinnlicher Erfahrung in sprachliche Kategorien“ hervor und gelangt zu
dem Schluss, Lotze befasse sich in diesem Kapitel „mit der ‚Formung der Eindrücke zu
Vorstellungen‘, d. h. zu sprachlich verfaßten ‚logischen Bausteinen‘ des Denkens“.574
Bei Lotze sind die Vorstellungen, die im sprachlichen Ausdruck fixiert sind, von ihrem
eigentlichen Ausgangspunkt, dem sinnlichen Eindruck, unabhängig und „Teil einer
Bedeutungswelt“, die „eine bestimmte ideelle Ordnung des Phänomenalen“ bildet.575 Nach
Plümacher ist Lotze der Ansicht, dass sich die logische Formung der Sinneseindrücke im
Zuge der Benennung auf kategoriale Unterscheidungen stütze, und in den sprachlichen
Formen, zum Beispiel Substantiv, Adjektiv und Verb etc., die Klassifizierung der Inhalte
eine gewisse Entsprechung finde.
Der Prozess von der ‚Formung der Eindrücke zu Vorstellungen‘ bis zur ‚Bildung des
Begriffs‘ verläuft jedoch stufenweise über verschiedene Denkleistungen. Die erste
Denkleistung wird als „basale ontologische Klassifizierung von Sinneseindrücken“576 und
571 Bermes (1997), S. 158.572 Plümacher (2004): Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen.573 Plümacher versucht nachzuweisen, dass die Begriffstheorie Lotzes als ein Bindeglied zwischen Cassirers
und Husserls Bedeutungstheorie anzusehen ist.574 Plümacher (2004), S. 139.575 Plümacher (2004), S. 140.576 Plümacher (2004), S. 141.
252
von Lotze selbst als „Beginn einer Ob je k t i v i r ung des Subjectiven“577 bezeichnet. Als
zweite Denkleistung bestimmt er die Identifikation oder „S e t zung des Inhalts“.578 Die
Denktätigkeit gibt dem vorgestellten Inhalt die logische Formung und vergegenständlicht
ihn dadurch für das Bewusstsein. Die dritte Leistung bestehe in der Konstitution von
Begriffen im Vergleich der Vorstellungen oder in der ‚Kategorisierung‘ im heutigen
Sinne.579 In dieser Denkleistung wird die Beziehung eines Besonderen auf ein Allgemeines
betont, und der sprachliche Ausdruck setzt ein ‚erstes Allgemeines‘, das „kein Erzeugniß
des Denkens, sondern ein von ihm vorgefundener Inhalt“ ist.580 Plümacher betont, mit
dieser Aussage Lotzes sei nicht gemeint, dass die Kategorisierung in der dritten
Denkleistung „dem Erkenntnissubjekt ohne jede intellektuelle Aktivität“ vorgegeben sei,
sondern dass die „Kategorien als intellektuelle Leistungen“ bestimmt seien, „die durch
Reflexion, d. h. einem Denken im engeren Sinn, nochmals überarbeitet werden“ sollen.581
Zur Erinnerung sei hier nochmals auf die Funktion des ersten und zweiten Allgemeinen bei
Lotze hingewiesen (vgl. 3.3.5). Plümacher interpretiert diese dritte Denkleistung als
„Ursprung taxonomischer Ordnungen, ohne die die spezifische Differenz der
Vorstellungsinhalte nicht geregelt wäre.“582 Das ‚Denken‘ im engeren Sinne, dessen
Leistung in der eigentlichen ‚Begriffsbildung‘ stattfindet, ist für Lotze die vierte
Denkleistung. Dabei handelt es sich um die „epistemische Ordnung“, die allein „aufgrund
spontan festgesteller Ähnlichkeitsbeziehungen“ nicht entstehen kann und daher mit den
vorigen Denkleistungen, mit den „kognitiven Leistungen“, untrennbar verknüpft ist. Die
Begriffsbildung bei Lotze impliziere „die Bestimmung des Werts eines Inhalts im
epistemischen Zusammenhang“.583 (vgl. 1.5; SuF, 361)
Plümacher hebt somit die Bedeutungswelt bei Lotze, die durch die Sprache entsteht,
hervor. Ihrer Interpretation zufolge ist die Sprache für Lotze „ein System der
Externalisierung epistemischer Ordnungen“ und die Bedeutungswelt ist „eine
intersubjektive, weil sich im Sprachgebrauch Gemeinsamkeiten in der kategorialen
Struktur und den Formen der kognitiven Verarbeitung sinnlicher Erfahrung herstellen.“584
577 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 15. 578 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 25; vgl. Plümacher (2004), S. 141: „Identifikation hat den Ausschluß der
Negation desselben Inhalts in derselben Hinsicht zur Voraussetzung: Etwas als a zu bezeichnen,bedeutet die Bestimmung dieses a als non-a auszuschließen. Zugleich ist die Distinktion des Inhalts vonallen anderen als ihm gegenüber non-a impliziert. Mit dieser Betonung relationaler Beziehungen allerBegriffe bezog Lotze eine holistische Position in der Theorie des Wissens und der Bedeutung.“
579 Vgl. Plümacher (2004), S. 141. 580 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 30. 581 Plümacher (2004), S. 143 f.582 Plümacher (2004), S. 141.583 Plümacher (2004), S. 144.584 Plümacher (2004), S. 144.
253
Plümacher meint weiter, dass sich die Bedeutungswelten bei Lotze aufgrund der „Idealität
der Vorstellungsinhalte“ „problemlos auf Fiktionales und Ideales“ erstrecken können und
daher Lotze „Bedeutungswelten als Welten sui generis“ kennzeichnete.585 Sie verweist
hierfür auf eine Stelle in der Logik Lotzes:
„Durch die logische Objectivirung, die sich in der Schöpfung des Namensverräth, wird daher der benannte Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeithinausgerückt; die gemeinsame Welt, in welcher Andere ihn, auf den wirhinweisen, wiederfinden sollen, ist im Allgemeinen nur die Welt desDenkbaren; ihr wird hier die erste Spur eines eigenen Bestehens und einerinneren Gesetzlichkeit zugeschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbeund von ihnen unabhängig ist, und es hier ganz gleichgültig, ob einzelne Theiledieser Gedankenwelt Etwas bezeichnen, was noch überdies außerhalb derdenkenden Geister selbständige Wirklichkeit besitzt, oder ob ihr ganzer Inhaltüberhaupt nur in den Gedanken der Denkenden, mit gleicher Gültigkeit dannfür alle, Dasein hat.“ 586
In der sich daran anschließenden Ausarbeitung hält Plümacher letztlich fest, dass Cassirer
den Gedanken der Bedeutungswelt Lotzes „zu einer Theorie der Pluralität der
Bedeutungswelten“ entwickelte.587
Man muss an dieser Stelle anmerken, dass Lotze hervorgehoben hat, dass zwar die
Ausbildung des Denkens in der Fähigkeit der Sprache liegt, aber das Denken von seinen
Ausdrucksweisen unabhängig ist. „Gliederung und Gebrauch der Sprache deckt eben die
Leistung des Denkens nicht durchaus.“588
Man kann, wie oben angeführt, die symbolischen Formen als ‚Bedeutungsformen‘ oder
‚Bedeutungswelten‘ verstehen, sofern man das Wort ‚Bedeutung‘ in seinem weitesten
Sinne versteht. Man soll aber dabei nicht außer Acht lassen, dass jede symbolische Form
ihren spezifischen Charakter besitzt und dass Cassirer nur der wissenschaftlichen oder
theoretischen Erkenntnis eine ‚Bedeutungsfunktion‘ zuschreibt. Die ‚Bedeutung‘ in
Cassirers Zeichengebrauch für die Bedeutungsfunktion unterscheidet sich jedoch von der
im Sprachgebrauch der Interpretationen von Bermes und Plümacher. Zugespitzt kann man
in Anlehnung an Frege sagen, der ‚Sinn‘ der Bedeutung bei diesen ist unterschieden von
dem der Bedeutung bei Cassirer. Denn diesem geht es um die reine Bedeutung, die rein
ideelle Beziehung, ohne jegliche sinnlich-anschaulichen Repräsentativen der Außenwelt,
wie dies auch bei Lotze der Fall ist. Lotze schließt sich nämlich, wie oben gezeigt, bei der
585 Plümacher (2004), S. 144.586 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 16 f.587 Plümacher (2004), S. 163.588 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 20.
254
Begriffsbildung dem ‚Denken‘ im engeren Sinne an.
4.3. Cassirers Invariantengedanke der Wahrnehmung und des Begriffs
4.3.1. Cassirers Invariantengedanke und Kleins Erlanger Programm
Die Untersuchung der Begriffstheorie in PsF verdeutlicht, dass nun, im Vergleich zu SuF,
die Wahrnehmungsfunktion als eine Erweiterung von Cassirers Begriffstheorie anzusehen
ist. In Cassirers Aufsatz The Concept of Group and the Theory of Perception [CG] ist
unverkennbar, dass er sich bei seinem Invariantengedanken an Felix Kleins Erlanger
Programm anlehnt. Noch deutlicher zeigt sich Cassirers Anlehnung an die
Invariantentheorie Kleins im Aufsatz Reflections on the Concept of Group and the Theory
of Perception [RCG], der aus seinem Nachlass publiziert wurde und ursprünglich als
Vortrag gedacht war. Diese enge Orientierung an Klein wird, wie bereits erwähnt, auch
durch das Kapitel Die Invarianten der Wahrnehmung und des Begriffs in der
nachgelassenen Schrift Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis [ECN 2] bestätigt.
Cassirer äußert sich schon in SuF über die Invariantentheorie, als er davon spricht, dass
„die kritische Erfahrungslehre in der Tat gleichsam die a l l gem ei ne
Inva r i an t en theo r i e der E r f ah rung“ bildet, die dem induktiven Verfahren zugrunde
liegt (SuF, 356), und dass im streng sachlichen Sinne Apriori nichts anders als „jene letzten
log i s chen Inva r i an t en“ bedeutet, „die jeder Bestimmung naturgesetzlicher
Zusammenhänge überhaupt zugrunde liegen“ (SuF, 357).
