Sprachliches Lernen durch Vorlesen
21. & 22. Februar 2014
Tagungsprogramm:
Freitag, 21.02.2014
13.00 Begrüßung und Einführung
Vorlesen als Sprachlernsetting (Moderation: Claudia Müller)
13.30-14.00: Tabea Becker: Lernbereiche beim Vorlesen
14.05-14.35: Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer: Vorlesen, Erzählen, Nacherzählen
14.40-15.10: Eva Gressnich: Zur Feinabstimmung von Bilderbüchern auf kindliche Erwerbsprozesse
und Vorleseformate
– PAUSE –
Vorlesen in der Familie (Moderation: Linda Stark)
15.45-16.15: Petra Wieler: Kulturelle Differenzen des Vorlesens und die Problematik der ‚richtigen‘
Literacy-Förderung in der Familie
16.20-16.50: Jessica A. Willard, Alexandru Agache, Julia Jäkel und Birgit Leyendecker: Home Literacy
Environment und Herkunftssprachwortschatz türkischstämmiger Kinder in Deutschland
16.55-17.25: Evamaria Zettl: Marginalisierte und ritualisierte Praktiken der Bilderbuchnutzung:
eine performativitätstheoretische Perspektive
17.30: Resümee des ersten Tages
anschließend: gemeinsames Abendessen
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Samstag, 22.02.2014
Strategien im Vorleseprozess (Moderation: Eva Gressnich)
9.00-9.30: Katharina J. Rohlfing, Angela Grimminger und Kerstin Nachtigäller: Die Pragmatik des
gemeinsamen Buchlesens
9.35-10.05: Johanna Bebout, Friederike von Lehmden und Eva Belke: Effizienter Einsatz von
Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung
10.10-10.40: Mandy Schönfelder: Eine gute Frage? - Vorlesesituationen mit Fragen anregend und
sprachfördernd begleiten
– PAUSE –
Vorlesen in der Institution (Moderation: Eva Gressnich)
11.00-11.30: Claudia Müller und Linda Stark: Sprachdidaktisches Arbeiten mit Kinderliteratur in
Kindergarten und Grundschule
11.35-12.05: Kristina Hagen und Marit Kunis-Michel: Das Projekt Lesestark! Dresden blättert die Welt auf
– MITTAGSIMBISS –
13.00-13.30: Sabine Zeller: Vorlesen – Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen
13.35-14.05: Eva Gerritzen: Spät oder zu spät? Der Vorlesemarathon als Möglichkeit der späten Lesesozialisation in der Schule
14.15: Abschlussdiskussion – moderiert von Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer
(Ende der Tagung um ca. 15.00)
Organisatorisches:
Weitere Informationen unter: http://staff.germanistik.rub.de/claudia-mueller/tagungenworkshops/
Tagungsgebühren (vor Ort bar zu entrichten):
- Teilnahme an einem Tag: 10 € (Studierende und Vortragende 5 €) - Teilnahme an beiden Tagen: 20 € (Studierende und Vortragende 10 €)
Anmeldung von Gasthörern/-innen: per E-Mail bis 31.01.2014 bei Linda Stark ([email protected])
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Abstracts – alphabetisch:
Johanna Bebout, Friederike von Lehmden und Eva Belke: Effizienter Einsatz von Inputoptimierung
beim Vorlesen in der Sprachförderung
Das Vorlesen von Bilderbüchern bietet vielerlei Möglichkeiten, um die Sprachentwicklung zu fördern.
Im Gegensatz zu anderen Medien, wie z.B. dem Fernsehen, steht die soziale Interaktion in der
Vorlesesituation im Vordergrund, bei der sich Vorlesender und Kind in einem Rahmen von
gemeinsamer Aufmerksamkeit befinden. Hierbei können offene Fragen, das direkte Besprechen der
Bilder und vorlesebegleitende, alltagsbezogene Gespräche sowie aufmerksamkeitsrichtende Hinweise
vom Vorlesenden die Sprachentwicklung positiv beeinflussen. Die kindliche Urlust an Wiederholung
kann durch die Vorlesesituation gestillt werden, indem das Buch immer wieder vorgelesen und somit
die Geschichte automatisiert und ritualisiert wird (Horst, 2013). Dadurch können die in dem Buch
vorkommenden sprachlichen Strukturen besser erworben werden.
Wir untersuchten in einer Studie, ob die hochfrequente Inputdarbietung in der Vorlesesituation
effektiv genutzt werden kann (von Lehmden, Kauffeldt, Belke & Rohlfing, 2013). Hierbei förderten wir
Kinder über einen Zeitraum von vier Wochen mit einer spezifischen morphosyntaktischen Struktur,
welche in hochfrequenter Form in den Bilderbüchern vorhanden war. Die Ergebnisse zeigten, dass
sich die produktiven Leistungen der Kinder nach der spezifischen Förderung signifikant steigerten. Die
hochfrequente Inputdarbietung in Bilderbüchern erwies sich somit als wirkungsvoll.
Eine Möglichkeit, die Vorteile des Vorlesens noch effektiver zu nutzen, ist, den Input mithilfe einer
hochstrukturierten Darbietung sprachlicher Formen und Strukturen zu optimieren. Bei der
strukturierten Inputdarbietung werden sprachliche Formen oder Strukturen beispielsweise gruppiert
dargeboten. Durch diese Darbietungsform wird die Aufmerksamkeit des Kindes auf die relevanten
sprachlichen Strukturen gelenkt. Eine strukturierte Inputdarbietung kann auf diese Weise Prozesse
der Kategorisierung und des Abstrahierens, die von Tomasello (2003) als zentral für den Spracherwerb
angesehen werden, erleichtern. Dabei ist zu beachten, dass es nicht um eine Vereinfachung der
sprachlichen Formen und Strukturen geht, sondern um eine offensichtlichere Darstellung dieser. Der
strukturierte Input als lernpsychologischer Mechanismus wird bereits in der Sprachtherapie
(Siegmüller & Kauschke, 2006) und -förderung (Belke & Belke, 2006) genutzt; seine Wirksamkeit ist
empirisch belegt (Bebout & Belke, eingereicht; Taraban, 2004).
