Sprache und Sprachwandel im 20. Jahrhundert Annatina Seifert
Wintersemester 2002 / 2003 5. Semester
Prof. Christa Dürscheid Feldmoosstrasse 3
Thema: Politische Sprache 8800 Thalwil
Politische Sprache – Theoretische Überlegungen
und Analyse einer
Bundesratserklärung vom
25. Juni 1940
Thalwil, den 31. März 2003
2
1. Einleitung 03
2. Theoretische Aspekte 04 2.1 Funktionen politischer Sprache und ihr Verhältnis zum politischen
System 04
2.2 Ziel und Nutzen der sprachwissenschaftlichen Analyse politischer
Reden 07
2.3 Die Bundesratserklärung 08
3. Beispielanalyse: Die Pilet-Rede 09 3.1 Geschichtlicher Hintergrund und konkret-historische Situation 10
3.1.1 Die Weltlage und die Situation der Schweiz 10
3.1.2 Die konkret-historische Situation und die Person Pilet-Golaz‘ 11
3.2 Linguistische Analyse der Pilet-Rede 12 3.2.1 Schlüsselbegriffe 12
3.2.2 Rhetorische Figuren 14
3.2.2.1 Lexikalische Figuren 14
3.2.2.2 Syntaktische und gedankliche Figuren 16
3.2.3 Argumentationsanalyse 18
3.3 Wirkung und Redekritik 19
4. Schluss 22
Bibliographie 25
Anhang: Radioansprache von Pilet-Golaz 28
3
1. Einleitung „Es waren mutige, nach aussen würdig, nach innen väterlich klingende Worte [...]“ (National-
Zeitung, 26. Juni 1940). „Der Bundesrat möge uns in einer klaren und weniger blumenreichen
Sprache sagen, was er will [...]“ (Berner Tagwacht, 27. Juni 1940.) „[...] wirklich kraftvollen
Äusserungen unserer Landesbehörde [...]“ (Leserbrief in der Neuen Zürcher Zeitung, 29. Juni
1940.) „Im ganzen hätte die bundesrätliche Rede über das Zu-viel-Reden kürzer sein können
und dafür aufschlussreicher.“ (Berner Tagwacht, 26. Juni 1940.) - Widersprüchlicher als diese
Kommentare zu einer Radioansprache vom 25. Juni 1940, gehalten vom damaligen
schweizerischen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz1, könnten die Pressereaktionen auf
eine Politikerrede kaum sein.
Solch unterschiedlichen Deutungen stellen keinen Einzelfall dar, sondern sind für politische
Reden symptomatisch. Weshalb diese Widersprüche und unterschiedlichen Interpretationen
ein und derselben Rede? Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte in der sprachlichen
Realisierung der Rede gesucht und – wie ich in dieser Arbeit zu zeigen versuchen werde –
gefunden werden.
Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Rede eines Politikers nicht von allen Rezipienten
gleich interpretiert wird. Da sich politische Kommunikation im Allgemeinen und die Form
der politischen Rede im Besonderen primär in sprachlicher Form konstituiert, beschäftigt sich,
neben anderen Wissenschaften wie der Soziologie oder der Politologie, auch die
Sprachwissenschaft mit diesem komplexen Bereich: Ein Zweig der angewandten Linguistik,
die sogenannte Politolinguistik2, beschäftigt sich mit der Analyse, Kategorisierung,
Typisierung, Dokumentation und Kritik der Sprache der Politik. Im Rahmen dieser
empirischen Forschungsrichtung möchte ich mich mit der Problematik politischer Sprache
auseinandersetzen. In einem ersten Teil werde ich einige theoretische Aspekte der politischen
Sprache untersuchen und dabei Fragen nach den Funktionen der politischen Sprache, nach
ihrem Verhältnis zum politischen System und nach dem Ziel und Nutzen
sprachwissenschaftlicher Beschäftigung mit politischen Texten zu klären versuchen. Die
Beschreibung der Eigenschaften einer speziellen Form politischer Kommunikation, nämlich
der Bundesratserklärung3, schliesst dieses Kapitel ab und leitet zum zweiten Teil über. Dieser
1 Im Folgenden werde ich diese Rede als Pilet-Rede bezeichnen. 2 Bezeichnung nach Burkhardt (1996): Bereich der Sprachwissenschaft, der sich mit der Erforschung von Sprache und Rede in der Politik beschäftigt. Wird teilweise auch Sprache-und-Politik-Forschung genannt. (Girnth, 2002) 3 Synonym zu dem Begriff ‚Bundesratserklärung‘ werde ich ‚Regierungserklärung‘, ‚Bundesratsansprache, ‚Bundesratsrede‘, ‚Regierungsrede‘, ‚bundesrätliche Ansprache‘, ‚bundesrätliche Rede‘ oder ‚Regierungsansprache‘ gebrauchen.
4
versteht sich als Versuch, die eingangs erwähnte Bundesratsansprache vom 25. Juni 1940
linguistisch zu analysieren und die im ersten Teil erarbeiteten theoretischen Grundlagen
anzuwenden.
2. Theoretische Aspekte 2.1 Funktionen politischer Sprache und ihr Verhältnis zum
politischen System Als Einstieg in die Thematik der „politischen Sprache“ möchte ich die Frage aufgreifen, was
eigentlich „politische Sprache“ bedeutet, in welchem Verhältnis sie zum politischen System
steht und welche Funktionen sie darin innehat.
Gemäss einer Definition von Armin Burkhardt (1996) beinhaltet der Begriff „politische
Sprache“ „alle Arten öffentlichen, institutionellen und privaten Sprechens über politische
Fragen, alle politiktypischen Textsorten, sowie jede für das Sprechen über politische
Zusammenhänge charakteristische Weise der Verwendung lexikalischer und stilistischer
Sprachmittel“. (Burkhardt, 1996: 79) Dieser sehr weitgefasste Begriff von politischer Sprache
umfasst sowohl das Sprechen über Politik, sei es im privaten, sei es im öffentlichen Bereich
der Medien, als auch die Binnen- und Aussenkommunikation der Politiker.
Da der Ausdruck „politische Sprache“ den Begriff „Politik“ impliziert, möchte ich den meiner
Arbeit zugrundeliegende Politikbegriff ebenfalls kurz definieren. Ich schliesse mich Lübbe
(1975: 107) an, der Politik als „die Kunst im Medium der Öffentlichkeit
Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen“ versteht, also eine sehr eng gefasste, stark
kommunikationsorientierte Definition des Begriffs „Politik“ favorisiert. Konstitutive
Merkmale eines solchen Politikbegriffes sind demnach persuasive Fähigkeiten der Politiker
und das Gebundensein an die Institution der Öffentlichkeit. In die gleiche Richtung geht
Dieckmanns Definition: Er bestimmt Politik als „staatliches oder auf den Staat bezogenes
Reden.“(Dieckmann, 1975: 29) Dass es, ich möchte sagen: leider, neben sprachlichem auch
noch andere Formen politischen Handelns, wie zum Beispiel Gewalt, gibt, schliesse ich nicht
aus, ist aber für diese Arbeit nicht relevant.
Die Definitionen von Lübbe und Dieckmann führen uns direkt zur Frage nach dem Verhältnis
zwischen Sprache und Politik. Die Forscher4 sind sich weitgehend einig darüber, dass Politik
4 Für die Bezeichnung „Forscher und Forscherinnen“ und ähnliche Wendungen wird in der Folge einfachheitshalber nur die männliche Form verwendet. Die Weibliche ist dabei aber selbstverständlich immer mitgemeint.
5
ohne Sprache nicht denkbar ist. Rau formuliert dies so: „(Sprache [meine Hinzufügung])
spielt in der Politik eine zentrale Rolle. (Sie ist eine [meine Hinzufügung]) der
Grundbedingungen für alle Politik.“ (Rau, 1996: 19) Schily geht sogar noch weiter und
postuliert, dass Politik „auf Sprache angewiesen“ ist und „nur durch Sprache existiert“
(Schily, 2000: 126) Ob jedoch politisches Handeln mit sprachlichem Handeln gleichgesetzt
werden darf, ist in der Forschung umstritten. Während Politolinguisten, vor allem in
Anlehnung an sprachhandlungsorientierte Ansätze, dazu tendieren, politische Tätigkeit mit
sprachlicher Tätigkeit gleichzusetzen, weisen Politikwissenschaftler sprachlichem Handeln in
der Politik eine untergeordnete Rolle zu.5 (vgl. Girnth, 2002: 2) Ich bin nicht in der Lage,
diese kontroverse Frage zu entscheiden, gehe jedoch im Folgenden davon aus, dass der
Sprachgebrauch in der Politik die Voraussetzung für ein gemeinsames Handeln schafft, bzw.
ein Teil dieses politischen Handelns darstellt.
