Gerda Holz:
Armut und Armutsprävention bei Kindern – Forschungs- und Praxisansätze
in Deutschland
Vortrag anlässlich der Bieler Tagung der EKKJ am 03.11.2006 in Biel/Schweiz
Schwerpunkte
Ergebnisse aus Forschung und Praxis Betroffenheit und Risiken Wie wird Armut bei Kindern sichtbar und messbar? Armutsfolgen bei Kindern Aufwachsen zwischen Wohlergehen und Multipler Deprivation Schutzfaktoren
Maßnahmen der sozialen Gegensteuerung und Handlungsansätze Bundesebene: strukturelle Verschlechterung – punktuelle Verbesserung Landesebene: Qualifizierung der Arbeit – schlechte Rahmenbedingungen Kommune: Punktuelle Projekte und strukturelle Neuorientierung Träger: Sensibilisierung und Problematisierung
Betroffenheit und Risiken!
Kinder ... arme Kinder ...
In Deutschland leben etwa ... 15,0 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren 2 Mio. (= jedes/r 7.) in relativer Armut 1,1 Mio. (= jedes/r 15.) von Sozialhilfe
(Stand 31.12.2004)
12,2 Mio. Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren über 1,7 Mio. (= jedes/r 7.) von Sozialgeld
(Stand 31.07.2006)
Quelle: Statistisches Bundesamt: versch. Jahrgänge; Bundesagentur für Arbeit 2006
Einen Migrationshintergrund haben …
ca. 6 Mio. unter 25-Jährige = 27,2 % Knapp die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und ist nicht
selbst zugewandert 32,5 % der unter 6-Jährigen
davon wurden mehr als 90 % in Deutschland geboren 29,2 % der 6- bis unter 10-Jährigen
davon wurden mehr als 80 % in Deutschland geboren 26,7 % der 10- bis unter 16-Jährigen
davon wurden mehr als 70 % in Deutschland geboren
Die größten Gruppen – Alle Altersgruppen (82,4 Mio. Menschen) Sonstige ehemalige Anwerbestaaten, primär ehem. Jugoslawien (3,6 %) Türkei (3,4 %) (Spät-)AussiedlerInnen (2,5%)
Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland. Gütersloh 2006, S. 141; 143
Zentrale Ursachen und Risiken
Erwerbsprobleme, z.B. (Langzeit-)Erwerbslosigkeit Niedrigeinkommen Working poor Hartz-IV-Bezug
Soziale Probleme, z.B. Überschuldung Trennung/Scheidung Behinderung/Krankheit Multiproblemlage
Migration
Allein erziehend
Bildung
Sozialraum
Wie wird Armut bei Kindern sichtbar und messbar ?
Das kindbezogene Armutskonzept:Betrachtungsdimensionen und Typisierung
Familiäre Armut (einkommensorientiert)
Erscheinungsformen von Armut
beim Kind bzw. Jugendlichen
Ressourcen in den verschiedenen Bereichen,
Bewältigungsstrategien
Unterver-
sorgung im kulturellen
Bereich
Defizite im sozialen Bereich
Psychische oder
physische Beeinträchti-
gungen
Materielle Unterver- sorgung
Quelle: Hock/Holz/Wüstendörfer: Folgen familiärer Armut im frühen Kindesalter 2000: 18.