Bilderbücher bieten in optimaler Weise die Möglichkeit, sprachliche Formen und Strukturen
hochfrequent und hochstrukturiert darzubieten und können folglich genutzt werden, um den Erwerb
sprachlicher Formen und Strukturen gezielt zu fördern. In der Sprachförderung und -therapie sollten
daher Bücher, die eine Inputoptimierung durch hochfrequenten und hochstrukturierten Input nutzen,
vermehrt eingesetzt werden.
Bebout, J., & Belke, E. (eingereicht). Language play facilitates language learning: Optimizing the input for gender-like category induction.
Horst, J. S. (2013). Context and repetition in word learning. Frontiers in Psychology, 4 (149), 1-11. Siegmüller, J., & Kauschke, C. (2006). Patholinguistische Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier. von Lehmden, F., Kauffeldt, J., Belke, E. & Rohlfing, K. (2013). Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur
Sprachförderung im Bereich Grammatik. Praxis Sprache, 58, 18-27. Taraban, R. (2004). Drawing learners’ attention to syntactic context aids gender-like category induction. Journal of Memory
and Language, 51, 204-216. Tomasello, M. (2003): Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Harvard University Press.
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Tabea Becker: Lernbereiche beim Vorlesen
Konsensfähig ist mittlerweile die Erkenntnis, dass Vorlesen das sprachliche Lernen positiv beeinflusst.
Weniger geklärt ist, welche Lernbereiche eigentlich im Einzelnen betroffen sind. Der Vortrag möchte
einen systematischen Überblick darüber geben, welche Bereiche auf welche Weise durch Vorlesen
unterstützt werden können. Die entwicklungsbegünstigenden Eigenschaften betreffen nicht nur eine
Vielzahl sprachlicher Bereiche. Ebenso profitieren auch soziale und kognitive Kompetenzen. Während
von einigen sprachlichen Fähigkeiten (z.B. Wortschatz oder Erzählen) durch entsprechende
Forschungen bereits bekannt ist, dass sich das Vorlesen positiv auswirkt, sind andere Bereiche z.B. der
Morphologie bislang noch kaum in den Blick gerückt worden.
Das Anliegen des Vortrages ist es, die Ergebnisse qualitativer und quantitativer Forschungen
zusammenzutragen und diese mit theoretischen Überlegungen in eine überblickshafte Systematik zu
integrieren. Aufgedeckt werden soll auf diese Weise aber auch, welche Bereiche noch
Forschungsdesiderate ausmachen.
Eva Gerritzen: Spät oder zu spät? Der Vorlesemarathon als Möglichkeit der späten Lesesozialisation
in der Schule
Auch wenn es scheint, als sei das Vorlesen außerhalb der frühen familialen Lesesozialisation „schon
lange überflüssig geworden“, lebt es in Leseabenden und Autorenlesungen fort – wohl weil es
gegenüber dem stillen Lesen eben doch einen Überschuss, ein surplus, bereithält. Der Text nimmt
unmittelbar Gestalt an durch die Stimme und Interpretation des Vorlesers sowie durch die „hörende
Hingabe“ des Zuhörers. (Konrad Paul Liessmann) Hier manifestiert sich eine andere Zugangsweise zu
Literatur – und Literatur bekommt neue Zugangsweisen zum Leser bzw. Zuhörer. Als solches – so die
These – kann das Vorlesen auch über das übliche Vorlesealter hinaus Lust am Lesen und an Literatur
vermitteln. Allerdings ist die (weiterführende) Schule einerseits vornehmlich für analytische Zugänge
zu Literatur zuständig, andererseits bleibt unter dem Druck der Kompetenz- und Outputorientierung
kaum Zeit für nicht-standardisierte Lernprozesse. Die Lesemotivation ist aber wichtige Voraussetzung
für analytische Zugänge, liegt doch „die erste der großen Ungleichheiten in der Schule […] zwischen
denen, die motiviert sind zu lernen, und jenen, die es aufgrund ihrer familiären Situation, ihres
sozialen und kulturellen Milieus nicht sind.“ (Alain Bergala) Erst auf dem Grundstein einer
Begeisterung, Begierde, einer Lust auf Lesen kann jedes weitere Lernen anschließen. Leselust wird
nicht eingetrichtert, erzwungen, verordnet. Sie muss vielmehr geweckt, entfacht und losgetreten
werden. Eine solche Möglichkeit kann ein ‚Vorlesemarathon‘ darstellen. Als eine außerhalb von
Prüfungswissen und Nützlichkeitserwägungen liegende Zugangsweise zu Literatur kann ein
Lesemarathon der Begegnung mit Literatur und der möglichen Erfahrung von Leselust Zeit einräumen.
Eine schriftliche Befragung einer sechsten Klasse eines Bochumer Gymnasiums im Anschluss an einen
Vorlesemarathon zeigt, dass sowohl Vielleser als auch Wenig- oder Nichtleser von der Veranstaltung
profitieren. Die einen entdeckten, dass „auch Bücher mit einem nicht so spannenden Titel spannend“
sein können, lesen nunmehr „Bücher mit weniger Bildern“ als vorher oder haben erfahren, dass Lesen
doch interessant sein kann. Die anderen haben neue literarische Genres oder Autoren für sich
entdeckt und lesen „mittlerweile sogar Schullektüre“. Wenn auch diese Befragung längst nicht als
repräsentativ gelten und nicht mehr als leichte Wirkungstendenzen ausmachen kann, vermag sie doch
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zumindest auf zwei wichtige Aspekte hinzudeuten, welche die Ergebnisse in die Nähe einer
phänomenologischen Lerntheorie rücken. Zum einen kann Lesemotivation nicht aus eigenem
Entschluss entspringen, sondern benötigt den Anstoß von einem Außen. Lernen als Erfahrung, als
Widerfahrnis, betont das Moment der Begegnung mit einem oder etwas anderem. Erst in einer
einschneidenden Erfahrung, in der entdeckt wird, dass Bücher eben doch aufregend und interessant
sein können, kann das vormalige Weltbild erschüttert und umgewälzt werden. Hier, in diesem
Umbruch, können Begeisterung und Interesse entstehen, welche die Grundlage für jedes weitere
Lernen geben. „Was man liebt, möchte man so genau wie möglich kennen. Darum ist es wichtig,
etwas zu begehren, um zu lernen.“ (Käte Meyer-Drawe) Lesen aus Leidenschaft verführt zum Lernen
aus Leidenschaft.