Wie wir gesehen haben, besteht zwischen einem politischen System und der darin zur
Anwendung kommenden politischen Sprache eine enge Wechselwirkung. Süssmuth drückt
dies folgendermassen aus: „Insofern ist der öffentliche Sprachgebrauch immer auch
Seismograph des Zustandes unseres demokratischen Gemeinwesens. Er ist Ausweis der
Freiheit des einzelnen wie gesellschaftlicher Gruppen in der parlamentarischen Demokratie.“
(Süssmuth, 1996: 17) Vergleicht man demokratische Gesellschaften mit autoritären Regimes,
wird schnell deutlich, dass sich die elementaren Unterschiede dieser beiden
Regierungsformen auch in der jeweiligen politischen Sprache niederschlagen. Die
Unterdrückung und Gleichschaltung wird in totalitären Regimes auch sprachlich realisiert:
„So haben die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung nicht ohne Grund auch
sprachliche Zwangsmassnahmen ergriffen, haben die Verwendung bestimmter
Bezeichnungen erzwungen, den Gebrauch anderer Ausdrücke unter Strafe gestellt. [...] (Auch
[meine Hinzufügung]) in der damaligen DDR (gab es [meine Hinzufügung]) durchaus
massive Versuche einer Sprachlenkung der Bevölkerung durch ideologisch-terminologische
Indoktrination.“ (Süssmuth, 1996: 17) Während also in einem totalitären System auch die
öffentlich-sprachliche Freiheit eingeschränkt ist, zeichnet sich eine pluralistische Demokratie
genau dadurch aus, dass sie „durch heterogene Begriffe und Konzepte der einzelnen
gesellschaftlichen Gruppen wie ihrer Dispute und Kontroversen um die Verwendung
bestimmter Begriffe geprägt ist.“ (Süssmuth, 1996: 17)
5 Geht man nämlich davon aus, dass politisches Handeln mit sprachlichem Handeln identisch ist, hört Politik dort auf, wo sie sprachlos wird. (vgl. Girnth, 2002: 2) Diese Position vertreten zum Beispiel Dieckmann (1975: 29) und Grünert (1974: 1)
6
Die Frage nach den Funktionen politischer Sprache wurde und wird von den Politolinguisten
verschieden beantwortet. Während bei Dieckmann (1981) die Funktion des öffentlich-
politischen Sprechens explizit darin besteht, „beim Adressaten, den Bürgern oder Teilgruppen
der Bürger, Zustimmung für politische Ziele, Programme, Massnahmen zu erlangen [...]“
(Dieckmann, 1981: 138), misst Klein (1995) der Persuasion weniger Gewicht bei und nennt
als erste Funktion der politischen Kommunikation, den Politikern und deren Parteien zu
politischem Erfolg zu verhelfen.(vgl. Klein 1995: 92) Nach der Grice’schen Theorie lautet die
Maximenformel für politisches Sprechen bei Dieckmann: Spreche so, dass du deine Zuhörer
überzeugst!6, bei Klein jedoch: Spreche so, dass du politisch erfolgreich bist und setze „soviel
Persuasivität (ein [meine Hinzufügung]), wie unter den gegebenen Umständen politisch
zweckmässig“ (Klein, 1995: 93) ist. Demzufolge lautet das oberste Ziel politischer
Kommunikation bei Dieckmann ‚Persuasion‘, bei Klein ‚politischer Erfolg‘. Für Klein ist die
Persuasion nur eines von mehreren Mitteln zur Erreichung dieses Ziels. Klein argumentiert,
dass der im Gefolge der neuen Medien wesentlich veränderte öffentlich-politische
Sprachgebrauch zwangsläufig auch andere Ziele verfolgt und nach anderen Kriterien verfährt,
als die antike Redekunst und deren Nachfolgetheorien.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit und die
politische Sprache sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Ich vertrete den Standpunkt,
dass die Sprache nicht nur irgendein Werkzeug der Politik ist, sondern diese erst ermöglicht,
da die Politik „durch Sprache entworfen, vorbereitet, ausgelöst, von Sprache begleitet,
beeinflusst, gesteuert, geregelt, durch Sprache beschrieben, erläutert, motiviert, gerechtfertigt,
verantwortet, kontrolliert, kritisiert, be – und verurteilt“ (Grünert 1983: 43) wird.
Obwohl in der heutigen Zeit das oberste Ziel aller Politiker politischer Erfolg ist und die
Sprache die Funktion hat, bei der Erreichung dieses Ziels mitzuhelfen, möchte ich doch
darauf hinweisen, dass die Persuasion nach wie vor die dominierende Funktion der politischen
Sprache darstellt. Denn letztendlich bedeutet politischer Erfolg nichts anderes als langfristig
wirksame Persuasion, sei es für konkrete Ziele, sei es für einzelne Kandidaten oder für
Parteiprogramme. Funktionen wie ‚informieren‘ oder ‚integrieren‘ sehe ich als Mittel zur
Erreichung der Persuasion an.
6 Dem liegt folgendes, von Grice formuliertes Kooperationsprinzip zugrunde: „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.“ (Grice1979: 248)
7
2.2 Ziel und Nutzen der sprachwissenschaftlichen Analyse
politischer Reden Die in der Einleitung zitierten Kommentare zur Pilet-Rede verdeutlichen, dass die politische
Sprache für den Bürger oft undurchschaubar, zweideutig oder schlicht unverständlich ist. Dies
hat widersprüchliche Deutungen ein und derselben Rede zur Folge, welche Verwirrung stiften
und dazu führen können, dass viele Bürger den Politikern mehr und mehr Aufmerksamkeit
und Vertrauen entziehen. Wenn der Staatsbürger einer Demokratie die Sprache der Politiker
nicht mehr versteht oder ihr prinzipiell nicht mehr vertraut, besteht die Demokratie nur noch
auf dem Papier, eine aktive Beteiligung des Bürgers am Staatsgeschehen ist nicht mehr
möglich. Johannes Bock (1982) formuliert diesen Missstand in seinem Buch Zur Inhalts- und
Funktionsanalyse der Politikerrede; Ein Beitrag zur Verbesserung der Kommunikation
zwischen Staatsbürger und Politiker folgendermassen: „[...] es (darf [meine Hinzufügung]) in
einer parlamentarische Demokratie nicht darum gehen [...], die politische Beteiligung des
Staatsbürgers auf formalisierte Wahlakte zu beschränken. Vielmehr erfordert eine politische
Partizipation des Bürgers auch die Fähigkeit, den direkten Repräsentanten des
Politikgeschehens, den Politiker, so gut zu verstehen, dass eine eigene Urteilsbildung und eine
Entscheidungsfindung für oder gegen eine Sache, für oder gegen den betreffenden Politiker
generell möglich werden.“ (Bock, 1982: 1) Zur Beseitigung dieses Problems, schlägt Bock
vor, dass „die politische Sprache für den einzelnen Bürger durchschaubarer, verstehbarer und
kritisierbarer gemacht werden“ (Bock, 1982: 1) sollte. Genau darin sehe ich die Hauptaufgabe
linguistischer Beschäftigung mit politischer Kommunikation. Indem wir Techniken, Prozesse
und Strategien des politischen Sprachgebrauchs offenlegen, ermöglichen wir eine objektivere
Beurteilung politischer Texte und helfen den Bürgern, eigene Entscheidungen in politischen
Belangen zu treffen. Keineswegs können linguistische Analysen verschiedenen
Interpretationen politischer Texte und Reden vorbeugen, da diese immer zu einem grossen
Teil von der jeweiligen Weltanschauung geprägt sind. Sie können jedoch jedem einzelnen das
Werkzeug in die Hand geben, die Interpretationen anderer in Frage zu stellen und eine eigene
Deutung zu versuchen. Man ist nicht mehr so leicht durch gekonnte Rhetorik zu beeinflussen.
Wer kennt das Gefühl nicht, den geschickten Formulierungen der Politiker wehrlos
ausgeliefert zu sein? Besonders bei politischen Fragen, die uns direkt betreffen, fällt es uns oft
schwer, uns ein adäquates Bild der Lage zu machen. Mir ist es schon oft so ergangen, dass ich
sowohl den Argumenten der Befürwortern einer politischen Streitfrage als auch jenen der
Gegner beipflichtete, da beide so geschickt und überzeugend vorgetragen wurden. Als ich
mich dann für die Pro- oder die Kontraseite entscheiden sollte, fiel mir dies äusserst schwer.
8
Kenntnisse über die rhetorischen Strategien und sprachlichen Mittel könnten in einem solchen
Fall helfen, eine rationale Entscheidung aufgrund möglichst objektiver Informationen zu
fällen.
Das Dekodieren von politischen Äusserungen fällt vielen schwer. Die Beispielanalyse der
Pilet-Rede im zweiten Teil dieser Arbeit wird zeigen, wie komplex ein solcher politischer
Text aufgebaut sein kann und wie schwierig seine Dekodierung für die damaligen Bürger
gewesen sein muss, welche die Ansprache nur einmal im Radio hörten. Zudem fehlte ihnen
die zeitliche Distanz, die das Durchschauen der Strategien ebenfalls erleichtert. Den Zweck
einer Analyse historischer Politikerreden sehe ich darin, den Sinn für die sprachliche
Komplexität solcher Reden zu schärfen, um auch aktuelle politische Sprechakte mit einer
gewissen wissenschaftlichen Distanz betrachten und analysieren zu können.
2.3 Die Bundesratserklärung Der Begriff ‚politische Sprache‘ umfasst viele verschiedene Formen politischen
Sprachgebrauchs. Dazu zählt, als Unterform der Politikersprache, auch die
Regierungserklärung, die, repräsentiert durch die bundesrätlichen Radioansprache zum
Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich, Gegenstand meiner Beispielanalyse
sein wird. Ich möchte deshalb diese Textsorte etwas genauer definieren.
Der Terminologie Burkhardts folgend, bezeichnet „Politikersprache“ „die
Aussenkommunikation der durch den (befristeten) Besitz öffentlicher Ämter definierten
Personengruppe“. (A. Burkhardt 1996: 81) Die Bundesratserklärung ist eine spezielle Form
dieser Politikersprache. Ihr Emittent ist ein Mitglied der Exekutive eines Staates7. Es handelt
sich also hierbei um das Zusammenfallen der Institution und der Person des jeweiligen
Bundesrats als Urheber. Der Sprecher repräsentiert einerseits sich selbst und kann für das
Gesagte „politisch und sogar straf- und zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden“
(Girnth, 2002: 73), andererseits aber auch den Staat. Diese doppelte Urheberschaft ist eine
wesentliche Eigenschaft der Regierungserklärung. Als Folge davon muss die
kommunizierende Regierungsperson nicht nur für sich sprechen, sondern immer auch die
Maxime: ‚Spreche so, dass du der Institution, deren Rollenträger du bist, nicht schadest’
befolgen. Bei der Beurteilung einer Bundesratsrede muss dieser Aspekt dementsprechend
ebenfalls beachtet werden. (vgl. Klein 1995: 77 – 78)
7 In diesem Fall der Schweiz.
9
Ein weiteres Merkmal der Regierungserklärung ist ihre fehlende Spontaneität. Die Rede wird
im Normalfall vorbereitet, niedergeschrieben und dann abgelesen. Stilistisch gesehen ist eine
solche Rede in einer gehobenen Standardsprache gehalten. Inhaltlich handelt es sich bei den
Regierungserklärungen oft um Lagebeurteilungen oder Zukunftsperspektiven, um
rückwirkende Rechtfertigung oder Erklärung und Legitimierung des zukünftigen Handelns.
Auch wenn eine gute Regierungsansprache strukturell dialogisch aufgebaut sein sollte, wird
sie meist monologisch realisiert, für die Zuhörer besteht keine Möglichkeit zu diskutieren,
nachzufragen oder zu widersprechen. Im heutigen Zeitalter der Massenmedien wendet sich
eine bundesrätliche Ansprache prinzipiell immer an sämtliche Bewohner eines Landes. Diese
Addressatengruppe ist bereits in sich äusserst heterogen. Rechnet man damit, dass die Rede
auch in ausländischen Medien ausgestrahlt und rezipiert wird, erweitert sich das
Adressatenspektrum noch um ein Vielfaches. Man kann hier also definitiv von einer
„Adressatenpluralität“ (Klein, 1995: 79) sprechen. Zentraler Aspekt dabei ist, dass der
sprechende Politiker nie im Voraus genau weiss, wer seine Rede rezipieren wird. Darin liegt
auch ein wesentlicher Grund dafür, dass solche Reden oft ziemlich vage und zweideutig sind.
Eine Bundesratserklärung ist also eine Unterform der Politikerrede und zeichnet sich durch
ihre doppelte Urheberschaft, ihre fehlende Spontaneität, ihre monologische Realisierung,
sowie ihrer Mehrfachadressiertheit aus. Sie hat stark appellativen Charakter und behandelt
aktuelles Geschehen oder entwirft Zukunftsperspektiven.
3. Beispielanalyse: Die Pilet-Rede Die bis anhin herausgearbeiteten Grundlagen und Aspekte politischer Sprache möchte ich nun
exemplarisch auf eine Rede anwenden. Bei der Beispielrede handelt es sich um die
Radioansprache des damaligen schweizerischen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz8 vom
25. Juni 1940. Er reagierte damit auf den Waffenstillstand zwischen den Achsenmächten und
Frankreich und dem damit verbundenen dringenden Bedürfnis der schweizerischen
Bevölkerung, die Einschätzung und die Position ihrer Regierung dazu zu kennen. Pilet-Golaz
hielt die Rede auf französisch, Bundesrat Philipp Etter auf Deutsch und Bundesrat Enrico
Celio auf Italienisch.
Methodisch angelehnt an ein lexikalisch-semantisches Verfahren9 werde ich besonders die
Schlagwörter und die Euphemismen analysieren. Das Schwergewicht meiner Analyse wird
8 Der Wortlaut der deutschen Version der Pilet-Rede ist im Anhang aufgeführt. 9 Für eine Darstellung der verschiedenen Methoden vgl. Burkhardt, 1996: 90 – 91.
10
jedoch auf der pragmatisch-textlinguistischen Analyse liegen. Dabei wird vor allem die
rhetorische Analyse und die Argumentationsanalyse zum Tragen kommen. Die rein
linguistische Analyse werde ich mit der, für die richtige Interpretation der sprachlichen Daten
notwendige, Beschreibung des geschichtlichen Hintergrunds und der konkret-historischen
Situation, sowie mit der Analyse der Wirkung der Rede ergänzen und mit einer Redekritik
abschliessen.
3.1 Geschichtlicher Hintergrund und konkret-historische
Situation 3.1.2 Die Weltlage und die Situation der Schweiz Der Frühsommer 1940 brachte den völligen Sieg der Achsenmächte in Westeuropa. Die
beiden neutralen Staaten Norwegen und Dänemark wurden von Hitler besetzt. In einem
Blitzkrieg eroberte er halb Frankreich, wobei er die sogenannte ‚Maginot-Linie‘ über die
neutralen Staaten Niederlande und Belgien umging. Am 10. Juni 1940 trat Italien an der Seite
Deutschlands in den Krieg ein. Frankreich unterschrieb am 24. Juni das
Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland und Italien.
Am 19. Juni erhielt Bundespräsident Pilet-Golaz eine Protestnote von Nazideutschland, in
welcher sich Hitler über die seiner Meinung nach unrechtmässigen Abschüsse deutscher
Flieger durch die schweizerische Fliegerabwehr beschwerte und gleichzeitig eine
unmissverständliche Kriegsdrohung aussprach. In der Schweiz erwartete man 1940 jederzeit
einen deutschen Angriff. General Guisan und der Bundesrat glaubten dann jedoch, mit dem
Waffenstillstandsabkommen zwischen den Achsenmächten und Frankreich sei die akute
Gefahr eines Militärschlages gegen die Schweiz vorbei und beschlossen eine teilweise
Demobilmachung. Dabei schickte sich Hitler gerade im Juni 1940 an, seinen Plan, die
Schweiz zu erobern, in die Tat umzusetzen. Am 22. Juni 1940 begann der effektive
Aufmarsch gegen die Schweiz. Hitler war nach der Niederlage Frankreichs und den
Kriegseintritt Italiens in der Lage, die Schweiz von allen Seiten gleichzeitig anzugreifen. Die
Heere standen bereit und warteten nur auf den Befehl. Doch bekanntlich blieb dieser Befehl
aus. Nur wussten die Menschen in der Schweiz dies damals nicht, weshalb die Entscheidung,
die Armee in einer Zeit grösster Angriffsgefahr teilweise zu demobilisieren aus unserer
heutigen Sicht erstaunlich anmutet.
Die Schweiz war im Juni 1940 also militärisch eingekreist und konnte von den
Achsenmächten beliebig politisch und wirtschaftlich erpresst werden. Diese höchst explosive,
11
heikle Situation darf man bei der Analyse der Pilet-Rede auf keinen Fall aus den Augen
verlieren.
3.1.2 Die konkret-historische Situation und die Person Pilet-Golaz‘ Im Jahre 1940 hatte der Waadtländer Marcel Pilet-Golaz das Amt des Bundespräsidenten
inne. Der ausgesprochen intellektuelle Mann galt als bester Redner der französischen Schweiz
(vgl. Bucher, 1993: 509) Obwohl ihm ein autoritäres Temperament nachgesagt wird, hat er
die schweizerischen Institutionen gelten lassen, jedoch mehr Handlungsspielraum für die
Regierung angestrebt. (Bucher, 1993: 512)
Da nicht nur der Urheber, sondern auch der Redner bei einer Radioanprache von zentraler
Bedeutung ist, möchte ich hier kurz auf Bundesrat Philipp Etter zu sprechen kommen,
welcher die Rede auf Deutsch verlas. Er strebte eine autoritäre Demokratie und die
„Ausweitung der Regierungsbefugnisse“ (Bucher, 1993: 524) an, weshalb Worte wie „eigene
Machtbefugnisse“ (Pilet-Rede, Satz 25), in der französischen Version nur „prise d’autorité“,
aus seinem Munde schwergewichtig anmuten mussten.
Um eine Politikerrede zu interpretieren, ist es wichtig, die Intentionen und Ziele des Redners
zu rekonstruieren. Zentraler Punkt der ganzen Ansprache sollten die kommenden
Schwierigkeiten der schweizerischen Wirtschaft sein. Es galt, den bundesrätlichen Willen zur
Bekämpfung der drohenden Arbeitslosigkeit kundzutun und die Bevölkerung auf weitere
materielle Opfer vorzubereiten. An zweiter Stelle stand wohl die Absicht, dem Defätismus,
der die Schweiz nach der Niederlage Frankreichs erfasst hatte, entgegenzuwirken und
trotzdem die stufenweise Demobilisation anzukündigen. Weitere Ziele waren die Beruhigung
der Bevölkerung, die Rechtfertigung der bundesrätlichen Vorgehensweise und nicht zuletzt
die Beschwichtigung des mithörenden Hitlerdeutschlands. (vgl. Bucher, 1993: 537 und 545 –
547; Fenner / Werlen, 1987: 60) Bei der Ausarbeitung der Ziele berieten die damaligen
Bundesräte Minger und Etter sowie der Nationalrat Gut den Bundespräsidenten, weshalb,
obschon der Gesamtbundesrat vor der Verlesung nicht kontaktiert wurde, die Rede nicht als
Alleingang Pilet-Golaz‘ bezeichnet werden kann. Als Autorschaft wird dann im Text selbst
nur zweimal „ich“ (Pilet-Rede, Satz 1 und 27) verwendet, sonst spricht Pilet-Golaz in „wir“-
oder „er“- (gemeint der Bundesrat) Form.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den es bei der Analyse zu beachten gilt, ist die
Zusammensetzung der Adressaten und deren Stimmung und Erwartung zum Zeitpunkt der
Rede. Zu Beginn der Rede rechtfertigt sich der Bundesrat für sein langes Schweigen, was
darauf hinweist, dass er für das Ausbleiben einer bundesrätlichen Stellungnahme kritisiert
12
worden war. Die Thematik des „lieber handeln als reden“ durchzieht dann auch als Leitmotiv
den gesamten Text. (vgl. Pilet-Rede: Abschnitt II., XI., XV.) Kennzeichnend für die damalige
Stimmung in der Schweiz sei, so Bucher (1993: 538 – 539), die allgemeine Desorientierung
und Verunsicherung gewesen, die durch die militärischen Erfolge Hitlerdeutschlands noch
verstärkt worden wären. Es habe in weiten Kreisen der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis
nach einer starken Führung und ein steigendes Misstrauen gegen die traditionellen
politischen Institutionen gegeben. Man kann also davon ausgehen, dass der Grossteil der
Bevölkerung auf ein beruhigendes, klares Zeichen wartete und vom Bundesrat einen
eindeutigen „Appell zum Widerstand und Durchhaltewillen“ (Die Schweiz im zweiten
Weltkrieg, 1990: 38) sowie eine bestätigende Zusage zu den für die Schweiz zentralen
Werten, wie Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie erwartete. Wie die unterschiedlichen
Reaktionen auf die Rede im Kapitel 3.4 zeigen werden, kann aber auf keinen Fall von einem
homogenen Publikum ausgegangen werden. Zudem war Pilet-Golaz zum Zeitpunkt der Rede
nicht nur Bundesratspräsident, sondern auch Aussenminister, weshalb er mit grosser
Wahrscheinlichkeit damit rechnen musste, dass seine Rede auch in Deutschland vernommen
werden würde. Viele behaupteten später, die Rede sei unter „dem Diktat der Wilhelmstrasse“
(Bucher, 1993: 549) entstanden und sei eine „Anbiederungsrede an Berlin“ gewesen. (Bucher,
1993: 554)
Mit den obigen Bemerkungen zum Entstehungshintergrund der Rede habe ich zu zeigen
versucht, dass die Bedingungen, unter welchen die Rede entstand - akute militärische
Bedrohung, drohender Defätismus, Verunsicherung der Bevölkerung, wirtschaftliche Krise -
den Emittenten dazu zwang, nach verschiedenen Seiten im Voraus Kompromisse einzugehen
und dementsprechend vorsichtige Formulierungen zu verwenden.
3.2 Linguistische Analyse der Pilet-Rede Die linguistische Analyse der Rede möchte ich mit einer semantischen Untersuchung der
zentralen Begriffe beginnen, um darauf einige rhetorische Figuren, und
Argumentationsstrategien herauszuarbeiten.
3.2.1 Schlüsselbegriffe Die Verwendung der Kategorie „Schlüsselwörter“ stellt in wissenschaftlicher Hinsicht einige
Probleme, lässt sie sich doch nicht operationalisieren, d. h. sie lässt kein „so eindeutiges
Klassifizieren von Wortmaterial zu, dass verschiedene Personen damit zu genau gleichen
13
Ergebnissen kämen.“ (Bachem, 1979: 63) Auch ist die Terminologie für die Bezeichnung
solcher Wörter, die „komplexe Wirklichkeit, vereinfachend, man könnte auch sagen
verdichtend“ (Girnth, 2002:52) darstellen, nicht einheitlich. Neben den Begriffen
„Schlüsselwörter“ und „Hochwertwörter“ existieren auch die Bezeichnungen „Symbolwort“,
„Schlagwort“, „hochaggregierte Symbole“, „Grundwerte-Lexeme“ oder „Leitvokabeln“. (vgl.
Girnth, 2002: 52) Ich verzichte hier auf die nähere Unterscheidung dieser Begriffe10 und
werde im Folgenden den Begriff Schlüsselwort für all jene Begriffe verwenden, die einen
komplizierten, oft abstrakten Sachverhalt auf das Typische kondensieren, Identität stiften oder
sich gegen andere Gruppen abzugrenzen helfen und oft zu einem bipolaren
Wirklichkeitsentwurf verwendet werden. Die Schlüsselwörter stehen demnach für einen sehr
positiven (Miranda) oder einen extrem negativen (Anti-Miranda) Wert (vgl. Girnth, 2002:
53). Für die Schweiz prototypische Miranda sind zum Beispiel „Neutralität“,
„Unabhängigkeit“, „Demokratie“, „Freiheit“ und „Solidarität“. Im Anschluss möchte ich
einige in der Pilet-Rede in Erscheinung tretende Schlüsselwörter semantisch analysieren.
Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass sich vor allem die konnotativen Merkmale
dieser Schlüsselbegriffe mit der Zeit verändern und von Individuum zu Individuum
verschieden sein können.
Schon das erste Wort der Radioansprache von Bundespräsident Pilet-Golaz, die Anrede
„Eidgenossen“ (Pilet-Rede: Satz 1) hat Schlüsselwortcharakter, ähnlich wie die Begriffe
„Schweizervolk“ (Pilet-Rede: Satz 5) und „wir Schweizer“(Pilet-Rede: Satz 7). Denotativ
meinen diese Begriffe lediglich „Bewohner bzw. Staatsbürger der Schweiz“. Diese Begriffe
haben in unserem Zusammenhang aber noch zahlreiche andere, konnotative Merkmale. Sie
weckten in den Adressaten der Pilet-Rede höchstwahrscheinlich Gefühle des Stolzes, der
Zusammengehörigkeit, der Geborgenheit. Positive Werte, wie eine ruhmreiche gemeinsame
(wenn auch legendenhafte) Geschichte, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit und
Demokratie schwangen in ihnen mit. In der damaligen Krisenzeit mussten diese Miranda eine
noch viel stärkere Wirkung gehabt haben als heute. Sie verkörperten das Zusammenrücken in
der schwierigen Zeit und die gegenseitige Solidarität. Pilet-Golaz greift diese Werte mit den
Ausdrücken „Tiegel des nationalen Interessens“ (Pilet-Rede: Satz 60), „Einigkeit“ (Pilet-
Rede: Satz 50) und „Vaterland“ (Pilet-Rede: Satz 66) mehrmals auf.
Da sich Pilet-Golaz bewusst gewesen sein musste, dass seine Rede auch von
Nichtschweizern, sprich von den Achsenmächten, gehört wurde, belegt er auch jene mit
einem positiv konnotierten Hochwertwort. Er spricht von den „drei grossen Nachbarn“ (Pilet-
10 Mehr dazu siehe Girnth, 2002: 52 – 54.
14
Rede: Satz 7). Mit diesem Begriff drückt er aus, dass er zu den Achsenmächten eine
„nachbarschaftlich-gute“ Beziehung wünscht und unterstreicht das Abhängigkeitsverhältnis
gegenüber den, wirtschaftlich und militärisch, „grossen“ Nachbarstaaten Deutschland und
Italien.
Zwei wichtige Schlüsselworte des Textes sind „Arbeit“ und „Ordnung“ (Pilet-Rede: Satz 50,
51 und 53) Im Zeichen der herrschenden Unsicherheit und der drohenden Arbeitslosigkeit
hatten diese Begriffe starken Hochwertwortcharakter. Sie bilden dann auch Schlüsselpunkte
der Pilet-Rede. Mit „Arbeit“ assoziierten die Adressaten Auskommen, Sicherheit, Normalität,
wirtschaftliche und soziale Existenz. Der Begriff „Ordnung“ musste ihnen ebenfalls das
Bewusstsein von Sicherheit geben und beabsichtigte, ihr starkes Bedürfnis nach einer sicheren
politischen Führung zu befriedigen. Die heute wohl eher verpönte Vorstellung des fleissigen,
ordentlichen Schweizers sollte den damaligen Menschen bestätigen und beruhigen.
An dieser Stelle wäre auch die Überlegung interessant, welche Schlüsselbegriffe in der Rede
nicht vorkommen. Einige Kritiker der Rede vemissten nämlich zentrale schweizerische
Miranda, wie zum Beispiel „Demokratie“, „Neutralität“ oder „Unabhängigkeit“. Auf diesen
Punkt werde ich im Kapitel 3.3 zurückkommen.
3.2.2 Rhetorische Figuren In einer politischen Rede finden sich in fast jedem Satz rhetorische Figuren, sei es, dass sie
der Redner mit Absicht verwendet, sei es, dass er sie unbewusst benutzt. Ich möchte hier nur
jene Redefiguren untersuchen, die in meinem Beispieltext eine wichtige Rolle spielen. Dies
ist zum einen die Metapher mit ihrer Sonderform, der Personifikation, und der Euphemismus,
also Figuren des lexikalischen Bereichs, zum anderen syntaktische und gedankliche Figuren
wie die Anapher, die Zweier- und Dreiergruppen, der Vergleich, die Anspielung, der Anruf
und die rhetorische Frage.
3.2.2.1 Lexikalische Figuren
Metaphern sind ein wichtiger Bestandteil unseres alltäglichen, literarischen und auch
politischen Sprachgebrauchs. Um eine Politikerrede zu analysieren, ist eine bewusste
Dekodierung der wichtigsten Metaphern und Bilder unerlässlich. Bachem formuliert dafür
folgende Strategie: „ Dieses Zeichen kann an dieser Stelle nicht meinen, was es konventionell
bedeutet. Ich kann es also nicht automatisch dekodieren. Was es an dieser Stelle meint,
kombiniere ich aus dem Kontext.“ (Bachem, 1979: 50)
15
Ich möchte hier einige Metaphern etwas näher beschreiben. Da sind zum Beispiel Ausdrücke
wie „das Stillschweigen beobachtet“ (Pilet-Rede: Satz 2), „der Lauf der Dinge“ (Pilet-Rede:
Satz 4), „stufenweise Demobilmachung“ (Pilet-Rede: Satz 14), „ins Auge fassen“, „auf die
wir Gewicht legen“ (Pilet-Rede: Satz 45), und „in der Hoffnung wiegten“(Pilet-Rede: Satz
47), welche im Allgemeinen gar nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden, da sie
zum Teil bereits lexikalisiert sind. Auffälligere und daher wohl auch wirksamere Metaphern
stammen zum Beispiel aus dem Gebiet des Krieges und der Armee. Da gibt es die
Personifikationen „unser Weltteil bleibt im Alarmzustand“ (Pilet-Rede: Satz 13) und „Da der
Krieg nicht mehr an unsern Grenzen toben wird [...]“ (Pilet-Rede: Satz 14), und die
Metaphern „in die Zukunft marschieren“ (Pilet-Rede: Satz 31) und „die Ereignisse
marschieren schnell“ (Pilet-Rede: Satz 59). Eindrucksvolle Metaphern, die abstrakte
Sachverhalte wirkungsvoll veranschaulichen und konkretisieren, sind auch „den Weg des
Friedens“ (Pilet-Rede: Satz 7) beschreiten, „Europa [...] muss [...] sein neues Gleichgewicht
finden [...]“(Pilet-Rede: Satz 18), „den alten Menschen ablegen“ (Pilet-Rede: Satz 37), „das
tägliche Brot sichern“ (Pilet-Rede: Satz 23), „die Tradition, diesem belebenden Safte, der aus
den Wurzeln der Geschichte heraufsteigt“ (Pilet-Rede: Satz 30), und „im Dienste aller
Schweizer, die Söhne ein und desselben Bodens, Ähren desselben Feldes sind“ (Pilet-Rede:
Satz 57). Diese Metaphern haben für den Redner den Vorteil, dass er keine langen, konkreten
Ausführungen und Erklärungen vorbringen muss, sondern ein plakatives, knappes Bild,
dessen Inhalt jedoch sehr vage ist, verwenden kann, welches leichter im Bewusstsein seiner
Hörer haften bleibt. Es geht zum Beispiel aus der Rede nicht genau hervor, wie der „alte
Mensch“, den es „abzulegen“ gilt, aussieht oder wie sich der Redner das „neue
Gleichgewicht“ Europas vorstellt. Im Falle von „Weg des Friedens“ (Pilet-Rede: Satz 7) hat
die Metapher auch Euphemismuscharakter, denn sie umschreibt ja eigentlich die mit
Waffengewalt eingeforderte und alles andere als freiwillige Kapitulation Frankreichs. Diese
Beispiele zeigen bereits, dass sich die verschiedenen rhetorischen Figuren teilweise
überschneiden oder ergänzen. Ähnlich verhält es sich mit den Argumentationsstrategien, die
oft von rhetorischen Figuren unterstützt oder gänzlich durch sie realisiert werden.
Eine weitere wichtige, besonders für eine Lagebeurteilung zentrale rhetorische Figur ist der
Euphemismus, welcher „unliebsame Sachverhalte mit angenehmen Assoziationen“ (Bachem
1979: 58) versieht oder schreckliche Dinge beschönigt. Obwohl Pilet-Golaz explizit
behauptet, dass der Bundesrat die Wahrheit „ohne Beschönigung und ohne Zaghaftigkeit“
(Pilet-Rede: Satz 35) sagen wird, benutzt er vor allem zu Beginn seiner Rede die
Euphemismen „tragischer Film auf der Weltleinwand“ (Pilet-Rede: Satz 2), und „gewaltiges
16
Ereignis“ (Pilet-Rede: Satz 5), anstelle von „blutigem, unrechtmässigem Eroberungskrieg der
Achsenmächte“. Auch wenn er von „angehäuften Ruinen und Menschenverluste(n)“ (Pilet-
Rede: Satz 7) spricht, muss man diese Ausdrücke als beschönigend bezeichnen.
3.2.2.2 Syntaktische und gedankliche Figuren
Drei der auffälligsten syntaktischen Figuren in der Pilet-Rede sind die Anapher, die
Verwendung von Zweier- und Dreiergruppen und die Antithese. Aber auch Vergleiche,
Anspielungen, Anreden, Ausrufe und rhetorische Fragen finden sich in diesem Text.
Die Anaphern und die Zweier- und Dreiergruppen verstärken die Wirkung des Gesagten.
Durch diese Figuren wird eine Botschaft dem Zuhörer eingehämmert. Durch ihre Strukturen
scheinen sie logisch und zwingend. Eine antithetisch aufgebaute Anapher findet sich zum
Beispiel in Abschnitt fünfzehn, wo es heisst: Nicht schwatzen, sondern denken;
Nicht herumdiskutieren, sondern schaffen;
Nicht geniessen, sondern erzeugen,
Nicht fordern, sondern geben. (Pilet-Rede: Satz 38)
Der Aufbau ‚nicht x, sondern y‘ wird viermal wiederholt, die jeweilig für x und y eingesetzten
Begriffe einander gleichgesetzt, die Botschaft durch die Struktur verstärkt. Ein ähnliches
Prinzip liegt auch Abschnitt fünfundzwanzig zugrunde: Bleibt ruhig, wie auch er ruhig ist!
Bleibt fest, wie auch er fest ist!
Habt Vertrauen, wie auch er Vertrauen hat (Pilet-Rede: Satz 63 - 65)
Die Verwendung von Zweier- oder Dreiergruppen dient ebenfalls der Verstärkung. Sie kann
mit einem Parallelismus gekoppelt sein, wie bei den folgenden Beispielen: „auf der Erde, auf
dem Meere und in der Luft“(Pilet-Rede: Satz 17), „geistig und materiell, wirtschaftlich und
politisch“ (Pilet-Rede: Satz 19), „Ohne schmerzhafte Verzichte und ohne schwere Opfer“
(Pilet-Rede: Satz 20), „auf unseren Handel, auf unsere Industrie, auf unsere Landwirtschaft“
(Pilet-Rede: Satz 21) und „an die Enterbten, an die Schwachen, an die Unglücklichen“ (Pilet-
Rede: Satz 41). In den Gruppen können aber auch ähnliche oder synonyme Adjektive
aneinandergereiht werden, um ihnen mehr Nachdruck zu verleihen, wie bei „beraten,
diskutieren und abwägen“ (Pilet-Rede: Satz 25) oder noch deutlicher bei „erklären, erläutern
und begründen“ (Pilet-Rede: Satz 58).
Pilet-Golaz arbeitet in seiner Rede oft mit Antithesen. Im bereits erwähnten Abschnitt
fünfzehn beispielsweise stellt er die Verben „schwatzen“ und „denken“, „herumdiskutieren“
und „schaffen“, „geniessen“ und „erzeugen“ und schlussendlich „fordern“ und „geben“
einander als Gegensätze gegenüber. Ebenfalls als Antithesen tauchen auch mehrmals die
17
Bereiche Vergangenheit und Zukunft auf: „von der Vergangenheit in die Zukunft“ (Pilet-
Rede: Satz 31), „wehmütig rückwärts zu schauen [...] (den [meine Hinzufügung]) Blick [...]
nach vorwärts wenden [...]“ (Pilet-Rede: Satz 32 – 33) und „würdig der Vergangenheit, [...]
beherzt in die Zukunft“ (Pilet-Rede: Satz 69).
Weniger häufig, dafür an entscheidender Stelle verwendet der Emittent unserer Rede einen
Vergleich. Gleich zu Beginn der Rede umschreibt ein Vergleich euphemistisch die jüngsten
Ereignisse mit „wie ein tragischer Film auf der Weltleinwand“ (Pilet-Rede: Satz 69).
Viel Kritik erntete die Aufforderung, zur „inneren Wiedergeburt“ und zum „Ablegen des
alten Menschen“ (Pilet-Rede: Satz 36 – 37), die dahingehend gedeutet wurde, dass der
Bundesrat sich auf die Anpassung seiner Politik an die Hitlerdeutsche Ordnung vorbereite. In
Wahrheit aber handelt es sich hierbei um biblische Anspielungen, um Aussprüche des
Apostels Paulus. (vgl. Bucher, 1993: 555) Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass rhetorische
Figuren ihre Wirkung auch verfehlen können, wenn sie zum Beispiel, wie hier, auf nicht
allgemein Bekanntem aufbauen.
Die letzten drei Figuren, die ich hier behandeln möchte, dienen vor allem dem Aufbau einer
Verbindung zwischen dem Emittenten und den Rezipienten. Es handelt sich dabei um
Anreden, Ausrufe und rhetorische Fragen, die eine gewisse Dialogizität schaffen möchten,
Diese ist jedoch nur oberflächlich gegeben, denn zu einem wirklichen Dialog kann es in
diesem Fall schon aufgrund der Textsorte (Regierungserklärung) und des Mediums
(Radioansprache) nicht kommen.
Anreden leiten die Rede ein und schliessen sie ab: „Eidgenossen“ (Pilet-Rede: Satz 1 und 58)
und „Schweizer, meine Brüder“ (Pilet-Rede: Satz 69). Aufrufe hingegen finden sich überall
dort, wo der Redner die Dringlichkeit und Wichtigkeit der jeweiligen Botschaft betonen
möchte. Nachdem Pilet-Golaz aufgezeigt hat, dass neue Zeiten anbrechen werden, die eine
Veränderung der eigenen Gewohnheiten nötig machen, ruft er aus: „Sei dem wie es wolle!“
(Pilet-Rede: Satz 29) Auch die Schlüsselworte „Arbeit“ und „Ordnung“, die in der
Argumentation des Redners zentral sind, treten in einem elliptischen Ausruf auf. (Pilet-Rede:
Satz 52 und 54).
Die rhetorische Frage soll den Rezipienten zum Nachdenken anregen. Eine Antwort des
Hörers wird nicht erwartet und eine explizite Antwort durch den Redner erübrigt sich
meistens, jedoch nicht immer. Im zweiten Satz seiner Rede greift Pilet-Golaz rhetorisch
geschickt die Frage auf, die sich die Bewohner der Schweiz zu diesem Zeitpunkt
wahrscheinlich stellten und beantwortet sie gleich darauf:
18
„Wusste denn der Bundesrat nichts zu sagen, angesichts der Ereignisse, die sich wie ein
tragischer Film auf der Weltleinwand abwickelten? Der Bundesrat musste denken, vorsehen,
Beschlüsse fassen, handeln; er konnte jetzt nicht Reden halten [...]“ (Pilet-Rede: Satz 2 - 4).
Die hier angeführten rhetorischen Mittel spielen auch bei den Argumentationsstrategien eine
wichtige Rolle, weshalb ich teilweise im nächsten Kapitel auf sie zurückkommen werde.
3.2.3 Argumentationsanalyse Vier Muster dominieren die Argumentation der Pilet-Rede, nämlich die Strategie des Einheit-
und Identitätsschaffens, die Strategie zu zeigen, dass Handeln besser ist als Reden, die
Strategie, entfernte Vergangenheit, nahe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit
positiven oder negativen Assoziationen zu belegen und die Strategie des Gefahren-Aufzeigens
und Opfer-Verlangens. Am Rande kommen auch die Strategie der Beschönigung und
Beschwichtigung (Pilet-Rede: Abschnitt V.), der Berufung auf eine Autorität („Fragt die
Sportsleute: Sie wissen dies schon lange“ – Pilet-Rede: Satz 49) und der
Wahrheitsversprechung (Pilet-Rede: Abschnitt XIII.) zum Zuge.
Beinahe jede persuasive Rede versucht, den Adressaten ein Gefühl der Einigkeit, des Stolzes
und der Identität zu vermitteln, um einerseits Sympathie zu erlangen und andererseits eine
affirmative Grundstimmung zu erzeugen. Ich möchte dies Strategie hier nicht weiter erläutern
und verweise auf die Schlüsselwortanalyse in Kapitel 3.2.1, S. 13.
Eine weniger übliche, für diese Rede jedoch bezeichnende Strategie besteht darin, die
Adressaten davon zu überzeugen, dass Reden halten und diskutieren, eigentlich Grundwerte
und Voraussetzungen einer direkten Demokratie, den Anforderungen der Zeit nicht mehr
genügten. Mittels der Wiederholung innerhalb der Sätze durch Zweier- und Dreiergruppen
(vgl. Seite 16) und satzübergreifendes Wiederaufgreifen dieser Thematik (Pilet-Rede: Satz 24,
56 und 58) versucht die Rede, einerseits bereits vergangenes und andererseits zukünftiges
Schweigen zu rechtfertigen. Dahinter steht wahrscheinlich die Absicht, die bereits
vorhandenen Vollmachten der Regierung zu legitimieren und ihre Machtbefugnisse in
Zukunft evtl. sogar auszuweiten. Symptomatisch für diese Strategie ist folgende Behauptung,
mit welcher der Redner eigentlich von vornherein die Wirksamkeit seiner momentanen
Beschäftigung, nämlich eine Rede halten, verneint: „[...] man liebt das Reden bei uns viel zu
sehr, das den Lauf der Dinge um keinen Zollbreit zu beeinflussen vermag.“ (Pilet-Rede: Satz
2) Ein Zeitungskommentar aus dem Sommer 1940 sprach dann auch von einer „Rede über das
Zu-viel-Reden“ (Berner Tagwacht, 26. Juni 1940.), was zeigt, dass auch den damaligen
Rezipienten diese Strategie als für die Rede typisch ins Auge gefallen ist.
19
Bei der genaueren Lektüre des Textes ist mir aufgefallen, dass Pilet-Golaz subtil versucht, die
Entwicklung der schweizerischen Kultur und Lebensweise als eine Abfolge von einer ehemals
guten, unschuldigen, fleissigen Gesellschaft, zu einer zu verurteilenden jüngeren
Vergangenheit und schliesslich zu einer Gegenwart zu charakterisieren, in welcher es gilt,
einerseits Veränderungen und Anpassungen vorzunehmen und andererseits sich auf die guten
Werte der früheren Gesellschaft zu besinnen, um zu einer besseren Zukunft mit den guten
alten, aber auch positiven neuen Werten zu gelangen. (Pilet-Rede: Satz 18, 19, 28, 30 – 33, 36
– 37, 47, 59 – 60 und 69) Dieses Argumentationsmuster hat, meiner Meinung nach, ebenfalls
die Kritik an der Gegenwart und eine Rechtfertigung zukünftiger Veränderungen zum Ziel.
Die gleichen Ziele wie die beiden letzten Argumentationsstrategien verfolgt die Strategie des
Gefahren-Aufzeigens und Opfer-Verlangens. Die drohenden wirtschaftlichen und politischen
Schwierigkeiten rechtfertigen, der Argumentation der Pilet-Rede folgend, materielle Opfer
und politische Veränderungen, sprich die Ausweitung der bundesrätlichen Vollmachten.
(Pilet-Rede: Satz 9 – 13, 19 – 20, 22, 39 und 45)
3.3 Wirkung und Redekritik In diesem Kapitel möchte ich kurz auf die verschiedenen Punkte eingehen, welche an der
Pilet-Rede kritisiert wurden und anschliessend meine allgemeine Redekritik äussern.
Mit den Reaktionen, welche die Pilet-Rede in der Öffentlichkeit hervorrief, könnte ein ganzes
Buch gefüllt werden. Je nach Einstellung und Beurteilung der Rede lassen sich eine Unmenge
negativer Pressestimmen, aber auch eine Vielzahl positiver Kommentare finden. Unter den
Historikern, mit den Hauptvertretern Erwin Bucher (1993) einerseits und Edgar Bonjour
andererseits (1974), ist ein regelrechter Streit darüber entbrannt, ob die Pilet-Rede eine
positive oder eine negative Auswirkung auf die Stimmung der damaligen Bevölkerung hatte,
ob sie anpasserisch war oder nicht und ob sie als der Situation angemessen bezeichnet werden
kann oder nicht: „Was für unklare Phrasen des höchsten Magistraten nach mehreren Wochen des Schweigens
[...] Man kann diese Rede nur verstehen, wenn man annimmt, Pilet habe in erster Linie als
Aussenminister zum Ausland gesprochen und nicht als Landesvater zum eigenen Volk.. ( E.
Bonjour, zit. nach Fenner / Werlen 1987: 68)
„Die Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass diese Rede nicht als anpasserisch
bezeichnet werden darf.“ ( E. Bucher, zit. nach Fenner / Werlen 1987: 68)
20
Ich möchte jedoch nicht weiter auf diesen Historikerstreit eingehen und hier nur die
wichtigsten Kritikpunkte aus den Zeitungskommentaren mit dem Originaltext und den
Ergebnissen meiner linguistischen Untersuchung in Zusammenhang bringen.
Einige Stellen und Begriffe lösten in der Bevölkerung heftigen Protest aus, andere, vor allem
das Versprechen, Arbeit für alle zu beschaffen, stiessen allgemein auf Zustimmung (vgl.
Schweizer Woche Nr. 31: 1989). Die Basler AZ schreibt am 26. Juni: Die Erkenntnis, dass
unverzügliche Arbeitsbeschaffung „für das Land von kapitaler Bedeutung ist“, versöhnt mit
vielem.“ Kritik erntete das Fehlen der Worte „Demokratie“ und „Unabhängigkeit, dann aber
vor allem die Tatsache, dass der Bundesrat „auf Grund eigener Machtbefugnis“ (Pilet-Rede:
Satz 26) handeln möchte und nicht immer alles „erklären, erläutern und begründen“ (Pilet-
Rede: Satz 58) zu können glaubt. Inhaltlich wurde zudem die „Anbiederung“ und Anpassung
an Berlin kritisiert. Allgemein mangelte es der Rede für viele Rezipienten an Klarheit und an
konkreten Vorschlägen. Statt Beruhigung herrschte vielerorts Verwirrung: „ [...] eine
Radioansprache, die das Schweizer Volk vollends verunsicherte. Weite Bevölkerungskreise
konnten sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Bundesrat eine Anpassung an Hitlers
Europa vorbereite.“ (Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, 1990: 45)
Tatsächlich scheint mir der Vorwurf der fehlenden Klarheit nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Diese Vagheit und Zweideutigkeit ist jedoch zu einem guten Teil durch die Redesituation, die
Adressatenpluralität und die Textsorte erklärbar. Denn die ganze Rede baut darauf auf, nur
grobe Züge, Rahmenbedingungen und abstrakte Ideen zu vermitteln, es fehlen fast gänzlich
konkrete Angaben oder Vorschläge. Es ist zum Beispiel von „anderen Grundlagen“ (Pilet-
Rede: Satz 18) die Rede, wobei der Hörer keine Ahnung hat, wie diese aussehen werden.
Auch wie er sich die „innere Wiedergeburt“ (Pilet-Rede: Satz 36) oder die „seelischen und
materiellen Schmerzen“ (Pilet-Rede: Satz 39) vorzustellen hat, geht aus dem Text nicht
hervor. Der Rede muss jedoch in diesem Zusammenhang zugute gehalten werden, dass sie
dies auch gar nicht intendiert und detailliertere Angaben von anderen Instanzen zu erwarten
waren.
Aus meiner heutigen Sicht macht Pilet-Golaz in seiner Radioansprache nicht zu viele und
nicht zu wenige Zugeständnisse an Deutschland, vor allem, wenn man die grosse Gefahr, in
welcher die Schweiz damals schwebte und die prekäre Wirtschaftslage mit in Betracht zieht.
Doch zu entscheiden, ob man damals auf die euphemistische Darstellung der Situation in
Frankreich oder auf das Umgehen der für Hitler provozierenden Worte „Demokratie“ und
„Unabhängigkeit“ hätte verzichten können, ist nicht möglich.
21
Die ebenfalls heftig umstrittene Formulierung „eigene Machtbefugnis“ (Pilet-Rede: Satz 26)
kann, meiner Meinung nach, aus der Rede so gedeutet werden, dass der Bundesrat eine in
allen Bereichen autoritärere Regierung anstrebte. Ob er dies nur in der momentanen
Krisensituation für angebracht hielt oder auch in Zukunft wollte, ist aus dem Text nicht
ersichtlich. E. Bucher (1993: 546) behauptet, dass im Text der Zusammenhang zwischen
Arbeitsbeschaffung und eigener Machtbefugnis offensichtlich sei. Zwar trifft dies für die
Abschnitte elf und zwölf zu, der Grundtenor des „handeln ohne zu erklären“, bezieht sich
jedoch nicht überall nur auf die wirtschaftlichen Probleme der damaligen Gegenwart. In Satz
58 beispielsweise ist nicht mehr explizit von der Arbeitsbeschaffung die Rede: „Eidgenossen, an Euch ist es, nun der Regierung zu folgen als einem sicheren und
hingebenden Führer, der seine Entscheidungen nicht immer wird erklären, erläutern und
begründen können.“ (Pilet-Rede: Satz 26)
Die Reaktionen der Presse darauf waren deshalb auch nicht nur positiv:
„Darum sagen wir: Arbeitsbeschaffung: jawohl, mit Begeisterung; Gleichschaltung: nein,
dagegen werden wir uns mit Klauen und mit Zähnen wehren. [...] Demokratie und
Unabhängigkeit sind für unser Land unlösbar miteinander verbunden. Die Schweiz wird frei
und demokratisch sein, oder sie wird nicht sein. (Berner Tagwacht 27 Juni 1940 Nr. 148)
„Er soll es (gemeint: mit den ungehemmten Entscheidungsbefugnissen auskommen [meine
Hinzufügung]) probieren, aber natürlich im Rahmen seiner Vollmachten, die ihm large erteilt
worden sind. Über die Probezeit hinaus soll er jedoch nichts präjudizieren, sondern gemäss der
Bundesverfassung, auf die er vereidigt ist, die künftige Staats- und Wirtschaftsgestaltung den
demokratischen Instanzen überlassen. [...] Miteinander reden, wie es sich unter Eidgenossen
gehört, ist nicht „schwatzen“, wie man nach der bundesrätlichen Radiorede glauben könnte.“
(Basler Nachrichten, 29. / 30. Juni 1940: Nr. 176)
Interessant ist, dass die Rede in der französischen Originalversion, verlesen von Pilet-Golaz,
weit weniger negative Reaktionen auslöste, als die deutsche Fassung, welche von Bundesrat
Etter vorgetragen wurde. Hans Rudolf Kurz (In: Der Bund, 27. 01. 1978, zit. nach Fenner /
Werlen 1987: 68) erklärt dies damit, dass der deutsche Text die Menschen, bewusst oder
unbewusst, an das verhasste Nazivokabular erinnerte. Ausdrücke, wie „Führer“ (Pilet-Rede:
Satz 58) oder „in Umbruch begriffene Welt“ (Pilet-Rede: Satz 33) untermauern dieses
Argument. Anstelle des letzeren Begriffs heisst es im französischen Original nämlich nur „à
la restauration du monde disloqué“, also „Wiederherstellung der aus den Fugen geratenen
Welt“. E. Bucher (1993: 544 – 545) begründet diese unterschiedliche Aufnahme der beiden
Versionen damit, dass es sich erstens bei der deutschen Fassung um eine teilweise
sinnverzerrende Übersetzung und um eine unangebrachte Wort-für-Wort Übertragung der
typisch französischen Rhetorik gehandelt habe und zweitens, dass Philipp Etter die Rede mit
22
einer „Grabesstimme“ (Bucher, 1993: 545) verlas, wohingegen Pilet-Golaz einen „eher
lockeren Ton“ (Bucher, 1993: 545) wählte.
Eine linguistische Analyse und Bewertung darf meiner Meinung nach die politischen und
ethischen Inhalte nicht tangieren Dies stellt sich bei einer genaueren Betrachtung als
schwierig heraus, ist doch jeder Forscher selbst ein Wesen mit subjektiven Theorien und
Standpunkten, die sich nie gänzlich beiseite schieben lassen. Bei der Beurteilung der Pilet-
Rede werde ich mich deshalb auf das Kriterium der Persuasion konzentrieren.
Es stellt sich die Frage, inwieweit die Persuasion geglückt ist, bzw., um mit Klein zu
sprechen, ob die Rede politischen Erfolg zu gewährleisten vermochte. Betrachtet man den
Versuch, Deutschland mit dieser Rede zu beschwichtigen, muss man gestehen, dass die
Persuasion geglückt ist. Im Inland hingegen scheint die Rede nur teilweise und nicht für alle
akzeptabel gewesen zu sein. Leider ist es heute fast unmöglich zu entscheiden, ob die
Menschen sich damals durch die Rede beruhigt fühlten. Besonders die deutsche Übersetzung
hätte klarer und eindeutiger formuliert werden können, auch ohne Hitler damit zu
provozieren. Der Versuch, die Alleingänge der Regierung als notwendig und richtig
darzustellen, scheint mir nicht gelungen zu sein, da die Argumentation zu deutlich einen
Grundwert der Demokratie, die breite Diskussion, abwertet und die Menschen so
verunsichern und verärgern musste. Gelungen ist dem Bundesrat aber, der Bevölkerung
seinen guten Willen zur Arbeitsbeschaffung kundzutun und sie in dieser Hinsicht zu
beruhigen. Hätte die Rede klarer gemacht, dass ihr Hauptinteresse der Arbeit galt, hätten
einige Missverständnisse vermieden werden können. Besonders Abschnitt vierzehn und
fünfzehn sind da nämlich äusserst verfänglich.
Alles in allem möchte ich behaupten, dass es sich bei der Pilet-Rede nicht um ein
Meisterwerk der Rhetorik, jedoch in Anbetracht der damaligen Krisensituation um eine zwar
vorsichtige und etwas vage, aber nichtsdestotrotz gelungene Gradwanderung zwischen den
verschiedenen Adressatenerwartungen handelt.
4. Schluss Ausgehend von der Frage nach den Funktionen politischer Sprache und ihrem Verhältnis zum
politischen System habe ich zu zeigen versucht, dass die Sprache ein wesentlicher Bestandteil
der Politik, ja sogar eine ihrer Grundbedingungen ist und dass Politik und politische Sprache
sich gegenseitig stark beeinflussen. Da die Sprache das wichtigste Mittel der Persuasion im
politischen Handeln darstellt, muss jeder Politiker ein Mindestmass an rhetorischen
23
Fähigkeiten aufweisen, um politisch erfolgreich zu sein. Aber nicht nur der Politiker muss
diese rhetorischen und dialektischen Techniken und Strategien beherrschen, auch sein
Publikum muss diese zu dekodieren verstehen, da es sonst keine Möglichkeit hat, an der
Gestaltung der politischen Wirklichkeit mitzuwirken. Ich schliesse mich deshalb einem eher
didaktischen Ansatz der Politolinguistik an und sehe die Aufgabe einer linguistischen Analyse
darin, den Rezipienten die Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, eine Politikerrede, eine
politische Diskussion oder eine politische Mitteilung dekodieren zu können, um ihnen die
Bildung einer eigenen Meinung zu ermöglichen. Während eingangs vorwiegend von
politischer Sprache im Allgemeinen die Rede gewesen ist, habe ich meine Aufmerksamkeit
im zweiten Teil auf die Regierungserklärung als spezielle Textsorte politischer Sprache
fokusiert. Nach einer Definition dieser Form politischer Sprache, welche aufzeigte, dass es
sich bei einer Regierungserklärung um eine Rede mit doppelter Urheberschaft, fehlender
Spontaneität, Mehrfachadressiertheit und monologischer Realisierung handelte, ging ich dazu
über, die erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse in einer Beispielanalyse anzuwenden. Neben
der linguistischen Analyse, welche den Kernpunkt dieses zweiten Teils bildet, versuchte ich
durch die Beschreibung des historischen Kontextes und der Redesituation, sowie durch eine
der sprachlichen Untersuchung nachgestellte Analyse der Wirkung der Rede die sprachlichen
Ergebnisse in einen konkreten Zusammenhang zu stellen und zu ergänzen. Die linguistische
Analyse beschäftigte sich hauptsächlich mit der Schlüsselwortanalyse, gefolgt von der
Beschreibung der wichtigsten rhetorischen Figuren und Argumentationsmustern. Es stellte
sich heraus, dass die Schlüsselwörter und rhetorischen Figuren, wie Metaphern,
Euphemismen, Anaphern, Zweier- und Dreiergruppen, Antithesen, Anreden, Ausrufe und
rhetorische Fragen, im Dienste der Argumentation stehen, also als Mittel zur Realisierung
bestimmter Argumentationsstrategien bezeichnet werden können. Vier Muster schienen mir
für die Beispielrede typisch. Der Urheber, Bundespräsident Pilet-Golaz versuchte, seine
Zuhörer davon zu überzeugen, dass sie, erstens, Teil einer Wir-Gruppe seien, auf die es stolz
zu sein gilt, zweitens, dass es in der Krise besser sei, zu handeln, anstatt zu reden, was der
Bundesrat auch zu tun gedenke, drittens, dass sie sich in einer Zeit befänden, welche die
Chance biete, die jetzigen schlechten Gewohnheiten abzulegen, zu früheren guten Formen
zurückzufinden und sich an die neue Situation anzupassen und viertens, dass die nahe Zukunft
Gefahren bereithalte, die ihnen Opfer abverlangen werden. In einer abschliessenden
Beurteilung der Beispielrede komme ich zum Schluss, dass die Rede rhetorisch nicht immer
ganz gelungen, in Anbetracht der historisch-konkreten Umstände aber verständlich und
gerechtfertigt ist. Die eingangs gestellte Frage nach den Gründen für die verschiedenen
24
Interpretationen ein und derselben Rede erklärt sich durch die aufgrund der
Adressatenpluralität notwendigen Vorsichtigkeit und Zweideutigkeit der Formulierungen.
Interessant wäre es nun, in einer weiterführenden Arbeit die hier isoliert betrachtete
Beispielrede in einen grösseren Zusammenhang mehrerer Reden zu stellen und die
Entwicklung der Sprache politischer Reden in der Schweiz bis heute zu untersuchen.
25
Bibliographie Bachem, Rolf (1993): Einführung in die Analyse politischer Texte, München, R. Oldenbourg
Verlag.
Bock, Johannes (1982): Zur Inhalts- und Funktionsanalyse der Politikerrede; Ein Beitrag zur
Verbesserung der Kommunikation zwischen Staatsbürger und Politiker, Frankfurt am Main,
Haag und Herchen Verlag.
Bonjour, Edgar (1974): Geschichte der schweizerischen Neutralität: vier Jahrhunderte
eidgenössischer Aussenpolitik, Basel, Helbing und Lichtenhahn, Band 7.
Bucher, Erwin (1993): Zwischen Bundesrat und General; Schweizer Politik und Armee im
Zweiten Weltkrieg, Zürich, Orell Füssli Verlag.
Burkhardt, Armin (1996) Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung. In: Klein, Josef /
Diekmannshenke, Hajo (Hg.) (1996): Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische
und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation, Berlin / New York, S.
75 – 100.
Dieckmann, Walther (1969): Sprache in der Politik; Einführung in die Pragmatik und
Semantik der politischen Sprache, Heidelberg, Carl Winter Universitätsverlag.
Dieckmann, Walther (1981): Politische Sprache, politische Kommunikation; Vorträge,
Aufsätze, Entwürfe, Heidelberg, Carl Winter Universitätsverlag.
Fenner, Martin / Werlen, Iwar (1987): Sprache und Politik in der Schweiz, Zürich, sabe
Institut für Lehrmittel.
Geissner, Hellmut (1975): Rhetorik und politische Bildung, Kronberg, Scriptor Verlag
(Literatur + Sprache + Didaktik 7).
26
Girnth, Heiko(2002): Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die
linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation, Tübingen, Niemeyer Verlag
( Germanistische Arbeitshefte; 39).
Grice, H. Paul (1979): Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hg.): Handlung,
Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt am Main, (Theorie), S. 243 – 265.
Grünert, Horst (1974): Sprache und Politik. Untersuchungen zum Sprachgebrauch der
‚Paulskirche‘, Berlin / New York. (Studia Linguistica Germanica 10).
Grünert, Horst (1983): Politische Geschichte und Sprachgeschichte. Überlegungen zum
Zusammenhang von Politik und Sprachgebrauch in Geschichte und Gegenwart. In: SuL, Nr.
52, S. 43 – 58.
Jarren, Otfried, Sarcinelli Ulrich, Saxer Ulrich (Hg.) (1998): Politische Kommunikation in der
demokratischen Gesellschaft; Ein Handbuch, Opladen / Wiesbaden, Westdeutscher Verlag.
Klein, Josef (1995): Politische Rhetorik. Eine Theorieskizze in Rhetorik-kritischer Absicht mit
Analysen zu Reden von Goebbels, Herzog und Kohl. In: SuL, 26. Jahrgang, Nr. 75 / 76, S. 62
– 99.
Klein, Josef (1998): Politische Kommunikation – Sprachwissenschaftliche Perspektiven. In:
Jarren, Otfried, Sarcinelli Ulrich, Saxer Ulrich (Hg.) (1998): Politische Kommunikation in der
demokratischen Gesellschaft; Ein Handbuch, Opladen / Wiesbaden, S. 186 – 210.
Kopperschmidt, Josef (1976, 2. Auflage): Allgemeine Rhetorik; Einführung in die Theorie der
Persuasiven Kommunikation, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz, W. Kohlhammer Verlag
(Sprache und Literatur 79).
Kunz, Matthias (1998): Aufbruchstimmung und Sonderfall – Rhetorik; Die Schweiz im
Übergang von der Kriegs- zur Nachkriegszeit in der Wahrnehmung der Parteipresse 1943 –
1950, Bern, Schweizerisches Bundesarchiv (Bundesarchiv Dossier 8).
27
Lübbe, Hermann (1975): Der Streit um Worte. Sprache und Politik. In: Kaltenbrunner, Gerd-
Klaus (Hg.) (1975): Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter, München, S. 87 –
111.
Ottmers, Clemens (1996): Rhetorik, Stuttgart / Weimar, J. B. Metzler (Sammlung Metzler:
Realien zur Sprache).
Rau, Johannes (1996): Politikersprache und Glaubwürdigkeit. In: Böke, Karin, Jung,
Matthias, Wengeler Martin (Hg.) (1996): Öffentlicher Sprachgebrauch, praktische,
theoretische und historische Perspektiven, Wiesbaden, Westdeutscher Verlag.
Schily, Otto (2000): Sprache und Politik, In: Eichhoff-Cyrus, Karin M. (Hg.), Die deutsche
Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall?, Mannheim. Zürich,
Dudenverlag, (Thema Deutsch, Band 1).
Süssmuth, Rita (1996): Öffentlicher Sprachgebrauch in der Demokratie – Anmerkungen aus
politischer Perspektive. In: Böke, Karin, Jung, Matthias, Wengeler Martin (Hg.) (1996):
Öffentlicher Sprachgebrauch, praktische, theoretische und historische Perspektiven,
Wiesbaden, Westdeutscher Verlag.
Ohne Namen (1990): Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Winterthur, Neue Helvetische
Gesellschaft.
28
Anhang Radioansprache von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz vom 25. Juni
1940
I. Abschnitt 1. Eidgenossen
Ihr fragt Euch gewiss schon, warum ich so lange – während vollen sieben Wochen - das
Stillschweigen beobachtet habe.
2. Wusste denn der Bundesrat nichts zu sagen, angesichts der Ereignisse, die sich wie ein
tragischer Film auf der Weltleinwand abwickelten?
II. Abschnitt 3. Der Bundesrat musste denken, vorsehen, Beschlüsse fassen, handeln;
4. er konnte jetzt nicht Reden halten, - man liebt das Reden bei uns viel zu sehr, das den Lauf
der Dinge um keinen Zollbreit zu beeinflussen vermag.
III. Abschnitt 5. Wenn sich der Bundesrat heute neuerdings an das Schweizervolk wendet, so geschieht es
deshalb, weil ein gewaltiges Ereignis eingetreten ist, das weittragende Folgen haben wird:
IV. Abschnitt 6. Frankreich hat soeben den Waffenstillstand mit Deutschland und Italien abgeschlossen.
V. Abschnitt 7. Welches auch die Trauer sein mag, die jeden Christ angesichts der angehäuften Ruinen und
Menschenverluste erfüllen mag, so bedeutet es doch für uns Schweizer eine grosse
Erleichterung zu wissen, dass unsere drei grossen Nachbarn nun den Weg des Friedens
beschritten haben;
8. diese Nachbarn, mit denen wir so enge geistige und wirtschaftliche Beziehungen pflegen,
diese Nachbarn, die im Geiste auf dem Gipfel unserer Berge – in Himmelsnähe –
zusammentreffen und deren Kulturkreise uns jahrhundertelang bereichert haben, wie die vom
Gotthard herabsteigenden Ströme ihre Ebenen befruchteten.
VI. Abschnitt 9. Diese Beruhigung – das dürfte wohl das zutreffende Wort sein – ist natürlich, menschlich,
insbesondere bei bescheidenen Neutralen, die bisher in jeder Hinsicht verschont geblieben
sind.
29
10. Wir dürfen uns indessen dadurch nicht täuschen lassen.
11. Uns nun den Illusionen eines sorgenlosen Glückes hinzugeben, wäre gefährlich.
12. Es wird auf die soeben erlebte Gegenwart eine allzuschwere Zukunft folgen, als dass wir
gleichgültig in die Vergangenheit zurückfallen könnten.
VII. Abschnitt 13. Waffenstillstand bedeutet noch nicht Friede, und unser Weltteil bleibt im Alarmzustand.
VIII. Abschnitt 14. Da der Krieg nicht mehr an unseren Grenzen toben wird, können wir allerdings
unverzüglich eine teilweise und stufenweise Demobilmachung ins Auge fassen.
15. Diese wird aber unserer grundlegend veränderten nationalen Wirtschaft heikle Aufgaben
stellen.
16. Die zum Wohlstande der Völker so notwendige internationale Zusammenarbeit ist noch
lange nicht wieder hergestellt.
17. Grossbritannien verkündet seinen Entschluss, den Kampf auf der Erde, auf dem Meere
und in der Luft fortzusetzen.
18. Bevor Europa wiederum zum Aufstiege gelangen kann, muss es sein neues Gleichgewicht
finden, welches zweifellos sehr verschieden vom bisherigen und auf anderen Grundlagen
aufgebaut sein wird, als auf jenen, die der Völkerbund trotz seiner vergeblichen Bemühungen
nicht zu errichten vermochte.
IX. Abschnitt 19. Überall, auf allen Gebieten – geistig und materiell, wirtschaftlich und politisch – wird die
unerlässliche Wiederaufrichtung gewaltige Anstrengungen erfordern, die, um wirksam zu
sein, sich ausserhalb veralteter Formeln zu betätigen haben werden.
20. Dies kann nicht ohne schmerzhaft Verzichte und ohne schwere Opfer geschehen.
X. Abschnitt 21. Es sei beispielsweise auf unseren Handel, auf unsere Industrie, auf unsere Landwirtschaft
hingewiesen.
22. Wie schwer wird ihre Anpassung an die neuen Verhältnisse werden.
23. Sofern wir jedermann – und das ist erste Pflicht – das tägliche Brot sichern wollen,
welches den Körper ernährt und die Arbeit, die die Seele stärkt, werden Hindernisse zu
beseitigen sein, die man noch vor weniger als einem Jahre für unübersteigbar gehalten hätte.
30
XI. Abschnitt 24. Zur Erreichung dieses Ergebnisses – das für die Rettung des Landes von kapitaler
Bedeutung ist – werden wichtige Entscheidungen nötig sein.
25. Und zwar nicht etwa solche, über die wir vorher lange beraten, diskutieren und abwägen
können.
26. Also Beschlüsse, die gleichzeitig überlegt und rasch auf Grund eigener Machtbefugnis zu
fassen sein werden.
XII. Abschnitt 27. Ja, ich sage in der Tat: Eigene Machtbefugnis.
28. Denn, seien wir uns dessen bewusst, die Zeiten, in denen wir leben, werden uns
zahlreichen früheren, behaglichen, lässigen – ich möchte beinahe sagen „altväterischen“
Gewohnheiten entreissen.
29. Sei dem wie es wolle!
30. Wir dürfen ausgefahrene Wege nicht verwechseln mit der Tradition, diesem belebenden
Safte, der aus den Wurzeln der Geschichte heraufsteigt.
31. Die Tradition erfordert im Gegenteil Erneuerungen, weil es nicht in ihrem Wesen liegt, an
Ort und Stelle zu verharren, sondern mit Einsicht und Vernunft von der Vergangenheit in die
Zukunft zu marschieren.
32. Es ist nicht der Augenblick, wehmütig rückwärts zu schauen.
33. Der Blick muss sich nun entschlossen nach vorwärts wenden, um mit allen unseren
bescheidenen, aber dennoch nützlichen Kräften mitzuwirken an der Wiederherstellung der in
Umbruch begriffenen Welt.
XIII. Abschnitt 34. Der Bundesrat hat Euch die Wahrheit versprochen.
35. Er wird sie Euch sagen, ohne Beschönigung und ohne Zaghaftigkeit.
XIV. Abschnitt 36. Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen.
37. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.
XV. Abschnitt 38. Das bedeutet:
Nicht schwatzen, sondern denken;
Nicht herumdiskutieren, sondern schaffen;
Nicht geniessen, sondern erzeugen,
31
nicht fordern, sondern geben.
XVI. Abschnitt 39. Gewiss wird dies nicht ohne seelische und materielle Schmerzen und Leiden gehen.
XVII. Abschnitt 40. Verbergen wir uns dies nicht: Wir werden uns Einschränkungen auferlegen müssen.
41. Wir werden, bevor wir an uns selbst denken, nur an uns selbst, an die andern denken
müssen – ausserhalb und innerhalb unserer Grenzen – an die Enterbten, an die Schwachen, an
die Unglücklichen.
42. Es wird nicht genügen, einen Teil unseres Überflusses als Almosen hinzugeben;
43. Wir werden ganz sicherlich gezwungen sein, auch einen Teil dessen hinzugeben, was wir
bisher als für uns notwendig hielten.
44. Das ist nicht mehr die Gabe des Reichen, sondern das Scherflein der Witwe.
XVIII. Abschnitt 45. Wir werden sicherlich auf viele Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten verzichten
müssen, auf die wir Gewicht legen, weil sie eine unbewusste Kundgebung unseres Egoismus
sind.
46. Statt einer Verarmung wird dies für uns eine Bereicherung bedeuten.
XIX. Abschnitt 47. Wir werden wiederum zur gesunden Gewohnheit zurückkehren, viel zu werken und uns
für einen bescheidenen Erfolg abzumühen, während wir uns bisher in der Hoffnung wiegten,
grosse Erfolge mit wenig Mühe zu erzielen.
48. Erwächst nicht die Freude nur aus der Anstrengung?
49. Fragt die Sportsleute: Sie wissen dies schon lange!
XX. Abschnitt 50. Eher als an uns selbst und an unser Wohlbehagen, werden wir eben an die anderen und an
ihre wesentlichen Bedürfnisse denken.
51. Das ist die wahre Solidarität, diejenige der Tat und nicht der Worte und Umzüge,
diejenige, die die nationale Gemeinschaft durch Arbeit und Ordnung, diese beiden grossen
schaffenden Kräfte, einbettet in das Vertrauen und in die Einigkeit.
XXI. Abschnitt 52. Die Arbeit!
32
53. Der Bundesrat wird sie dem Schweizervolke unter allen Umständen beschaffen, koste dies
was es wolle.
XXII. Abschnitt 54. Die Ordnung!
55. Sie ist uns angeboren und ich bin überzeugt, dass sie ohne Schwierigkeiten mit Hülfe aller
guten Bürger aufrecht erhalten bleiben wird.
XXIV. Abschnitt 56. Diese werden es auch verstehen, dass die Regierung handeln muss.
57. Ihrer Verantwortung bewusst, wird sie ihre Pflicht erfüllen, nach Aussen und nach Innen,
über den Parteien stehend, im Dienste aller Schweizer, die Söhne ein und desselben Bodens,
Ähren desselben Feldes sind.
58. Eidgenossen, an Euch ist es, nun der Regierung zu folgen als einem sicheren und
hingebenden Führer, der seine Entscheidungen nicht immer wird erklären, erläutern und
begründen können.
59. Die Ereignisse marschieren schnell: Man muss sich ihrem Rhythmus anpassen.
60. Auf diese Weise, und nur so werden wir die Zukunft bewahren können.
XXV. Abschnitt 61. Persönliche, regionale und parteiliche Meinungsverschiedenheiten werden sich
verschmelzen im Tiegel des nationalen Interesses, dieses höchsten Gesetzes.
XXVI. Abschnitt 62. Schliesst Euch zusammen hinter dem Bundesrate!
63. Bleibt ruhig, wie auch er ruhig ist!
64. Bleibt fest, wie auch er fest ist!
65. Habt Vertrauen, wie auch er Vertrauen hat!
66. Der Himmel wird uns seinen Schutz auch weiterhin angedeihen lassen, wenn wir uns
dessen würdig zu erweisen wissen.
XXVII. Abschnitt 67. Mut und Entschlossenheit, Opfergeist, Selbsthingabe, das sind die rettenden Tugenden.
68. Durch sie wird unser freies, menschenfreundliches, verständnisvolles, gastliches
Vaterland seine brüderliche Mission weiter erfüllen können, die von den grossen
europäischen Kulturen beeinflusst ist.
33
XXVIII. Abschnitt 69. Schweizer, meine Brüder, würdig der Vergangenheit, wir wollen beherzt in die Zukunft
schreiten.
XXIX. Abschnitt 70. Gott möge über uns wachen.