Cassirer erkannte ebenfalls die Wichtigkeit der Gruppentheorie und ihre Entwicklung
innerhalb der Mathematik:
„Schon der Fortschritt der projektiven Geometrie ließ ein Gebiet erkennen, dasdas Ideal der mathematischen Darstellung unabhängig von allen Hilfsmittelnder Messung und Größenvergleichung in sich verwirklicht. Die Metrik selbstwird hier aus rein qualitativen Beziehungen abgeleitet, die lediglich dasStellenverhältnis der Raumpunkte betreffen. Noch bezeichnender tritt sodanndie Ausdehnung der Mathematik über ihre traditionellen Grenzen in derGr uppen t heo r i e hervor, deren unmittelbares Objekt nicht Größen- oderLagebestimmungen, sondern ein Inbeg r i f f von Ope r a t ionen bildet, diein ihrer wechselseitigen Abhängigkeit untersucht werden. Hier erst ist in derTat das oberste und universelle Prinzip erreicht, von dem aus sich dasGesamtgebiet der Mathematik als Einheit übersehen läßt.“ (SuF, 125)
255
Es stellen sich hier die Fragen, um welches universelle Prinzip es sich beim Erlanger
Programm handelt, und worauf sich eigentlich die Wahrnehmungstheorie Cassirers bei der
Rezeption des Erlanger Programms stützt.589 Es soll nun aber nicht das Erlanger Programm
mit all seinen mathematischen Einzelheiten dargestellt werden, sondern vielmehr der
Versuch unternommen werden, Kleins grundlegende Ideen im Erlanger Programm, die für
Cassirers Invariantengedanken entscheidend ist, zu skizzieren.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Klein 1872 seine Antrittsvorlesung in Erlangen hielt, hatte sich
die Geometrie in verschiedene Richtungen entwickelt. Neben der elementaren euklidischen
Geometrie trat langsam die Auffassungsweise der räumlichen Dinge der projektiven
Geometrie hervor. Die metrischen Eigenschaften erscheinen in der projektiven Geometrie
„nicht mehr als Eigenschaften der räumlichen Dinge an sich, sondern als Beziehungen
derselben zu einem Fundamentalgebilde, dem unendlich fernen Kugelkreise“.590 Mit ihrer
Methodik war die projektive Geometrie auf dem Weg, sich über die gesamte Geometrie zu
erstrecken.
Im Erlanger Programm ist der Begriff einer ‚Gruppe‘ von räumlichen Änderungen der
Wesentlichste. Für Klein ist die Gruppe nicht bloß ein Instrument, um neue Sätze zu
finden, sondern sie bildet das wahre Wesen der Geometrie. Eine Geometrie entsteht erst,
wenn man neben der räumlich ausgedehnten Mannigfaltigkeit noch eine Gruppe von
Transformationen dieser Mannigfaltigkeit in sich vorgibt; und jeder Gruppe entspricht eine
besondere Geometrie.591
Klein hat mit Lie zusammen die fundamentale Bedeutung der Gruppentheorie bereits früh
erkannt.592 Die beiden Freunde fuhren nach Paris um Camille Jordan (1832-1922)
kennenzulernen, der das erste Lehrbuch über die Theorie endlicher Gruppen Traité des
substitutions et des équations algébriques (1870) geschrieben hatte. Jordan war eher durch
einen Zufall zur Gruppentheorie gelangt.593
Nachdem im Jahre 1857 der bekannte Mathematiker Augustin Louis Cauchy (1789-1857)
verstorben war, entschloss man sich in den sechziger Jahren seine Werke zu publizieren.
Diese Aufgabe kam Camille Jordan zu, der auch dafür Sorge tragen sollte, bisher
unveröffentlichte Werke von Cauchy in der neuen Edition erscheinen zu lassen. Doch
589 Vgl. CG, p. 1. Für Cassirer war Helmholtz der Vorläufer, der schon im Aufsatz Ueber die Tatsachen,die der Geometrie zu Grunde liegen (1868), versucht hatte, gewisse mathematische Spekulationen vomBegriff der Gruppe auf das psychologische Problem der Wahrnehmung anzuwenden, obwohl zur Zeitder Begriff der Gruppe noch nicht als universelles Instrument des mathematischen Gedankens erkanntwurde und demzufolge er das Problem nicht präzise behandeln konnte.
590 Klein (1872/1893), S. 64.591 Vgl. Carathéodory (1919), S. 298. 592 Vgl. Yaglom (1988); über die Biographie Kleins vgl. Tobies (1981). 593 Vgl. Yaglom (1988), Chapter 1. The Precursors: Evariste Galois and Camille Jordan. pp. 1-21.
256
außer einem Brief von Evariste Galois (1811-1832) an Cauchy, den dieser angeblich
jedoch nie gelesen hatte, wurde Jordan keines unveröffentlichten Manuskripts gewahr. Der
besagte Brief beinhaltete die ‚Galoistheorie‘ der Gleichung,594 von der Jordan so begeistert
war, dass er sich auf die Suche nach Galois’ Werk machte und sich um die
Bekanntmachung und Vermittlung der weitgehend unbekannten Theorie bemühte.
Nachdem Jordan die sechziger Jahre weitestgehend damit verbracht hatte, entschied er
sich, selbst ein Buch darüber zu verfassen. So entstand Jordans Lehrbuch der
Gruppentheorie, das Klein „die entscheidenden algebraischen Hilfsmittel zur
Ausarbeitung“595 des Erlanger Programms in die Hand gab.
August Ferdinand Möbius (1790-1868) besitzt nach Klein den modern formulierten
Gruppenbegriff nicht, aber sein Begriff der „Verwandtschaft“ in Der barycentrische Calcul
(1827) ist äquivalent.596 Bei den geometrischen Verwandtschaften handelt es sich um
Transformationen einer geometrischen Figur in eine andere. Möbius zählte in der Vorrede
zum barycentrischen Calcul die geometrischen Verwandtschaften wie Gleichheit,
Ähnlichkeit, Affinität und Kollineation auf. Gleichheit und Ähnlichkeit unterscheiden sich
nach Möbius nicht wesentlich; eine Feststellung, die nach Wußing den Eigenschaften der
Hauptgruppe des Erlanger Programms entspricht597:
„Allgemeiner sind die Affinitäten, welche speziell die Ähnlichkeiten undGleichheiten in sich enthalten ― dies entspricht dem gegenseitigen Verhältnisvon affiner Gruppe zur äquiformen (oder Haupt-) Gruppe. Noch allgemeinerschließlich sind die Verwandtschaften der Kollineation; auch hier nimmtMöbius ― natürlich ohne Verwendung des Wortes Gruppe oder überhauptexpliziter gruppentheoretischer Denkweise [...] ― die Enthaltensaussage deraffinen Geometrie in der projektiven Geometrie vorweg.“598
Möbius hat mit seinem Programm, das die Klassifizierung der geometrischen
Transformationen beinhaltet, eine wesentliche Entwicklungsrichtung getroffen, aber es hat
ihm an formalen Möglichkeiten, insbesondere an algebraischen Hilfsmitteln gemangelt. Er
konnte daher die ihm vorschwebende Klassifizierung der Geometrie nicht durchführen.599
594 Über Galois’ Permutationsgruppe vgl. Yaglom (1988), pp. 10-13. 595 Wußing (1997), S. 22.596 Vgl. Klein (1926/1979), S. 118; vgl. Tobies (1981), S. 33. Möbius wird durch seine Arbeit zu einem
Vorläufer des Erlanger Programms; vgl. auch Wußing (1997), S. 17: „Als Möbius in den 20er Jahrenseine Publikationstätigkeit aufnahm, hatte sich im Anschluß an Poncelet das Interesse auf dieUntersuchungen der Transformationen gerichtet, welche den Übergang von einer geometrischen Figurzur anderen vermitteln.“
597 Vgl. Wußing (1997), S. 18.598 Wußing (1997), S. 18.599 Vgl. Wußing (1997), S. 19.
257
Die Invariantentheorie, worauf sich Klein im Erlanger Programm stützt, ist die
‚algebraische Invariantentheorie‘, die sich im 19. Jahrhundert zunächst unabhängig von
der Geometrie entwickelte. Einer der führenden Vertreter dieser Invariantentheorie war
Arthur Cayley (1821-1895), der zwischen 1854 und 1859 insgesamt zehn Abhandlungen
unter dem Titel Memoirs upon Quantics600 veröffentlichte.601 Der Grundgedanke von
Cayley bestand nach Wußing darin, „daß sich bezüglich geometrischer Transformationen
invariante Eigenschaften geometrischer Figuren auch analytisch in Form algebraischer
Invarianten der der Figur entsprechenden Quantic widerspiegeln müssen“.602 Mit seiner
sechsten Abhandlung gelang es Cayley mit Hilfe der ‚Maßbestimmung‘603 „die
Beziehungen zwischen projektiver und metrischer Geometrie hervorzukehren“.604 Nach
Cayley sei die metrische Geometrie ein Teil der projektiven Geometrie, und die projektive
Geometrie sei die gesamte Geometrie.605
Für das Erlanger Programm stellt die Einordnung der nichteuklidischen Geometrie in die
projektive Geometrie auf invariantentheoretischer Grundlage den Ausgangspunkt dar. Um
sein ‚Programm‘ durchzuführen verknüpft Klein606 die mit Sophus Lie (1842-1899)607
entwickelte Gruppentheorie mit der Geometrie.608 Dabei entwickelte Klein eine
Hauptgruppe, die die Grundlage seiner Theorie bildet, um zu verdeutlichen, dass die
geometrischen Eigenschaften durch die Transformation der Gruppe unverändert bleiben. Es
geht ihm in erster Linie darum, herauszufinden, was unter den geometrischen
Eigenschaften zu verstehen ist, um damit zu zeigen, dass die Geometrie ihrem ‚Stoffe‘
600 Vgl. Wußing (1997), S. 19. Unter Quantic verstand Cayley „das, was wir heute als Form bezeichnen,also ein homogenes Polynom des Grades n in m unabhängigen Variablen mit willkürlichen konstantenKoeffizienten, die in einem Ring liegen“.
601 Vgl. Ihmig (1997a), S. 293.602 Wußing (1997), S. 19 f.603 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 385: Im Zusammenhang mit Cayleyschen Theorie der
algebraischen Invarianten stehen „seine Entwicklung der Matrizentheorie in ihrer algebraischenFassung, die analytische Einführung n-dimensionaler Geometrien, die Klärung des Begriffs derabstrakten Gruppe [...] (mathematisch), die Darstellung von Gruppen durch Multiplikationstafeln(Gruppentafeln oder ›Cayleysche Tafeln‹) sowie der Fundamentalsatz, daß jede endliche Gruppe einerPermutationsgruppe isomorph ist (Satz von Cayley). Cayleys Zurückführung der metrischen Geometrieauf die projektive durch eine schon innerhalb dieser gültige Maßbestimmung (Cayley-Kleinsche Metrik)regte F. Klein zur Erweiterung auf die nicht-euklidischen Geometrien und damit die Aufstellung desErlanger Programms an“.
604 Wußing (1997), S. 20.605 Vgl. Wußing (1997), S. 20. Wußing verweist auf Cayleys The Collected Mathematical Papers. Bd. 2.
Cambridge 1889, S. 592.606 Über die Vorgeschichte des Erlanger Programms vgl. Yaglom (1988), Ihmig (1997a), Kap. IV. und
Ihmig (1996); zu Kleins Erlanger Programm siehe auch Hawkins (1984), Gray (1992), Rowe (1992),und Carathéodory (1919).
607 Über Klein und Lie vgl. Yaglom (1988); auch Rowe (1992).608 Vgl. Rowe (1992), p. 47. Das, was das Erlanger Programm faszinierend macht, sei nicht die
Gruppentheorie selbst, sondern deren Verknüpfung mit der Geometrie.