Eva Gressnich: Zur Feinabstimmung von Bilderbüchern auf kindliche Erwerbsprozesse und
Vorleseformate
Mein Beitrag behandelt die Rolle und das Potenzial des Bilderbuchs im Vorleseprozess und setzt an
der von Kümmerling-Meibauer/Meibauer (2013) aufgestellten These 3 an: „An essential feature of
children’s literature consists of the consideration of children’s cognitive and linguistic capacities.“
Im ersten Teil meines Vortrags nehme ich These 3 genauer unter die Lupe, spezifiziere sie und
diskutiere, auf welche Weise(n) sie überprüft werden kann. Es geht hierbei zunächst darum, was
linguistische Studien zu einer interdisziplinären Bilderbuch- und Vorleseforschung beitragen können
und wie speziell in Bezug auf These 3 methodisch verfahren werden muss.
Im zweiten Teil erläutere ich die Ergebnisse einer Studie, in der ich überprüft habe, ob in einem
Korpus mit 50 deutschsprachigen erzählenden Bilderbüchern eine Feinabstimmung auf a) kindliche
Sprach- und andere Erwerbsprozesse und b) Vorleseformate erfolgt. Exemplarisch konzentriere ich
mich dabei auf den kindlichen Erwerb von Raum unter Berücksichtigung der Teildomänen kognitive
Entwicklung, Spracherwerb, Literaturerwerb und visual literacy (Bowerman/Choi 2003, Hickmann
2003, Newcombe/Uttal/Sauter 2010). Bei der Bilderbuchanalyse habe ich u. a. die Häufigkeit von
Raumreferenz auf der Textebene und verschiedene Arten verbaler und visueller Raumdarstellung
berücksichtigt. Von besonderem Interesse waren die Verwendung von und der Umgang mit
lokaldeiktischer Referenz. Die Ergebnisse zeigen, dass v. a. (aber nicht ausschließlich) in diesem
Bereich der Raumdarstellung bemerkenswerte Strategien im Zusammenspiel von Text und Bild
angewendet werden, um eine Anpassung an kindliche Bedürfnisse und eine Förderung des
Verständnisses im Vorleseprozess zu erzielen.
Bowerman, Melissa/Choi, Soonja (2003): Shaping Meanings for Language: Universal and Language-Specific in the Acquisition of Spatial Semantic Categories. In: Bowerman, Melissa/Levinson, Stephen C. (Eds.) (2003): Language Acquisition and Conceptual Development. Cambridge: Cambridge University Press (Language, Culture & Cognition; 3), 475-511.
Hickmann, Maya (2003): Children’s Discourse. Person, Space and Time across Languages. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge Studies in Linguistics).
Kümmerling-Meibauer, Bettina/Meibauer, Jörg (2013): Towards a Cognitive Theory of Picturebooks. In: International Research in Children’s Literature 6.2, 143-160.
Newcombe, Nora S./Uttal, David H./Sauter, Megan (2010): Spatial Development. In: Zelazo, Philip (Ed.) (2010): Oxford Handbook of Developmental Psychology. New York: Oxford University Press, 564-590.
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Kristina Hagen und Marit Kunis-Michel: Das Projekt Lesestark! Dresden blättert die Welt auf.
Gemeinschaftsprojekt der Städtischen Bibliotheken Dresden, der Bürgerstiftung Dresden und der
Drosos Stiftung Zürich
Zielgerichtet auf die Bereicherung von Bildungsprozessen rund um das zentrale Thema Leseförderung
entwickelten die Städtischen Bibliotheken Dresden in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Projekte,
in deren Fokus eine konsequente und dauerhafte Zusammenarbeit mit allen Kindergärten und
Schulen der Stadt stand. Darauf aufbauend entstand 2008 Lesestark! Dresden blättert die Welt auf. -
ein Gemeinschaftsprojekt mit besonderer Schwerpunktsetzung auf Lese- und Sprachförderung von
Vor- und Grundschulkindern.
Lesen gilt auch im Medienzeitalter als grundlegende Kompetenz, entwickelte Fähigkeiten und
Fertigkeiten sind die Grundlage einer erfolgreichen Bildungsbiografie eines jeden Kindes. Durch
Vorlesen können Kinder in die Welt der Geschichten eintauchen und ihre eigene Fantasie entwickeln.
Der Schwerpunkt des Projekts Lesestark! wurde daher bewusst auf Vorlesen als elementare
Grundvoraussetzung für eine gelingende Leseerziehung gelegt. Eine stadtweite Kooperation zwischen
Kindergärten, Grundschulen und Bibliotheken wurde dafür aufgebaut.
Starke Partner sind für Projekte dieser Dimension unverzichtbar. Mit einem konsequent auf
Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit ausgerichteten Konzept gelang es, zum einen die Drosos
Stiftung Zürich, eine junge Stiftung aus der Schweiz, die sich weltweit sozial engagiert und zum
anderen die Bürgerstiftung Dresden, wichtigster Förderer des Ehrenamts in der Region ins Boot zu
holen. Jährlich entstehende Projektkosten in Höhe von 100 Euro pro teilnehmendem Kind werden von
der Drosos Stiftung Zürich getragen. Nur so konnte der kostenlose Zugang zu hochwertigen
Veranstaltungsangeboten für alle Kinder im Projekt, insbesondere für Kinder aus sozial
benachteiligten Familien, sichergestellt werden. Verortet ist das Projekt in den Dresdner
Stadtteilbibliotheken.
Zielgruppe
Kindern über altersgerechte, sinnliche und spielerische Methoden den Einstieg in literarische oder
sachbezogene Texte zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, war und ist das Anliegen des Projektes. Die
Zeit des Übergangs vom Kindergarten zur Schule ist für Kinder und Eltern gleichermaßen wichtig. Sie
bildet deshalb den Ansatz für die Auswahl der Zielgruppe. Das Projekt richtet sich an Kinder im Alter
zwischen 5 und 8 Jahren. Es startet im letzten Kindergartenjahr (Vorschule) und begleitet die Kinder
bis zum Ende der 2. Klasse (Grundschule). Jährlich nehmen rund 4000 Kinder an Lesestark! teil.
Veranstaltungen
Die ehrenamtlich tätigen Lesepaten lesen einer Gruppe von Kindern über einen Zeitraum von
mindestens einem Jahr regelmäßig vor. Diese monatlichen Vorlesestunden werden um Kurse und
Sonderveranstaltungen ergänzt, die eine praktische Arbeit mit Sachbüchern ermöglicht. Die
Zweigstellen der Städtischen Bibliotheken Dresden bilden den wiederkehrenden Veranstaltungsort,
der die Welt der Bücher repräsentiert und dessen Mitarbeiter eine wichtige Rolle in der
Buchvermittlung spielen. Externe Partner bieten innerhalb des Projekts Lesestark
Sonderveranstaltungen zu Themen wie Spiele mit dem ABC, Papierschöpfen, Buch- und
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Druckwerkstatt, Zuhör- und Konzentrationsförderung durch Geschichten, Lieder, Klänge und
Geräusche sowie Experimentierkurse an.
Ergänzt werden diese Veranstaltungen durch die Angebote der Reihe „Von der Idee zum Buch“.
Sowohl namhafte Illustratoren wie auch Neulinge im Bereich der Bilderbuchillustration sind bei
Lesestark! zu Gast, um Kindern ihre Arbeit näher zu bringen. Dabei vermitteln die Bilderbuchkünstler
Möglichkeiten, sich einem Text mit ihrem Ausdruckmittel Bild zu nähern.
Ausgehend von einer ganzheitlichen Entwicklung kultureller Fähigkeiten der am Projekt
teilnehmenden Kinder wurden darüber hinaus weitere Partner gefunden, die in einem erweiterten
Kontext ähnliche Ziele verfolgen wie die Bibliotheken. Das Projekt Lesestark! vernetzte sich mit dem
Zoo Dresden, dem Theater Junge Generation Dresden (tjg) sowie den Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden.
Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer: Vorlesen, Erzählen, Nacherzählen
Vorlesen definieren wir als eine kommunikative Aktivität, bei der eine Leserin oder ein Leser
geschriebene Sprache in gesprochene Sprache umwandelt, während ein Zuhörer oder eine Zuhörerin
zuhört. In Bezug auf das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern kommt noch die Dimension des
Betrachtens von Bildern hinzu. Kann das Zuhörer-Kind noch nicht lesen, muss es das Vorgelesene
selbständig mit dem visuellen Input des Bilderbuchs in Zusammenhang bringen. Beim gemeinsamen
Betrachten von Frühe-Konzepte-Büchern ab ca. 12 Monaten spielt das Zeigen und Benennen eine
wichtige Rolle. Daraus entwickeln sich Dialoge, die das Bild/Text-Verhältnis zum Gegenstand machen.
Lernen ist in diesem Fall mindestens grammatisches (z.B. lexikalisch-konzeptuelles), aber auch
konversationelles Lernen. Mit etwa 2 Jahren werden deskriptive Bilderbücher und narrative
Bilderbücher betrachtet. Deskriptive Bilderbücher enthalten Wissen über konzeptuelle Klassen,
Frames und Scripts. Es handelt sich eher um Aufzählung als Erzählung. Erzählungen sind Inhalt von
narrativen Bilderbüchern. Narrative Bilderbücher geben den Kindern sicher einen Input für eigene
Erzählungen. Ein wesentlicher Punkt ist, dass die entsprechenden Erzählungen vorgelesen werden,
d.h. das Kind erlebt eine Erzählung durch einen erwachsenen Mediator, zu dem es eine emotionale
Beziehung unterhält. Wenig später entwickelt das Kind eigene mündliche Erzählungen. Man kann
vermuten, dass für manche Kinder der Input aus vorgelesenen Narrativen ein Modell darstellt. Die
Redewiedergabe könnte in dieser Hinsicht besonders relevant sein. In der Redewiedergabe können
Erzählungen aus Büchern, aus mündlichen Erzählungen von anderen Gesprächspartnern, aber auch
aus eigenen Erlebnissen vermittelt werden. Nacherzählen heißt dann, mehr oder weniger
originalgetreu das wiedergeben, was in einer Originalerzählung erzählt wurde. Dabei muss nicht
unbedingt der narrative Charakter im Vordergrund stehen. Unseres Erachtens können auch
deskriptive Bücher (Sachbücher) nacherzählt werden (d.h., es handelt sich nicht um bloße Wieder-
Aufzählung). Nacherzählungen, gleich ob mündlich oder (in der Schule) schriftlich, haben strukturelle
und inhaltliche Ähnlichkeit zu einem Original. Das Weglassen oder Hervorheben von Information muss
aber sicherlich gelernt werden. In unserem Vortrag versuchen wir, die Beziehung zwischen Vorlesen,
Erzählen und Nacherzählen anhand von einschlägigen Beispielen und Forschungsergebnissen
herauszuarbeiten, und das Lernen durch Vorlesen in seiner Entwicklungsdynamik zu begreifen.
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Kümmerling-Meibauer, Bettina/Meibauer, Jörg (2011): Early-concept books: Acquiring nominal and verbal concepts. In: Kümmerling-Meibauer, Bettina (ed.): Emergent Literacy. Children’s Books from 0 to 3. Amsterdam: Benjamins, 91-114.
Kümmerling-Meibauer, Bettina/Meibauer, Jörg (2013): Towards a Cognitive Theory of Picturebooks. In: International Research in Children’s Literature 6 (2), 143-160.
Kümmerling-Meibauer, Bettina/Meibauer, Jörg/Nachtigäller, Kerstin/Rohlfing, Katharina (eds.) (to appear): Learning from picturebooks. Perspectives from child development & literacy studies. London: Routledge.
Meibauer, Jörg (2011): Spracherwerb und Kinderliteratur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 162, 11-28.
Claudia Müller und Linda Stark: Sprachdidaktisches Arbeiten mit Kinderliteratur in Kindergarten und
Grundschule
Werke der Kinderliteratur haben in der frühen Kindheit einen festen Platz. Die Begegnung mit ihnen,
zum Beispiel durch Vorlesen oder das Erzählen von Märchen, fördert, so zeigen es zahlreiche
Studienergebnisse (vgl. hierzu ausführlich Müller 2012), diejenigen sprachlichen Bereiche, die auch für
das Sprachlernen in der Schule ausschlaggebend sind. Welche Qualität diese Begegnung hat, ist
wiederum von der Person abhängig, die die Rolle des Vorlesers oder Erzählers innehat und die in Text
und Bild repräsentierte Welt an das Kind sprachlich vermittelt. Dabei kommt es vor allem darauf an,
welche interaktiven, auf Dialogizität abzielenden Strategien der Vorleser/Erzähler einsetzt, um das
Sprachverständnis des kindlichen Zuhörers zu sichern (vgl. Wieler 1997). Doch nicht nur das
Interaktionsverhalten des Vorlesers und seine Bemühungen um Feinabstimmung sind für den
Sprachlernprozess des Kindes wesentlich, auch die bildliche und textuelle Gestaltung der
Kinderliteratur selbst birgt spezifische Sprachlernpotentiale in sich, die, wenn sie vom Vorleser gezielt
eingesetzt und aufbereitet werden, für eine schriftsprachliche Förderung nutzbar gemacht werden
können.
In unserem Beitrag wollen wir den Fokus auf das Buch als dritte Komponente des Vorleseprozesses
richten (vgl. Fletcher/Reese 2005), indem wir eine Auswahl von nach sprachlichen Merkmalen
analysierten Bilderbüchern präsentieren, mit deren Hilfe Kinder bereits im Vorschulalter auf
unterschiedliche Weise schriftsprachlich gefördert werden können. Dazu zählen beispielsweise der
Erwerb von Erzählfähigkeiten, der Aufbau phonologischen Wissens oder die gezielte Entwicklung einer
Schriftbewusstheit. Die von uns exemplarisch ausgewählte Kinderliteratur ist Gegenstand einer
Sprachförderung, die die Eigenaktivität des Kindes visiert und im Kindergarten ein zusätzliches
Angebot im Umgang mit Kinderliteratur darstellt. Inwieweit auch im Anfangsunterricht auf diese
Weise sprachdidaktisch gearbeitet werden kann, soll diskutiert werden.
Fletcher, Kathryn L.; Reese, Elaine (2005): Picture book reading with young children: A conceptual framework. In: Developmental Review (25), S. 64–103.
Müller, Claudia (2012): Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Baltmannsweiler: Schneider (Wissenschaft für den Unterricht, 4).
Wieler, Petra (1997): Vorlesen in der Familie. Weinheim: Juventa.
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Katharina J. Rohlfing, Angela Grimminger und Kerstin Nachtigäller: Die Pragmatik des gemeinsamen
Buchlesens
Erwachsene und Kinder können beim Vorlesen von Bilderbüchern gemeinsam ihre Aufmerksamkeit
auf ein Buch richten. Diese gemeinsam gerichtete Aufmerksamkeit scheint beim Vorlesen in
besonderer Weise von der Bezugsperson strukturiert zu sein, vergleicht man diese Situation mit einer
freien Spielsituation. Erst in jüngeren Studien wurden mögliche Parameter (wie z.B. Menge und
Variabilität des Vokabulars, DeTemple & Snow, 2003) untersucht, die für eine positive Wirkung des
gemeinsamen Buchlesens auf die Sprachentwicklung verantwortlich sein könnten. Während der Fokus
der Untersuchungen dabei meistens auf dem sprachlichen Input lag, ist weniger darüber bekannt,
welchen Beitrag Gesten im Rahmen des gemeinsamen Buchlesens zur sprachlichen Entwicklung
leisten, obwohl sie ein sichtbarer Teil der stattfindenden Interaktion sind. Besonders in der Interaktion
mit sehr jungen Kindern scheint jedoch das nichtsprachliche Verhalten wichtig zu sein, denn jüngere
Kinder setzen – anstatt sich rein sprachlich mitzuteilen –besonders Gesten in ihrer Kommunikation
ein.
Bis heute wissen wir noch recht wenig darüber, (a) welche Art des gestischen Inputs eine Rolle beim
gemeinsamen Buchlesen spielt, (b) in welchem Alter Kinder besonders sensitiv für das
nichtsprachliche Verhalten ihrer Mütter sind, und (c) ob der Inhalt des Buches das nichtsprachliche
Verhalten beeinflusst.
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir das gestische Verhalten beim Buchlesen in 17
Mutter-Kind-Dyaden längsschnittlich untersucht. Die Kinder waren zu den hier berichteten
Messzeitpunkten 11, 14 und 18 Monate alt. In den Analysen haben wir verschiedene Gestentypen
identifiziert, die Mütter typischerweise beim Lesen von Bilderbüchern verwenden. Daraus ergab sich
eine Taxonomie des gestischen Verhaltens, die wir hier vorstellen möchten. Weiterhin haben wir
analysiert, zu welchem Messzeitpunkt (d.h. zu welchem Alter der Kinder) das gestische Verhalten der
Mütter mit der Wortschatzentwicklung der Kinder zusammenhängt und ob der Buchinhalt das
nichtsprachliche Verhalten der Kinder und Mütter beeinflusst.
Unsere Ergebnisse leisten einen Beitrag zur Charakterisierung des pragmatischen Verhaltens während
des gemeinsamen Buchlesens, da diese Aktivität einerseits spezifischen mütterlichen Input hervorruft,
und andererseits das kindliche Verhalten in der Interaktion mitbeeinflusst. Beides sollte in Theorien
des Spracherwerbs Berücksichtigung finden.
Mandy Schönfelder: Eine gute Frage? - Vorlesesituationen mit Fragen anregend und sprachfördernd
begleiten
Im aktuellen pädagogischen Diskurs begegnet einem wiederkehrend die Bedeutung der frühen
Bildung, die in den letzten Jahren neue Impulse und Forderungen erhielt (vgl. OECD 2004, nach den
Studien EPPE und EPEY 2002). Als ein wichtiger Bereich erweist sich der für die kindliche Entwicklung
zentrale Baustein der Sprache und des Spracherwerbs. Vor allem Bilder(buch)situationen,
Gesprächskreise, Geschichten oder das Erarbeiten von Themen sind dabei als Erzieher/in-Kind-
Interaktionen (vgl. König 2009) sprachlich gestaltet.
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Wenn es infolgedessen um die Begleitung und sprachentwicklungsbezogene Förderung (vgl.
Dannenbauer 1994) im Kindergartenalltag geht, ist die Strategie der Fragen als ein formal
bedeutsames und hochfrequentes Strukturelement (vgl. Briedigkeit 2011, S. 511) auszumachen. Im
Hinblick auf eine dialogorientierte Gesprächsführung wird hierbei der offenen Frage mit ihrem breiten
Spektrum an Antwortmöglichkeiten ein didaktischer Mehrwert zugewiesen. Geschlossene
Fragestrukturen sind in ihrer Funktion, komplexe Denkprozesse anregen zu können, hingegen negativ
konnotiert, wenngleich im institutionellen Handeln vorherrschend (Siraj-Blatchford & Manni 2008). An
dieser Stelle besteht eine Diskrepanz zwischen Intention, Struktur und Performanz.
Strukturell (linguistisch) betrachtend, umfasst die Frage eine Konstruktion, die ein bestimmtes
Antwortmuster hervorruft (vgl. Lindner 2011, S. 26). Hierbei bleibt jedoch weitestgehend
unberücksichtigt, inwieweit ein sprachlicher Entwicklungsstand einer jeweiligen Fragestruktur
entspricht bzw. zur Beantwortung beim Kind vorausgesetzt werden muss. Diese Erkenntnisse lockert
die dualistische Position, Geschlossenheit versus Offenheit, und beleuchtet vielmehr eine Kluft
zwischen Über- und Unterforderung in sprachlernorientierten Interaktionsformaten. Vor diesem
Hintergrund ergibt sich das Anliegen, die Frage als pädagogisches Werkzeug vor dem Motiv Sprache
fördern und fordern, statt Überforderung zu prüfen. So ermöglichen Zwischenformen und
Abstufungen der Fragenkonstruktion, den Antwortumfang überschaubar zu verringern bzw. zu
erweitern. Zugleich können grammatische Strukturen (wie einleitende Präpositionen: wo versus
worauf) oder Antwortalternativen zur Unterstützung phonologischer Prozesse entwicklungs-
angemessen integriert (vgl. Linke et al. 2004, S. 54f.) werden.
Folglich wird sich um einen Einblick bemüht, wie das sprachliche Lernen in mediengestützten
Interaktionsprozessen (Bilderbuchsituationen) mit spezifischen Fragestellungen fördernd aufgebaut
bzw. adaptiv begleitet werden kann.
Petra Wieler: Kulturelle Differenzen des Vorlesens und die Problematik der ‚richtigen‘ Literacy-
Förderung in der Familie
Die pragmatisch orientierten Spracherwerbsstudien des amerikanischen Psychologen J. S. Bruner
(1987), welche die Eltern-Kind-Interaktion im Kontext des Vorlesens als ‚ideale Sprachlernsituation‘
ausweisen, sind ein bleibender (wenn auch zum Teil in kritischer Erweiterung diskutierter)
Bezugspunkt thematisch einschlägiger Forschungsarbeiten. Besondere Aufmerksamkeit in dieser
Diskussion verdient der Hinweis, dass es sich bei den auch seitens ethnographischer Studien (ebenfalls
in einem mittelständischen Milieu) beobachteten Vorlesegesprächen und deren musterhafter
Ausprägung, einschließlich des kontextstiftenden Querverweisens zwischen realer und fiktiver
Wirklichkeit, vornehmlich um den Ausdruck einer ‚Lebensform‘ handelt, und zwar die einer schul-
bzw. bildungsorientierten Schicht, die keineswegs problemlos in eine Vorlesestrategie zu übertragen
und allgemeinverbindlich zu empfehlen ist. Dies wirft nicht zuletzt ein kritisches Licht auf präventive,
für Vorschulklassen konzipierte Sprachfördermaßnahmen, die Teile dieser Vorleseroutine explizit
thematisieren, um auf diese Weise alle(!) Kinder auf ein Frage-Antwort-Muster vorzubereiten, wie es
auch die Lehrer-Schüler-Interaktion in Unterrichtssituationen kennzeichnet (van Kleeck/ Schwarz
2011).
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Wie vor allem Untersuchungen zur (schrift-)sprachlichen Sozialisation in Erst- und Zweitsprache in
mehrsprachigen Familien dokumentieren, haben nicht zuletzt kulturelle Überzeugungen bezüglich
angemessener Formen der Eltern-Kind-Interaktion Einfluss auf die Gestaltung von Vorlesesituationen
(Bus et al. 2000). Darüber hinaus spielt aber auch die eher orale bzw. literale Orientierung der
jeweiligen Herkunftskultur eine wichtige Rolle für die Realisierung literaler Praktiken, so etwa in
türkischen vs. russischen Familien (Kuyumcu/ Senyıldiz 2011). Insbesondere in der Perspektive der
zuletzt genannten Studie greift die Vermittlung normativer Erwartungen bezüglich des „richtigen
Wegs“ zur Literacy-Förderung gegenüber türkischen Eltern zu kurz.
Angesichts der unabweisbaren didaktischen Herausforderung, auch jüngeren Kindern den Zugang zu
Schrift und konzeptioneller Schriftlichkeit zu ermöglichen, wäre mehrsprachigen Familien über das
Vorlesen hinaus und ggf. auch im Sinne einer möglichen Alternative die Nutzung eines möglichst
breiten Spektrums an ‚literacy events‘ nahezulegen. Am Beispiel ausgewählter Dokumente zu
Familiengesprächen über Medienrezeptionserfahrungen der Kinder sowie zum vermeintlichen ‚Vor-
lesen‘ eines Bilderbuchs ohne Text werden in diesem Beitrag entsprechende Perspektiven auch im
Sinne einer engeren Kooperation von Familie und Schule aufgezeigt.
Bruner, Jerome S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern/ Stuttgart. Engl. Orig. (1983): Child’s Talk: Learning to use Language. New York/ London.
Bus, Adriana G./ Leseman, Paul P.M./ Keultjes, Petra (2000): Joint Book Reading across Cultures: a Comparison of Suriname-Dutch, Turkish, and Dutch Parent-Child Dyads. In: Journal of Literacy Research 32, H. 1, S. 53-76.
Kleeck, Anne van/ Schwarz, Amy Louise (2011): Making „academic talk“ explicit: Research directions for fostering classroom discourse skills in children from nonmainstream cultures. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 33, H. 1, S. 29-45.
Kuyumcu, Reyhan/ Senyıldiz, Anastasia (2011): Familiale Literalitätserfahrungen türkisch- und russischsprachiger Kindergartenkinder. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 33, H. 1, S. 109-123.
Jessica A. Willard, Alexandru Agache, Julia Jäkel und Birgit Leyendecker: Home Literacy
Environment und Herkunftssprachwortschatz türkischstämmiger Kinder in Deutschland
Häufiges Lesen und Vorlesen, das Vorhandensein von Büchern und Kinderbüchern – dies sind
Kennzeichen eines reichhaltigen Home Literacy Environments (HLE). Das HLE ist ein wichtiger
Prädiktor für die Wortschatzentwicklung von Kindern(Bus, van IJzendoorn, & Pellegrini, 1995). Die
meisten Studien hierzu konzentrieren sich auf einsprachige Kinder. Es gibt jedoch Hinweise, dass das
HLE und die Wortschatzentwicklung auch beim Herkunftssprachlernen in Migrantenfamilien
zusammenhängen (z.B. Patterson, 2002). Allerdings ist die Situation für Herkunftssprachen wesentlich
komplizierter: neben dem HLE ist auch der Sprachgebrauch in der Familie entscheidend. Je mehr eine
Familie mit ihrem Kind die Herkunftssprache verwendet, desto größer ist im Schnitt der Wortschatz
des Kindes in dieser Sprache (Pearson, Fernandez, Lewedeg & Oller, 1997). Daher fragten wir uns,
welche Rolle das HLE für den Herkunftssprachwortschatz spielt. Was passiert zum Beispiel, wenn eine
türkischstämmige Familie fast ausschließlich Deutsch mit ihrem Kind spricht? Beeinflusst das HLE dann
noch den Türkischwortschatz über den Sprachgebrauch in der Familie hinaus? Oder ist der
Sprachgebrauch ein so starker Einflussfaktor, dass der Effekt des HLE vernachlässigbar ist?
Das HLE hängt nicht nur mit der Wortschatzentwicklung zusammen, sondern auch mit verschiedenen
anderen Charakteristika einer Familie, wie dem Sozialstatus. Obwohl es viel Variation zwischen
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Familien gibt, ermöglichen diejenigen mit höherem Sozialstatus ihren Kindern im Schnitt in der Regel
mehr Zugang zu Büchern und Leseaktivitäten. Dies hängt dann wiederum mit der Sprachentwicklung
der Kinder zusammen (Aikens & Barbarin, 2008; Raikes et al., 2006; van Steensel, 2006). Wir
untersuchten daher, ob auch in türkischstämmigen Familien in Deutschland das HLE zwischen dem
Familienhintergrund und dem Türkischwortschatz vermittelt.
Wir erfassten mit einer Forschungsversion des Peabody Picture Vocabulary Test (Dunn & Dunn, 2007;
Glück, 2009) den Türkischwortschatz von 121 Viertklässlern und 119 türkischstämmigen
Kindergartenkindern kurz vor der Einschulung. Die Mütter der Kinder befragten wir zum HLE (Anzahl
Bücher und Kinderbücher, elterliches Lesen und Vorlesen) und zu ihrem Sprachgebrauch mit dem Kind
(Türkisch vs. Deutsch), sowie zum Familienhintergrund (Bildung und generationaler Status der Eltern).
Pfadanalysen ergaben folgendes Bild: 1) Das HLE hing auch unter Berücksichtigung des mütterlichen
Sprachgebrauchs in beiden Altersstufen mit dem Türkischwortschatz der Kinder zusammen. Allerdings
war der Zusammenhang für die Viertklässler nur marginal signifikant. 2) Der Familienhintergrund hing
in erster Linie über den mütterlichen Sprachgebrauch mit dem Türkischwortschatz zusammen. Nur
der Zusammenhang zwischen väterlicher Bildung und Türkischwortschatz wurde marginal durch das
HLE vermittelt.
Wir schließen daraus, dass häufiges elterliches Lesen und Vorlesen sowie das Vorhandensein von
Büchern und Kinderbüchern auch für den Türkischwortschatz eine wichtige Ressource sind. Eltern
haben somit einen Ansatzpunkt, wie sie im Alltag über das Türkischsprechen hinaus ihre Kinder beim
Lernen der Herkunftssprache fördern können. Für weitere Studien wäre es wichtig, das HLE und den
familiären Sprachgebrauch detaillierter zu erfassen. So bleibt aus diesen Ergebnissen unter anderem
offen, welche Rolle der Sprachgebrauch während des Vorlesens spielt und welchen Stellenwert das
eigene Lesen für ältere Schulkinder einnimmt.
Sabine Zeller: Vorlesen – Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen
Der vorschulische Ausbau sprachlicher Fähigkeiten in Kindertageseinrichtungen als Grundbedingung
für eine erfolgreiche Schul- und spätere Berufsausbildung wird heute unumstritten als wichtige
Aufgabe der frühpädagogischen Bildungsarbeit verstanden. Bei dieser Aufgabe geht es darum, alle
Kinder kontinuierlich beim Sprach- und frühen Schriftspracherwerb zu begleiten und zu unterstützen.
In besonderem Maße gilt dies jedoch für die Kinder, in deren Herkunftsfamilien der Umgang mit der
Schriftsprache wenig gelebt bzw. vorgelebt wird. So zeigen beispielsweise die Studie von Petra Wieler
(1997) oder die Vorlesestudie 2011 (Stiftung Lesen u.a) einen engen Zusammenhang zwischen dem
Bildungsstand der Eltern, ihrer sozialen Gruppierung unabhängig eines Migrationshintergrunds und
den sprachlichen Aktivitäten (z.B. Vorlesen) in den Familien.
Mit dem Bewusstsein für die Notwendigkeit einer frühen, vorschulischen Sprachbildung, hat sich mit
der bundesweiten Einführung der Bildungspläne für vorschulische Bildungseinrichtungen der Blick auf
die Zusammenarbeit mit Eltern verändert. So wird in einigen Bildungsplänen von Zusammenarbeit
oder Kooperation mit den Eltern in anderen von einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft
zwischen den Eltern und den Fachkräften gesprochen. Grundvoraussetzung einer partnerschaftlichen
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Zusammenarbeit ist die positive und offene Haltung auf beiden Seiten, denn tatsächlich sind Familien
zentrale und wichtige Bildungsorte für Kinder, daher sind alle Eltern als Partner in Bildungs- und
Erziehungsfragen anzuerkennen (vgl. DJI, 2011). Die Fachkräfte sind hierbei entsprechend den
Möglichkeiten in den Einrichtungen aufgefordert, eine einladende Haltung gegenüber allen Eltern zu
entwickeln und entsprechende elternbezogene Angebote zu entwickeln, die die positive (Sprach-
)Entwicklung der Kinder im Blick haben. Da sich Eltern mehrheitlich der Bedeutung früher
Bildungsangebote für den Lebensweg ihrer Kinder bewusst sind, manche jedoch sehr unter einem
„Bildungsdruck“ leiden, haben Elternbildungsprogramme die Kindertageseinrichtungen durchaus eine
Berechtigung, denn sie können nachhaltig die Bildungschancen vor allem von benachteiligten Kindern
zu verbessern helfen (Friedrich, 2011).
Der Vortrag möchte Möglichkeiten aufzeigen, wie elterliche Partizipations-möglichkeiten in Bezug auf
das Vorlesen in Kindertagesstätten aussehen können und dabei den Blick vor allem auf die Gruppe
von Eltern richten, denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingt, ihre Kinder im häuslichen
Umfeld ausreichend zu fördern.
Hierzu wird exemplarisch das der in den letzten Jahren verstärkt umgesetzte niederschwellige
Bildungsangebot „Rucksack“ vorgestellt, das zum einen das Ziel hat, den Erst- und Zweitspracherwerb,
den Erwerb von literacy und die Mehrsprachigkeit der Kinder zu fördern und zum anderen die
elterlichen Erziehungskompetenz in sofern stärken, dass Eltern sich selbst in der Lage sehen, ihre
Kinder in angemessener Weise zu unterstützen.
Ableitend aus diesem Modell, soll die Notwendigkeit einer diesbezüglich notwendigen
kompetenzorientierten Weiterbildung für Fachkräfte, aber auch die institutionellen Grenzen der
Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen diskutiert werden.
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI) (2011): WIFF (Weiterbildungsinitiative frühpädagogischer Fachkräfte) (2011): Zusammenarbeit mit Eltern. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung. München: DJI.
Friedrich, Tina (2011): Zusammenarbeit mit Eltern – Anforderungen an frühpädagogische Fachkräfte. Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogischer Fachkräfte. München: DJI
Wieler, Petra (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen, Weinheim u.a.: Juventa.
Stiftung Lesen u.a. (2011): Die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. Eine Initiative von Die Zeit, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn. https://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=504
Evamaria Zettl: Marginalisierte und ritualisierte Praktiken der Bilderbuchnutzung. Eine
performativitätstheoretische Perspektive
Wie sehen Praktiken der Bilderbuchnutzung in einem Kindergarten mit vielen „Kindern mit
Migrationshintergrund“ aus performativitätstheoretischer Perspektive aus?
Das erziehungswissenschaftliche Dissertationsprojekt „Frühe sprachliche Bildung an einer
Kindertagesstätte in einem von Migration geprägten Stadtviertel“ (Prof. Dr. Isabell Diehm, Universität
Frankfurt) erforscht ethnographisch frühe sprachliche Interaktionen im Rahmen einer dreimonatigen
Feldforschung in einer Kindergruppe in einer großstädtischen Kindertagesstätte. Die Beobachtungs-
und Interviewprotokolle sowie Dokumente werden im methodologischen Rahmen der Grounded
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Theory ausgewertet und mit Hilfe von Praxistheorie nach Reckwitz (2003) und Performativitätstheorie
nach Wulf (2000 u.a.) interpretiert.
Das Artefakt „Bilderbuch“ ist in den ersten Beobachtungen 2011 marginalisiert und 2013 ritualisiert
und sakralisiert. Marginalisiert ist es 2011, indem die „Bücherkiste“ mit teils zerfledderten Büchern
nicht im Gruppenraum, sondern im „Übergangsbereich“ der Garderobe steht. Vorlesende gehören
nicht zum regulären Personal, sehen kleine Gruppen von Kindern punktuell, wandern auf der Suche
nach einem ruhigen Raum umher und kämpfen mit Disziplinschwierigkeiten. 2013 dagegen darf
einmal pro Woche eine festgelegte Gruppe von Kindern mit einer Sprachförderkraft im
Erzieherinnenzimmer nach Befolgung eines komplexen Regelkatalogs (Hausschuhe ausziehen,
Sauberkeit beachten, das Buch in einer eigenen Büchertasche transportieren u.a.) je ein Buch
ausleihen, das zu Hause von den Eltern vorgelesen werden soll. In diesem Ritual erscheint die
Einübung in „richtige“ Praktiken im Umgang mit Büchern wichtiger als die Inhalte. Es erinnert auch an
sakrale Praktiken wie z.B. aus der Koranschule (Rosowsky 2012) in der Betonung von Sauberkeit, den
zu überschreitenden Schwellen (vgl. Jäger 2006) auf dem Weg zum Buch, der Trennung vom Alltag
durch besondere Zeiten, Räume und Akteure und den komplexen Regeln im Umgang mit dem
Artefakt „Buch“.
Diese Marginalisierung oder Sakralisierung von Büchern hat Parallelen im Stadtviertel.
„Bildungsbürgerliche“ Buchkultur ist in dem Viertel von ca. 20.000 Einwohnern kaum präsent, eine
Buchhandlung oder Bibliothek gibt es nicht, nur wenige „versteckte“ Bilderbücher in Second-Hand-
Läden. Gleichzeitig ist sakrale Buchkultur (vgl. Gregory 2000) in zahlreichen Moscheen, Koranschulen
und Familien hochgeachtet. Ein Fazit ist: Die Kindertagesstätte inszeniert sich als „Insel bürgerlicher
Bildung in einem bildungsfernen Viertel“, die Kinder und Eltern in bildungsbürgerlicher Schriftkultur
unterweisen möchte, spiegelt aber ungewollt Literalitätspraktiken des Viertels. Diese sind komplex
und stark ritualisiert, jedoch wenig anschlussfähig an schulische Praktiken (vgl. Isler/Künzli/Leemann
2010). Durch die performativitätstheoretische Perspektive möchte der Vortrag Praktiken zur
Literalitätserziehung „bildungsferner“ Kinder kritisch beleuchten und zu einer Diskussion über Orte,
Praktiken und Rituale der Buchnutzung im Kindergarten einladen.