Das kindbezogene Armutskonzept:Armut im Kindesalter zwischen „Wohlergehen“ und „multipler Deprivation"
Keine Probleme Keine aktuelle Beeinträchtigung/ Gute Zukunftschancen
Ressourcen Einschränkung in Gegenwart/ überwiegen Zukunft in wenigen Bereichen
Probleme Benachteiligung in Gegenwart/ überwiegen Zukunft in vielen Bereichen
Wohlergehen
Multiple Deprivation
Benachteiligung
Armutsfolgen bei Kindern zwischen 6 und 10 Jahren
Lebenslagen von armen und nicht-armen Vorschulkindern im Vergleich - 1999
Anteil armer und nicht-armer Kinder mit Defiziten
Lebenslagedimension Arme Kinder Nicht-arme Kinder
Grundversorgung (n = 220 arm; 598 nicht-arm)
40,0 % 14,5 %
Gesundheit (n = 225 arm; 640 nicht-arm)
30,7 % 19,7 %
Kulturelle Lage (n = 223 arm; 614 nicht-arm)
36,0 % 17,0 %
Soziale Lage (n = 219 arm; 618 nicht-arm)
35,6 % 17,6 %
Auf- oder abgerundete Angaben Quelle: „Armut im Vorschulalter“ 1999, Berechnungen des ISS
Zehnjährige mit Defiziten in den Lebenslagedimensionen und nach familiärem Einkommensniveau – 2003/04
Arme Kinder
Nicht-arme Kinder Lebenslagedimension
(< 50 %)
Prekärer Wohlstand
(50 % – 75 %)
Unterer Durchschnitt
(75 % – 100 %)
Oberer Durchschnitt
(> 100 %)
Materielle Lage/ Grundversorgung
51,6 % 9,2 % 5,3 % 0,0 %
Kulturelle Lage 37,7 % 19,0 % 9,5 % 3,6 %
Soziale Lage 34,6 % 16,0 % 15,8 % 3,6 %
Gesundheitliche Lage 25,8 % 23,3 % 21,1 % 8,4 %
N = 500 159 163 95 83
Quelle: „Armut im späten Grundschulalter 2003/04“; eigene Berechnung
Aus: Richter, Antje (2000): Wie erleben und bewältigen Kinder Armut?
Aus: Richter, Antje (2000): Wie erleben und bewältigen Kinder Armut?
Kindspezifische Lebenslagen von Vorschulkindern - 1999
Lebenslagetyp Arme Kinder Nicht-arme Kinder Gesamt
Wohlergehen 23,6 % 46,4 % 40,2 %
Benachteiligung 40,3 % 39,8 % 40,0 %
Multiple Deprivation 36,1 % 13,7 % 19,8 %
Gesamt 100,0 % 100,0 % 100,0 %
Wohlergehen = Keine aktuelle Beeinträchtigung, gute Zukunftschancen Benachteiligung = Einschränkung in der Gegenwart/Zukunft in wenigen Bereichen Multiple Deprivation =Benachteiligungen in Gegenwart/Zukunft in vielen Bereichen
Quelle: „Armut im Vorschulaleter 1999“. Berechnungen des ISS
Dynamik der kindbezogenen Lebenslagetypen bei den Kindern der AWO-ISS-Studie – 1999 und 2003/04
Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“, „Armut im späten Grundschulalter 2003/04“. Berechnungen des ISS.
MultipleDeprivationN = 84
BenachteiligungN = 193
WohlergehenN = 223
36 = (42,9 %)
35 = (41,7 %)
63 = (32,7 %)
87 = (45,1 %)
43 = (22,3 %)
94 = (42,2 %)
110 = (49,3 %)
Lebenslagetyp 1999 Lebenslagetyp 2003/04
13 = (15,5 %)
19 = (8,5 %)
Gibt es Schutzfaktoren, die die Folgen von Armut bei
Kindern mindern?
Schutzfaktoren
Sind Merkmale, die die potentiell schädlichen Auswirkungen von Belastungen vermindern oder ausgleichen
Es finden sich zwei Gruppen von Schutzfaktoren Personale Ressourcen = Resilienz
d.h. protektive Faktoren, die in der Person des Kindes liegen Soziale Ressourcen
d.h. Schutzfaktoren, die in der Betreuungsumwelt des Kindes und hier wiederum– innerhalb der Familie– außerhalb der Familieliegen.
Was fördert das Aufwachsen von Kindern im Wohlergehen?
Zu den Schutzfaktoren zählen u.a.