258
nach einheitlich ist. Dies ist der Grundgedanke in der methodischen Betrachtung Kleins.609
Diese Idee Kleins der einheitlichen Geometrie und der Invariantentheorie ist für Cassirer
entscheidend.
Klein formuliert später in seiner Schrift Elementarmathematik vom höheren Standpunkte
aus (1925) seinen Hauptgedanken im Erlanger Programm wie folgt: „Es sei irgendeine
beliebige Gruppe räumlicher Transformationen gegeben, welche die Hauptgruppe als Teil
umfaßt; dann gibt die Invariantentheorie dieser Gruppe eine bestimmte Art von Geometrie,
und man kann so jede mögliche Geometrie erhalten.“610
Im Erlanger Programm definiert Klein zunächst die Transformationsgruppe wie folgt:
Vorausgesetzt werden beliebig viele Transformationen des Raumes, die zusammengesetzt
immer wieder eine Transformation ergeben. Wenn eine gegebene Reihe von
Transformationen (Transformation des Raumes) die Eigenschaft hat, dass jede Änderung,
„die aus den ihr angehörigen durch Zusammensetzung hervorgeht, ihr selbst wieder
angehört, soll die Reihe eine Transformationsgruppe genannt werden“.611 „Ein Beispiel für
eine Transformationsgruppe bildet die Gesammtheit der Bewegungen“ und jede Bewegung
wird „als eine auf den ganzen Raum ausgeführte Operation betrachtet“.612
Eine Gruppe in der Gesamtheit der Bewegungen bilden die Rotationen um einen Punkt.
Eine Gruppe, die die Gruppe der Bewegungen umfasst, ist die Gesamtheit der
Kollineationen. Klein nennt eine Gesamtheit von Transformationen dann eine Gruppe,
„wenn die Zusammensetzung von 2 ihrer Transformationen wieder eine Transformation
derselben Gesamtheit ergibt und die Inverse jeder Transformation auch zu der Gesamtheit
gehört. Beispiele von Gruppen sind der Inbegriff der Bewegungen oder derjenige der
Kollineationen (projektiven Transformationen)“.613
Es gibt räumliche Transformationen, wie zum Beispiel alle Bewegungen des Raumes,
Ähnlichkeitstransformationen eines räumlichen Gebildes, den Prozess der Spiegelung,
sowie alle Transformationen, die sich aus diesen zusammensetzen, welche die
geometrischen Eigenschaften räumlicher Gebilde unverändert lassen.
609 Vgl. Klein (1872/1893), S. 64: „Wenn wir es im Nachstehenden unternehmen, ein solches Principaufzustellen, so entwickeln wir wohl keinen eigentlich neuen Gedanken, sondern umgränzen nur klarund deutlich, was mehr oder minder bestimmt von Manchem gedacht worden ist. Aber es schien um soberechtigter, derartige zusammenfassende Betrachtungen zu publiciren, als die Geometrie, die dochihrem Stoffe nach einheitlich ist, bei der raschen Entwicklung, die sie in der letzten Zeit genommen hat,nur zu sehr in eine Reihe von beinahe getrennten Disciplinen zerfallen ist, die sich ziemlich unabhängigvon einander weiter bilden. Es lag dabei aber auch noch die besondere Absicht vor, Methoden undGesichtspunkte darzulegen, welche von L i e und mir in neuren Arbeiten entwickelt wurden.“
610 Klein (1925), S. 144.611 Klein (1872/1893), S. 65 f.612 Klein (1872/1893), S. 66.613 Klein (1925), S. 143.
259
Der Inbegriff all dieser Transformationen wird dann Hauptgruppe genannt. So legt Klein
fest: „geometrische Eigenschaften werden durch die Transformationen der Hauptgruppe
nicht geändert“, oder anders formuliert, geometrische Eigenschaften sind „durch ihre
Unveränderlichkeit gegenüber den Transformationen der Hauptgruppe charakterisiert“.614
Die mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, die, nachdem man sich des sinnlichen Bildes
entledigt hat, im Raume erblickt werden kann, sofern an der ‚gewohnten Vorstellung des
Punktes als Raumelement‘ festgehalten wird, wird in Analogie zu den räumlichen
Transformationen ‚Transformationen der Mannigfaltigkeit‘ genannt, die ebenfalls Gruppen
bilden. So gesehen, ist jede Gruppe mit jeder anderen gleichberechtigt. Somit entsteht nach
Klein als Verallgemeinerung der Geometrie das folgende allgemeine ‚Problem‘:
„Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppegegeben; man soll die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde hinsichtlichsolcher Eigenschaften untersuchen, die durch die Transformationen derGruppe nicht geändert werden.“ 615
Wenn man sich nun lediglich auf eine bestimmte Gruppe, nämlich auf die Gruppe aller
linearen Umformungen beziehe, so könne man durchaus auch sagen: „Es ist eine
Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben. Man entwickele
die auf die Gruppe bezügliche Invariantentheorie.“616 Dieses ‚allgemeine Problem‘,
umfasst nicht nur die gewöhnliche Geometrie, also die euklidische metrische Geometrie,
sondern auch die damals neueren „geometrischen Methoden und die verschiedenen
Behandlungsweisen beliebig ausgedehnter Mannigfaltigkeiten“.617
Diese Formulierungen Kleins fasst Ihmig so auf, dass Klein hier einen allgemeinen Begriff,
nämlich die Hauptgruppe, entwickele und die weitere Aufgabe darin bestehe, das
Verhältnis der neueren Geometrien zur euklidischen Geometrie genauer herauszuarbeiten.
Das Verhältnis unterschiedlicher Geometrien lasse sich zueinander vermöge des
Verhältnisses ihrer Transformationsgruppen bestimmen. „So läßt sich die Hauptgruppe
systematisch erweitern um beispielsweise die affinen Transformationen. Die Gruppe der
affinen Transformationen ist ihrerseits erweiterbar um die Gruppe der projektiven
Transformationen etc.“618
Die geometrischen Eigenschaften räumlicher Dinge bleiben, wie schon erwähnt, durch alle
614 Klein (1872/1893), S. 66 f.615 Klein (1872/1893), S. 67.616 Klein (1872/1893), S. 67. 617 Klein (1872/1893), S. 67.618 Ihmig (1997a), S. 301.
260
Transformationen der Hauptgruppe unverändert. Trotz allem wirft Klein an dieser Stelle
die Frage auf, ob es denn geometrische Eigenschaften räumlicher Dinge gäbe, bei denen
dies nur zum Teil der Fall ist. Diese Frage erscheint Klein, wenn auch nur formal, dann
berechtigt, wenn man sich anschickt, diese räumlichen Gebilde in ihrer Beziehung zu fest
gedachten Elementen zu untersuchen.
Betrachtet man „die räumlichen Dinge unter Auszeichnung eines Punktes“, wie dies in der
sphärischen Trigonometrie getan wird, so ergibt sich für ihn die Forderung: „die unter
Adjunction der Hauptgruppe invarianten Eigenschaften nicht mehr der räumlichen Dinge
an sich sondern des von ihnen mit dem gegebenen Punkte gebildeten Systems zu
entwickeln.“619 Nach Klein kann man selbige Forderung auch in folgende Worte fassen, die
ein in seinem Programm häufig angewandtes ‚Prinzip‘ erkennen lassen: man untersuche
die räumlichen Gebilde nach solchen Eigenschaften, welche ungeändert bleiben durch
diejenigen Transformationen der Hauptgruppe, welche noch stattfinden können, wenn man
den Punkt festhalte. So sei es dasselbe, ob man die räumlichen Gebilde im Sinne der
Hauptgruppe untersuche und ihnen den gegebenen Punkt hinzufüge, oder ob man die
Hauptgruppe durch die in ihr enthaltene Gruppe ersetze, deren Transformationen den
bezüglichen Punkt ungeändert lasse.620
Seine Untersuchung derjenigen Eigenschaften räumlicher Dinge, die bei einer
Transformationsgruppe erhalten bleiben, die die Hauptgruppe als einen Teil umfasst,
kommt zu dem Schluss, dass jede Eigenschaft, die bei einer solchen Untersuchung zu
finden ist, eine geometrische Eigenschaft des Dinges an sich ist, aber das Umgekehrte
nicht gilt. Bei der Umkehr tritt, so Klein, das obige ‚Prinzip‘ in Kraft, wobei die
Hauptgruppe die kleinere Gruppe ist.
Mittels dieses umgekehrten Verfahrens zeigt Klein später in Elementarmathematik vom
höheren Standpunkte aus, wie von der Eigenschaft aller projektiven Trans-
formationsgruppen aus die Eigenschaft einer affinen Geometrie und letzlich nur die
Eigenschaft der Hauptgruppe übrigbleibt. Um zum Beispiel von allen projektiven
Transformationen aus zu der affinen Gruppe zu kommen, muss man davon ausgehen, „daß
eine Projektivität dann eine Affinität ist, wenn sie die unendlich ferne Ebene in sich
619 Klein (1872/1893), S. 68.620 Vgl. Klein (1872/1893), S. 68. Kleins allgemeine Formulierung seines Prinzips lautet: „Es sei eine
Mannigfaltigkeit und zu ihrer Behandlung eine auf sie bezügliche Transformationsgruppe gegeben. Eswerde das Problem vorgelegt, die in der Mannigfaltigkeit enthaltenen Gebilde hinsichtlich einesgegebenen Gebildes zu untersuchen. So kann man entweder dem Systeme der Gebilde das gegebenehinzufügen, und es fragt sich dann nach den Eigenschaften des erweiterten Systems im Sinne dergegebenen Gruppe — oder, man lasse das System unerweitert, beschränke aber die Transformationen,die man bei der Behandlung zu Grunde legt, auf diejenigen in der gegebenen Gruppe enthaltenen,welche das gegebene Gebilde ungeändert lassen (und die nothwendig wieder eine Gruppe bilden ).“
261
überführt, d. h. wenn jedem Punkte mit verschwindendem τ ein Punkt mit
verschwindendem τ´ entspricht.“621 Wenn die unendlich ferne Ebene ungeändert bleibt,
dann scheidet nach Klein aus den projektiven Transformationsgruppen eine ‚Untergruppe‘
aus, also die affine Gruppe. In ganz analoger Weise gelangt man letztlich zu der
Hauptgruppe, „indem man diejenigen Projektivitäten bzw. Affinitäten bestimmt, die außer
der unendlich fernen Ebene noch den imaginären Kugelkreis in sich überführen [...]“.622
So entsteht jetzt für Klein ein ‚Satz‘:
„Ersetzt man die Hauptgruppe durch eine umfassendere Gruppe, so bleibt nurein Theil der geometrischen Eigenschaften erhalten. Die übrigen erscheinennicht mehr als Eigenschaften der räumlichen Dinge an sich, sondern alsEigenschaften des Systems, welches hervorgeht, wenn man denselben einausgezeichnetes Gebilde hinzufügt. Dieses ausgezeichnete Gebilde ist (soweites überhaupt ein bestimmtes ist) dadurch definirt, dass es, fest gedacht, demRaume unter den Transformationen der gegebenen Gruppe nur noch dieTransformationen der Hauptgruppe gestattet.“623
Er betont, dass die Eigenart der neueren geometrischen Richtungen und deren Verhältnis
zur elementaren Methode auf diesem Satz beruhen. Im Erlanger Programm wendet Klein
diesen ‚Satz‘ mit dem oben genannten ‚Prinzip‘ und das allgemeine ‚Problem‘ auf die
verschiedenen Methoden der Geometrien (die euklidische und die nichteuklidische
Geometrie, die projektive Geometrie etc.) an, um so die Einheit der Geometrie
wiederherzustellen.
Cassirers Interpretation von Klein zufolge kann man bestimmte Eigenschaften
heraussondern, die sich gegenüber der Hauptgruppe invariant verhalten, sofern man die
Hauptgruppe von Transformationen zu Grunde legt, die für die euklidische Geometrie gilt
(vgl. ECN 2, 130). Wenn man aber zu einer anderen Gruppe, zu den projektiven
Transformationen fortschreite, gehe der bisher als unabänderlich angesehene Teil der
Eigenschaften durch die Erweiterung der Hauptgruppe verloren. Im Gegenzug aber
„ergeben sich andere und neue ‚Invarianzen‘“ (ECN 2, 130). Gemäß den Ausführungen
von Klein lege der allgemeine ‚Satz‘ vom projektivischen Standpunkt aus fest, wie man die
metrischen Eigenschaften aufzufassen habe. Die metrischen Eigenschaften können als
projektivische Beziehungen zu einem ‚unendlich fernen Kugelkreis‘ betrachtet werden. In
diesem Fall muss man jedoch dem Kugelkreis, um diesem Standpunkt gerecht zu werden,
621 Klein (1925), S. 144.622 Klein (1925), S. 144. 623 Klein (1872/1893), S. 69.
262
„das System der reellen Raumelemente (Punkte)“ hinzufügen. Dann werden Eigenschaften
im Sinne der elementaren Geometrie „projectivisch entweder Eigenschaften der Dinge an
sich oder Beziehungen zu diesem Systeme der reellen Elemente, oder zum Kugelkreise,
oder endlich zu beiden“.624
Hierin sieht Cassirer den besonderen Beitrag der projektiven Geometrie für die veränderte
Form der Anschauung. Kreis und Ellipse zum Beispiel sind in der gewöhnlichen
Geometrie verschieden, aber in der ‚affinen Geometrie‘ geht dieser Unterschied verloren.
Beide erscheinen in ihr als ein Gebilde. Diese Entwicklung geht einen Schritt weiter, wenn
man zur projektiven Geometrie fortschreitet, denn dann geht auch der bisherige
Unterschied zwischen einem Kreis und ‚allen anderen Arten der Kegelschnitte‘ verloren.
Es gibt für die projektive Geometrie nur einen einzigen Kegelschnitt, „denn je zwei lassen
sich in einen Kreis und daher auch in einander projektiv überführen“ (ECN 2, 130 f.). Vom
Standpunkt der projektiven Geometrie aus gesehen bezeichnet die Einteilung in Parabel,
Hyperbel und Ellipse keinen ‚absoluten‘ Unterschied.
4.3.2. Die Wahrnehmungskonstanten und die Invarianten des Begriffs
Cassirer hebt im Aufsatz Reflections on the Concept of Group and the Theory of
Perception Klein deshalb hervor, weil durch das Erlanger Programm eine neue Definition
der Geometrie entstanden sei. Die alte Definition, nach der die Geometrie ein Fach der
Forschung des Raumes sei, müsse seiner Meinung nach aufgegeben werden.625 Daher lautet
eine neue Definition der Geometrie, die auf dem Begriff der Gruppe basiert: „Geometry is
distinguished from topography by the fact that only such properties of space are called
geometrical as remain unchanged in a certain group of operations.“ (RCG, 280)626
Die Begriffe in der euklidischen Geometrie werden für Cassirer durch Abstraktion
gewonnen. Der Terminus Abstraktion selbst benötige eine schärfere und genauere
Bestimmung, die man laut Cassirer in der auf dem Begriff der Transformationsgruppe
basierenden Theorie der Geometrie Kleins finde. Entscheidend ist für Cassirer Kleins
Unterscheidung verschiedener Abstraktionsgrade, die einem freie und umfassende
624 Klein (1872/1893), S. 71.625 Vgl. RCG, p. 279: „We must give up our traditional view of geometry; we must seek for a new and
deeper insight into the method and character of geometrical thought. This new insight was won, in thisarticle of Klein, by the introduction of a new concept: the concept of group.“
626 Vgl. Ihmig (1996), S. 143: Ihmig betont auch, dass die Frage nach dem Wesen des Raumes der Anlassfür Cassirers Beschäftigung mit dem Programm Kleins ist.
263
Perspektiven verschaffen. Durch diese Perspektiven werden der Kreis und die Ellipse in
der affinen Geometrie als eine Figur angenommen, weil der Kreis in dieser Geometrie in
die Ellipse transformiert wird (vgl. CG, 8; 4.3.1).
Wie bereits erwähnt, ist für Cassirer der Gedanke von Klein zur einheitlichen Geometrie
neben der Invariantentheorie von grosser Bedeutung:
„The introduction of a new group of transformations always involves acompletely new orientation and interpretation of the relations of spatial forms –and these various modes of interpretation are expressed by the different typesof geometry. Thus modern group theory is far from denying the truth of anygeometrical system; but it declares that no single system has a claim todefinitiveness. Only the totality of possible geometrical systems is reallydefinitive.“ (RCG, 283)
Cassirers spätere Wahrnehmungstheorie stützt sich einerseits auf Kleins Idee der
einheitlichen Geometrie im Erlanger Programm und andererseits auf die Invariantentheorie
im Zusammenhang mit der Wahrnehmungskonstanz.
Cassirer will, wie schon erwähnt, den Prozess des Wahrnehmens von dem des Urteils als
nicht trennbar verstehen und so wird das Urteil im Prozess als elementarer Urteilsakt
bezeichnet. Das Urteil bedeutet eine Form der objektivierenden Bestimmung, in welcher
die qualitativen inhaltlichen Differenzen der Einzelnen nicht verlorengehen soll. Wenn dies
geleugnet wird, so Cassirer, „versteht man das Urteil selbst nur in dem äußerlichen Sinne
einer vergleichenden Tätigkeit, die einem bereits feststehenden und gegebenen ‚Subjekt‘
ein neues Prädikat nachträglich hinzufügt“ (SuF, 453; vgl. SuF 366). Cassirers Verständnis
der Wahrnehmung wird in PsF in dem Sinne erweitert, dass die Funktion der
Wahrnehmung mit der symbolischen Formung zusammenhängt. So wird die
‚Wahrnehmung selbst‘ als die ideelle Verwobenheit und die Bezogenheit des Einzelnen auf
ein charakteristisches Sinn-Ganzes als ‚Prägnanz‘ bezeichnet (vgl. PsF III, 235):
„Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung ,verbindet‘ sichhier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, desUrteilens und Schließens, sondern sie i s t selbst schon eine solcheGrundfunktion — sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und inselbständiger Gestaltung heraustritt.“ (PsF I, 280)
Diese Wahrnehmung lässt sich bei Cassirer in dem Sinne verstehen, dass man es beim
Erkennen nicht mit der Empfindung von Dingen, sondern mit der Wahrnehmung als
intergrierten Urteilsakt zu tun hat.
264
In der Welt der Erfahrung geht man von einem bestimmten Wahrnehmungserlebnis aus,
zum Beispiel von einer Zeichnung der ‚Materie‘, die man in einer Weise als eine optische
Struktur, als ein zusammenhängendes Ganzes erfassen soll. Man kann zunächst dem rein-
sinnlichen Eindruck der Zeichnung zugewandt sein. Dabei erfasst man „sie [Zeichnung]
etwa als einen einfachen Linienzug, der sich durch bestimmte sichtbare Qualitäten, durch
gewisse elementare Grundzüge seiner räumlichen Form gegen andere unterscheidet und
abhebt“ (SP, 298 f.). In welchem Sinne Cassirer den Begriff einer Materie der
Wahrnehmung oder die Zeichnung als Linienzug annimmt, erläutert er wie folgt:
„Wo der aesthetisch-Betrachtende und Genießende sich der Anschauung derreinen Raumform hingibt ― wo sich dem religiös-Ergriffenen in der Form einmystischer Sinn erschließt, da kann sich dem Gedanken das Gebilde, das vordem sinnlichen Auge steht, als Beispiel für einen rein logisch-begrifflichenStrukturzusammenhang geben. [...] so wird dem mathematischen Geiste derLinienzug zu nichts anderem, als zum anschaulichen Repräsentanten einesbestimmten Funktionsverlaufs. [...] Wo die ästhetische Richtung derBetrachtung vielleicht eine Hogarthsche Schönheitslinie vor sich sah ― dasieht der Blick des Mathematikers das Bild einer bestimmten trigonometrischenFunktion, etwa das Bild einer Sinuskurve vor sich, während der mathematischePhysiker in eben dieser Kurve vielleicht das Gesetz eines bestimmtenNaturvorgangs, das Gesetz für eine periodische Schwingung erkennt.“ (SP,300)
Das Bewusstsein beim Wahrnehmen funktioniert so, dass es die Zeichen als Vertreter von
Merkmalen der Dinge, nicht als Teile summiert, das heißt, als Teile vom Ganzen in Reihe
setzt. Die erste Setzung von Merkmalen durch Zeichen kommt dadurch zu Stande, dass ein
Moment aus dem Ganzen einer Erscheinung abstrakt herausgelöst wird, und das Moment
als Vertreter, als Repräsentant des Ganzen genommen wird, so dass der Inhalt seine
Einzelheit, die stoffliche Besonderheit nicht verlieren kann. Damit erhält der Inhalt eine
neue allgemeine Form aufgeprägt.
Die sinnliche Empfindung bedeutet somit keinesfalls die Abstraktion des ‚dogmatischen
Sensualismus‘. Um dies zu verdeutlichen, bedient Cassirer sich des Beispiels einer
Gemäldebetrachtung. Der sinnliche Inhalt des Kunstwerkes stellt sich nicht einfach als
stummes Bild dar, sondern es gibt „Kunde von einem inneren Leben, das durch ihn
hindurchscheint“ (SP, 302). Diese Transparenz des Sinnlichen ist es, die nicht nur jeder
ästhetischen Anschauung als solcher innewohnt, sondern auch in der Sprache und im
Mythos zu Hause ist. Cassirer konstatiert, dass man die Frage nach der Möglichkeit dieses
Zusammenhangs nicht stellen soll; man soll auch nicht versuchen zu antworten, in welcher
265
Grundbestimmung, sei sie metaphysisch, sei sie psychologisch, es begründet ist, dass „ein
sinnlich-Äußerliches in sich die Kraft besitzt, in dieser Weise ein »innerliches« Sein in sich
auszudrücken und es uns unmittelbar zu offenbaren“ (ibd.). Denn dies sollte man als
Phänomen, als Urphänomen des Ausdrucks, akzeptieren. Versucht man eine Antwort auf
die Frage zu geben, dann kann es geschehen, dass man das eigentliche Problem verkennt
und ihm einen „logischen Sachverhalt eines Analogieschlusses“ unterschiebt, oder man
eine andere Bezeichnung für dasselbe schafft, indem man „von einer symbolischen
»Einfühlung« des Inneren in das Äußere“ spricht (SP, 302).
Cassirer versteht auch die Reflexion nicht als bloßes Denken über die gegebenen
Anschauungsinhalte, sondern als eine, die „die Gestalt dieser Inhalte selbst mitbestimmt
und konstituiert“ (PsF III, 132). Er betont daher ausdrücklich die Funktion der
Wahrnehmung innerhalb der Erkenntniskritik:
„Sie [die erkenntniskritische Frage] geht nicht von den »Dingen« zu den»Phänomenen«, sondern von diesen zu jenen fort. Sie muß demnach dieWahrnehmung und ihre Beschaffenheit nicht als ,von außen‘ bedingt, sondernals bedingend, sie muß sie als konstitutives M ome n t der Dingerkenntnisnehmen.“ (PsF III, 69)
Wenn die Wahrnehmung so betrachtet wird, dann soll sie von vornherein „als eine Art
objektives Gefüge“ angenommen werden:
„Den ,Eigenschaften‘ der Dinge entsprechen bestimmte ,Qualitäten‘ derWahrnehmung. Diese letztere erscheint also in sich selbst schon als gegliedertund nach festen Hauptgestalten, nach bestimmten Grundklassen abgeteilt.Damit aber ist die Ding-Eigenschafts-Kategorie, die eine konstitutiveBedingung des theoretischen Naturbegr i f f s ist, schon in die reineDeskription, in die P hänome no log i e der Wahrnehmung hineingelegt. Siewird als ein ,Mannigfaltiges‘ beschrieben ― als ein Mannigfaltiges, in das erstdie synthetische Funktion der reinen Anschauung und die synthetischenEinheiten des reinen Verstandes Ordnung und Zusammenhang bringen sollen.“(PsF III, 70)
Auch die ‚Intention‘ will Cassirer so verstehen, dass sich die Intention ‚nach‘ dem
Gegenstand richtet, denn für ihn schließt der bloß ‚bestimmbare‘ Gegenstand schon
charakteristische Züge der theoretischen Bestimmung ein:
„Das Wesen der Wahrnehmung wird nach ihrer ,objektiven Gültigkeit‘bestimmt. [...] Die Wahrnehmung »verstehen« heißt sie als besonderes Glied
266
im Aufbau der Wirklichkeitserkenntnis begreifen ― heißt, ihr die Stellezuweisen, die ihr im Ganzen der Funktionen zukommt, auf denen die‚Beziehung aller unserer Erkenntnis auf den Gegenstand‘ beruht.“ (ibd.)
So zeigt sich nach Cassirer überall, wo die Beziehung zwischen ego und Welt, zwischen
Subjekt und Objekt entsteht, die perzeptorische Konstanz. Denn der Prozess der
Wahrnehmung ist für ihn nicht der Prozess der bloßen Reproduktion, sondern der einer
Objektivierung: „Perception is something altogether different from mere reflection of the
‚external‘ by the ‚internal‘. Perception is not a process of reflection or reproduction at all. It
is a process of objectification, the characteristic nature and tendency of which finds
expression in the formation of invariants.“ (CG, 19 f.)
Eingedenk der Invariantentheorie des Erlanger Programms, ist er der Ansicht, dass der
Prozess der Wahrnehmung nicht ein Akt der Perzeption der tabula rasa, sondern ein
komplexer Werdegang ist. Daher bedeutet für ihn die Konstanz der Wahrnehmung
(perceptual constancy),
„that we perceive the objects of our surroundings in approximately the samesize, the same shape, the same color, even if we change, to a considerableextent, the physical conditions. If I see an object at a certain distance a and, at alater moment, in a double distance b, the physiological conditions of the act ofseeing are altered. The image on the retina is considerably reduced in size — itis not only two times but four times as small. But I scarcely notice thisdifference; under usual conditions I ascribe to the object the same size as I didbefore. The same holds for the perception of colors.“ (RCG, 286 f.)
Man kann daraus festhalten, dass Cassirer die Invarianten, die ‚spezifischen Einheiten‘ im
Prozess der Wahrnehmung oder die Wahrnehmungskonstanz in der Mannigfaltigkeit der
Phänomene, analog zu der Invariantentheorie Kleins sucht. Die Erkenntnis besteht nicht
aus bloßem Abbilden oder einem Objekt, das schon für ein Existierendes gehalten wird.
Der Gehalt der Wahrnehmung, der nach dem ‚Linienzug‘ sich formt und dadurch
allmählich seine Invarianten gewinnt, soll im Begriff, im Allgemeinen und zugleich im
Besonderen enthalten sein. Somit verwandeln sich nach Cassirer die Invarianten der
Wahrnehmung zu Invarianten des Begriffs oder zu ‚Gesetzen‘ in der wissenschaftlichen
Erkenntnis. Denn das wissenschaftliche Denken sucht das Gesetz in der wissenschaftlichen
Erfahrungen. Das Beieinandersein der Eigenschaften der Wahrnehmung „verwandelt sich
in ein Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit; die qualitative Aufzeigung der
Konstanten wird durch funktionale Bestimmungen ergänzt und vertieft“ (ECN 2, 114). Die
267
Entwicklungen der modernen Naturwissenschaft sowie der theoretischen Physik im 19.
Jahrhundert dienen für Cassirer als Beispiele dafür, dass „der Primat des reinen
Gesetzesbegriffs vor dem Grössenbegriff immer schärfer herausgearbeitet wird“. Diesen
Gesetzesbegriff interpretiert Cassirer als „die Invarianz bestimmter fundamentaler
Gesetze“ (ECN 2, 116). Er sieht besonders in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie,
dass der Weg der Entwicklung des Invariantenbegriffs ein Ende gefunden hat: „Die
Wirklichkeitserkenntnis hat freilich einen langen und müseligen Weg zu durchmessen, um
von dem ‚Dingbegriff‘ der Wahrnehmung zum ‚Substanzbegriff‘ der klassischen Physik
und von diesem letzteren zum ‚Invariantenbegriff‘ der allgemeinen Relativitätstheorie zu
gelangen.“ (ECN 2, 118) Man kann somit nicht leugnen, dass ein bestimmtes Problem der
Erkenntnis immer den Prozess von der Wahrnehmung bis zur Invariantenbildung des
Begriffs durchläuft. Dieser Prozess verläuft dann, wie Cassirer ihn beschreibt, von den
„primitiven »Ausdruckskonstanzen«“ aus der Erscheinung „zur ‚Farben- und
Grössenkonstanz der Sehdinge‘ und weiter zu den Materialkonstanten, den universellen
Konstanten und den allgemeinsten, gegen alle Koordinatentransformationen invarianten
Gesetzen der Naturerkenntnis“ (ECN 2, 118). Cassirer ist also der Ansicht, dass die
Invarianten der Wahrnehmung durch Tätigkeit des Geistes die Invarianten des Begriffs
bilden.
4.4. Cassirers philosophische Systematik und ‚Basisphänomene‘
In PsF wird der Prozess zur wissenschaftlichen Begriffsbildung durch die drei
Dimensionen oder Stufen der Funktion von Symbol und Zeichen charakterisiert, wobei die
Funktion der Sprache jeweils nach den drei Stufen der symbolischen Formung mimisch,
analogisch und symbolisch aufgefasst wird. Man kann diese Betrachtungsweise Cassirers,
die eng mit den drei Dimensionen oder Sphären der symbolischen Formen verknüpft ist,
als seine Systematik der Erklärung oder als seine Methodik der Interpretation der
‚Phänomene‘ bezeichnen. Wie bereits erwähnt, zeigt sich in PsF nicht nur diese Systematik
recht deutlich, sondern auch in welchem Zusammenhang die Theorie der Begriffsbildung
mit den drei Stufen der Objektivierung der Erkenntnis in SuF steht (vgl. 1.5). So erfahren
diese eine Erweiterung und Festigung in PsF. Cassirer ordnet hier auch die
naturwissenschaftlichen Begriffsformen in ihrer Entwicklungsgeschichte in drei Stationen
ein, indem er diese nach den ‚Kategorien‘ der Sprachform, nämlich mimisch, analogisch
268
und symbolisch stufenweise ordnet. Die ‚eigentliche‘ symbolische Form der
Begriffsbildung gehört der letzten Phase der Entwicklung an.
Der Prozess der Sprachbildung beginnt in Bezug auf die anschauliche Welt mit den
onomatopoetischen Bildungen, indem die Sprache sich unmittelbar mit dem Inhalt der
anschaulichen Welt erfüllt und „sie diesen Inhalt gewissenmaßen in sich selber einströmen
läßt“ (PsF III, 527). Sie versucht einen bestimmten objektiven Vorgang zu zeigen, hält
dann bestimmte physiognomische Charaktere fest und macht diese durch die Lautbildung
kenntlich. Die Sprache bringt „in den V er hä l tn i s s en der Laute die Verhältnisse der
äußeren Gegenstände in irgendeiner Weise zum Ausdruck“ (PsF III, 528). So geht der
mimische Ausdruck in den analogischen Ausdruck über und wird zum Schluss zum rein
symbolischen Ausdruck. Diesen Fortgang formuliert Cassirer auch anders, nämlich dass
die Sprache vom Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fortgehe und sie von diesem
beständig dem ‚dritten Reich‘, dem Reich der reinen Bedeutung zustrebe.
Für Cassirer begann die wissenschaftliche Entwicklung im Sinne der exakten Wissenschaft
mit Galilei und Kepler, sowie Newton und Huyghens, die Begründer der klassischen
Mechanik sind. Er sieht die Leistung der Wissenschaftler darin, dass sie „den Schritt von
der empirischen Anschauung zur ‚reinen Anschauung‘“ vollzogen haben, und dass sie „die
Welt nicht als eine Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, sondern als eine solche von
Gestalten, von Figuren und Größen,“ gefasst haben (PsF III, 530). Dies geschah aber mit
der Beschränkung auf die ‚Gegebenheit‘ des reinen Raumes. Der reine Raum diente „zum
Vorbild und Schema für den Aufbau all der geometrischen und mechanischen
Einzelmodelle“ (ibd.). Auf diese ‚Modelle‘ führte die klassische Physik die Vielheit der
empirischen Erscheinungen zurück, und in denen sah sie den eigentlichen Prototyp aller
wissenschaftlichen Naturerklärung.
Der Fortgang, von der mechanischen Naturanschauung zur modernen Naturwissenschaft,
führte indes noch einen Schritt weiter: „Er schaffte einen Typus des Naturbegreifens, in
dem nicht nur die besonderen Sinnesdaten ausgeschaltet sind, sondern in dem auch die
Anlehnung an die Welt der »Anschauung« in ihrer früheren Form aufgegeben ist.“ Die
universellen Naturbegriffe seien so gestaltet, dass sie sich jeder Möglichkeit einer direkten
Veranschaulichung entziehen. Die Naturbegriffe enthalten „allgemeine und allgemeinste
Zuordnungs-P r inz ip i e n [ . . . ] , deren Gehalt aber keinerlei unmittelbarer Darstellung in
der Anschauung fähig ist“ (PsF III, 530). Hierin liegt auch der spezifische Sinn dieser
Phase der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Damit ist Cassirer der Ansicht, dass auf
diesen Entwicklungsgang der naturwissenschaftlichen Begriffsformen die drei Stufen der
269
Sprachformen angewandt werden können.
Um dies deutlich zu machen, skizziert er die Entwicklung der Form des Naturbegriffs
innerhalb der philosophischen Gedankensysteme angefangen bei Aristoteles über Descartes
und Leibniz bis Kant. Die Begriffsformen dieser Zeit stehen für die mimische und
analogische Phase. Der symbolischen Phase gehört die Weiterentwicklung der
Naturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert an, die aber keine entsprechende
philosophische Reflexion findet.
Die neuere Philosophie beginnt mit der Ablösung der alten aristotelischen Denkform der
Physik, deren Grundbegriffe nur als rein sprachliche ‚Merkmals-Begriffe‘ bezeichnet
werden können. Die Aristotelische Lehre der ‚Elemente‘ klassifiziere die sinnlichen Daten
und fasse sie in Gruppen, Arten und Gattungen; sie nehme aber an ihnen keinen
eigentlichen Gestaltwandel, keine gedankliche Umprägung vor. Die neuere Philosophie
löst diese alte klassische Denkform auf, indem sie nicht ihre Ergebnisse sondern ihre
‚Voraussetzungen‘ bestreitet. Dies begann damit, dass die Philosophie Descartes’ „die
Herrschaft des Weltbildes der ‚substantiellen Formen‘“ zerstörte (PsF III, 532). Descartes
orientiert sich an der Geometrie und so stellt sich das Begreifen der Naturwelt „durch eine
Mannigfaltigkeit der Form, durch einen geom e t r i schen S che mat i smus “ dar (PsF III,
533). Somit seien alle Elemente der Empfindung in diesem Schematismus durch Elemente
der reinen Anschauung ersetzt worden. Dass Descartes einen „Ersatz der »Empfindung«
durch rein anschauliche Schemata“ (ibd.) fordere, sei eine Grund- und Leitidee seiner
Physik gewesen. So wurde über die räumliche Anschauung der Weg zu einer ‚rationalen‘
Analyse der Naturerscheinungen weitergeführt und so wurde für Descartes offensichtlich,
dass auch seine Einsicht ihr Ende fand, sobald die geometrische Konstruierbarkeit der
Phänomene aufhörte.
Leibniz orientiert sich an der Arithmetik, daher bedeutet für ihn der Begriff ‚Form‘ nicht
die ‚Raumform‘ wie bei Descartes, sondern die logische Form, die strenge Gesetzlichkeit
der Form. Diese Gesetzlichkeit der Form ermöglicht ein exaktes Begreifen der
Mannigfaltigkeit und somit kann sie durch ‚ordnende Relation‘ bestimmt werden. Die
Aufgabe der Wissenschaftslehre Leibnizens besteht darin, den „Inbegriff dieser Relationen
in systematischer Vollständigkeit aufzustellen und jeder einzelnen von ihnen ihre Struktur,
ihren allgemeinen logischen »Typus« zu bestimmen“ (PsF III, 534). Von diesem
Standpunkt aus kritisiert Leibniz die Grundlage des Cartesischen Natursystems, nämlich,
dass auch die Cartesische Naturerklärung wie schon bei Aristoteles die Schranken der
sinnlichen Empfindung nicht überschritten habe. Der Cartesischen Definition der Substanz
270
stellt er die Meinung gegenüber, dass sie die Grenze des anschaulich-Darstellbaren nicht
überschritten habe und dass „sie damit die »Einbildungskraft«, die »Imagination« zur
Richterin über den Verstand mache. Eine wahrhafte T heo r i e der Natur aber könne erst
erlangt werden, wenn wir gelernt haben, von beiden Schranken: den sinnlichen sowohl wie
den anschaulichen, abzusehen“ (PsF III, 535). Leibniz wirft der Cartesischen Lehre auch
vor, dass sie sich nicht von den Körpern, von dem Bild der ausgedehnten Masse, lösen
kann.
Die empirische Physik bei Leibniz habe sich aber auf den Verlauf der Geschichte der
Physik nicht weiter ausgewirkt, obschon er in seinem philosophischen Gedankensystem
die oben angeführte Forderung aufgestellt habe. Cassirers Ansicht nach lässt sich
Leibnizens Beitrag zur Physik auf dessen Formulierung des Satzes der „Erhaltung der
lebendigen Kraft“ reduzieren (PsF III, 536). Leibniz führe aber seinen Kraftbegriff nicht
auf das Problem der ‚Materie‘ oder des physischen Körpers sondern auf das Problem der
‚Monade‘ zurück.627 Diese metaphysische Wendung kann nach Cassirer für den Fortgang
des naturwissenschaftlichen Denkens keinen unmittelbaren Ertrag haben.
Auch in Kants Begriff der ‚reinen Anschauung‘ herrsche wie bei Descartes die
geometrische Konstruktion vor. Bei Kant könne kein Begriff des Verstandes Anspruch auf
empirische Wahrheit, auf objektive Gültigkeit erheben, ohne dass er sich in der
Anschauung ‚schematisiert‘. Dieses ‚realisierende‘ Schema sei zugleich ein
„restringierendes“ Schema. Es halte „den Begriff innerhalb der Schranken der räumlich-
zeitlichen D ar s t e l l ba r ke i t “ fest (PsF III, 536). Somit schließe bei Kant auch der
Begriff der Substanz lediglich die Form einer intellekuellen Synthesis in sich und er sei der
oberste unter den reinen Verhältnisbegriffen, die den Gegenstand der Erfahrung
konstituieren. Denn der Begriff der Substanz gehöre bei Kant zu den ‚Analogien der
Erfahrung‘, und um diese Leistung vollbringen zu können, bedürfe er der Anknüpfung an
bestimmte räumlich-zeitliche Schemata. Damit wird die ‚Beharrlichkeit‘ zur notwendigen
Bedingung, „unter welcher allein Erscheinungen als Gegenstände in einer möglichen
Erfahrung bestimmbar sind“ (PsF III, 537). Cassirer ist der Ansicht, dass das Prinzip, auf
das Kant seine ‚transzendentale Deduktion der Kategorien‘ stützt, für sich allein nicht
hinreicht, um die naturwissenschaftliche stoffliche Veränderung oder die ‚Gleichsetzung‘,
die Kant selbst als Beispiel628 angibt, zu begründen. Kant nimmt in diesem Beispiel die
627 Vgl. LS, Zweiter Teil, sechstes Kapitel. Der Begriff der Kraft. 628 Kant (W1990), S. 223. KrV, A 185/ B 228: „Ein Philosoph wurde gefragt: wie viel wiegt der Rauch? Er
antwortet: ziehe von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbleibenden Asche ab,so hast du das Gewicht des Rauchs. Er setzte also als unwidersprechlich voraus: daß, selbst im Feuer,die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.“
271
Materie als Substanz, als beharrliches Etwas an, das sich trotz der Veränderung, „als
»dasselbe«, als mit sich identisch wiedererkennen“ lässt (PsF III, 537). Seine Vorstellung
von etwas Beharrlichem im Dasein sei wesentlich durch sein geschichtliches Verhältnis zur
Newtonschen Lehre mitbedingt.
Im 19. Jahrhundert, also in der ‚symbolischen‘ Phase der Entwicklung des
naturwissenschaftlichen Begriffs, gibt es Cassirers Meinung nach kein großes
repräsentatives philosophisches Gedankensystem, an welchem man den Stand der
naturwissenschaftlichen Prinzipien- und Methodenlehre gewissermaßen direkt ablesen
kann. In dieser Phase hat das Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung letztlich eine
neue Bestimmung erhalten und „gegenüber dem Ideal der naturwissenschaftlichen
Erkennntis, auf das die klassische Mechanik hinzielte, eine wesentliche Verschiebung“
erfahren (PsF III, 538). Um dies zu verdeutlichen, führt Cassirer die begriffliche
Entwicklung in der Physik in den Theorien von Duhem, Helmholtz, R. Mayer, Planck und
Einstein aus und geht auf verschiedene Theorien, wie die Theorien über das
Energieprinzip, die Theorien des Äthers und der Feldphysik ein.629 Hieraus ergibt sich, dass
die ‚geistige Gesamtstruktur‘ der Physik dieser Zeit eher eine der ‚Physik der Prinzipien‘,
als eine ‚Physik der Bilder und Modelle‘ genannt werden muss, anders formuliert, dass sich
die Physik in dieser Zeit nicht mehr an der Theorie der Modelle, die stets den Bildern
anhaften, orientiert sondern an den Prinzipien. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass
Cassirer in SuF die Begriffsbildung als Reihenbildung bezeichnet und von ihrem
Reihenp r inz ip spricht. Er interpretiert besonders die ‚Realität‘ in der Feldphysik als
„Ausdruck für einen Inbegriff physikalischer Re la t i onen “ (PsF III, 545).
Cassirer streicht aber die empirische Anschauung nicht, sondern betont dagegen das
Anwendungsproblem des Prinzips: „Der Sinn des Prinzips muß sich zuletzt empirisch und
somit anschaulich erfüllen; aber diese Erfüllung ist niemals direkt möglich, sondern kann
nur in der Weise geschehen, daß aus der Annahme seiner Gültigkeit durch eine
hypothetische Deduktion andere Sätze hergeleitet werden.“ (PsF III, 540) Das heißt, ein
Prinzip der Naturerklärung gehört „gewissermaßen schon seiner allgemeinen logischen
Dimension nach, einem andern Kreise der Geltung an“. „Es spricht sich nicht in einem
Begriff, sondern in einem Ur t e i l aus: es findet erst in einem allgemeinen S a t z seinen
Ausdruck.“ (PsF III, 539 f.) Cassirer begründet damit, dass keiner dieser Sätze in diesem
Fortgang einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zu sein braucht: denn „[n]ur als
logische G esa mt he i t läßt sich die Reihe der Folgerungen auf die Anschauung beziehen
629 Vgl. PsF III, S. 538-547; vgl. auch ZER und DuI.
272
und an ihr bewähren und rechtfertigen.“ (PsF III, 540) Er vergleicht daher dieses
physikalische Denken mit dem sprachlichen Denken und erkennt dabei eine analoge
gedankliche Leistung, nämlich dass die Physik den Bereich der Darstellung oder der
Darstellbarkeit endgültig verlassen hat und die symbolische Dimension erreicht:
„Der Schematismus der Bilder ist dem Symbolismus der Prinzipien gewichen.Der empirische Ur s p r ung der modernen physikalischen Theorie ist durchdiese Einsicht natürlich nicht im mindesten angetastet. Aber die Physik handeltjetzt nicht mehr unmittelbar von dem Daseienden als dem inhaltlich-Wirklichen, sondern sie handelt von dessen »Gefüge«, von seiner formalenVerfassung.“ (PsF III, 547)
Damit stellt sich die Ordnung der Welt auch als eine von ‚Ereignissen‘ dar, nicht als ein
Beisammen von Dingeinheiten.630 Was man als letztes physisch-Reales definiert, hat in der
symbolischen Phase jeden Schein der Dinghaftigkeit von sich abgestreift. Das bedeutet
aber nicht den Verzicht auf die Dinglichkeit und die damit verbundene Objektivität der
Physik. Die Objektivität der Physik ist jetzt „kein Problem der Da rs t e l l ung , sondern sie
ist ein reines Bedeu t ungs pr ob l e m. Was wir den Gegenstand nennen, das ist nicht
länger ein schematisierbares, ein in der Anschauung realisierbares »Etwas« mit bestimmten
räumlichen und zeitlichen Prädikaten, sondern es ist ein rein gedanklich zu erfassender
Einheitspunkt.“ (PsF III, 554) Cassirer verweist an diesem Punkt auf sein Werk SuF und
betont wiederholt seinen Invariantsgedanken:
„Alles »Substantielle« ist hier rein und vollständig ins Funktionale umgewandt:das, wovon wahrhaft und endgültig »Beharrlichkeit« ausgesagt wird, ist keinDasein mehr, das sich im Raume und in der Zeit ausbreitet, sondern es sindjene Größen und Größenbeziehungen, die die universellen Konstanten fürjegliche Beschreibung des physikalischen Geschehens bilden. Die Invarianzsolcher Beziehungen, nicht die Existenz irgendwelcher Einzelwesen, bildet dieletzte Schicht der Objektivität.“ (PsF III, 554)
Somit bestätigt die naturwissenschaftliche Entwicklung für Cassirer, dass sich innerhalb
ihres eigenen Kreises ein allgemeines Aufbaugesetz des Geistes zeigt, nämlich die Energie
des Geistes, die symbolische Formung des Geistes.
Man stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum Cassirer von den ‚drei‘, nicht zwei oder
vier, Objektivitätsstufen oder den ‚drei‘ symbolischen Formen und den darauf basierenden
630 PsF III, S. 552: „Die Welt ist nicht mehr als eine Welt konstanter »Dinge« gefaßt, deren»Eigenschaften« in der Zeit wechseln, sondern sie ist zu einem in sich geschlossenen System von»Ereignissen« geworden.“
273
‚drei‘ Symbolfunktionen oder, wie oben, den ‚drei‘ Phasen der naturwisssenschaftlichen
Entwicklung spricht.
Die ‚Triade‘, die Cassirers philosophische Systematik in SuF und in PsF bildet, beruht auf
den drei ‚Basisphänomenen‘, nämlich dem Ich-Phänomen, dem Wirkens-Phänomen und
dem Werk-Phänomen. Im nachgelassenen Manuskript ‚Über Basisphänomene‘ in der
Schrift Zur Metaphysik der symbolischen Formen beruft sich Cassirer explizit auf Johann
Wolfgang Goethe und macht dessen drei Maximen 391 bis 393631 zum Ausgangspunkt
seiner Basisphänomene. Bei den Maximen geht es um einen „Aufbau des Lebens“, indem
Antworten auf die Fragen „nach der Art seines S e i n s und nach der Art, wie es uns selbst
und anderen e rkennbar ist“ und „nach der Art des Wi s s ens , die wir von ihm gewinnen
können“ gesucht werden (ECN 1, 123).
Cassirer sieht in den Maximen eine „dreifache G ra dabs t u fung“ und rekonstruiert aus
dem ‚Urphänomen‘ Goethes, nämlich aus dem Leben, dem Erlebten und den Handlungen
seine Basisphänomene von Ich, Wirken und Werk. ‚Leben‘ schreitet durch diese drei
Phänomene fort. Im ‚Ich-Phänomen‘ sei Leben in Form des ‚monadischen‘ Seins gegeben,
aber das Leben der Monas bleibe nicht in sich verschlossenes Dasein. Das Sein sei kein
Stehendes, sondern es sei eine strömende Bewegtheit des Bewusstseins. Es bezeuge sich in
Wirkung und Gegenwirkung: „Wir »erleben« nicht nur uns selbst, sondern wir erleben
etwas, das uns entgegensteht, widersteht – und aus diesem Wi de r s t and erwächst uns erst
das Bewusstsein vom Ge gen - S t and .“ (ECN 1, 134) Das Wirken und Handeln, also das
‚Wirkens-Phänomen‘ sei ein zweites wesentliches, konstitutives Moment in unserem
‚Wirklichkeitsbewusstsein‘. Und letztlich geht es im ‚Werk-Phänomen‘ um die Frage, wie
wir anderen kenntlich werden. Dies kann „nur durch die Ob je k t i v i e r ung , durch das
»Werk«, das wir schaffen“ möglich sein, und nur „in unserem Wer k sind wir andern
kennbar“ (ECN 1, 125). Die Sphäre der Werke sei der Durchgang und die eigentliche
631 ECN 1, S. 336 f. (Anm. 217): aus Goethe, Maximen und Reflexionen. 1907, S. 76 f.: „391. Das Höchste,was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas umsich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, isteinem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigenthümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andernein Geheimniß. 392. Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das Gewahrwerden, dasEingreifen der lebendig-beweglichen Monas in die Umgebungen der Außenwelt, wodurch sie sich erstselbst als innerlich Gränzenloses, als äußerlich Begränztes gewahr wird. Über dieses Erlebte können wir,obgleich Anlage, Aufmerksamkeit und Glück dazu gehört, in uns selbst klar werden; andern bleibt aberauch dieß immer ein Geheimniß.393. Als Drittes entwickelt sich nun dasjenige, was wir als Handlung und That, als Wort und Schriftgegen die Außenwelt richten; dieses gehört derselben mehr an als uns selbst, so wie sie sich darüberauch eher verständigen kann, als wir es selbst vermögen; jedoch fühlt sie, daß sie, um recht klar darüberzu werden, auch von unserm Erlebten soviel als möglich zu erfahren habe. Weßhalb man auch aufJugendanfänge, Stufen der Bildung, Lebenseinzelheiten, Anekdoten und dergleichen höchst begierigist.“
274
Vermittlung zur Sphäre des objektiven Seins. Aus dem ‚Werk-Bewusstsein‘ erwachse das
eigentliche ‚Sach-Bewusstsein‘.
Diese drei Basisphönomene oder Urphänomene sind für Cassirer die Quellen der
Wirklichkeitserkenntnis und „die Weisen, die M od i de r Ve r mi t t l ung selbst“ und
auch die „Fenster“ der Wirklichkeitserkenntnis (ECN 1, 132). Sie sind damit die
Basisphänomene der Wahrnehmung, die uns den Zugang zur Wirklichkeit eröffnen:
„Wahrnehmung ist das Einzige, was uns Wirklichkeit e rschliesst – wir ‚schliessen‘ nicht
(logisch-formal) von ihr auf Wirklichkeit – sondern sie ist das, was Wirklichkeit
aufschliesst“ (ECN 1, 118). Damit wird deutlich, dass die Wahrnehmung innerhalb
Cassirers philosophischen Systems eine sehr bedeutende Rolle spielt. Als tragende Einsicht
der Überlegungen Cassirers zu den Basisphänomenen zeigt sich nach Schwemmer
einerseits „der Wahrnehmungs- oder auch Erfahrungsbezug aller philosophischen
Erkenntnis“ und andererseits „die Notwendigkeit, diesen Erfahrungsbezug über seine
Partialität hinaus zu erweitern, zu totalisieren“.632
Cassirers terminologische Bezeichnungen der drei Basisphänomene können in Anlehnung
an Schwemmer in drei Gruppen eingeordnet werden. Die erste Gruppe ist die von
Bewusstseinsleben, in der Cassirer von Ich, Wirken und Werk spricht. Die zweite Gruppe
ist die von Ich, Du und Es oder die des ‚Selbst‘, des ‚Anderen‘ (des Fremdpsychischen)
und der ‚Welt‘ (objektive Wirklichkeit), die mit der Gruppe von ‚Intuition‘, ‚Aktion‘ und
‚Kontemplation‘ verbunden wird. Die letzte Gruppe ist die von ‚Ausdruck‘, ‚Darstellung‘
und ‚Bedeutung‘.633
Somit ist deutlich geworden, warum Cassirer in seinem Werk PsF nur drei symbolische
Formen, Mythos, Sprache und theoretische Erkenntnis, aufgenommen hat. Man kann
festhalten, dass Cassirer unter anderem die drei symbolischen Formen für typische
‚Formen‘ der Objektivierungsstufen der Erkenntnis hält und diese auf den drei
Basisphänomenen beruhen.
632 Schwemmer (1997), S. 201.633 Vgl. Schwemmer (1997), S. 205. Schwemmer merkt auch an, dass die letzte Gruppe nur gelegentlich
und mit gewissen Einschränkungen zu Cassirers Interpretation der drei Basisphänomene benutzt wird.
275
Resümee
Die Begriffsbildung in der aristotelischen traditionellen Logik ist dadurch gekennzeichnet,
dass der allgemeine Begriff durch die Klassifikation von Gattungen und Arten gewonnen
wird, wobei nur die Ähnlichkeit der Merkmale zwischen ‚Dingen‘ berücksichtigt wird.
Durch diese Klassifikation entsteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang
des Begriffs, das letztlich zu einem inhaltsärmeren Allgemeinbegriff, dem allgemeinen
Gattungsbegriff führt, und zugleich das Besondere seine spezifische Bedeutung verlieren
lässt. Der allgemeinste Begriff besitzt somit keine auszeichnende Eigentümlichkeit und
Bestimmtheit und führt folglich nicht zur Bestimmung der Gegenstände. In der
aristotelischen traditionellen Logik erhebt er trotz seiner Inhaltsarmut dennoch Anspruch
auf die ganze Wirklichkeit, welche sich letztlich als eine Wirklichkeit der ‚Substanz‘
herausstellt. Den Substanzbegriff in der traditionellen Logik interpretiert Cassirer als
‚Dingbegriff‘, als ‚Abbild‘ der sinnlichen Gegenstände und deshalb lehnt er ihn und seinen
Begriffsrealismus strikt ab. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Cassirers
Augenmerk in seiner Kritik am ‚Substanzbegriff‘ besonders auf die ‚dingliche‘
Substanzauffassung gerichtet ist.
Dem substantiellen Gattungsbegriff stellt Cassirer in SuF seinen Funktionsbegriff
gegenüber, um durch ihn die gegenständliche Geltung der Erkenntnis und damit deren
Objektivität gewinnen zu können. Der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff soll die
Besonderheiten der Inhalte achten und die Zusammenhänge dieser Besonderheiten als
notwendig erweisen. Darüber hinaus soll er eine universelle Regel für die Verknüpfung des
Besonderen bereitstellen, die dadurch gewonnen wird, dass man das Allgemeine und das
Besondere unter Korrelation betrachtet. Letztlich soll sich der allgemeine Begriff als der
inhaltsreichere erweisen.
Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie in SuF gleicht dem Zuordnungs- und
Gesetzesbegriff, der die naturwissenschaftliche Begriffsbildung kennzeichnet. Dabei
erkennt Cassirer, dass dieser Begriff der allgemeinen Form des ,Begriffs überhaupt‘ nicht
genügen kann und eine ‚kritische Revision‘ benötigt. So ist der Symbolbegriff in PsF eine
erweiterte, revidierte Form des Begriffs, die sowohl für die Geisteswissenschaften als auch
für die Naturwissenschaften, also für die allgemeine Begriffsform steht. Dieser
Symbolbegriff wird in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion,
gebildet und erreicht in der letzten Stufe seinen höchsten Grad der Objektivität.
276
Hervorzuheben ist die Rolle der Wahrnehmung bei dieser Begriffsbildung, deren Funktion
Cassirer im Prozess des Erkennens von Anfang an als einen Urteilsakt interpretiert.
Charakteristisch für Cassirers Begriffstheorie ist, dass es dieser Theorie nicht um den
Begriff an sich, sondern um die Begriffsbildung und die ‚Begriffslogik‘ der
gegenständlichen Erkenntnis geht. Die Begriffslogik bemüht sich, die Beziehung, die
Korrelation zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Bewusstsein und
Gegenstand offenzulegen und die Frage zu klären, wie das ‚Ich‘ die ‚Welt‘ aufnehmen,
verstehen und zur Wahrheit des Wissens gelangen kann.
Der an Poncelet anschließende Korrelationsgedanke Cassirers (vgl. 3.3.3, 150) tritt bei der
Begriffsbildung deutlich hervor, insofern als die Korrelation zwischen ‚Begreifen‘ und
‚Beziehen‘ als die reine Form des Gedankens verstanden wird. Der Begriff soll eine
bestimmte Richtung vorgeben und den ‚Gesichtspunkt‘ angeben, unter dem eine
Mannigfaltigkeit von Inhalten gefasst wird. Er bedeutet für Cassirer nicht nur ein gebahnter
Weg, sondern bildet auch eine Methode, ein Verfahren der ‚Bahnung selbst‘.
In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diese Hauptgedanken Cassirers
herauszuarbeiten. Während der Analyse des Symbolbegriffs ist deutlich geworden, dass es
sich bei diesem Begriff um einen komplexen Begriff handelt, der eigentlich unsere
Tätigkeit des Geistes repräsentiert. Insgesamt unterlag die Untersuchung der
Einschränkung, dass Leibnizens Einfluss auf den Symbolbegriff und die Zeichentheorie
nicht im gewünschten Umfang berücksichtigt werden konnte, da dies allein ein
umfangreiches Unternehmen ist, das über den eigentlichen Rahmen der Arbeit
hinausgegangen wäre.
Cassirer erklärt die Funktion des Symbolbegriffs mit der des Zeichens, wobei auch das
Zeichen über die drei Dimensionen der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion
stufenweise Objektivität erreichen soll. Während der Untersuchung stellte sich heraus, dass
die Funktion des Zeichens unerwartet nach und nach an Bedeutung gewann. Cassirers
Zeichentheorie ist nicht eine, die durch sprachliche Semiotik geklärt werden kann,
vielmehr basiert sie auf den wissenschaftlichen Theorien von Helmholtz und Hilbert. Es
muss an dieser Stelle jedoch eingeräumt werden, dass in der vorliegenden Arbeit die
Zeichentheorie nur in dem Umfang berücksichtigt wurde, wie es für die eigentliche
Untersuchung notwendig war. Eine vollständige Untersuchung über Cassirers
Zeichentheorie kann eine Aufgabe für die Zukunft sein, da die Forschung über selbige noch
am Anfang steht.
Die Wahrnehmungstheorie, deren besondere Bedeutung sich im Zuge der Untersuchung
277
der Symbolfunktion herauskristallisierte, nimmt innerhalb Cassirers Begriffstheorie einen
wichtigen Platz ein. Seine Kritik an Kants ‚Wahrnehmungsurteil‘ macht seinen Standpunkt
deutlich. Während Kant zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil unterscheidet,
verknüpft Cassirer die Funktion der Wahrnehmung eng mit der Symbolfunktion, worin für
ihn eine grundlegende Funktion der Erkenntnis liegt. In seinen nachgelassenen Schriften
wird deutlich, dass die Phänomenologie der Wahrnehmung, die er in PsF betont, mit den
‚Basisphänomenen‘ zusammenhängt. Ausgehend von Goethes Maximen erläutert Cassirer
die mit Wahrnehmung zusammenhängende geistige Tätigkeit und die Denkleistung
innerhalb der Wissenschaften, wobei sich die drei Stufen der Objektivität der Erkenntnis
deutlich zeigen. Bild, Schema und Symbol sind die Begriffe, die für die drei Stufen der
Begriffsbildung stehen und die drei symbolischen Formen, Mythos, Sprache und
wissenschaftliche Erkenntnis in PsF kennzeichnen.
Die gegenwärtige Forschung über Cassirer zeigt zum einen, dass diese noch lange nicht
abgeschlossen ist und zum anderen, dass sich ihre Hauptrichtung dadurch auszeichnet,
Cassirers Philosophie als eine Kulturphilosophie aufzufassen. Dennoch vermisst man, dass
Cassirers Erkenntistheorie als Teil dieser Kulturphilosophie angesehen wird. An dieser
Stelle muss nochmal betont werden, dass sein philosophischer Grundgedanke ohne Bruch
von der Erkenntniskritik, dem Erbe aus der Marburger Schule, bis zur späteren
Kulturphilosophie erhalten bleibt. Dies macht auch Cassirers holistische Auffassung der
Wissenschaften deutlich.
Demgegenüber weisen die Kritiker, die von unterschiedlichen Standpunkten aus an
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben, auf unterschiedliche Mängel
hin (vgl. Einleitung, 6; 3.4.2, 176 f; 3.5.2.2; 3.6 ). Wie Bermes bereits anmerkt, werfen die
Kritiker Cassirer auch vor, dass „die Auswahl der empirischen Beispiele willkürlich ist, die
Argumentationsebenen nicht klar getrennt werden, das Verhältnis von Logik und Sprache
nicht genau besprochen wird und Cassirer in die Nähe psychologistischer Auffassungen
gerät“.634 Wie in der Kritik an der symbolischen Prägnanz (3.5.2.2) und am Symbolbegriff
(3.6) gezeigt wurde, basierten manchmal aber kritische Bemerkungen auf
Missverständnissen. Der Betrachtungsweise der meisten Kritiker ist gemeinsam, dass sie
von ihren festen Standpunkten aus, ohne dabei andere Aspekte zu berücksichtigen, an
634 Bermes (1997), S. 169. Bermes verweist auf Orth (1985), S. 173; Göller (1986) S. 125 f.; Graeser(1994), S. 135; Wolandt (1964), S. 626; Strauss (1984), S. 30. Michael Strauss weist zudem darauf hin,dass bei Cassirer die „Art der Identität zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem [...] nicht genügendgeklärt“ ist und die „Dichotomie Rezeptivität–Spontaneität [...] nicht überwunden“ wird. Darüber hinausführt er an, dass dieser nicht gezeigt habe, „wie der Ausdruck eine Verbindung zwischen Symbol undSymbolisiertem und zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellen kann“.
278
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben. Auch die Kritik am
Funktionsbegriff (2.3) zeigt, dass dies der Fall ist. Man möchte mit Cassirers Worten
anmerken, dass das „‚Verstehen von Ausdruck‘ [...] wesentlich früher als das ‚Wissen von
Dingen‘“ ist (PsF III, 74).
Volker Gerhardt hebt am Schluss seines Aufsatzes Die Einheit des Wissens Cassirers
holistische Auffassung hervor. Cassirer hatte es nicht nötig, wie Gerhardt betont, „gegen
den Geist zu polemisieren, um dennoch den Begriff der Kulturwissenschaften zu
favorisieren“.635 Man kann nach Gerhardt die Kulturwissenschaften bei Cassirer, wie in
Essay on Man gezeigt, als Humanwissenschaften bezeichnen. Die Studien Cassirers zur
Relativitätstheorie, zum Erkenntnisproblem innerhalb der Wissenschaften sowie seine
Untersuchungen in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik haben
deutlich gamacht, „dass Wissenschaft letztlich darauf beruht, keine festen Grenzen zu
akzeptieren“.636
Bei Cassirers Theorie des Begriffs geht es im Grunde genommen um die Erweiterung des
Wissens durch die Funktion der Begriffe, die gemäß den Stufen der Objektivierung
gebildet werden und somit um die kontinuierliche Entwicklung der Wissenschaften. Mit
der Hervorhebung der ‚Aktivität‘ oder ‚Tätigkeit‘ des Geistes, indem seine Gedanken oft
auf Platons Ideenlehre zurückgreifen, will Cassirer eine Phänomenologie der Erkenntnis,
die auf ‚Basisphänomene‘ basiert, aufstellen.
635 Gerhardt (2007), S. 14.636 Gerhardt (2007), S. 14.
279
B i b l i o g r a p h i e
1. Werke Ernst Cassirers
AuK : Aristoteles und Kant. In: Kant-Studien 16 (1911), S. 431-447.
BmD : Die Begriffsform im mythischen Denken. Studien der Bibliothek Warburg.Herausgegeben von Fritz Saxl. Leipzig/ Berlin, 1922. Auch in WWS, S. 1-70.
BsF : Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In:Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-22. Leipzig, 1923. Auch in WWS, S. 169-200. Zitiert nach WWS.
CG : The Concept of Group and the Theory of Perception. In: Philosophy andPhenomenological Research vol. V (1944), pp. 1-35. Translated from Le Conceptde Groupe et la Théorie de la Perception. In: Journal de Psychologie, Juillet-Decembre 1938 (S. 368-414).
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Lebenslauf
1955: Geboren in Taegu, Süd Korea
1970 – 1973: Kyungbuk Girls’ High School in Taegu
1973 – 1978: Studium der Anglistik (inklusive Lehramt ) an der
Yeungnam University in Kyungsan, Kyungbuk
1981 – 1984: Magisterstudium der Philosophie an der Yeungnam
University, Graduate School in Kyungsan, Kyungbuk
1978 – 1987: Tätigkeit als Englischlehrerin
1989 – 1993: Studium der Philosophie, Anglistik und Koreanistik
an der Ruhr-Universität Bochum
1993 – 1997: Lektorin für Koreanisch an der Ruhr-Universität Bochum,
Fakultät für Ostasienwissenschaften (Wissenschaftliche An-
gestellte)
1998 – 2009: Studium der Philosophie, Anglistik und Koreanistik
an der Ruhr-Universität Bochum (Promotion )