Individuelle Faktoren, z.B Kognitive Ressourcen Selbstsicherheit, Selbstachtung Individuelle soziale Kompetenzen Interesse und Aufmerksamkeit
Familiale Faktoren, z.B. Stabile und gute emotionale Beziehung
zu Eltern in den ersten Jahren Positives Familienklima Regelm. gemeins. Familienaktivitäten Kindzentrierter Alltag Frühe Eigenverantwortung, aber Eltern
als „moralische Instanz“ Problemlösungskompetenz der Eltern Gefühl der Eltern, ihre (Armuts-)
Situation zu bewältigen Berufstätigkeit der Eltern
Außerfamiliale Faktoren, z.B. Unterstützung durch Dritte
(Familie, Freunde, Nachbarschaft) Erholungsräume für Kinder + Eltern Vertraute Institutionen/Fachkräfte, die
professionelle Hilfen eröffnen Möglichkeit zum Erproben, Lernen und
zur personalen Entwicklung von Kompetenzen (Vereine, Jugendhilfe)
Früher KiTa-Besuch Gelingende Schulische Integration Schulische Förderung und Erfolge Gelingende soziale Integration in Peers
Keine Armut der Familie Ein ausreichendes Einkommen Keine Überschuldung
Maßnahmen zur sozialen Gegensteuerung
und Handlungsansätze in der Praxis!
Die zwei entscheidenden Ebenen
1. Focus = Strukturelle Armutspräventiond.h., Veränderung von Verhältnissen oder: Gibt es strukturelle Einflussfaktoren und Handlungsansätze, die die Wirkung von Armut bei Kindern verhindern bzw. auffangen?
2. Focus = Individuelle Förderung und Stärkungd.h., Veränderung von Verhalten oder: Gibt es Schutzfaktoren, die die Wirkung von Armut bei Kindern verhindern bzw. auffangen?
Strukturelle Handlungsansätze
Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer Familienfreundliche Unternehmen Flexible und verlässliche Betreuung Vorrang von Erwerbstätigen/-suchenden (Arbeitsvermittlung, Kinderbetreuung)
Staatliche(r) Familienförderung / Familienlastenausgleich Ehegatten- vs. Familiensplitting Kindergelderhöhung vs. Ausbau der Infrastruktur für Kinder
Kindergeld orientiert an tatsächlichen Kinderkosten ????? Tageseinrichtungen für Kinder – Rechtsanspruch (ganztags, kostenfrei usw.) Schulen (ganztags, Bildungserfolg, Breiten- und/oder Begabtenförderung)
Schutz von Kindern Kindeswohlsicherung = Frühwarnsysteme Individuelle Förderung durch Bildung und (Schul-)sozialarbeit Gesundheitssicherung/-prävention im Rahmen der Gesundheitsversicherung Eigenständige Grundsicherung ?????
Armutsrisikoquote 2003 vor und nach Familienleistungsausgleich und Sozialtransfer
Quelle: Fraunhofer Institut, EVS, 1. Halbjahr 2003; nach: 2. Armuts- und Reichtumsbericht 2005
Handlungsansätze zur individuellen Förderung und Stärkung (1)
Ansätze in Einzelbereichen Ausbau der Bildungsförderung
(z.B. Bildungspläne im Elementarbereich) Ausbau der Sprachförderung
(z.B. Kinder mit Migrationshintergrund im letzten KiTa-Jahr) Ausbau der Gesundheitsförderung/-prävention
(z.B. Ernährung, Bewegung, Gesunde KiTa, Gesunde Schule) Qualifizierung von Fachkräften und Maßnahmen
(z.B. Handreichungen, KiTa-Preis 2006 der Bertelsmann-Stiftung) Förderung bürgerschaftlichen Engagements
(z.B. Patenschaften in Augsburg) Förderung von Niedrigschwelligkeit und Vernetzung
(z.B. Projekte wie HIPPY, Rucksack, Stadtteilprojekte)
Handlungsansätze zur individuellen Förderung und Stärkung (2)
Komplexere Konzepte Armutsprävention als kommunale Strategie
(z.B. Mo.Ki – Monheim für Kinder) Armutspräventionskette von Geburt bis zum
erfolgreichen Berufseinstieg (z.B: AWO Niederrhein, Stadt Augsburg)
Soziales Frühwarnsystem (z.B. Modell des Landes NRW)
KiTa als Familienzentrum im Sozialraum (z.B. Deutscher Kinderschutzbund)
Förderprogramme für benachteiligte Sozialräume (z.B Programm Soziale Stadt oder E&C - Entwicklung und Chancen)
Meine Damen und Herren,
herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit !